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LARS hatte die tabletts eingesammelt, war danach durch die sitzreihen gegangen, um nachzusehen, ob sich alle passagiere angeschnallt hatten. erst kurz vor der landung klappte er den sitz gleich neben der tür zur pilotenkanzel herunter und fragte tanja, die neben im sass und gerade ihren gurt schloss: „wer macht die ansage?“

durch das fenster des flugzeugs konnten sie die tausend lichter istanbuls sehen. „immer wieder schön“, sagte lars und beugte sich vor. „die ewige wiederholung“, antwortete tanja und zog ärgerlich an ihrem gurt.

das flugzeug setzte auf der landebahn auf, bremste und rollte zum empfangsgebäude. „willkommen in istanbul, wir hoffen, sie hatten einen guten flug!“ tanja sprach den satz ins bordmikrofon, verzog ihr gesicht und reichte es an lars weiter. „sag du es ihnen!“

„bitte bleiben sie auf ihren plätzen, bis wir unsere parkposition erreicht haben! ...

... tanja, was ist los?“

„gar nichts. ich finde es nur blöde, weihnachten in istanbul zu verbringen. letztes jahr war es hugharda ... auch nicht so prall. warum werden gerade wir weihnachten in die luft geschickt?“

„weil wir nicht verheiratet sind ... und weil, noch wichtiger, keine kinder unter dem weihnachtsbaum auf uns warten!“

tanja stand auf, strich ihren rock glatt und lächelte. "also werde ich dich heiraten, um mal wieder in düsseldorf zu feiern.“

„dann müssen wir uns aber beeilen!“

„warum?“ tanja sah lars überrascht, mehr aber noch amüsiert an.

„weil unser dienstplan nur dem flugpersonal mit kindern zu weihnachten frei gibt.“

lars hätte gern gefragt, ob tanja mit ihm in istanbul zum essen gehen würde, er wusste aber, dass sie, sobald sie in ihrem hotelzimmer war, nur noch mit ihrem freund in düsseldorf telefonierte. das war immer so - und am heiligen abend erst recht.

als er mit der taxe in die innenstadt von istanbul fuhr, bemerkte er, dass die stadt mehr als sonst mit lichterketten hell erleuchtet war. über die strassen spannten sich glitzernde bögen, auf denen elektrische kerzen sassen. in ihrer mitte leuchteten sterne. weihnachten wurde auch in dieser stadt gefeiert - das war aber nur ein datum, ein geschäft ... weiter nichts.

lars machte es nichts aus, weihnachten weit weg, irgendwo in der welt zu sein. nachdem sein freund gestorben war - das war nun drei jahre her - war er sogar froh, wenn er dem weihnachtsfest entfliehen konnte. thomas war am 23. dezember gestorben.

„ein besseres datum war ihm nicht eingefallen“.

seitdem hängte lars nicht mehr wie früher zu weihnachten einen mistelzweig an die wohnungstür, sondern eine aidsschleife.

thomas hatte sich nie etwas aus weihnachten gemacht. spätestens im november fragte er, ob es nicht besser wäre, die feiertage auf teneriffa zu verbringen. nur ausgerechnet in jenem jahr, als er krank wurde, war es ihm plötzlich besonders wichtig, weihnachten mit lars zu hause zu feiern. „es muss ja gar kein weihnachtsbaum oder soetwas sein“, meinte er, „nur einfach dasitzen und ein wenig musik hören“.

... das schaffte er nicht mehr.

für lars war weihnachten immer etwas besonderes gewesen. er erinnerte sich gut daran: damals, als er noch ein junge war und seine mutter alles tat, um ihm weihnachten unvergesslich zu machen. sie las ihm geschichten vor, backte mit ihm plätzchen, sang lieder und suchte mit ihm zusammen den weihnachtsbaum aus.

vielleicht tat sie das alles aber nur aus schlechtem gewissen, denn gerade in den tagen um weihnachten litt lars besonders darunter, dass er keinen vater hatte - oder doch wenigstens: dass er ihn nie kennenlernen konnte und auch seine mutter nicht nach seinem vater fragen durfte.

einmal - nur einmal - hatte er es doch getan. seine mutter zuckte bei seiner frage zusammen, wurde grau im gesicht und antwortete gedehnt : „es gibt ihn nun mal nicht!“

nach teneriffa waren sie nie zusammen gereist. aber lars sorgte dafür, dass er über weihnachten stets als flugbegleiter unterwegs war. thomas nutzte die zeit seiner abwesenheit, streifte durch die kneipen düsseldorfs, um neue bekanntschaften zu machen.

