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Bobbie stand auf dem bahnsteig. durch den bahnhof wehte ein kalter wind, in den sich einige schneeflocken mischten. es war kalt und bobbie hoffte, dass es zu weihnachten richtig schneien würde. das war allemal besser als die frühlingswarmen und oft genug verregneten christabende.

er steckte seine hände in die manteltaschen und dachte an eine christnacht zurück - die einzige, an die er sich ohne besondere sentimentalität erinnerte - wie er meinte. schon viele tage zuvor hatte es zu schneien begonnen. es schneite immer weiter und weil am 24. dezember der schnee so ungewöhnlich hoch lag, wollte er am abend eine wanderung unternehmen.

Schwarz stand der himmel vor den weissen wiesen, hinter denen der wald begann. der weg, der an den wiesen vorbei führte, war wegen des vielen schnees nicht zu erkennen, darum lief bobbie einfach querfeldein, um den hügel zu erreichen, von dessen spitze er einen weiten ausblick auf die umgebung und die stadt hatte.

es war eine stille nacht - und eine helle nacht dazu. sogar der schnee leuchtete, als ob tausend sterne in ihn gefallen wären.

überhaupt: die sterne.

Je länger bobbie unterwegs war, desto mehr sterne wanderten über den schwarzen himmel, rückten zusammen und ballten sich über seinem kopf, so als wollten sie die welt von dort oben zum leuchten bringen. wenn bobbie den kopf in den nacken legte, war es ihm, als betrachtete er ein samtenes, schwarzes kissen, auf dem der reichste - und verschwiegenste - juwelier dieser welt seine schätze zur schau stellt.

bobbie sah als erstes ein weissgoldenes collier, gearbeitet als hochrädriger wagen, und dann einen edelstein, der ungefasst war und rot-golden glühte. da waren auch zierlich zusammengefügte ketten, schwere armreife, schmale goldene bänder. dazwischen schimmerte es, als hätte der juwelier das kissen mit feinem sternenstaub bepudert.

als bobbie den hügel hinauf sah, schob sich die schneefläche wie ein weisses blatt papier vor den schwarzen hintergrund. wo aber der hügel aufhörte und der himmel begann, bildete das weisse hier und das schwarze dort eine schnurgerade linie, nur von einem baum unterbrochen, der ganz rechts, ein wenig unterhalb des horizonts stand, und mit seinen dünnen ästen in den himmel griff.

je weiter sich bobbie der spitze des hügels näherte, desto mehr senkte sich der horizont, während der himmel immer höher stieg. er legte eine pause ein, denn die luft schnitt ihm kalt in die lungen. er sah, dass sich zwischen hügel und himmel ein leuchtendes band zeigte - gerade so, als hätte sich ein weisser mond kreisrund vor die sonne geschoben, sie geschwärzt und nur ihre äusserste, rotglühende hülle ausgespart.

eine girlande aus licht - bobbie wusste, dass dies der widerschein der stadt war, die hinter dem hügel lag und von dort ihr licht herauf schickte. er hustete. dann war es still. so still, dass er sein herz in den ohren hörte. wann hatte er zuletzt in einer so grossen stille gestanden?

wieder sah er zum himmel - so als hoffte er, dass wenigstens die sterne ein leises „klingeling“ anstimmen würden - auf ihrem ansonsten lautlosen weg durch den himmel. aber sie standen dort regungslos, blinkten zuweilen hinaus in die dunkelheit - und schwiegen.

Bobbie hatte so eine grosse stille zuvor erst einmal erlebt: das war in der wüste gewesen. er hatte auf dem weg durch berge, felsen und geröll das auto angehalten und war - noch mit dem geräusch des motors in den ohren - aus dem fahrzeug gestiegen. er fand sich in einer ockerfarbenen, mit grossen und kleinen steinen versperrten und versandeten ebene wieder, deren verlorener mittelpunkt er war.

ein schmerz kroch in seine brust und drückte sein herz zusammen. „halb so schlimm“ hörte er sich sagen, wusste aber, dass diese worte nur dann trösten, wenn sie ein anderer spricht. der schmerz stiess tiefer in sein herz, denn jetzt begriff bobbie, dass er nicht nur in einer leeren welt, sondern auch in einer grossen - zu grossen - stille angekommen war. die welt hatte beschlossen, einfach zu schweigen. was gab es auch viel zu sagen - angesichts einer wüste, aus der sich alles leben zurückgezogen hatte? die stille tat nichts anderes, als sich erschrocken nach der lärmenden welt zu sehnen.

aber der schnee ist keine wüste - bobbie ging noch einige schritte weiter, bis er den höchsten punkt des hügels erreicht hatte.

