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münchen, am 22.2.2005

liebe traudel,

du wirst dir vorstellen können, wie aufgeregt ich bin. morgen beginnt das grosse abenteuer marokko. endlich werde ich in die heimat von mohammed reisen, mit dem mich nichts - ich wiederhole: nichts - mehr verbindet. aber immerhin ist er der vater von sara - und sara soll nun endlich ihre grosseltern in marokko kennenlernen. sie ist auch schon ganz aufgeregt und ich habe ihr ein stoffkamel mit einer roten schleife um den hals gekauft - für die reise.

liebe grüsse
sylvia


münchen, am 22.2.2005

liebe traudel,

gerade geht mir durch den kopf, dass ich vielleicht eine flasche sagrotan einpacken sollte. was meinst du? wer weiss - vielleicht gibt es im haus, das mohammed sara geschenkt hat, ungeziefer! mache dir aber bitte keine sorgen. meine frage kommt allein von der aufregung. ich packe die flasche natürlich nicht ein!

liebe grüsse
sylvia

p.s. warum hat mohammed nicht mir das haus geschenkt? immerhin, ich war seine ehefrau. er denkt, kurzsichtig wie er ist, nur an sein kind.


marrakesch, am 23.2.2005 (abends)

liebe traudel,

jetzt sitze ich hier in marrakesch am flughafen und bin totunglücklich. weder mohammed noch seine eltern waren da, um mich abzuholen. was soll man davon halten? sara weint die ganze zeit, weil sie ihr stoffkamel im flugzeug vergessen hat. aber ich kann mich doch - verdammt noch mal - nicht um alles kümmern.

was soll ich nur tun?

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 24.2.2006

liebe traudel,

es hat sich alles geklärt. ich bin ja so froh. mohammeds bruder wollte mich abholen. aber karim (so heisst er) kannte mich ja nicht. also wusste er auch nicht, auf wen er warten sollte. sie haben mich dann durch den flughafenlautsprecher ausrufen lassen.

karim ist sehr nett und gott sei dank ganz anders als sein bruder mohammed - viel bescheidener und höflicher. er hat uns mit seinem kleinen auto zu einem hotel gefahren, wo sara und ich totmüde ins bett fielen. gleich will er uns abholen, damit sara endlich ihre grosseltern kennenlernt. sie wohnen ganz in der nähe auf dem land.

wo ist eigentlich mohammed? ich meine: auch wenn wir längst geschieden sind, könnte er sich doch ein wenig um uns kümmern, oder?

liebe grüsse von
sylvia


marrakesch, am 25.2.2005

liebe traudel,

ich fasse es nicht. gestern morgen kam karim, er wollte aber nur sara mitnehmen, um sie zu ihren grosseltern zu bringen. ich sollte unterdessen im hotel bleiben und warten.

wer bin ich denn?

ich habe darauf bestanden, mitzukommen. wir sind aus marrakesch hinaus gefahren und es wurde rundherum immer ärmlicher. leben die marokkaner denn immer noch in lehmhütten?

wenn das haus, das mohammed sara geschenkt hat, so aussieht wie diese windschiefen behausungen, kann er es von mir aus behalten. arme sara!

vor der letzten ärmlichen hütte im dorf hielt karim das auto und sprach plötzlich marokkanisch mit uns, was weder sara noch ich verstanden. dabei weiss ich, dass er ein wenig deutsch spricht. warum tut er es dann nicht? ich rede mit ihm ja auch nicht bayerisch!

liebe sylvia - ich sage es dir schon jetzt: die menschen hier sind ein wenig seltsam ...

... aber auch nett (irgendwie). wenigstens stürzten zwölf leute aus dem haus, umarmten uns und gaben uns so viele küsse, dass ich sie am ende nicht mehr zählen konnte. wer nun aber die grossmutter und der grossvater von sara sind, weiss ich nicht. vom alter her kamen mehrere personen in frage. weil aber niemand so wie mohammed aussah, rätsle ich noch.

mohammed - wie sollte es anders sein - fehlte natürlich!

wir mussten in die lehmhütte eintreten und uns auf - sehr niedrige - sessel setzen. ach, was sage ich! es waren keine sessel - nur kissen, in die sara und ich plumpsten.

