Cover

I.

„viele felsgravuren in der sahara können wir sogar auf ein alter von 2000 jahren datieren. sie zeigen stilisierte menschen, palmen, tiere, aber auch geritzte zeichen, mit denen sich die vorbei kommenden karawanen über brunnen, wasserlöcher und weideplätze benachrichtigten.“


II.

er legte das buch zur seite. er spürte, dass er sich nicht mehr auf den inhalt konzentrieren konnte. zu viele gedanken waren in seinem kopf, die er nicht beiseite schieben konnte. warum hatte er sich nicht auf das ungute ziehen in der magengegend verlassen, als man ihm den auftrag gab? er kannte diesen schmerz sehr genau. das war im übrigen die untrügliche warnung gewesen, seine finger davon zu lassen. dieses mal hatte er sie jedoch in den wind geschlagen, weil das, was er hörte, ganz und gar harmlos klang. die quittung dafür erfolgte prompt.

III.

das kleine dorf subaala erreicht man nur, wenn man die teerstrasse, die aus der hauptstadt führt, nach einer weile verlässt und eine staubige sandpiste nimmt. deswegen hatte er sich ali - den besten fahrer, den er kannte - genommen, um in die palmenoase zu gelangen.

am morgen der reise verstaute er seine tasche und die fotoausrüstung im jeep, kletterte zu ali ins auto und gab ihm mit einem handzeichen zu verstehen, dass sie abfahren konnten.

IV.

pierre lamarque, der redakteur eines geografischen verlags, bei dem der fotograf angestellt war, hatte ihn gebeten, nach felsenzeichnungen zu suchen, die es irgendwo in der nähe der hauptstadt geben musste. den hinweis darauf hatte lamarque ganz zufällig in einem reisebericht gefunden, der im 19. jahrhundert von einem anonymen autor verfasst worden war. die ortsangaben waren vage, aber was er dort über die felsenzeichnungen las, erregte seine neugier wie lange nicht.

V.

„gelegentlich meiner recht beschwerlichen reise durch die südlichen und östlichen teile des wadi batrak, die ich unter mitnahme von yussuf, mein schwarzgesichtiger diener, und hocim, ein eingeborener und ortskundiger führer, unternahm, gerieten wir nach zwei tagesmärschen durch die hitze der wüste in einen furiosen und entsetzlichen sandsturm, der meinem treuen yussuf fast das leben gekostet hätte. ein sandwirbel, wie ich ihn grösser und heftiger nie erlebt habe, erfasste meinen armen diener, der etwas abseits die zelte für die nacht aufschlug, und schleuderte ihn mitsamt der planen und stecken hoch in die luft. beim aufprall in den wüstensand verletzte sich der ärmste so erbärmlich, dass ich meinte, ihn gott anempfehlen zu müssen.

yussuf aber wollte seinen glaubensbruder nicht dorthin ziehen lassen, wo wir alle einmal das paradies sehen werden, sondern bedeutete mir, in einem nahen dorf nach hilfe zu fragen. ein dorf - hier in der gottverlassenen wüste des wadi batrak? doch yussuf liess sich nicht beirrren, schulterte seinen schmalen sack mit den wenigen habseligkeiten, verschwand hinter den dünen und liess mich mit dem leise klagenden yussuf allein zurück.

bald hatte ich für meinen armen diener das zelt aufgebaut, in das ich ihn bettete und mit dem letzten wasser versorgte, das ich in unseren mitgeführten schläuchen fand. der sturm hatte sich verzogen und nichts erinnerte mehr an seine gewalt und zerstörungswut. stattdessen umfing mich die stille der wüste und wäre nicht mein sterbenskranker diener bei mir gewesen, ich hätte meinem herrn gedankt, mich andächtig staunend unter einen himmel, der doch in wahrheit gottes vielgestirntes dach ist, geführt zu haben.

