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Die nacht war dunkel. david konnte sich nicht erinnern, jemals eine dunklere nacht erlebt zu haben. alle sterne waren verschwunden und zwischen himmel und erde standen schwarze wolken. er hatte mit den jüngeren hirten am feuer gesessen und schweigend die suppe gelöffelt, dann hatte jeder einen platz unweit des feuers gesucht, sich in eine decke gerollt und auf den schlaf gewartet.

manchmal blökte eines der schafe. sie standen dicht zusammen gedrängt in einem gatter, das morgens abgebaut und abends an anderer stelle wieder aufgebaut wurde. die hirten entfernten sich nie besonders weit von bethlehem - aber doch so weit, dass sie abends nicht mit den schafen in die stadt zurückkehren konnten, sondern die nächte auf den feldern verbrachten, die sich westlich von bethlehem bis zu den bergen hinzogen. eigentlich war es aber auch gleichgültig, wo sie übernachteten. windschiefe häuser aus lehm boten keinen besseren schutz vor der kälte als die felle der schafe, in die sie sich nachts rollten.

david wusste von den jüngeren hirten nicht viel mehr, als dass sie zusammen in bethlehem aufgewachsen waren. es gab auch einige ältere hirten, die mindestens so alt wie sein vater waren. sie hielten sich jedoch abseits, sassen an ihrem eigenen feuer, besprachen dinge, von denen david nichts verstand, und bestimmten an jedem morgen die weideplätze für die schafe. david hatte weiter nichts zu tun, als den alten hirten zuzuhören und auszuführen, was sie befahlen.

als er sieben jahre alt geworden war, rief ihn sein vater zu sich. david sass wie jeden tag in der küche und beobachtete gerade seine mutter, wie sie den teig fürs brot knetete.

sein vater brachte ihn zu ibrahim, dem als ältesten hirten die schafe des dorfes anvertraut waren. david wusste, dass fünf davon seinem vater gehörten. im frühjahr wurden es jedoch manchmal acht oder zehn, im winter aber schrumpfte ihre zahl wieder auf fünf. es wurden also nie mehr - aber auch nie weniger. über dieses rätsel dachte david oft nach, ohne dass ihm eine vernünftige lösung einfiel.

„das ist mein sohn david. ich habe beschlossen, dass er ein hirte werden soll. ich bitte dich, ihn in deine obhut zu nehmen - lehre ihn, die schafe zu hüten!“ mit diesen worten schob sein vater ihn zu ibrahim hin, in dessen gesicht sich keine regung zeigte.

noch am selben tag verliess david sein elternhaus und wanderte mit ibrahim hinaus zu den anderen hirten. am nächsten tag würden sie mit den schafen weiter über die felder ziehen und david ahnte, dass er seine eltern so bald nicht wiedersehen würde.

jetzt war david endgültig kein kind mehr. vorbei waren die zeiten, als er ungestört auf der türschwelle des elternhauses sitzen konnte, um das treiben in der gasse zu beobachten. erst hatte er kleinere, dann grössere aufgaben übernommen und war dabei seinen kindertagen unmerklich entwachsen. musste er anfangs seiner mutter zur hand gehen, um entweder die wäsche vors haus zu tragen oder den hof zu fegen, erhielt er später die aufgabe, reisig für das herdfeuer zu sammeln. dazu musste er täglich weite strecken zurücklegen, um trockene äste, die nur mühsam zu bündeln waren, oder zweige, die der wind zu festen ballen verknotet hatte, zu finden.

wie gerne hätte er sich mit den anderen jungen getroffen. sie hatten bestimmt manches zu erzählen und konnten ihm dinge zeigen, von denen er nichts wusste. weil aber auch sie ihren eltern, kaum dass sie auf zwei beinen stehen konnten, zur hand gehen mussten, blieb dafür keine zeit und david wusste nicht viel mehr über sie als ihre namen. die mädchen aus der nachbarschaft bekam er überhaupt nicht zu gesicht. sie blieben im haus bei ihren müttern und wurden sorgsam vor fremden blicken geschützt.