hast du schon einmal ein matterhorn aus keksen gesehen? wahrscheinlich nicht. aber bei saras grosseltern (war die zahnlose alte, die mir dauernd zuzwinkerte, ihre oma?) wurde genau das zur realität. karim balancierte einen riesigen teller mit einem gebirge von gebäck in den raum und stellte ihn in die mitte.

gleich darauf humpelte ein alter gebeugter mann heran (war er der grossvater von sara?). er hielt eine grosse teekanne in der hand und goss ein.

aber wie!

er hielt die tülle der kanne ungefähr einen meter über die gläser und zielte. mit einem scharfen strahl schoss der tee schäumend in die gläser - was an eine kuh erinnnerte, die sich lautstark auf der wiese erleichtert.

ich habe nichts dagegen, wenn jemand kaugummi kaut - aber muss er dabei schmatzen? womit ich wieder beim thema bin. denn in die gläser hatten sie irgendwelche kräuter gestopft. zusammen mit dem tee schmeckte am ende alles ... nach kaugummi.

das ist doch seltsam, oder?

sara schien das jedoch zu gefallen. sie setzte sich bei den tanten, onkeln, grossvätern und grossmüttern reihum auf den schoss. sie alle lachten, tranken tee, knabberten kekse, klatschten in die hände - und sara war der mittelpunkt. hätte ich eine möglichkeit gehabt, mich unsichtbar zu machen - keiner hätte es bemerkt, denn alles drehte sich nur um sara ...

... und ich war so blöd, mir währenddessen gedanken um ihr verlorenes stoffkamel zu machen!

plötzlich wusste ich (es war aber mehr eine dunkle ahnung!), dass sie mir sara wegnehmen wollten. immerhin: meine tochter war schon nach wenigen minuten so vertraut mit ihrer marokkanischen verwandschaft, dass sie mich - ihre mutter! - glatt vergessen hatte. ich war - unglücklich in den kissen sitzend - von ihr und ihrer verwandschaft höchstens noch geduldet, aber längst nicht mehr respektiert.

alle übersahen mich und spielten nur mit sara!

liebe traudel, weisst du, was es heisst, unsichtbar zu sein und sich ein kind vom herzen reissen zu lassen?

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 27.2.2006

liebe traudel,

alles ist nur halb so schlimm. die zahnlose oma ist nicht die grossmutter von sara - und der gebeugte alte mann nicht ihr grossvater. karim hat heftig den kopf geschüttelt, als ich ihn danach fragte. aber, wer von den vielen personen, die sara auf den schoss nahmen, waren sie dann? wenigstens hatten alle mitleid mit sara und wollten ihr bestimmt eine besonders „heile“ familie vorspielen. sie wissen ja längst, dass mohammed und ich geschieden sind. marrokaner sind wirklich sehr diskret und überaus freundlich.

aber ich habe dennoch so viele fragen. die mir nur mohammed beantworten kann. wo ist er? auch wenn wir geschieden sind, sollte er in marokko für mich da sein - was meinst du?

liebe grüsse
sylvia
(wie ist das wetter in deutschland?)


marrakesch, am 2.3.2005

liebe traudel,

nun sitze ich seit drei tagen in marrakesch im hotel - und nichts passiert. von karim habe ich seit unserem besuch bei saras verwandten nichts mehr gehört. auch von mohammed fehlt weiterhin jede spur. ich würde sara wirklich einen besseren vater wünschen - jemand, der sich der verantwortung bewusst ist und uns hier nicht mutterseelenallein sitzen lässt. ohne begleitung wage ich mich nicht auf die strasse. das wäre auch nicht weiter schlimm, wenn nur sara nicht den ganzen tag nörgeln würde und schreckliches heimweh nach deutschland hätte. sie vermisst ihre freundinnen - und das stoffkamel.

liebe grüsse
von sylvia

p.s. wenn wir nur endlich unser neues haus beziehen könnten!


marrakesch, am 3.3.2005

liebe traudel,

gute nachrichten! karim hat mich auf meinem handy angerufen und sich entschuldigt, dass er uns so lange allein lassen musste. er war beruflich unterwegs. er sagte, dass er ein „tolles geschäft“ in aussicht habe. nun müsste er nur noch mohammed finden, der ihm das nötige geld leihen soll. seit wann hat mohammed geld? ich habe davon niemals etwas gesehen. dabei braucht sara dringend ein paar neue schuhe.