als der morgen graute, yussufs klagen kaum noch vernehmlich waren und ich ihm, dem mohammedaner, ein christliches „vater unser“ sagte, weil ich anderes nicht wusste, ansonsten aber alle hoffnung auf einen glücklichen ausgang der reise fahren liess, erblickte ich am horizont der dünen meinen treuen führer hocim. ihn begleiteten einige eingeborene männer. beim näherkommen zählte ich ihrer drei. sie kamen rasch heran, betteten wortlos den schwachen yussuf in die plane des zeltes, das sie zuvor in windeseile abgebrochen hatten und hocim forderte mich am ende auf, ihnen zu folgen. bald zogen wir mit dem zelt, darin der sterbende yussuf gewickelt war, als kleine karawane durch die wüste, die mir längst zu einem ort des grauens geworden war, bis wir eine palmenoase erreichten, in der ich eine kleine zahl niedriger lehmhäuser entdeckte.

einige schwarzverschleierte weiber liefen uns sogleich entgegen und rissen so heftig an der plane des zeltes, dass es den armen yussuf ordentlich durchschüttelte und ich nun wirklich sein ende erwartete. die weiber lenkten unsere kleine karawane mit viel geschrei und lamento in die rotschimmernden felsen, die sich nur wenige schritte von den lehmhütten entfernt aufbauten. immer weiter ging es hinein, bis wir endlich einen letzten felsenkessel erreichten, wo sie den armen yussuf ablegten, der nun wohl gar nicht mehr atmete. alsbald erhob sich wieder das schauderhafte geschrei der weiber, jetzt aber noch lauter und schriller als bei unserer ankunft. eine von ihnen begab sich zu dem kranken und legte ihre hände erst auf den felsen und dann dem geschundenen yussuf auf die stirn. ich trat näher heran, um zu erkennen, was das absonderliche treiben zu bedeuten hatte. ich sah seltsame zeichen und figuren auf dem glatt wie ein spiegel polierten fels, wobei mir besonders die vögel auffielen, die mich, wie seltsam, an flamingos erinnerten.

ihren tieferen sinn konnte ich nicht deuten, zumal es mir vollständig unmöglich schien, dass menschen an einem solchen ort jemals diesen vogel, der doch das wasser und nicht die wüste sucht, gesehen hatten. die zeichen hielt ich für sehr alt, weil das, was ich beim nähertreten nicht nur als allerlei tiere und pflanzen erkannte, sondern, seltsam genug, einiges auch als eine mir unbekannte schrift entzifferte, schon verwittert und kaum noch zu erkennen war.

wenn das weib ihre hand auf yussufs stirn legte, begleiteten die umstehenden frauen dies regelmässig mit spitzen schreien und einem solchen trillern ihrer stimmen, dass es mir ganz fürchterlich in die ohren drang.

ich weiss nicht, ob dieses geschrei der weiber dazu beitrug, yussuf aus seinem todesschlaf zu wecken. wenigstens schlug er zu meiner überraschung die augen auf, sah sich grimmig um, als habe man ihn soeben aus dem paradies und den armen einer liebreizenden jungfrau gerissen, erhob sich, schüttelte ärgerlich den sand aus seinen kleidern, trat zu hocim und fragte ihn treulich, wann endlich unsere reise ihre fortsetzung fände. nichts erinnerte mehr an sein schweres siechtum.

ich war gewiss, hier in der wüste zeuge eines wunders oder doch eines magischen zaubers geworden zu sein. von den seltsamen zeichen und schriften im felsen musste heilkraft ausgehen. anders konnte ich mir die plötzliche genesung meines lieben dieners nicht erklären.

und wirklich: hocim, unser kenntnisreiche führer durch die wüste und lebensretter meines dieners, der uns an diesen so seltsamen ort gebracht hatte, dem er im übrigen den namen subalek gab, sprach mir noch am selben abend von der wundertätigkeit der felsenzeichnungen, zu denen die menschen schon in alten und ältesten zeiten ihre kranken und sterbenden brachten. der zauber wirke immer weiter, erklärte mir hocim in seltener vertraulichkeit. erst wenn eines fernen tages die zeichen und schriften im felsen durch regen und wind gänzlich verblasst seien, würden, so weissagen es wenigstens die ältesten männer im dorf, übergrosse heuschrecken das land überfallen und nicht nur die palmen und ziegen, sondern auch die menschen fressen. nichts würde dann noch an subalek und die wunderkraft seines felsens erinnern.