spiele und lieder kannte david nicht. er stand vor morgengrauen auf, wusch sich, ass das brot, das ihm seine mutter hinstellte und trank die noch warme ziegenmilch. dann machte er sich an die arbeit und suchte die umgebung nach feuerholz ab. am späten nachmittag kehrte er zurück und warf das schwere reisigbündel von seinem rücken neben den herd. seine mutter stellte ihm noch einmal brot und ziegenmilch hin. er ass und trank davon und legte sich danach in eine ecke des hauses auf ein schaffell, um auszuruhen und ihn zu überstehen ...

den bösen, schwarzen schlaf ...

einmal hatte er judith, die nachbarsfrau, belauscht, wie sie seiner mutter ins ohr flüsterte: „ich habe geträumt, dass es ein mädchen wird!“ david verstand von alledem nichts, am wenigsten aber das wort „traum“. er hatte noch nie geträumt.

er kannte nur eine schwarze leere vorm nächsten erwachen.

jetzt trottete er ibrahim hinterher. die sonne war hinter den bergen verschwunden und es wurde kalt. um diese zeit hätte er zu hause längst auf seinem schaffell gelegen, aber damit war es nun vorbei. er wusste nicht, wo die hirten zur nacht ihr lager aufschlagen würden, ahnte aber, dass es immer nur die nackte erde sein würde, mit einem harten stein als kopfkissen und einem - immerhin gefütterten - wams als schutz vor dem kalten wind.

***

David lernte das handwerk eines hirten. er trieb die schafe zusammen, suchte nach verirrten tieren, säuberte ihre hufen mit einem spitzen stein, molk sie, zog die kleinen lämmer aus den bäuchen ihrer mütter, führte die schafe zur tränke und suchte für sie nach weideplätzen, die noch nicht abgegrast waren. er ass das von ibrahim verteilte brot und schlief nachts einen traumlos schwarzen schlaf.

so ging es jahr um jahr, es wurde sommer, winter, wieder sommer und wieder winter ...

die baumlosen, trockenen felder um bethlehem, die in der ferne von bergen begrenzt waren, und auf denen die hirten ihre schafherden weideten, wurden von einigen wegen durchschnitten, die kaum auffielen, wenn sie nicht von grösseren steinen gesäumt gewesen wären. sie dienten den menschen, die manchmal auf einem esel, viel öfter aber zu fuss unterwegs waren, als orientierung.

manchmal vergingen wochen, bis die hirten einem einsamen wanderer begegneten. immer baten sie ihn, mit ihnen das brot zu teilen, und erfuhren auf diese weise, woher er kam und wohin er ging. sie hörten von fremden orten hinter den bergen - und manchmal von einem see, der grösser und weiter als der himmel war.

***

David hatte gerade ein lamm eingefangen, das sich in einer senke verirrt hatte, als er in der ferne zwei wanderer bemerkte, die sich langsam in seine richtung bewegten. als sie genügend nah heran gekommen waren, konnte er einen mann und eine frau erkennen. auch die übrigen hirten hatten die beiden entdeckt, verliessen ihre arbeit und gingen ihnen ohne hast, aber doch neugierig entgegen.

die fremden waren stehen geblieben. vielleicht empfanden sie furcht, in dieser einsamkeit auf menschen zu treffen, von denen sie nicht wussten, ob sie ihnen gut oder schlecht gesonnen waren. david war als erster bei ihnen und streckte ihnen die hand hin. als er die frau begrüsste, sah er, dass sie schwanger war - aber auch, dass die furcht aus ihrem gesicht wich und sie ihn anlächelte. jetzt waren die anderen hirten herangekommen. sie umringten die beiden fremden und fragten, woher sie kamen und wohin sie wollten. nur ibrahim, der alte hirte, blieb einige schritte zurück und forschte mit nachdenklichem blick in den gesichtern der beiden.

der mann hatte seinen arm um die schulter der frau gelegt und antwortete geduldig auf die fragen der hirten: „wir kommen aus nazareth und müssen nach bethlehem. ein gesetz des kaisers im fernen rom befiehlt, dass wir uns zählen lassen sollen. habt ihr davon nicht gehört?“

die hirten schüttelten ihre köpfe. wer sollte ihnen so eine nachricht überbringen? neuigkeiten hörten sie höchstens von den fremden, die manchmal ihre wege kreuzten. nach bethlehem aber, wo die nachricht vielleicht schon bekannt war, kamen sie nur einmal im jahr, wenn händler von überall her anreisten, die schafe in augenschein nahmen und einige von ihnen kauften. sie feilschten mit den besitzern der tiere um den preis und machten sich danach auf den heimweg. einige tage später trieben die hirten die übrig gebliebenen schafe zusammen und brachen erneut auf, um auf den feldern der umgebung nach futterplätzen zu suchen.