liebe grüsse
von sylvia

p.s. in marrakesch ist es sehr warm geworden.


marrakesch, am 4.3.2005

liebe traudel,

sara hat einen schlimmen durchfall. mir geht es auch nicht viel besser. ich kann mich kaum auf den beinen halten und liege den ganzen tag auf dem bett. wir lassen - wegen der schrecklichen hitze in marrakesch - jetzt den ganzen tag die fensterläden geschlossen und leben im dunklen. sara schlug vor, einige kerzen zu besorgen. aber sie würden unser hotelzimmer nur noch mehr aufheizen.

liebe grüsse
von sylvia

p.s. wir leben von salzstangen und coca-cola. das soll gegen durchfall helfen.


marrakesch, am 6.3.2005

liebe traudel,

sara und ich fühlen uns viel besser. die salzstangen haben geholfen. leider geht mir langsam das geld aus. ich wollte mich ja sofort nach einer arbeit umschauen. aber bevor wir nicht in unser haus einziehen können, weiss ich nicht, wie ich das anstellen soll. sekretärinnen werden hier vielleicht auch gar nicht gebraucht, was meinst du?

liebe grüsse
von sylvia

p.s. für den anfang würde ich auch eine putzstelle akzeptieren. wenn ich mich hier aber umsehe und den ganzen schmutz sehe ... oh, weh!


marrakesch, am 8.3.2006

liebe traudel,

gestern kam - endlich - karim. als er uns in der dunkelheit des hotelzimmers sitzen sah, öffnete er als erstes die fensterläden. da sah ich, dass es in marrakesch geregnet hatte. es ist auch wieder sehr kalt geworden. jetzt weiss ich, dass ich unter der kälte - und nicht an schüttelfrost gelitten habe. mein gott, wie habe ich in den letzten zwei tagen gefroren!

ich habe mit drei pullovern übereinander geschlafen und dachte, ich müsste sterben. jetzt fühle ich mich aber wieder ganz gesund und habe einen heisshunger auf schwarzbrot mit schinken. sara spricht schon einige worte marrokanisch. sie sagt den ganzen tag „schukran“ - ist das nicht niedlich?

liebe grüsse
sylvia


marrakesch, am 9.3.2005

liebe traudel,

ich fasse es nicht! karim hat mir einen heiratsantrag gemacht. was sind das nur für komische leute - diese marokkaner?

aber der reihe nach!

als karim hörte, dass wir seit tagen das hotelzimmer nicht verlassen hatten, beschloss er, uns marrakesch zu zeigen. ich muss sagen: eine wirklich schöne stadt mit einer grossen stadtmauer - aber leider auch aus lehm, wie alles in marokko. ich habe ihn in ein café eingeladen. sara bekam ein eis - und hat wieder bauchschmerzen. eigentlich war es sehr gemütlich, bis mir karim erzählte, dass sein „tolles geschäft“ nun doch nicht zustande gekommen sei. jetzt hätte er wirklich die nase voll von marokko und wollte nur noch nach europa.

das ist doch komisch: ich komme aus deutschland, um in marokko zu leben - und karim will um jeden preis fort aus maroko!

er sagte, dass er sich ein leben in deutschland besonders gut vorstellen könnte. mohammed hätte ihm oft erzählt, wie schön münchen sei.

das weiss ich allerdings besser! tagein, tagaus hat mir mohammed vorgejammert, wie schlecht das wetter in deutschland sei und wie schwer es einem marokkaner gemacht würde, bei uns fuss zu fassen.

plötzlich fragte karim, ob ich nie daran gedacht hätte, wieder zu heiraten.

ich hätte mich fast am tee verschluckt!

ich muss ins badezimmer. sara hat sich gerade übergeben. bis bald!