weihnachten blieb er nie lange allein. es gab viel zu viele männer, die besonders zu weihnachten in eine tiefe krise gerieten und deswegen dringend jemanden suchten, in dessen armen sie ihre einsamkeit vergessen konnten. thomas wusste das und lars wusste, was thomas tat. nur einmal hatte lars gefragt und die antwort erhalten: „was willst du eigentlich? ich tue doch nur gutes!“

die taxe war am hotel angekommen. lars nahm seinen koffer, meldete sich in der rezeption und fuhr zu seinem zimmer hinauf. er hängte die uniform in den schrank, wusch sich und nahm danach aus der bar eine kleine flasche sekt. er stellte sich ans fenster und sah auf die leuchtende stadt hinunter.

am horizont stiessen die minarette der in rötliches licht getauchten hagia sophia in den schwarzen himmel, gleich daneben stand die blaue moschee, die aber nicht in blaues licht gehüllt war, sondern fast weiss herüberstrahlte. hinter den beiden moscheen stand - ein wenig erhöht - der hell erleuchtete topkapi-palast, eingefasst von der schwärze des marmara-meers und überspannt von einem himmel, der im widerschein der stadt in milchiges licht getaucht war.

lars wusste, dass die hagia sophia einmal die grösste kirche der christenheit gewesen war. die türken liessen sie bei ihrer eroberung der stadt unangestastet. sie stellten ihr nur minarette zur seite, von denen alsbald die muslimischen muezzins die gläubigen zum gebet riefen. für die christen in konstantinopel, die - so lange sie denken konnten - ihren weihnachtsgottesdienst in der sophienkirche gefeiert hatten, war im osmanischen reich fortan kein platz mehr ... und auch nicht für ihre glaubensbrüder im weiteren umkreis. etliche von ihnen flohen, viele traten zum islamischen glauben über, einige wenige zogen sich in die unzugänglichen regionen des landes zurück.

byzanz war unter dem ansturm der osmanen, rom unter den attacken der goten untergegangen. das christentum überlebte im fernen irland und kam in gestalt christlicher missionare zurück aufs europäische festland, wo karl sein missionierungswerk begann und das christentum am ende in seine alten rechte einsetzte.

„da denkt jemand über geschichte nach!“ hörte lars eine stimme sagen. noch immer hatte er den spöttischen tonfall im ohr, mit dem thomas reagierte, wenn er ihm etwas erzählen wollte, das lange vorbei und längst vergangenheit war.

lars trank vom sekt und überlegte, ob istanbul vielleicht der richtige ort gewesen wäre, um mit thomas weihnachten zu feiern. warum hatten sie nie an diese stadt gedacht - sondern immer nur an teneriffa?

sie wären dem weihnachtsfest sogar auf geheimnisvolle weise besonders nahe gewesen, denn hier stand nicht nur die grösste und vielleicht älteste kirche der christenheit. hierher kamen auch die ersten missionare - wie zum beispiel paulus - um das christentum zu verbreiten.

vertraute, fremde welt ...

lars musste lachen, er musste sogar ganz furchtbar lachen.

er dachte an die busreise, die er mit thomas durch die türkei unternommen hatte. sie führte an der mittelmeerküste entlang bis zur grenze syriens, dann hinauf nach kappadokien und zurück nach antalya.

mit ihnen reiste - das erfuhren sie jedoch erst, als sie den bus bestiegen - eine gruppe von kirchenmitgliedern aus köln, die von ihrem katholischen pfarrer begleitet wurde. er war klein, rundlich, mit teigigem gesicht, trug eine verbogene brille und las unentwegt - und so laut, dass ihn auch noch der letzte im bus verstehen konnte - aus den paulusbriefen vor. als thomas am zweiten tag der busfahrt einen mitreisenden fragte, ob der pfarrer nicht zwischendurch etwas anderes lesen könnte - denn die paulus-briefe seien doch selbst für den gutwilligsten irgendwann nur noch langweilig - bekam er empört zur antwort, dass sie sich exakt auf den „spuren von paulus“ bewegten, es also gar keine alternative gäbe.