VI.

pierre lamarque war elektrisiert. über den ganzen hokuspokus in der wüste konnte er nur lachen. wer weiss, vielleicht war yussuf gar nicht sterbenskrank gewesen, sondern durch die schrillen schreie der frauen aus einer harmlosen ohnmacht erwacht.

bei den zeichnungen von subalek musste es sich jedoch um uralte steingravuren handeln, die womöglich davon erzählten, dass der wadi batrak schon vor tausenden von jahren besiedelt war. vielleicht konnten die gravuren sogar aufschluss darüber geben, wie die menschen damals lebten und wie das land aussah, das sie bewohnten. und was hatte es eigentlich mit den flamingos auf sich, von denen der reisebericht sprach? lamarque wusste von den überlegungen, dass die sahara nicht zu allen zeiten eine wüste gewesen war. die felsgravuren von subalek konnten also ein wichtiger schlüssel für das verständnis dieser wüste sein. wenn sie darüber hinaus auch noch bewiesen, dass es dort einmal wasser und fruchtbares land gab ...

flamingos wenigstens hatte man noch auf keiner felsgravur in der sahara entdeckt. sie zu fotografieren und zu veröffentlichen wäre ohne zweifel eine wissenschaftliche sensation.

aber - wo befand sich subalek? so viel wusste er wenigstens nach der lektüre: der ort lag im wadi batrak, aber der war so gross, dass selbst ein auto mindestens 10 tage brauchte, um ihn zu durchqueren. das war aber zugleich auch ein hoffnungsschimmer, denn der anonyme reisende hatte in seinem bericht von zwei tagesmärschen gesprochen, als seinen diener das unglück traf, und dann noch von einem weiteren - aber doch wohl kürzeren - weg von unbestimmter länge zu den roten felsen. subalek musste sich also eher am rande des wadi batrak befinden und nicht irgendwo in seinem unwegsamen inneren, das die kleine expedition im übrigen gar nicht betreten hatte, denn davon fand sich nichts im reisebericht.

lamarque besorgte sich noch am selben tag diverse karten des wadi batrak und entdeckte darin auch bald eine oase, deren name zu der bezeichnung im reisebericht passte: subaala, etwa 70 kilometer von der hauptstadt entfernt, an der östlichen grenze des batrak gelegen. wie aber war es möglich, dass die felsgravuren in subaala bis zum heutigen tag unbekannt geblieben waren? wenn diese oase wirklich der ort mit den steinzeichnungen war, dann lagen sie nicht besonders versteckt, sondern nur eine lächerlich kurze wegstrecke von der hauptstadt entfernt. warum hatte - bis auf den anonymen reiseschriftsteller - keiner sonst über sie berichtet? lamarque fand sich in einem rätsel wieder.

noch in der nacht telefonierte er mit seinem fotografen, der sich gerade in der hauptstadt aufhielt, um eine reportage über die tuaregs vorzubereiten, und beauftragte ihn, alles liegen zu lassen und sofort nach subaala zu reisen, um nach den felsgravuren zu suchen.

VII.

ali bremste. sie fuhren jetzt seit etwa einer stunde auf einer teerstrasse durch eine sandige, öde wüste in östlicher richtung. der fotograf erwachte aus einem leichten schlaf. „was ist los?“ ali zeigte nach vorn. „dort wo der steinhaufen ist, muss die sandpiste nach subaala sein!“ ali fuhr langsam an den abzweig heran, wo kein schild auf die oase hinwies. einige reifenspuren führten von der teerstrasse fort, hatten sich in den lockeren sand der piste eingegraben und verloren sich am horizont. der fotograf nahm eine karte aus dem handschuhfach, wusste aber gleich, dass sie ihm keine hilfe sein würde. diese verwehten pisten, von denen es so viele in der wüste gab, waren nirgends verzeichnet. also mussten sie auf gut glück den weg nehmen und hoffen, dass er sie nach subaala brachte.

ali lenkte den jeep von der strasse und wenig später frassen sich die räder in den lockeren sand. ali hielt an, stieg aus und machte das, was alle tun, die in der wüste unterwegs sind: er liess luft aus allen vier reifen. die piste machte ihm dennoch einige mühe, weil immer wieder grössere steine im weg lagen, die er vorsichtig umfahren musste. manchmal drehten sich die räder des jeeps im sand und er musste sich anstrengen, das fahrzeug wieder in die spur zu bringen.

alles in allem kamen sie jedoch gut voran und nach einer halben stunde fahrt tauchten gezackte, rote felsen am horizont auf, vor denen einige palmen standen. nachdem sie die felsen umrundet hatten, sahen sie auch gleich die flachen grauen lehmhäuser der oase. kurze zeit später hielten sie in einer wolke aus staub in der mitte von subaala auf einem sandigen platz, an dessen rand einige niedrige gebäude standen und auch ein laden, vor dem sich kisten mit gemüse stapelten.