Es gibt oasen in der wüste. manche sind nicht grösser als einige dattelpalmen mit zwei, drei hütten und einem fast vertrockneten brunnen. andere wiederum ziehen sich wie ein grünes palmenband längst des horizonts, vor dem viele gelb-schmutzige lehmhäuser stehen. hier wie dort wohnen menschen, deren leben erst beginnt, wenn die hitze des tages vergeht und die nacht ihnen kühle träume schenkt.

das muss manchmal reichen, um ein glückliches leben zu führen.

bobbie ging hügelaufwärts und wusste, was ihn erwartete. deswegen zögerte er, so wie ein kind es tut, wenn es auf der schwelle zum weihnachtszimmer steht und sich - schon im angesicht des weihnachtsbaums - noch einmal abwendet, um die spannung zu steigern, weil es weiss, dass bald alle sehnsucht gegen die eine grosse erfüllung getauscht ist - die doch immer nur neue wünsche hervor bringt.

die sterne, die wüste, der schnee.

Bobbie wusste, dass dies die quellen waren, aus denen er trank. das wasser war manchmal trüb und bitter - aber wer durstig ist, trinkt und fragt nicht weiter. auch das schweigen der welt war im laufe der zeit zu etwas geworden, das ihn kaum noch beunruhigte, vielmehr an einen kühlen bach erinnerte, der irgendwo aus den felsen bricht, über kleine vorsprünge, steine und klippen fliesst, sich unter walnuss- und mandelbäumen verzweigt und schliesslich unbemerkt im erdreich versickert.

als bobbie über die spitze des hügels hinweg und hinunter ins tal schaute, war es ihm, als ob nicht er, sondern die welt zu atmen vergass. dort unten lag die stadt. sie zog sich von links nach rechts durch seine augen und war durchleutet von den lichtern der häuser und laternen. in ihrer mitte reckten sich schatten hinaus in die nacht, die wie angespitzte bleistifte aussahen.

bobbie betrachtete sie nacheinander - nichts fehlte, alle standen noch an ihrem platz. er stampfte mit den füssen in den schnee und schlug sich mit den armen in die seiten, um die kälte aus seinen kleidern zu vertreiben.

denn die nacht war so ungeheuer still.

er dachte darüber nach, wie es wohl gewesen war, als diese bleistiftschatten aus einem schwarzen himmel getroffen wurden, sie deswegen ihre vertraute gestalt verloren und, aufgelöst in tausend steinen, zusammen brachen.

das alles zu erinnern, wäre vielleicht nicht nötig gewesen - es hatte sogar stimmen gegeben, die dieses unglück als gerecht bezeichneten und meinten, dass sich deutschland längst selbst zerstört hatte - wenn es nicht den anderen bobbie gegeben hätte, der an einem wintertag auf dem hügel stand, hinunter sah und erschrak. die stadt war ausradiert und mit ihr alle kirchen, deren türme doch eigentlich für die ewigkeit gebaut waren.

Bobbie gibt es nicht mehr - wer weiss, ob es ihn je gegeben hat. deswegen wollte bobbie auch nicht weiter darüber nachdenken, was dieser andere bobbie an jenem abend gefühlt hatte, als er den weg hinauf zum hügel genommen hatte und nichts mehr von dem wieder fand, was ihm wichtig und vertraut war.

die sterne, die wüste, der schnee. das muss manchmal reichen.

die stadt lag da wie ein schweres, goldenes armband, das reiche schmuckhändler manchmal in ihrer auslage zeigen - es jedoch sorgsam verbergen, wenn sie ihre läden am abend verschliessen. in dieser nacht aber hielten die schmuckhändler ihre geschäfte offen - so als ob sie wetteifern wollten, wer von ihnen den schönsten schmuck besitzt.

bobbie war am ziel seiner wanderung: die sterne, der schnee, die stadt, die stille. aber nicht nur deswegen war er auf den hügel gestiegen. es gab noch einen anderen grund. er schaute erst auf die stadt und dann auf seine uhr:

in wenigen sekunden würde die stille zerreissen, die stadt aufjauchzen, der himmel sich öffnen und die sterne ein grosses lied singen.

Es begann an seinem linken ohr.

schüchterne klänge kamen zu ihm herauf. die kleinste kirche - sie stand ganz am rande seines blickfelds - eröffnete das glockenspiel. nur wenig später antwortete - schon viel lauter - eine zweite kirche, die ihre türme hoch in den schwarzen himmel reckte, aber doch nicht hoch genug, um die dritte - sie stand fast in der mitte - zu übertönen, die ihre eigenen, schweren glocken in gang setzte. alles war bereits ein grosses glockengewitter, das als schwere melodie über die stadt hinweg rollte. weiter rechts schwiegen noch einige türme, so als hörten sie in die grossen glocken hinein. erst zögernd, dann aber um so lauter, hoben zuletzt auch sie zum spiel an. ihre glocken waren wie kontrapunkte, die sich in die kleinen verzögerungen und pausen des grossen konzerts setzten, um schliesslich im geläut aller glocken zum himmel aufzusteigen, wo die sterne ihr echo aufnahmen und es weiter zu anderen sternen schickten, die kein mensch je gesehen hat.

Bobbie fing eine schneeflocke auf, die mit dem wind in den bahnhof geweht war. kaum lag sie in seiner handfläche, löste sie sich auf und war verschwunden. er ahnte:

so richtig schneien würde es auch an diesem christabend nicht.


copyright: r.d. venzlaff, weihnachten 2005


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
bea und nubira gewidmet!

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