ibrahim forschte mit zusammengekniffenen augen im gesicht des fremden, der davon erzählte, dass er aus nazareth kam. der alte hirte wollte die bilder festhalten, die in seinem kopf aufblitzten.

... er sah einen kleinen jungen, der sich mit traurigen augen nach ihm umsah.

... er sah eine schüssel mit hirsebrei, nach der zwei kinder ihre hände ausstreckten.

während der fremde zu den hirten sprach, hörte ibrahim angestrengt zu - so als hoffte er, in den worten eine erklärung für die bilder, die in seinen erinnerungen aufstiegen, zu entdecken.

„der kaiser in rom hat befohlen, dass die männer mit ihren familien an den ort ihrer geburt zurückzukehren, um sich zählen zu lassen. deswegen sind wir unterwegs ...!“

„... du kommst aus bethlehem? ich kenne dich nicht!“ fiel ihm david ins wort und schaute fragend zu den anderen hirten. sie schüttelten aber nur den kopf. diesen mann und diese frau hatten auch sie noch nie gesehen.

ibrahim aber wusste plötzlich, wer der junge war, der sich in seinen erinnerungen so traurig nach ihm umsah. er wusste auch, dass die kleinen kinderhände, die sich nach der schüssel mit dem hirsebrei streckten, zu ihm - aber auch zu joseph, dem sohn des tischlers samuel, gehörten

„ich kenne ihn!“ rief ibrahim und trat zu dem fremden. „willkommen, joseph. wenn auch alle dich vergessen haben, meine erinnerungen taten es nicht!“

der mann sah ibrahim erstaunt an. er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn jemand erkennen würde. er war ein kleiner junge gewesen, als seine mutter plötzlich starb und samuel ihn bald darauf an die hand nahm, um bethlehem zu verlassen und nach nazareth zu gehen, wo eine seiner schwestern wohnte, die sich des jungen annehmen sollte.

von denen, die seine eltern kannten, lebte gewiss niemand mehr und die erinnerungen derjenigen, die in josephs alter waren, reichten bestimmt nicht so weit in die vergangenheit zurück ...

... und dennoch hatte soeben jemand seinen namen gerufen.

„ja, ich heisse joseph. und wer bist du?“

„ich bin ibrahim aus bethlehem. meine eltern hatten einen nachbarn, den tischler samuel. es war ein trauriger tag, als seine frau sarah starb. meine mutter war gleich bereit, den kleinen joseph aufzunehmen und sorgte so gut es ging für uns beide. aber auch sie war nicht gesund und zu essen hatten wir auch nicht jeden tag, obwohl wir uns die schüssel hirsebrei brüderlich teilten. deswegen ging samuel eines tages mit joseph fort aus bethlehem. ich sah ihnen lange nach, als sie den weg in die berge nahmen und irgendwann verschwanden. das ist die geschichte vom tischler samuel und seinem sohn joseph, so wie ich sie erinnere!“

ibrahim trat zu joseph, in dessen gesicht er freude und überraschung sah, und gab ihm die hand.

die hirten kehrten zu ihrem lagerplatz zurück, breiteten dort decken aus und baten joseph und die frau, am feuer platz zu nehmen. „sie friert!“ dachte david, als er die frau aus den augenwinkeln beobachtete, wie sie ihre hände über das feuer hielt, sie aneinander rieb und sich dann fest in ein dünnes tuch wickelte, das auf ihren schultern lag. david stand auf, lief zu seinem schlafplatz, um ihr seine decke zu holen.