„viele felsgravuren in der sahara können wir sogar auf ein alter von 2000 jahren datieren. sie zeigen stilisierte menschen, palmen, tiere, aber auch geritzte zeichen, mit denen sich die vorbei kommenden karawanen über brunnen, wasserlöcher und weideplätze benachrichtigten.“

der fotograf schlug das buch zu, das er am morgen in der hauptstadt gekauft hatte, weil er nicht ohne jedes wissen über die felsenzeichnungen auf die suche gehen wollte. er war aber enttäuscht, denn die gravuren von subaala würden wohl kaum anders aussehen als die in seinem buch abgebildeten - auch wenn dort keine rede von irgendwelchen funden im batrak war. er verstand nach der lektüre die aufregte stimme seines redakteurs immer weniger, die ihn gedrängt hatte, sofort nach subaala aufzubrechen.

ali war ausgestiegen und hatte die kühlerhaube geöffnet, um einige schrauben festzuziehen, die sich auf der fahrt durch die sandpiste gelockert hatten. der fotograf stellte sich zu ihm. „wir sollten jemanden fragen, ob er etwas über die felsgravuren weiss.“ ali nickte und deutete mit dem kopf zu dem laden am ende des platzes.

das ganze durcheinander von kisten und körben war in ein trübes dämmerlicht getaucht, weil der besitzer des ladens die fenster mit brettern zugenagelt hatte. der fotograf konnte keinen menschen entdecken, aber ali zwängte sich an ihm vorbei und verschwand in der dunkelheit, aus der nach einer weile seine stimme kam: „salam aleikum“. kurz darauf erschien er wieder, mitsamt der massigen gestalt eines mannes, der über seinen unnatürlich dunklen lippen einen mächtigen schnurrbart trug und sich ein fleckig-weisses tuch um kopf und kinn geschlungen hatte.

„das ist karim, der besitzer des ladens!“ gerade wollte er ihn begrüssen, als der fotograf einen jungen bemerkte, der stumm in der ladentür stand und ihn neugierig beobachte, nachdem er aber entdeckt war, sofort verschwand.

der fotograf bat ali, den ladenbesitzer zu fragen, ob er etwas über die felsgravüren wüsste. ali übersetzte die worte noch, als sich ein gurgelndes geräusch aus der kehle von karim löste. es klang so, als müsste er im nächsten augenblick ersticken. er hustete schwer, holte verzweifelt luft, schüttelte dann energisch den kopf, wandte sich ärgerlich-grusslos ab und verschwand wieder in der dunkelheit seines ladens.

der fotograf verstand die reaktion von karim nicht, dachte aber nicht weiter darüber nach, sondern entschloss sich, nun selbst nach den felsgravuren zu suchen. die richtung, in die er gehen musste, war klar: gleich hinter den lehmhäusern standen die roten felsen, von denen sein redakteur gesprochen hatte. wo sonst sollten sich die zeichnungen befinden? er griff sich aus dem auto einen seiner fotoapparate und lief los. ali blieb auf dem staubigen platz mitten in subaala allein zurück.

VIII.

es war mittag und die sonne zerfrass glühend die luft. die felsen standen dicht zusammen, bildeten aber immer wieder durchlässe, die in kleinere und grössere kessel führten, in denen die hitze, je weiter er vordrang, immer unerträglicher wurde. er war sich inzwischen sicher, dass dies der einzige weg in die felsen war. also mussten hier irgendwo auch die gravuren sein. er spürte grossen durst und schimpfte leise vor sich hin, weil er vergessen hatte, wasser mitzunehmen.

