I. DER TAG, AN DEM KENNEDY PRÄSIDENT WURDE
Wir schüler - alle um die zwölf jahre alt - standen vor der tür der turnhalle und warteten auf einlass. die pause war noch nicht zu ende. wir erzählten uns witze, stiessen uns in die seite, bis burkhardt fragte: "na, wer wird denn nun präsident?" wir wussten alle, um was es ging. zur wahl um die amerikanische präsidentschaft waren kennedy und nixon angetreten. noch war das ergebnis nicht bekannt, aber ich hoffte inständig, dass kennedy die wahl gewinnen möge. ich liebte diesen mann. er war in meinen augen eine sonnengestalt - wie eben kinder über menschen denken, die sie in ihr herz geschlossen haben.
schnell wurde deutlich, dass wir schüler der "quinta" nicht alle so dachten. eher war es so, dass sich zwei etwa gleich grosse gruppen bildeten: die eine war für nixon, die andere für kennedy.
ich verachtete die "nixon-fraktion", diese mitschüler waren - in meinen augen - die uninteressanten, ein wenig beschränkten, die bei mathematik leuchtende augen bekamen und im physik-unterricht sofort die richtige antwort wussten.
ein wenig beschränkt eben!
diejenigen aber, die ich zu meinen freunden zählte (und dazu gehörte burkhardt unbedingt!) waren allesamt für kennedy. das beruhigte mich. ich hatte nichts anderes erwartet. unser blick hatte sich längst in die zukunft gerichtet, während die anderen - einfältig und konservativ, wie sie es von ihren eltern kannten - immer noch im engen, gegenwärtigen verharrten.
so dachte ich damals - hochmütig wie ich war.
wir diskutierten und stritten, argumentierten und fanden widerworte, wir lobten in den himmel und verdammten in die hölle - wir waren unbedingt bei der wichtigsten sache, die sich an diesem tag in amerika abspielte.
es mag sein, dass wir die kinder amerikas waren. ich habe - bis zu dieser notiz - nie darüber nachgedacht. aber vielleicht waren wir wirklich die ersten, die sich nachhaltig (aber ohne unser dazu tun) aus den fesseln grösster - und dümmster - deutschtümelei befreit hatten. unser blick war freier, freilich nicht ohne angst. denn wir spürten die konflikte der welt, die sich - nur wenige kilometer entfernt - an einer grenze, die ost und west teilte, manifestierten.
mehr - oder gar anderes - sahen und begriffen wir nicht.
die pausenglocke läutete, wir stellten uns in reih und glied vor der turnhalle auf. unser turnlehrer erschien. wie nebenbei sagte er: "falls es einen von euch interessiert: kennedy ist der neue präsident von amerika!"
ich schwöre es: niemals zuvor - und niemals danach - gelang mir der aufschwung am barren wie an diesem tag.
dieser tag war - denke ich zurück - ein besonders glücklicher.
p.s. burkhardt wurde später postbote - aber das nur am rande!
II. WAS WEISS EIN KIND VOM KRIEG?
zu keinem zeitpunkt stand die welt einer nuklearen katastrophe näher als im oktober 1962. die sowjetunion war dabei, raketenbasen auf kuba zu errichten. präsident kennedy stellte ein ultimatum, forderte den abzug und drohte der udssr mit einem nuklearschlag.
was wusste 1962 ein kind vom krieg?
der krieg war damals seit 17 jahren vorbei und wurde langsam zur geschichte. ich musste aber nur vor die tür meines elternhauses treten, um die wellblech-baracken (die sogenannten "nissen-hütten") zu sehen, in denen - 17 jahre nach dem krieg - immer noch flüchtlinge aus dem osten lebten. auch die kirchtürme lübecks waren noch nicht wieder erstanden. die kirchen waren viel mehr nackte stümpfe, denen die seele genommen und das herz ausgerissen war.
was wusste 1962 ein kind vom krieg?
mein vater kannte den krieg - und erinnerte sich sehr genau, wie er 1945 aus amerikanischer kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. seine alte heimat war ihm verschlossen. er fand bei seiner tante in hamburg ein dach über dem kopf. ihr haus war - wie durch ein wunder - in den bombennächen nicht zerstört worden. deswegen war sie der anlaufpunkt für alle versprengten und verirrten ihrer familie.
es war ein tag im oktober 1962. mein vater sass an diesem morgen ungewöhnlich ernst am tisch. in seinen erinnerungen wuchsen - ich wusste es damals nicht - die bilder von krieg, zerstörung und vernichtung. er war äusserst besorgt über die nachrichten, die ihn über radio und fernsehen erreichten: die welt stand am abgrund der nuklearen vernichtung.
was wusste 1962 ein kind vom krieg?
die erinnerungen an das inferno durchmischten sich bei meinem vater mit den bildern der rettung und des ersten friedens. sie waren für ihn untrennbar mit seiner tante in hambug verbunden, die den einsamen und verwirrten ersten trost und ein dach über dem kopf bot.
mein vater nahm aus seiner hosentasche einige zettel. auf denen stand in besonders leserlicher schrift der name seiner tante und ihre adresse in hamburg. jeder von uns erhielt so einen zettel. mein vater sagte:
"keiner weiss, was in den nächsten tagen geschieht. deswegen merkt euch diese adresse. wenn wir auseinander gerissen werden, treffen wir uns dort - so gott will - alle wieder.
zu keinem zeitpunkt stand die welt einer nuklearen katastrophe näher als im oktober 1962.
III. "RADIO BEROMÜNSTER"
ich war stolz auf mein erstes radio: ein ungetüm, dessen lautsprecher mit hellem stoff bespannt war, in dem ein grün leuchtendes „magisches auge“ sass. die reihe der stationstasten schimmerte elfenbeinfarben.
das radio hatten mir meine eltern zum geburtstag geschenkt und ich stellte es am kopfende meines bettes auf. wenn ich das licht im zimmer löschte, leuchtete das magische auge grün - das über den tasten angebrachte stationsfeld matt gelb. ein besonderes rätsel war für mich der sender „radio beromünster“, denn so oft ich auch den zeiger auf seine markierung drehte, hörte ich nichts weiter als ein fernes rauschen und manchmal ein pfeifen. wo eigentlich lag beromünster?
wie so manches mal im herbst, ging ich auch an diesem novemberabend zeitig zu bett, wickelte mich in eine decke, schaltete das radio ein, drehte am stationsrad und liess die markierung langsam über die von innen beleuchtete tafel mit den sendern gleiten.
ich suchte nichts bestimmtes, denn in den abendstunden wird im radio nicht das gesendet, was einen 13-jährigen interessiert. vormittags war das anders. wenn ich - weil ich krank war - zu hause bleiben musste, hörte ich am liebsten den schulfunk. es war gemütlich, in kissen und decken eingewickelt von fernen ländern erzählt zu bekommen oder der musik - „die moldau“ von smetana, „schwanensee“ von tschaikowsky - zuzuhören.
abends ging ich mit meinem radio auf entdeckungsreise und wollte nicht nur endlich hinter das geheimnis von „radio beromünster“ kommen. die „langwelle“ - und manchmal auch die „kurzwelle“ (bei der ich aber die sender wegen der tausend hintergrundgeräusche kaum fand) - schickte mich in regionen der erde, von denen ich nicht viel mehr als ihre namen kannte: kalkutta, rio, moskau, oslo, tanger, belgrad ...
ich hörte dem gewirr fremder stimmen zu, deren lautstärke an- und abschwoll (und einen seltsamen hall oder auch ein echo erzeugten, sich manchmal in einem gleichförmigen rauschen verloren, durch das signale an mein ohr drangen, die wie morsezeichen klangen), dann wieder so deutlich und klar wurden, als wären die stimmen nur wenige kilometer entfernt. über den erdball, so schien es mir, spannte sich ein netz aus noch nicht entschlüsselten signalen, die der welt immer neue zu enträtselnde impulse gaben, ihr aber keinen noch so kurzen moment des stillstands erlaubten.
ich wusste, als ich an diesem novemberabend die markierung über die skala meines radios wandern liess, noch nicht, dass die stimmfetzen, morsezeichen und pfeifenden signale, die mich aus einer fernen welt erreichten, längst nur noch eine nachricht verbreiteten, die so ungeheuerlich war, das alles andere - wenigstens für eine kurze weile - verstummte.
ich war zufrieden, einige sprachen - wenn ich sie schon nicht verstand - wenigstens unterscheiden zu können: französisch aus casablanca, spanisch aus rio, englisch aus kalkutta, italienisch aus bengasi, deutsch aus moskau.
ich drehte die markierung an meinem radio weiter. das magische, leuchtend grüne auge weitete sich, wenn ich mich durch das schweigen der welt tastete, und verengte sich, wenn ich irgendwo auf ein bündel von stimmen und geräuschen traf ...
... wie die deutschsprachige nachrichtensendung der BBC. ich hörte nur deswegen hin, weil ich mich für einen moment nach london träumen und mir die distanz ausmalen wollte, die eine nachricht braucht, um - über den ärmelkanal und den kontinent hinweg - von meinem radio aufgefangen zu werden.
die worte, die ich hörte - einmal sehr nah, dann wieder sehr fern - formten sich nach und nach zu sätzen, deren sinn ich - aus gründen, die mir verborgen blieben - nicht gleich begreifen konnte. alles war so fern, so durchwebt von geschichten und meiner phantasie ... verzweifelten notrufen von einsamen inseln im pazifik, morsezeichen von sinkenden schiffen im atlantik, tangoklängen aus südamerika, arabischen wortgirlanden aus nordafrika ...
mein radio hatte nur eine aufgabe: mit mir auf reisen zu gehen, um mich in die fremden worte fremder menschen und in die fremden klänge fremder landschaften zu begleiten. nie hatte ich darüber nachgedacht, dass es das alles - die stimmen und geräusche - wirklich gab. vielmehr belauschte ich, wenn ich ins radio hinein hörte, ein feuerwerk aus lauter geräuschen. die leuchtkörper waren die fernen, gleichmässig hohen töne, die explosionen aber ein schrilles, auf- und abschwellendes pfeifen.
diese illumination aus geräuschen erhellte nur manchmal eine der schwarzen inseln, die auf dem stationsfeld meines radios oder - was aber aufs selbe heraus kam - mitten im universum lagen, wo menschen zu hause waren, die ihre stimmen und nachrichten hinaus schickten und hofften, dass ein kleiner junge sie hört, wenn auch nicht versteht.
„der präsident der vereinigen staaten von amerika, john f. kennedy, erlag kurz nach dem attentat in dallas seinen schweren verletzungen. zur stunde wird sein leichnam nach washington überführt. bei ihm sind seine witwe und der bereits vereidigte neue präsident, der ehemalige vizepräsident lyndon b. johnson. sie hören den deutschsprachigen dienst der BBC london ...“
das magische auge erlosch. das universum war verstummt. die schwarzen inseln sanken in die nacht zurück. ich sass in einem dunklen zimmer und sah aus den augenwinkeln nach dem radio. es schwieg, weil ich es so wollte.
dann begann ich zu weinen. in meine tränen mischte sich die verzweifelte gewissheit, dass mich das geheimnis von „radio beromünster“ - wenn es überhaupt eines war - von nun an nicht mehr interessieren würde.
copyright: rolf d. venzlaff, september 2006
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008
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