„für dich und dein kind!“

die frau sah überrascht auf. „ich danke dir - wie heisst du?“

„mein name ist david - und deiner?“

„maria!“

„und wie wird dein kind heissen?“

maria lächelte und sah an sich herunter. „unsere tochter soll martha heissen. wird es aber ein junge und geht es nach joseph, bekommt er deinen namen. behalte aber ich das letzte wort, wird er jesus heissen!“

„das ist ein schöner name!“ nickte david und schaute mit einem skeptischen blick zu joseph. „ich hoffe wirklich, dass du das letzte wort hast.“

ibrahim sass neben joseph und drehte nachdenklich einen leeren becher in der hand. „wo werdet ihr in bethlehem wohnen?“

„das weiss ich nicht.“ joseph blickte zu boden. „ich habe dort keine verwandten mehr und kennen wird mich auch sonst niemand. du, ibrahim, bist wahrscheinlich der einzige, der sich noch an mich erinnert ...“

„... der dir und deiner frau aber auch keine unterkunft anbieten kann, denn wie du weisst: mein bett - wenn man eine dünne decke auf der nackten erde so nennen will - steht seit jahr und tag auf den feldern rings um bethlehem.“

„mache dir keine sorgen, ibrahim. mit gottes hilfe werden wir schon etwas finden. und nun müssen wir aufbrechen - bis bethlehem ist es noch weit.“

joseph, maria und die hirten erhoben sich, um voneinander abschied zu nehmen. „es tut mir leid, nichts weiter für euch tun zu können!“ seufzte ibrahim. joseph aber fasste ihn an den schultern: „du hast dich an das kind erinnert, mit dem du einst den hirsebrei geteilt hast. das ist mehr als genug!“

david sah joseph und maria lange nach. erst als sie hinter einem hügel verschwunden waren, griff er nach der decke, die er maria gegen die kälte gegeben hatte und lief zu den schafen zurück. „wie schön sie gelächelt hat“, dachte er, „es wird bestimmt ein junge sein ... und er wird jesus heissen!“

***

Die nacht war dunkel. david konnte sich nicht erinnern, jemals eine dunklere nacht kennengelernt zu haben. alle sterne waren verschwunden, zwischen himmel und erde standen schwarze wolken. er hatte wie jeden abend mit den jüngeren hirten am feuer gesessen, sie löffelten schweigend ihre suppe, dann suchte sich jeder einen platz unweit des feuers, rollte sich in eine decke und wartete auf den schlaf.

manchmal blökte eines der schafe.

david dachte an maria und an ihr lächeln. „es wird ihr doch gut gehen?“ überlegte er. „was aber ist, wenn joseph keine unterkunft gefunden hat und sie in dieser kalten nacht ihr kind auf freiem feld zur welt bringen muss?

dann erfriert der kleine jesus!“

dieser gedanke stach david so tief ins herz, dass er sich voller angst aufrichtete. „wir hätten bei ihnen bleiben müssen. ibrahim wäre es bestimmt gelungen, sie irgendwo in bethlehem unterzubringen.“

er wollte den alten hirten wecken und ihn bitten, nach bethlehem zu laufen, um nach joseph und maria ... vor allem aber nach dem kleinen jesus ... zu schauen.

„du bist nur ein dummer, kleiner hirtenjunge,“ ermahnte er sich gleich darauf. „ibrahim aus dem schlaf zu holen, bedeutet, seinen zorn zu wecken ... und wer weiss denn, wann maria ihr kind zur welt bringt ... vielleicht heisst es am ende gar nicht jesus - sondern martha oder david?“

er rollte sich wieder in seine decke und schloss die augen. „ich muss es aber wissen!“ flüsterte er. „wäre ich doch schon so alt wie ibrahim, dann würde ich mich gleich auf den weg machen. was hatte joseph beim abschied gesagt? mit gottes hilfe werden wir schon etwas finden. warum vertrauen die erwachsenen eigentlich so sehr auf gott?“

david öffnete seine augen und blickte in den schwarzen himmel, an dem sich kein stern zeigte. „gott ist nur eine ausrede, wenn man nicht weiter weiss!“ seufzte er.

er erinnerte sich an den tag, als zwei der lämmer, die er hüten sollte, in eine tiefe schlucht gestürzt waren. er konnte nicht helfen und gar nichts tun. das eine tier war sofort tot, das andere war verletzt und schrie jämmerlich, weil es nicht wieder auf die beine kam. david stand am rand der schlucht und schaute voller schrecken hinunter. die schreie wurden nach einer weile immer leiser. da fiel david auf die knie und rief - so laut er konnte: „gott, hilf doch!“

gleich darauf war auch das zweite lamm tot.