vor ihm rückten die felsen abermals dicht zusammen, hätten aber auch hier einen durchlass erlaubt, wenn zwischen ihnen nicht eine wand aus steinen gewesen wäre, die ein weiteres vordringen unmöglich machte. er lehnte sich an den felsen und holte atem. woher kamen diese steine? hatten wind und regen sie aufgeschichtet oder waren sie von menschenhand hier her gebracht worden? seine augen glitten über die steinerne barriere und er meinte, gewisse regelmässigkeiten zu erkennen, mit denen die steine aufgeschichtet waren. je länger er hinsah, desto mehr fiel ihm die symmetrie auf - und die kunstvollen fugen, mit denen die steine verklammert waren. ein anderer wäre vielleicht umgekehrt - er jedoch erkannte sogar so etwas wie eine treppe, die von einigen vorspringenden steinen gebildet wurden. wenn er sie benutzte, konnte er die mauer vielleicht überwinden.

es war einfacher, als er gedacht hatte. stufe um stufe ging es höher hinauf und seine hände fanden an kleineren steinen halt, die zwar unverrückbar mit den grösseren verbunden waren, aber doch lücken und vertiefungen hatten, in die er hinein greifen und sich an den steinen festklammern konnte. oben angekommen, sah er in einen engen talkessel hinunter, der mit fast weissem sand bedeckt war. darin lagen schwarze steine, die kunstvoll in kreisen, spiralen und ineinander verschachtelten vierecken angeordnet waren. eine der felswände war glatt poliert ...

und bedeckt mit zeichnungen und schriften - einiges so deutlich, dass er es schon von oben erkennen konnte.

der abstieg war nicht schwieriger als der aufstieg. er brauchte nur wenige minuten, bis er am fuss des felsenkessels angelangt war.

IX.

er sah noch einmal an der steinmauer hinauf und hinüber zu den felswänden, die hoch oben einen schmalen streifen himmel freiliessen. es war so still, dass er das blut in seinem körper hörte. es rauschte in seinen ohren wie das meer am leeren strand eines ozeans, dessen namen er vergessen hatte.

was war das? auf dem kamm des felsens bewegte sich etwas. er legte eine hand über seine augen, weil die sonne ihn blendete. noch ehe er aber richtig hinsehen konnte, verschwand es. er erinnerte sich plötzlich an den jungen, der in der tür zu karims laden gestanden und ihn stumm beobachtet hatte.

X..

vorsichtig wich er den mustern der schwarzen steine im sand aus. er wollte nichts zerstören, sondern später auch diese ornamente fotografieren. wichtiger waren ihm aber erst einmal die zeichen und schriften an der polierten wand, die vom boden bis in augenhöhe reichten und ungefähr sechs meter breite einnahmen. seine augen wanderten über die gravuren, von denen einige sehr deutlich, andere aber schon fast ausgelöscht waren. es wurde höchste zeit, sie zu fotografieren, dachte er. in wenigen jahren würden regen und wind alles ausgelöscht haben.

er nahm seine kamera, hielt sie vor die augen und tastete mit dem objektiv die wand ab. er zog einige besonders kräftige gravuren näher heran: palmen, kamele, berge ... flamingos.

er liess die kamera sinken. flamingos? waren das wirklich flamingos? er trat an die wand, um sich die zeichnungen genauer anzusehen. es gab überhaupt keinen zweifel. das waren die umrisse von flamingos. man konnte die form gar nicht anders deuten. aber warum hatten die menschen hier auf den wänden flamingos abgebildet - mitten in einer trockenen, heissen wüste? und woher kannten sie die vögel? er war verwirrt - ganz so wie pierre lamarque, nachdem er den reisebericht aus dem 19. jahrhundert gelesen hatte. aber davon wusste der fotograf nichts. lamarque hatte die flamingos am telefon nicht erwähnt .

er dachte nach: die lösung konnte nur lauten, dass der batrak nicht immer eine wüste, sondern irgendwann ein blühendes land gewesen war - mit schattigen palmenoasen und süsswasserseen, an denen flamingos standen und nach fischen ausschau hielten.

er sah an den felsen hinauf, die nichts von dem verrieten, was sie vielleicht einmal gesehen hatten, und deren spitzen nackt und glühend in der sonne lagen. sie saugten die mittagshitze auf und liessen sie erbarmungslos in die schlucht fallen. in seiner verwirrung übersah er, dass sich dort oben schon wieder etwas bewegte, aber gleich darauf verschwand.

flamingos! der fotograf schüttelte den kopf.