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 10.3.2005

liebe traudel,

wo war ich stehen geblieben? richtig - karim fragte mich, ob ich nicht wieder heiraten will. er wartete meine antwort aber gar nicht ab. stattdessen lobte er sich in den höchsten tönen: was für ein guter mann er sei, der gern für sara und mich sorgen würde. wir könnten sofort in marokko heiraten, noch eine weile in marrakesch leben und dann nach deutschland gehen. er würde in münchen eine im- und exportfirma gründen und mich als sekretärin einstellen.

da habe ich mich doch tatsächlich am tee verschluckt!

allerdings hörte ich genau hin, als er vorschlug, erst einmal zusammen in dem haus zu wohnen, dass mohammed sara geschenkt hat. endlich kam das thema auf den tisch, weswegen ich in marrakesch war:

das haus!

ich wollte es nun endlich sehen und dort, wie es mir zusteht, einziehen.

karim sprach allerdings von einem notar, der das haus auf meinen ... oder seinen? ... namen umschreiben müsste. ich hörte gar nicht hin. endlich war jedoch von dem haus die rede, das für sara und mich den start in ein unbeschwertes, neues leben bedeutet.

morgen mehr! sara hat sich wieder übergeben.

viele grüsse
von sylvia


marrakesch, am 11.3.2005

liebe traudel,

irgendwie ticken die marokkaner nicht richtig! als ich karim sagte, dass ich das haus nun endlich sehen wollte, meinte er, dass wir uns noch gedulden müssten. das badezimmer sei noch nicht fertig und es würde auch noch die klingel an der haustür fehlen. als ob das so wichtig wäre. wenn uns aber das hotel zu teuer sei, könnten wir gern im haus seiner eltern wohnen.

damit meinte er die lehmhütte mit den vielen komischen verwandten von sara!

sara kotzt - ich muss schluss machen!

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 12.3.2005

liebe traudel,

irgendwie bin ich doch sehr schlau. ich habe karim gesagt, dass ich mir seinen heiratsantrag überlegen werde. dazu müsste ich aber erst einmal das haus gesehen haben, um zu wissen, ob wir darin alle platz haben. das sei kein problem, meinte er, morgen könnten wir es besichtigen.

ich bin sehr gespannt!

grüsse von
sylvia


marrakesch, am 12.3.2005

liebe traudel,

ich bin es noch einmal. als karim uns eben ins hotel zurück fuhr, habe ich beschlossen, marokkanisch zu lernen. wenn sara und ich im neuen haus wohnen, haben wir bestimmt nur marokkanische nachbarn. ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dort alle deutsch sprechen.

oder sollte ich statt marokkanisch besser arabisch lernen? das ist die sprache der gebildeten hier. ich unterhalte mich - du weisst es - viel lieber mit rechtsanwälten und ärzten, anstatt mit putzfrauen und krämerseelen.

da beginnen aber schon die probleme! du erinnerst dich vielleicht, dass wir einmal eine sendung im fernsehen über marokko gesehen haben. da war die rede vom „tamazight“ - die uralte sprache der einheimischen hier. denn eigentlich sprechen die marokkaner nicht arabisch oder marokkanisch - sondern tamazight. auch wenn sie diese sprache nicht mehr kennen.

du musst dir das so vorstellen:

wenn ein bayer in hamburg lebt, wird er bald seinen bayerischen dialekt ablegen. beim bäcker wird er brötchen anstatt semmeln kaufen - und beim metzger frikadellen anstatt fleischpflanzerl verlangen.

aber hört er deswegen auf, ein bayer zu sein? nein - denn auch ein marokkaner, der arabisch spricht, ist erst einmal ein marokkaner und kein araber - ebensowenig, wie ein araber ein marokkaner ist, nur weil er tamazight spricht. wie dann erst ein berber - sie sind hier alle berber! - der statt tamazight marokkanisch spricht ...

traudel - hast du mich verstanden?

in marokko wird das „tamazight“ inzwischen sogar an den universitäten gelehrt - es ist also das fortschrittlichste überhaupt - und ich habe gehört, dass es bald überall im land eingeführt werden soll. darauf können die marokkaner wirklich stolz sein. man gibt ihnen endlich ihre sprache zurück, auf die sie so lange verzichten mussten. endlich dürfen sie wieder berber sein - und müssen nicht länger marokkaner bleiben.

liebe grüsse
sylvia


marrakesch, am 12.3.2005

liebe traudel,

hast du das mit dem "tamazight" verstanden. es ist wirklich nicht ganz einfach. ich erkläre es dir einmal so:

nehmen wir einmal an, dass die preussen den bayern verboten haben, lederhosen zu tragen, auf der alm zu jodeln und beim oktoberfest bier zu trinken. es gibt auch keine semmeln und fleischpfanzerl mehr - nur noch brötchen und frikadellen. irgendwann haben die bayern jedoch die nase voll von den vielen verboten. sie beschliessen, ihr brauchtum wenigstens an den universitäten zu lehren - und schon bald wollen nicht nur die studenten jodeln und bier trinken - sondern alle bayern, überall im land.

so wie die berber in marokko!

und da beginnt mein problem! was ist, wenn ich mit viel aufwand marokkanisch oder arabisch gelernt habe, aber in marokko plötzlich nur noch tamazight gesprochen werden darf?

dann verstehen mich meine nachbarn schon wieder nicht.

also muss ich zuerst einmal "tamazight" lernen. deswegen werde ich ja nicht gleich zu einer fortschrittlich, emanzipierten berberin - sondern bleibe in jedem fall eine jodelnde und biertrinkende bayerin.

oh, es ist spät geworden!

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 14. märz 2005

liebe traudel,

gestern war es so weit. karim hat uns das haus gezeigt. um es gleich zu sagen: ich bin erschüttert. es liegt in der altstadt von marrakesch, die sie „medina“ nennen - das klingt allerdings hübscher als sie in wirklichkeit ist.

wir konnten auch gar nicht mit dem auto fahren, denn die strassen sind so eng, dass kaum zwei fussgänger nebeneinander gehen können. erst war alles noch ganz einfach: karim lief geradeaus, sara und ich hinterher. aber dann - links herum, rechts herum, wieder rechts, links, noch mal links ... ich verlor völlig die orientierung.

wie soll ich ein haus bewohnen, das ich überhaupt nicht wiederfinde?

plötzlich blieb karim stehen, nahm einen schlüssel aus seiner jackentasche und schloss eine niedrige tür in der mauer auf. wir traten in einen stockfinsteren flur, in dem es muffig roch. karim rief etwas, das sich wie „hier ist küche“ anhörte. ich sah um die ecke - bemerkte im dämmerlicht aber nur einen hölzernen zuber und ein aufgemauertes monstrum, das man mit viel phantasie als ofen bezeichnen könnte.

karim lief schon weiter - die treppe hinauf. sara stolperte und fiel hin. sie schrie fürchterlich - und hatte wohl auch angst vor der dunkelheit. im ersten stock führte uns karim zuerst in einen raum, an dessen vier kalkig weissen wänden sich verschlissene polster und kissen hinzogen. in der mitte standen zwei flache tische. als karim die fensterläden aufstiess, wehte eine schwarze wolke herein. sie kam von einem offenen grill, der unten im hof stand und auf dem kleine, verbrannte fleischspiesse vor sich hin schmorten.

karim drängte uns gleich weiter - in den angrenzenden, zweiten raum. das war das schlafzimmer. in der mitte stand ein grosses doppelbett, auf dem sich decken und kissen türmten. hier roch es so dermassen nach mottenpulver, dass mir die tränen kamen.

weitere zimmer gab es nicht auf der etage.

karim sprang die nächste treppe hinauf. wir kletterten mühsam hinterher (sie war sehr steil) und erreichten eine dachterrasse, in deren hinterster ecke ein bretterverschlag stand. von der terrasse aus hatte ich einen wirklich hübschen blick auf marrakesch. als ich aber genauer hinsah, fröstelte mir. in diesem gewirr von gassen würde ich mich hoffnungslos verirren. in dieses haus einzuziehen, bedeutete, als gefangene in marrakesch zu leben.

aber vielleicht wollte mohammed das - vielleicht war das seine rache!

ich zeigte auf den bretterverschlag und fragte karim, was es damit auf sich hätte. „dies wird das neu badezimmer für uns!“ antwortete er.

für uns? sah er sich schon zusammen mit sara und mir in diesem haus wohnen? dabei gab es - wie ich inzwischen wusste - nur ein schlafzimmer. wo also sollte karim hin?

ins doppelbett! er wollte mich ja heiraten.

ich musste plötzlich - dort auf dem dach des hauses - laut schreien und bekam am ende keine luft mehr. das war ein nervenzusammenbruch - ich wusste es gleich.

jetzt kann ich nicht weiter schreiben. mir zittern immer noch die hände!

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 15. märz 2005

liebe traudel,

karim wollte mich zum arzt bringen. das war aber nicht nötig. als ich das haus mit der rustikalen küche und den zwei spärlich möblierten zimmern verlassen hatte, ging es mir gleich besser. ich sagte ihm dennoch, dass ich schon morgen dort einziehen wollte. so etwas nennt man „de-sensibilisierung“ ...

... wir müssen dem wahnsinn nämlich ins auge schauen, damit er seinen schrecken verliert.

karim sprach zwar wieder von der fehlenden klingel an der haustür - aber das interessierte mich nicht. wer will bei mir schon klingeln?

tatsächlich: heute morgen holte uns karim ab und führte sara und mich zu unserem haus in der medina. die tür stand offen - womit sich das problem der fehlenden klingel von selbst erledigt hatte. ich wollte gerade unsere koffer im schlafraum abstellen, als ich ein geräusch aus dem wohnzimmer hörte. ich öffnete die tür und sah in die gesichter unserer verwandtschaft. alle, die ich bereits bei saras grosseltern kennengelernt hatte, sassen - wie auf der hühnerleiter - fröhlich in den polstern und lachten mich an - besonders die zahnlose alte, die fortwährend mit ihren augen zwinkerte. ich musste karim platz machen, weil er ein grosses tablett mit keksen herein balancierte. ein alter gebeugter mann griff zur teekanne, die auf dem flachen tisch stand ...

ach, traudel! ich muss es dir nicht weiter erzählen. es war alles so, wie ich es vor einigen tagen bei saras verwandtschaft erlebt hatte. sie lachten, klatschten in die hände und sara sass bald wieder reihum auf dem schoss ihrer onkel und tanten - ich aber wurde zum zweiten mal in marokko unsichtbar.

als ich karim fragte, was das alles zu bedeuten hätte, antwortete er: „wir feiern, weil du einziehst in saras haus!“

wer es geschafft hatte, in dem monstrum von ofen, der unten in der küche stand, eine tajine zuzubereiten, weiss ich nicht. irgendwann - es wurde schon abend - stand sie jedoch dampfend auf dem tisch und alle griffen zu. unter anderen umständen hätte ich mir gewiss einen hühnerschenkel genommen - an diesem abend aber fehlte mir jeder appetit. ich musste auch nichts essen - ich war ja unsichtbar.

als es auf mitternacht zuging, wurde sara müde. also brachte ich sie ins schlafzimmer, schüttelte die mottenpulver-durchtränkten decken auf und öffnete das kleine fenster zum hof, um nicht sofort zu ersticken.

sara hatte noch keinen fuss ins bett gesetzt, als karim in der tür erschien. er sah uns mitleidig an: „das geht nicht. doppelbett ist für unsere alten gäste. andere gäste schlafen im salon auf kissen!“

als ich ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu: „ihr müsst schlafen im hotel!“

da bin ich jetzt - und kann nicht schlafen.

viele grüsse
sylvia


marrakesch, am 16. märz 2005

liebe traudel,

du kannst dich mit mir freuen: endlich leben sara und ich in unserem haus - ganz allein und ohne jede verwandtschaft. so ganz stimmt das allerdings nicht, weil karim - weil er mich doch heiraten will - darauf bestand, mit einzuziehen. ich denke aber gar nicht daran, ihn zu heiraten. deswegen wohnt er oben auf der dachterrasse. da hat er auch genug zu tun - denn das badezimmer im bretterverschlag ist immer noch nicht fertig.

heute morgen fragte er mich - weil ich so zitterte - ob er mich zu einem arzt bringen sollte. das wollte ich nicht. ich bat ihn aber, mit mir in eine apotheke zu gehen. einige aspirin und baldrian-tropfen würden mir - so dachte ich - schon helfen, den nervenzusammenbruch zu überwinden..

die apotheke, in die er mich führte, war etwas seltsam. überall standen gefässe mit kräutern herum. nichts war so, wie ich es aus deutschland kannte. karim ermunterte mich, dem apotheker mein problem zu schildern: schlaflosigkeit, schüttelfrost, das gefühl, unsichtbar zu sein, kopfschmerzen, übelkeit, bauchweh ...

der apotheker sah mich lange an, griff dann nach einer flasche hier, zu einem tiegel dort und rührte mir eine medizin zusammen.

und was soll ich sagen! kaum hatte ich sie eingenommen, verschwand das zittern, die magenschmerzen hörten auf, der kopf wurde mir ganz leicht. mich durchströmte eine wohlige wärme und marrakesch verwandelte sich in die schönste stadt der welt. ich hätte alle menschen umarmen können. ich schwebte durch die gassen der medina - fand zwar unser haus nicht wieder, dafür aber hundert andere, die mindestens ebenso schön waren. endlich wusste ich, dass ich in marrakesch angekommen war - in meiner stadt, in meinem neuen leben.

traudel! ich bin einfach glücklich.

liebe grüsse
von sylvia


marrakesch, am 17. märz 2005

liebe traudel,

nur ganz kurz! mir geht es furchtbar elend. als ich heute morgen aufwachte, war mir so schwindelig, dass ich im bett liegen bleiben musste. ist das die wirkung vom mottenpulver? nur mit mühe konnte ich sara einen tee kochen. mir tut alles weh und ich glaube, dass ich sterben muss.

darum: lebe wohl, liebe traudel. du wast mir immer eine gute freundin!

sylvia

p.s. mein kopf tut mir weh. warum finde ich im ganzen haus keine aspirin - nur diese komische kräutermedizin?


marrakesch, am 18. märz 2005

liebe traudel,

gott sei dank - heute geht es mir besser, wenn ich einmal davon absehe, dass mich die kopf- und magenschmerzen fest im griff haben.

aber - das leben geht weiter. deswegen will ich dir erzählen, was heute passierte.

karim arbeitete oben auf der terrasse an unserem badezimmer, als plötzlich ein fremder mann in meiner schlafzimmertür stand. ich erschrak zu tode und zog die decken bis zur nasenspitze. was wollte er von mir? warum konnte er einfach so ins haus spazieren, anstatt unten an der haustür erst einmal zu klingeln?

warum hielt sich karim eigentlich solange mit dem badezimmer auf der dachterrasse auf, anstatt sich um wichtigeres zu kümmern: um die klingel an der haustür zum beispiel?

„gestatten sie, madam?“ fragte der fremde und trat - ohne eine antwort abzuwarten - an mein bett. gerade wollte ich laut um hilfe schreien, als er einen kleinen koffer ans fussende des bettes stellte: „darin befinden sich 30.000 euro. sie gehören ihnen, madam!“

war ich gewinnerin im marokkanischen lotto? ich hatte doch gar keinen tippschein ausgefüllt. „das geld ist für mich?“ fragte ich erstaunt. der fremde grinste: „gewiss - und dieses kleine haus gehört jetzt mir!“

sara war ins schlafzimmer gekommen. „mama, was will der mann von uns?“

„er will mir 30.000 euro schenken - ich weiss aber immer noch nicht, wofür!“

„für neunundreissig komma fünf quadratmeter abrissreifer bausubstanz in der medina von marrakesch!“ grinste der fremde.

erst jetzt begriff ich, warum er gekommen war. „wenn sie dieses haus meinen - es gehört mir nicht!“ rief ich.

„wem dann?“ fragte der fremde erstaunt.

„meiner tochter! ihr vater hat es ihr geschenkt!“

diese antwort legte seine stirn in falten. er schien nachzudenken und beugte sich dann zu sara:

„dschinns ... kennst du dschinns?“

sara schüttelte den kopf.

„das sind böse marokkanische geister, die nachts durch die häuser der medina schleichen und kleine kinder erschrecken. nimm den koffer, gib mir dein haus - und kaufe dir mit dem geld so viele barbie-puppen wie du willst!“

ich lag wie gelähmt auf dem bett. wäre in diesem moment nicht karim dazu gekommen, hätte ich das haus auf der stelle verkauft - nur um den fremden loszuwerden.

„monsieur habbou - was suchen sie hier?“ ich sah karim an, dass ihn der besuch des mannes ärgerte.

der fremde griff nach seinem koffer. „aber karim - du weisst doch: leben gibt´s gratis - alles andere ist käuflich!“. er lachte, klemmte sich den koffer unter den arm und verschwand eilig über die treppe aus dem haus.

liebe traudel, ich habe karim gebeten, nun endlich die klingel an der haustür zu reparieren. noch so einen besuch verkrafte ich nicht.

viele liebe grüsse!
sylvia


marrakesch, am 20. märz 2005

liebe traudel,

kakerlaken - es sind kakerlaken! gestern nacht wollte ich mir ein glas wasser aus der küche holen und da sah ich sie. es waren nicht zehn oder zwanzig - nein, es waren hunderte von diesen viechern, die aus dem abfluss krochen und sich über den fussboden der küche verteilten. schrecklich!

ich rief um hilfe. gott sei dank hörte mich karim, der in der wanne des badezimmers sein nachtlager aufgeschlagen hat. er tötete mit einem besen mindestens 200 kakerlaken, während ich - sterbend vor angst - dabei stand und mir das knirschen und knacken der platzenden insektenpanzer anhören musste. ein grauenvolles massaker - es war furchtbar.

ich konnte die ganze nacht nicht schlafen und stopfte in alle ritzen an tür und fenster wolldecken, um die tückischen angriffe der kakerlaken abzuwehren. dennoch schaffte es ein insekt, unbemerkt ins schlafzimmer zu gelangen und in aller seelenruhe über meine bettdecke zu kriechen.

traudel - das halte ich nicht länger aus. über diesem haus liegt kein segen!

viele grüsse!
sylvia


marrakesch, am 21.3.2005

liebe traudel,

karim hat jetzt im ganzen haus ultraschall-geräte aufgestellt. sie sollen die kakerlaken davon abhalten, uns nachts zu überfallen. es scheint aber so zu sein, dass diese maschinen - im gegenteil - die kakerlaken geradezu anziehen. wenigstens musste karim in der vergangenen nacht gleich 300 von ihnen mit dem besen erschlagen. der besen ist unsere einzige waffe - über den ultraschall lachen die kakerlaken nur. wir bekommen nachts kein auge mehr zu, denn die biester sind überall.

mein entschluss steht fest - ich ziehe morgen aus!

grüsse von
sylvia


marrakesch, am 22. märz 2005

liebe traudel,

jetzt bin ich einen monat in marokko. am 22. februar kam ich mit vielen hoffnungen in dieses land. nun sitze ich auf dem flughafen und warte auf die rückreise nach münchen.

du wirst fragen, warum alles so kam.

nein, die kakerlaken sind nicht der grund, marokko zu verlassen. ich hätte unser haus für mindestens 30.000 euro verkaufen können. ein seriöses angebot hatte ich bereits. nein, - schuld hat allein mohammed.

du wirst dich vielleicht erinnern, dass karim mir von einem „tollen geschäft“ erzählte. das war aber nicht die ganze wahrheit. vielmehr hatte mein geschiedener mann das geschäft eingefädelt. nicht karim brauchte das geld von mohammed - mohammed benötigte es von seinem bruder. das sagte er ihm jedoch nicht, sondern schickte einen freund vor. als karim das geld für den freund nicht auftreiben konnte (er wollte es sich, wie ich dir erzählte, von mohammed leihen), kam er auf den gedanken, mich zu heiraten, um das kakerlaken-haus auf seinen namen umschreiben und sofort verkaufen zu können. was er nicht wusste: mohammed, der sara das haus schenken wollte, hatte es wegen akuter geldnot längst an einen spanischen immobilien-händler verpfändet. davon aber erzählte er seinem bruder nichts. er dachte wohl, dass man so eine hübsche immobilie in der medina von marrakesch ohne weiteres zweimal verkaufen kann.

hätte ich doch nur den koffer behalten - von den kakerlaken wusste ja niemand. dann wäre das haus vielleicht zum dritten mal verkauft worden - ich hätte aber wenigstens 30.000 euro dafür bekommen.

karim war traurig, als er sara und mich zum flughafen brachte. von heirat hat er nicht mehr gesprochen, mir aber gestanden, dass der gebeugte, alte mann und die grinsend-zwinkernde, zahnlose frau nun doch die grosseltern von sara sind. das habe ich meiner tochter aber nicht erzählt. sie würde das - nach allem, was sie erlebt hat - nicht verkraften.

ich habe für sara ein neues stoffkamel gekauft. es trägt allerdings keine rote, sondern eine blaue schleife um den hals. ich denke aber, dass sara es gar nicht bemerkt hat.

viele grüsse
sylvia


r.d.v. märz 2006


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Cesara gewidmet

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