„vielleicht gibt es gar keinen gott!“ dachte david und spuckte aus. in diesem moment spürte er, wie in dieser schwarzen nacht ein noch viel schwärzerer schatten auf ihn fiel. jemand stand hinter ihm. er erschrak, drehte sich um und erkannte ibrahim.

„ich sehe, dass du auch nicht schlafen kannst!“

david fühlte furcht in sich aufsteigen. es bedeutete nichts gutes, wenn ibrahim um diese zeit sein lager verliess. er konnte sich auch nicht erinnern, dass der alte hirte jemals des nachts ein gespräch mit den jüngeren hirten begonnen hätte.

„was siehst du dort am himmel?“ fragte ibrahim und david folgte mit seinem blick dem ausgestreckten zeigefinger des hirten. er war überrascht. in der ferne war die wolkendecke aufgerissen und hatte ein stück des himmels freigegeben. aus diesem wolkenspalt funkelte hinter einem milchigen schleier ein grosser, heller stern.

„ein stern ...!“ antwortete david.

„ ... der da nicht hingehört!“ ergänzte brahim. „diesen stern habe ich nie zuvor gesehen. dabei tue ich seit undenklichen zeiten nichts anderes, als mir nachts den himmel anzuschauen.“

david sah in die dunkelheit hinaus. „... und er ist heller als alle anderen sterne zusammen. es kommt mir vor, als ob sich die wolken nur deswegen ein wenig öffnen, damit wir ihn besonders gut sehen können!“

„und das seltsamste ist ...“ ibrahim flüsterte jetzt, so dass david ihn kaum verstand. „ ... der stern steht genau über bethlehem.“

david fielen wieder seine sorgen ein: was war, wenn in dieser nacht der kleine jesus zur welt kam und seine eltern kein dach über dem kopf hatten?

„ibrahim, wir müssen ...!“ weiter kam david nicht, denn plötzlich lösten sich die wolkenschleier auf, die den stern milchig-trüb verhüllt hatten. ein blendend grosses licht brach aus den schwarzen wolken und legte sich als funkelnde girlande auf berge und täler. ein besonders heller strahl aber beleuchtete bethlehem.

„wir müssen uns beeilen!“ rief ibrahim. „irgendetwas geschieht ... lasst uns nach bethlehem gehen!“

„... das wollte ich schon die ganze zeit vorschlagen!“ pflichtete ihm david bei und kam sich dabei klug und fast erwachsen vor.

„und was hat dich zu deiner eingebung gebracht?“ ibrahim sah david spöttisch an.

„jesus!“

„wer um gottes willen ist jesus?“ ibrahim schüttelte den kopf.

„ ... dann eben david oder martha!“ erwiderte david kleinlaut.

sie weckten die anderen hirten, die ebenso erstaunt waren, als sie den stern sahen, und machten sich auf den weg. nur der alte edzad blieb, weil er nicht mehr gut zu fuss war und - fast blind - das grosse licht über bethlehem nicht sehen konnte bei den schafen zurück. er stand, auf seinen stock gestützt, inmitten der tiere, und wusste nichts von ibrahims neugier und davids sorge.

der weg nach bethlehem war wegen des hellen sterns gut zu erkennen. die hirten hatten es eilig, weil sie hofften, zeugen einer besonderen schauspiels zu werden - wenn sie auch überhaupt nicht wussten, was sie erwartete.

woher der fremde kam, konnte keiner von ihnen sagen. plötzlich stand er am weg, so als wäre er aus den dunklen, nächtlichen schatten geradewegs ins licht getreten. jetzt hatte ihn auch david, der einer der letzten in der schar der hirten war, bemerkt. „wie sonderbar der mann aussieht“, dachte er. „wahrscheinlich hat er sich verirrt ... und wartet auf uns, um sich kundig zu machen.“ die hirten blieben stehen, sahen den fremden neugierig an, der aber kein wort sagte, nur die arme hob, als ob er sie grüssen wollte.