XI.

er untersuchte die wand in ihrer ganzen breite und versuchte, die schriften zu entziffern, die an mehreren stellen über den zeichnungen angebracht waren. er konnte sich nicht erinnern, ähnliches schon einmal gesehen zu haben. sollten die menschen, die hier früher lebten, eine eigene sprache und sogar eine spezielle schrift gehabt haben? er ahnte, dass die fotografien, die er nun endlich machen musste, eine wissenschaftliche sensation darstellten. schon bald würden archäologen und sprachwissenschaftler aus aller welt nach subaala eilen, um die gravuren mit den flamingos und der fremden schrift zu untersuchen. vielleicht könnte man sogar eine platte mit den zeichnungen und schriften aus dem felsen schlagen, um sie nach europa zu transportieren.

er nahm den fotoapparat, überzeugte sich, dass alle einstellungen stimmten, drehte am objektiv für die richtige schärfe und richtete es auf die felsenwand. durch das okkular sah er einen flamingo. er war besonders ausdrucksvoll gezeichnet und mit einiger fantasie konnte er sich sogar seine federn hinzu denken.

keine angst, lächelte er. alles wird so bleiben, wie ich es vorgefunden habe. es wird keine zeichnung fehlen, nachdem ich sie fotografiert habe. er grinste, weil er sich an die ängstlichkeit der menschen in nordafrika erinnerte, die sich nicht fotografieren liessen, weil sie dachten, dass eine kamera ihnen das gesicht rauben könnte. er lachte und drückte auf den auslöser ...

XII.

er spürte einen heftigen stoss und es war, als ob die kamera in seinen händen explodieren würde. irgendetwas hatte das objektiv getroffen und zerstört. sein schreck war so gross, dass er die kamera fallen liess und sich mit einem sprung unter die felsen in sicherheit brachte. das war kein stein, der zufällig aus der wand gefallen war - sondern einer, den jemand gezielt auf seine kamera geworfen hatte.

seine augen suchten den kamm der felsen ab. von dort oben musste der stein gekommen sein. er konnte jedoch niemanden entdecken. warum dachte er gerade jetzt wieder an den jungen, der in der tür von karims laden gestanden und ihn stumm beobachtet hatte?

er ahnte: der nächste stein würde ihn treffen. also musste er so schnell wie möglich die schlucht verlassen. vorsichtig bückte er sich nach dem fotoapparat, der vor ihm im sand lag, und schaute dabei immer wieder ängstlich nach oben. die kamera war nicht mehr zu gebrauchen. warum hatte er eigentlich seine tasche mit den ersatzobjetiven nicht mitgenommen? so ein fehler durfte doch einem erfahrenen fotografen nicht passieren. aber es war so: er hatte in der schlucht nichts mehr zu tun.

er spürte nur noch den quälenden durst und begann trotz der grossen hitze zu frieren. er wollte so schnell wie möglich zum auto zurück. dann würde er weiter sehen.

XIII.

„du bist mein bruder in allah. deswegen werden wir dich nicht töten. aber fürchte dich vor den grossen heuschrecken. sie werden kommen, um dich und deinen freund aufzufressen!“

diese worte zischte karim ali ins ohr, der hinter dem lenkrad seines autos sass und auf die rückkehr des fotografen wartete. er hatte den ladenbesitzer gar nicht kommen sehen und verstand nicht, was er ihm sagen wollte.

„mich töten? was für heuschrecken?“

„ich rate dir gut: nimm deinen freund und fahre zurück in die hauptstadt. versiegelt eure münder und seid stumm ein leben lang. vergesst subalek. dieser ort existiert auf keiner landkarte und auch nicht in den erinnerungen der menschen. ich sage es dir noch einmal: fürchtet die grossen heuschrecken!“

karim sprach diese worte ganz langsam und sein blick bohrte sich dabei wie ein spitzes stilett in alis augen. dann wandte er sich mit einer heftigen bewegung seines körpers ab und lief zurück zu seinem laden.

ali schüttelte sich. ein komischer kerl, dachte er. ihn wird die hitze verwirrt haben. wie kann eine heuschrecke einen menschen fressen? das ist ein ganz und gar verrücker gedanke!