am vierten abend der reise - sie waren inzwischen in atakya unweit der syrischen grenze angekommen (in „antiochia“, wie der pfarrer kundig bemerkte) - luden die kirchenmitglieder lars und thomas zu einem „gemütlichen beisammensein“ ein.

lars sass neben einem älteren mann, der ihn mit vielen details über seine krebserkrankung informierte. thomas nachbarin war eine nicht mehr junge frau, die ihn neugierig von der seite ansah, sich schliesslich ein herz nahm und fragte:

„sagen sie mal, kennen sie und ihr freund sich nur so - oder auch noch anders?“

recht früh und lange vor mitternacht endete das „gemütliche beisammensein“. der pfarrer klatschte energisch in die hände und erinnerte daran, dass die morgendliche andacht in der veranda des hotels stattfinden würde. „erst danach gibt es frühstück!“

nach so vielen beeindruckenden gesprächen bei tee, apfelsaft und gebäck wollten sich lars und thomas an der hotelbar erholen. sie tranken dort eine flasche wein und wechselten danach zu bier und raki. thomas flirtete heftig mit einem kellner ...

als die reise nach 10 tagen in antalya zu ende ging, waren lars und thomas - wenigstens was die paulus-briefe betraf - durchaus bibelfest.

als lars dies alles erinnerte, musste er lachen. kurz darauf aber erfasste ihn die traurigkeit. tränen, die ihm das lachen in die augen getrieben hatten, verwandelten sich in tränen der bitterkeit, von denen es bald mehr gab, als es ein noch so grosses lachen jemals hervorgebracht hätte.

„lars nimmt gerade seine sentimentale auszeit!“ hörte er die stimme von thomas. „lars fliegt weihnachten immer nach johannesburg, dehli oder sonst wohin - nur um am telefon berichten zu können, wie allein er ist!“

lars liess das sektglas sinken, wischte sich die tränen aus den augen und rief zornig in das leere hotelzimmer hinein:

„verdammt noch mal, ich fühle mich ohne dich eben schrecklich ... schrecklich allein. aber das verstehst du ja nicht!“

er wusste, dass er aus dem hotelzimmer hinaus musste, wenn er nicht in einen gefährlichen mahlstrom der erinnerungen und ausweglosigkeiten geraten wollte. er griff nach seiner jacke und verliess das hotel.

die strassen waren von lärm und autos verstopft, menschen drängten und stiessen sich auf den bürgersteigen. wenn an einer kreuzung die ampel auf rot sprang, bildete sich ein dichtes knäuel ungeduldiger passanten. sobald die ampel auf grün sprang, rannten alle los, liefen hier und dort hin, hasteten irgendeinem ziel zu, von dem lars nichts wusste. ihm war, als hätte er als einziger unter diesen vielen menschen kein ziel.

und so war es ja auch.

es war spät geworden. der verkehr aber wurde von minute zu minute stärker, das hupen der autos, die sich im schrittempo vorwärts schoben, immer schriller. als er noch eine kreuzung überquerte und auf die reihe der haltenden autos blickte, die im nächsten augenblick über die kreuzung schiessen würden, fiel ihm dies ein:

„markt und strassen steh´n verlassen, still erleuchtet jedes haus, sinnend geh´ ich durch die gassen, alles sieht so festlich aus ...!“

„ ... du bist verrückt“, dachte er, „komplett verrückt.“ er sah die autos, sie starteten, kamen schrill hupend auf ihn zu, wichen im letzten moment aus und fuhren mit quietschenden reifen an ihm vorbei. irgendwo trillerte ein polizist auf seiner pfeife, die autos schlängelten sich an ihm vorbei, während er immer noch in der mitte der kreuzung stand und sich fragte, wie dieses gedicht eigentlich weiter gehen sollte.

die galata-brücke spannt sich über das goldene horn und verbindet balat mit hasköy. in ihrem schatten liegen kleine und grössere dampfer, die den fährverkehr zwischen den stadtteilen istanbuls besorgen. hier war der lärm der stadt nur noch eine weit fortgerückte kulisse, die hinter den schwarzen schatten der häuser jenseits der uferstrasse stand. lars hörte das wasser gegen das aufgemauerte kai schlagen und nahm das schmatzende geräusch der an den dalben befestigten dampfer wahr, wenn sie von den wellen hochgehoben wurden und kurz darauf wieder ins wasser tauchten. er setzte sich auf eine bank und sah den lichtern des jenseitigen ufers zu, die sich auf der fast glatten oberfläche des goldenen horns spiegelten und in den kleinen wellen als tausendfache funken nach hier und dort zerstoben.

lars ärgerte sich, dass er vergessen hatte, aus dem hotel eine kleine flasche sekt mitzunehmen. hier wäre vielleicht der richtige ort gewesen, um weihnachten zu feiern.

er schüttelte gleich darauf den kopf.

„wie kommst du eigentlich darauf, dass ich jemals in johannesburg oder dehli war? weihnachten ging es immer nach palma oder hugharda. andere ziele fliegen wir doch gar nicht an! aber du hast wohl überhaupt nicht zugehört, wenn ich dich anrief. ich weiss schon, du warst immer gerade damit beschäftigt, „gutes zu tun“. hast du dich eigentlich nie gefragt, um welchen preis ...?“

eine gestalt näherte sich von der galata-brücke her, stand kurz danach vor ihm und sprach ihn auf türkisch an.

„ich verstehe sie nicht!“, entschuldigte sich lars.

„darf ich kommen auf die bank, ist ja noch frei?“, fragte der fremde - jetzt auf deutsch.

lars rückte - unwillig, weil er sich gestört fühlte - zur seite und der mann setzte sich. sie schwiegen. hinter ihnen stand der lärm der stadt, vor ihnen lag das goldene horn in tausendfachem licht.

„ist schön hier, ist der schönste platz von istanbul. wie hast du gefunden?“

lars zuckte die schultern. „ich weiss nicht, zufall ... aber es gefällt mir auch.“

sie kamen - erst zögernd, bald aber freimütiger, weil sie spürten, einen geduldigen zuhörer gefunden zu haben - ins gespräch. lars erzählte, dass er als flugbegleiter die meiste zeit des jahres unterwegs sei, und der türke berichtete, dass er in deutschland verheiratet war, dort auch eine tochter habe, nun aber schon lange wieder in der türkei sei.

„deutsche frau wollt´ mich nicht mehr!“

lars erfuhr, dass die tochter sahra hiess und in wiesbaden lebte, und der türke war ganz still, als er von thomas und seinem tod kurz vor weihnachten hörte. lars erzählte, dass er sich zu hause nicht mehr wohl fühlen würde und der türke gestand, dass ihm ohne seine tochter das herz zerreisse. sie sprachen von einer reise mit thomas im bus von antalya bis kappadokien und von einer fahrt mit sahra zu ihren grosseltern in die nähe von ankara.

als lars gerade davon berichtete, dass er seit jenem traurigen tag eine aids-schleife (statt des mistelzweigs) an seine tür hängen würde, unterbrach ihn der türke:

„sag mal, ist heute nicht heilig nacht?“

„kann sein, ich weiss es nicht, vielleicht ...!“ lars hatte beschlossen, sich von niemanden - auch nicht von sich selbst - daran erinnern zu lassen.

„ich weiss aber!“ rief der türke. „gesegnet weihnacht ... komm´ in meine arme, mein freund, bist wie ein sohn!“

sie sassen schweigend und arm in arm auf der bank unweit der galata-brücke. kleine wellen schlugen unablässig ans ufer und das licht istanbuls funkelte auf den wellen des goldenen horns. in ihrem rücken stand nicht nur der lärm der stadt, dort wuchs auch die hagia sophia mit ihren minaretten in den himmel. lars hätte weinen mögen, aber eine stimme - war es die von thomas oder die des türken? - ermahnte ihn:

„warum gibt es eigentlich menschen, die immer, wenn ihnen das glück begegnet, heulen müssen? das ist doch überhaupt nicht zu verstehen!“

das flugzeug beschleunigte, hob von der rollbahn ab und schoss in den trüben winterhimmel über istanbul. „hattest du einen schönen heiligabend?“ tanja sah lars neugierig an. statt zu antworten, fragte er zurück: „und du - wie war´s bei dir?“

„wir werden heiraten - im april ... miro hat es mir versprochen, gestern am telefon. jetzt erzähle aber mal, wie es bei dir war?“

„ich weiss es nicht genau - jedenfalls aber so, dass ich an diesem heiligabend wohl zum ersten mal vergessen hätte, thomas in deutschland anzurufen!“


copyright: rolf d. venzlaff, weihnachten 2007


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008

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