in diesem moment begann es über ihren köpfen zu leuchten. es war, als habe jemand ein feuer entzündet. wenig später hatte sich der himmel bis zum fernen horizont in ein aufloderndes, rot glühendes flammenmeer verwandelt - so hell, dass es den besonders hellen stern über bethlehem zu verbrennen drohte. david spürte, wie sich sein herz zusammen zog und furcht in ihm aufstieg.

jetzt begann der fremde zu sprechen, so als wüsste er längst, was in dem jungen hirten vorging:

„fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch grosse freude. euch ist heute ein kind geboren ... ihr werdet es in einem stall finden!“

„jesus!" dachte david, "... aber nur, wenn es ein junge ist ... sonst eben martha.“

war aber der fremde nur deswegen gekommen, um ihnen das zu sagen? david konnte es nicht glauben. am allerwenigsten jedoch verstand er, warum nun gerade ihnen - den hirten - ein kind geboren sein sollte. aber genau davon hatte der fremde soeben gesprochen.

die anderen hirten dachten über das, was der fremde gesagt hatte, wohl gar nicht weiter nach. sie sahen nur den himmel in flammen, hörten eine laute stimme und fielen - einer nach dem anderen - auf die knie.

„es hat sie umgehauen ...“ dachte david. dann knickten auch ihm die beine ein und er sank zu boden.

der fremde breitete die arme aus und stand jetzt inmitten rotglühender flammen - so wenigstens sahen es die hirten. david wusste es jedoch besser, wenn er auch zugeben musste: im rücken des fremden loderte tatsächlich ein grosses himmelsfeuer.

„was macht ihr da?“ rief david, als er sah, dass sich die hirten flach auf den boden warfen und regungslos liegen blieben.

„ein engel!“ hörte david ibrahim keuchen, der neben ihm im sand lag. „in dieser nacht geschieht ungeheueres!“

als sich die hirten wieder aufrichteten, war der fremde verschwunden. auch das feuer am himmel wurde schwächer, bis es ganz erlosch. der stern über bethlehem aber leuchtete um so heller in die nacht.

die hirten klopften den sand aus ihrer kleidung und setzten ihren weg fort. jetzt hatten sie es noch eiliger als zuvor, denn sie ahnten, dass etwas ausserordentlich grosses auf sie wartete. sie mussten aber erst noch einige leute in bethlehem fragen, bis sie den stall vor den toren der stadt fanden.

die hirten klopften schüchtern an die tür, traten dann - einer nach dem anderen - ein und umringten maria und joseph, in deren mitte eine krippe stand. dort entdeckten sie den säugling, der in dieser nacht zur welt gekommen war.

die hirten schauten sich ratlos um. sie hatten etwas besonderes erwartet.

ibrahim, der meinte, dass der engel nur zu ihm als dem ältesten hirten gesprochen hatte, fühlte sich gründlich ernüchtert. die aufregung der nacht, so stellte er fest, hatte zu nichts anderem geführt, als mit leeren händen vor joseph und maria zu stehen und ihnen auf diese weise die trostlose armut eines hirten zu offenbaren.

sie hatten ein menschenpaar mit ihrem neugeborenen säugling gefunden. das war nicht aussergewöhnlich ... sondern ganz und gar alltäglich. dafür hätten sie den weiten weg nicht auf sich nehmen müssen. die hirten waren enttäuscht, auch wenn der eine oder andere aus den tiefen seiner kleider ein bündel hervorzog und es joseph mit den worten reichte:

„ich freue mich wirklich ...“ oder „wie hübsch das kind ist ...".

david war wohl der einzige, der keine enttäuschung spürte. er war - im gegenteil - froh, maria wieder zu sehen. deswegen drängte er sich auch an den hirten vorbei und trat zu ihr. sie lächelte, als sie ihn sah und deutete auf die krippe. david sah hinein und konnte sich an dem säugling, der dort in leinentüchern gewickelt lag und schlief, nicht satt sehen. er musste maria unbedingt eine frage stellen:

„martha oder david?“

maria lachte auf, denn jetzt erinnerte sie sich wieder an das gespräch mit dem jungen hirten. „weder noch“, antwortete sie. „er heisst jesus!“

„gott sei dank“, seufzte david und sah zu joseph, der gerade einige scheite holz ins feuer warf. „es hätte kein anderer name sein dürfen!“

maria lächelte: „joseph denkt genau so!“

„wenn jesus gross ist, will ich sein freund sein!“ david sagte es laut und mit so viel nachdruck, dass joseph auf den jungen hirten aufmerksam wurde:

„wie schön, dass du ihm deine freundschaft schenkst. ich werde ihm von - wie heisst du?“ joseph sah david fragend an.

„david!“

„ein guter name. wäre es nach mir gegangen ...“

er hustete.

„ ... ich werde also jesus, wenn er alles versteht, berichten, dass es in bethlehem jemanden gibt, der sein freund ist.“

„er wird freunde brauchen ...“ flüsterte maria, aus deren gesicht das lächeln verschwunden war. sie sah stattdessen ernst auf ihren sohn, der in der krippe schlief und nichts von dem mitbekam, was sich um ihn herum zutrug.

als die hirten den stall verlassen hatten, kam bereits die morgendämmerung über die berge und liess den hellen stern verblassen. die hirten schlugen resigniert und müde den weg ein, der auf die felder und zu ihren schafen führte.

ibrahim, der ebenso enttäuscht und beschämt war, begann jedoch - je länger er unterwegs war und je tiefer er nachdachte - das geschehen auf eine neue und ganz andere weise zu sehen ...

der leuchtende stern, der flammende himmel, der engel und das kind in der krippe.

... wenn er das alles nicht getrennt, sondern zusammen sah und die verschiedenen erlebnisse als ein einziges ereignis deutete, verbarg sich darin ein grosses geheimnis. schliesslich ahnte er - und fand selbst nach langem nachdenken keine andere erklärung - dass es gott war, der in dieser nacht zu ihnen gesprochen hatte.

david lief neben ibrahim her und bemühte sich, jede einzelheit zu erinnern. er durfte nichts vergessen, denn er wollte eines tages seinem freund jesus berichten, was sich in der nacht seiner geburt zugetragen hatte ...

der leuchtende stern, der flammende himmel, der engel und das kind in der krippe.

... er konnte sich nicht erklären, was das alles zu bedeuten hatte, wusste aber, dass ihm ein wunder begegnet war. „vielleicht“, so dachte er, „werde ich eines tages verstehen, was es mit dem engel auf sich hatte, der mir von der geburt jesu berichtete.“

als die hirten ihr lager erreichten, war es heller tag geworden. dennoch wickelten sie sich in ihre decken, um zu schlafen. david aber fürchtete wie immer die schwarze leere, in die der fiel, um daraus nach vielen stunden und mit schweren gliedern zu erwachen.

„auch der tod hat keine träume“, dachte er. wenn er schlief, träumte er stets davon, tot zu sein.

er erinnerte sich an die lächelnde maria und ihren sohn jesus ...

***

Und träumte von einem see, in dem so viele fische waren, dass davon alle menschen, die an seinem ufer standen, satt wurden. die menschen waren gekommen, um einem mann zuzuhören, der in einem kleinen fischerboot stand und ihnen von den engeln und der liebe erzählte ...

... und träumte von einem tisch, an dem er zusammen mit freunden sass, einer ihnen das brot und den wein reichte und dabei von den menschen und der liebe sprach.

dann erwachte er.

der alte hirte edzad sass in seiner nähe und schaute mit zusammengekniffenen augen zu den schafen, die in in der nähe weideten. weil er aber blind war, hörte er sie nur blöken.

„edzad ... ich habe geträumt!“ david sprang auf. er konnte sich an jede einzelheit seiner träume erinnern ... die fische, der wein, das brot ... zum ersten mal in seinem leben war der schlaf nicht als schwarzer tod zu ihm gekommen, sondern als eine folge von wunderbar verrätselten bildern.

„edzad ... ich habe geträumt!“

der alte hirte neben ihm schüttelte missbilligend den kopf.

„jungen in deinem alter sollten nicht träumen, sondern arbeiten. vergiss also deine dummen träume und kümmere dich um die schafe!“


copyright: rolf d. venzlaff, weihnachten 2006


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

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