XIV.

beim letzten lehmhaus der oase tauchte die gestalt des fotografen auf. ali winkte und sah sofort, dass sie schwankte und sich nur mühsam vorwärts bewegte. er sprang aus dem auto und lief dem fotografen entgegen. als erstes sah er das blut, das aus einer klaffenden wunde am kopf lief. dann bemerkte er, weil die hose zerrissen und in fetzen herab hing, auch eine zweite grosse wunde am oberschenkel. er fing den fotografen auf, bevor er in den sand fiel.

nur mit mühe erreichte er mit dem verletzten, der sich kaum noch auf den beinen halten konnte, das auto. er verstellte die rückenlehne des beifahrersitzes in die waagerechte und bettete den fotografen darauf.

„wir müssen sofort in die hauptstadt zurück. sie brauchen einen arzt!“

ali setzte sich hinter das steuer und beobachtete dabei aus den augenwinkeln den fotografen, der regungslos neben ihm lag. vielleicht ist es schon zu spät, dachte er, als er das auto startete.

in einer wolke aus dichtem staub verliessen sie den platz und ali erhöhte die geschwindigkeit bereits, als er das auto um die felsen lenkte.

mit einem lauten knall zersprang die autoscheibe. ali zuckte zusammen. das glas vor ihm war plötzlich übersät von tausend kleinen rissen, die eine sicht nach vorn unmöglich machten. er bremste das fahrzeug so heftig, dass es noch einige meter über den schotter rutschte. er sprang hinaus und sah, dass das auto unmittelbar unter den felsen stand, aus denen sich ein stein gelöst haben musste.

irgendetwas bewegte sich dort oben, ali konnte jedoch nicht erkennen, was es war. „vielleicht eine heuschrecke“, flüsterte er verwirrt und zuckte resigniert die schultern. „steinschläge passieren oft - aber ganz selten gezielte würfe. wage es also nicht, noch einen stein zu werfen, sonst werde ich die heuschrecken bitten, dich aufzufressen.“er drohte mit den fäusten in richtung der felsen, nahm dann einen hammer aus dem kofferraum und löste mit wenigen wütenden schlägen die scheibe aus ihrem rahmen. er musste aufpassen, dabei nicht den fotografen zu verletzen, dem immer wieder glasscherben in den schoss fielen.

schliesslich startete er das auto und verliess wegen der zerbrochenen scheibe in langsamer fahrt die felsen von subaala.

XV.

„viele felsgravuren in der sahara können wir sogar auf ein alter von 2000 jahren datieren. sie zeigen stilisierte menschen, palmen, tiere, aber auch geritzte zeichen, mit denen sich die vorbei kommenden karawanen über brunnen, wasserlöcher und weideplätze benachrichtigten.“

der fotograf legte das buch zur seite. er spürte, dass er sich nicht mehr auf den inhalt konzentrieren konnte. zu viele gedanken waren in seinem kopf, die er nicht beiseite schieben konnte. warum hatte er sich nicht auf das ungute ziehen in der magengegend verlassen, als man ihm diesen auftrag gab? er kannte den schmerz sehr genau. das war im übrigen die untrügliche warnung gewesen, seine finger davon zu lassen. dieses mal hatte er sie jedoch in den wind geschlagen, weil das, was er hörte, ganz und gar harmlos klang. die quittung dafür erfolgte prompt.

was genau mit ihm in den felsen passiert war, wusste er nicht. er erinnerte sich nur, bald in einen hagel aus steinen geraten zu sein. von überall her kamen sie, prasselten auf ihn herab und verletzten ihn erbarmungslos. er wunderte sich, aus der schlucht überhaupt lebend heraus gekommen zu sein. es hätte, er wusste es, leicht anders enden können.

was war nun mit den flamingos? sollte er zurück fahren, um sie doch noch zu fotografieren? gab es sie überhaupt, oder hatten ihm durst und hitze einen schrecklichen streich gespielt? flamingos in der wüste ... was für ein irrsinn!

während er so dachte, bemerkte er plötzlich mit schrecken, dass er den namen des ortes vergessen hatte, an dem ihn das unglück getroffen hatte. ohne etwas dagegen tun zu können, verlöschten seine erinnerungen und radierten schliesslich auch noch das allerletzte bild und den allerletzten gedanken an subalek aus.

sein kopf war am ende nur noch weiss und leer - wie die wüste im licht des mittags.


(C) einschliesslich der (fiktiven) passage aus einem reisebericht
des 19. jahrhunderts: rolf-dieter venzlaff, 3/2005


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /