ES TANZT, ES TANZT, ES TANZT ...
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Keiner konnte schliesslich noch sagen, wann sie zum ersten mal die herrschaft in den städten übernommen hatte -
noch viel weniger, woher sie gekommen war. die einen sprachen davon, dass ratten, die auf schiffen aus fremden
ländern nach europa segelten, schuld am tausendfachen tod seien.
aber niemand, der jämmerlich zugrunde ging, war jemals von einer ratte gebissen worden.
andere sprachen davon, dass es ein giftiger hauch sei, der sich über dörfer und städte ausbreitete,
niemanden verschone und selbst vor himmelwärts strebenden kathedralen nicht halt mache.
wieder andere erzählten, dass es überhaupt nur die sünder seien, die auf diese weise der gerechten strafe des gottesgerichts
teilhaftig und dahin gerafft würden.
aber alle sprachen doch auch davon, dass die pest das werk des teufels war.
die pest fiel über die dörfer und städte her und erstickte die menschen. wer gestern noch lachte, lag heute im fieber.
wer gestern noch an eine zukunft glaubte, sah heute den horizont von tödlich schwarzen wolken versperrt.
mädchen tasteten überrascht über ihre kleinen, in windeseile wachsenden brüste und bemerkten nicht,
dass sie über pestbeulen strichen. priester hoben ihre röcke und sahen voller entsetzen, dass der teufel nicht nur - wie sie es
gewohnt waren - von ihrem geschlecht, sondern auch von ihren lenden besitz ergiffen hatte. reiche handelsherren beugten
sich lüstern über ihre mätressen, verspritzten aber keine wollust - sondern nur den eiter ihrer aufplatzenden wunden.
sie alle waren nach einer kurzen weile tot.
man schrieb das pestzeichen an ihre türen, erklärte sie zu sündern, lud sie, leib auf leib geschichtet, in handkarren,
und schaffte sie aus den städten hinaus. die lebenden, auch schon von der pest gezeichneten, hatten es eilig,
sich der toten zu entledigen. sie meinten zu wissen, dass jeder an der pest gestorbene auch noch die letzten gesunden
mit in den tod reissen würde, wenn sie ihn nicht rasch genug in der erde vergruben.
... von wo der pesthauch aufstieg und weiter durchs land strich.
wenn aber manchmal ein kühler wind die hitze des allgegenwärtigen todes milderte ... ein wind, der über die berge kam und den gestank des todes aus den strassen blies, fragten sich die menschen - die überlebenden, noch vom tod verschonten:
was es mit dem tod auf sich hatte - und welchen sinn er haben könnte. denn eines war nun ganz gewiss:
der tod stand nicht mehr irgendwo im trüben nebel am ende ihres lebens, sondern war geradewegs in ihr haus getreten,
hatte am tisch platz genommen, nach dem brot gegriffen, die suppe gelöffelt und beiläufig bemerkt
(und dabei gelacht, so als habe er einen scherz gemacht), dass er nun bleiben werde ... für immer.
er hatte alle am tisch sitzenden aufgefordert, mitzulachen ... aber da hatte sich der kühle wind schon gelegt
und dem süssen gestank der pest erlaubt, wieder von den dörfern und städten besitz zu ergreifen.
... über die pest, das sterben und den tod dachte aber jeder so, wie es seinem rang entsprach -
auf welchen schutz er sich also durch herkunft und stand verlassen konnte.
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ES TANZT DER PAPST ...
Als die ersten pestkarren durch die strassen roms rollten, war die bevölkerung nicht besonders beunruhigt. immer einmal
wieder flackerte die pest auf, griff sich einige opfer - vor allem kinder, kranke und alte menschen - und verschwand danach.
der hüter der päpstlichen privatgemächer, der ranghöchste geistliche im vatikan nach dem papst, kardinal angelus,
sah keinen grund, von den vorkommnissen zu berichten. er wollte den papst nicht beunruhigen,
mass den wenigen pesttoten auch keinerlei bedeutung bei.
in venedig, das wusste er, hatte man auf einer vorgelagerten insel ein hospital errichtet, in dem menschen, die im verdacht standen, an der pest erkrankt zu sein, isoliert wurden. das waren vor allem seeleute von den schiffen aus der levante. in rom hingegen war an eine solche vorsichtsmassnahme nicht zu denken. die stadttore standen in alle himmelsrichtungen offen, es war ein ständiges kommen und gehen. niemand wusste, woher die menschen kamen, die rom besuchten oder hier handel trieben. es war unmöglich, jeden einzelnen zu kontrollieren und - falls nötig - zu isolieren. im übrigen, so tröstete sich kardinal angelus, war das auch nicht die aufgabe des vatikan. rom war - gemessen an venedig - eine arme stadt. kardinal angelus schloss seine betrachtung mit der feststellung,
dass in armen städten die pest ein leichteres spiel hat.
erst als immer mehr pestzeichen in die türen der häuser geritzt und die pestkarren immer häufiger durch die strassen gezogen wurden, schlug die anfängliche gleichgültigkeit erst in besorgnis und dann in panik um. wer dazu in der lage war, verliess die stadt, über der eine lastende schwüle stand, in die sich der dunst von unrat und fäkalien mischte.
kardinal angelus entschloss sich, den papst nun doch mit aller vorsicht darüber aufzuklären, dass - so wie es aussah - rom
von einer pestwelle heimgesucht wurde. er beruhigte ihn aber sogleich und sprach von seiner gewissheit,
dass der vatikan bestimmt verschont bliebe. „gott“, so meinte er und beugte demütig sein knie,
„wird es nicht zulassen, die diener des papstes dem teufel auszuliefern.“
sie seien zwar alle sünder, fuhr er fort, aber der dienst an der christenheit sei viel zu wichtig, als dass gott auch nur einen
von ihnen in die hände des teufels überantworten würde.
kardinal angelus sprach immer nur von den dienern des papstes ... doch nie vom papst selbst, den er durch das heilige amt vor jedem unheil geschützt sah. der papst hörte ihm mit regungslosem gesicht zu und angst stieg in ihm auf ... von der er meinte, dass sie nicht seiner person, sondern der ihm anvertrauten christenheit galt. als er aber später allein war, vergass er die sorge um die menschen und suchte in der zwiesprache mit der jungfrau maria nach hinweisen, wie viele wochen ... oder tage ihm noch blieben.
er kniete stunde um stunde vor ihrem bildnis und bettelte, weil er keine antwort erhielt,
am ende um sein nacktes, sündiges lebens.
kardinal angelus, der es verachtete, den papst ängstlich zu erleben, versicherte ihm immer aufs neue, dass er sich keine
sorgen machen müsse. weil aber die pest inzwischen täglich hunderte von opfern kostete, musste er seiner theologie
eine neue richtung geben und sprach jetzt davon, dass es womöglich gottes ratschluss sei, auch den einen oder
anderen seiner unbedeutenden diener in die ewigkeit abzuberufen, dass aber doch der erste, einzige und wahre
diener des herrn, nachfolger von petrus und stellvertreter gottes auf erden, bis in alle ewigkeit geschützt sei.
er sagte das mit grosser feierlichkeit, konnte aber ein zynisches grinsen nicht verhindern, das plötzlich in seinem gesicht stand
und sich trotz grösster willensanstrengung nicht entfernen liess. er lief eilig davon und gab befehl,
die päpstliche residenz unverzüglich in die nahen berge zu verlegen. würde es irgendwann den vorwurf geben,
man habe den papst nicht genügend geschützt, sollte er wenigstens nicht ihm gelten.
in rom wütete die pest immer erbarmungsloser. die toten wurden nicht mehr fortgeschafft, sondern vor ihren häusern
zu scheiterhaufen zusammen geschoben und verbrannt. die beamten hatten es längst aufgegeben, die namen der toten
zu notieren und ihre zahl zu ermitteln. es waren einfach viel zu viele.
der leibarzt des papstes hatte fast alle berichte, die in europa über die pest kursierten, gelesen. auch er neigte schliesslich zu
der ansicht, dass die ursache des übels bei den ratten zu suchen sei - kreaturen, die ohne zweifel vom teufel zu ihrem
gottloses tun gezwungen worden waren. er glaubte aber nicht, dass ein rattenbiss für den ausbruch der krankheit
verantwortlich war. er vermutete vielmehr, dass es die vergifteten exkremente der tiere waren, die - getrocknet,
zu staub zerfallen und vom wind auseinander gewirbelt - den keim der pest in die lungen der menschen transportierten.
er ordnete an, alle türen und fenster der päpstlichen residenz mit wollstreifen abzudichten, damit kein windhauch nach innen
gelangen konnte. bald lastete in den päpstlichen gemächern eine faulige schwüle - schlimmer noch als in den strassen roms.
kardinal angelus beugte sich über zwei schriftstücke, die er jüngst verfasst hatte und unverzüglich vom papst unterzeichnet worden waren. im ersten wurde den menschen, die an der pest gestorbenen waren, das sakrament und der segen gottes verweigert. sie seien, so hiess es im päpstlichen schreiben, in die hände des teufels geraten und für gottes trost nicht mehr erreichbar. kardinal angelus nickte zustimmend, wusste aber, dass dies nur die halbe wahrheit war. allein in rom waren in kürzester zeit über 70 priester, die man zu den kranken und sterbenden gerufen hatte, von der pest hinweg gerafft worden. jeder konnte sich ausrechnen, dass die stadt bald ohne jeden geistlichen beistand sein würde, wenn der vatikan nicht massnahmen ergiff, um seine priester zu schützen.
das zweite schriftstück befasste sich mit der rattenplage, die in der sommerresidenz des papstes schon immer
ein problem darstellte, jetzt aber zu einer ernsten gefahr geworden war. wenn die ratten, wie der päpstliche leibarzt
vermutete, ursache für den ausbruch der pest waren, mussten vorkehrungen getroffen werden, sie ein für allemal
auszurotten. das päpstliche schreiben trug deswegen auch die überschrift: „von der endgültigen vertreibung des teufels
und seines ihm ergebenen gefolges aus dem hause seiner heiligkeit, des pontifex.“
zwei soldaten der leibgarde wurden ausgewählt, um diese aufgabe zu übernehmen. man schneiderte ihnen eine scharlachrote kutte, die von einer schwarzen kordel zusammengehalten wurde. in der einen hand trugen sie ein gerät, das wie ein spaten aussah, in der anderen hand einen krug mit weihwasser. sie stiegen in die unterirdischen labyrinthe der palastes, um dort die ratten, die zu tausenden in den verwinkelten nischen und verborgenen kanälen lebten, aufzuspüren. trafen sie auf ein tier, schlugen sie es auf der stelle tot und benetzten danach den weg, den die ratte genommen hatte, mit weihwasser. ratten - das wussten sie - folgten immer denselben fährten, also mussten sie ihre wege mit dem geweihten wasser für alle zeit versperren.
kardinal angelus hatte dafür gesorgt, dass nur die wirklich unabkömmlichen bediensteten und sekretäre den papst in die sommerresidenz begleiteten. er wusste, dass das risiko, die pest in die päpstlichen gemächer zu tragen, mit jedem menschen,
der sich darin aufhielt, stieg. als die, für die ratten zuständigen soldaten nach 10 tagen meldeten, dass sie bereits annähernd
3000 ratten getötet hatten, hörte das kardinal angelus mit grosser befriedigung. er nahm dies - und die tatsache,
dass bisher niemand in der residenz erkrankt war - als sicheres zeichen, die pest erfolgreich ferngehalten zu haben.
die nachrichten aber, die ihn erreichten, waren niederschmetternd. die hälfte aller geistlichen und bediensteten des vatikan waren entweder an der pest erkrankt oder schon daran gestorben. den überblick, was in der stadt rom selbst geschah, hatten die behörden längst verloren. die scheiterhaufen mit den pesttoten brannten tag und nacht.
der papst kauerte in einer kapelle seiner residenz und betete. er trug nicht mehr sein prächtiges, weisses ornat,
sondern eine einfache braune kutte, die ihm das aussehen eines bettelmönchs gab. dazu passten seine gesichtszüge,
die mit jedem tag grauer, asketischer und härter wurden.
er hatte seinen glauben an gott verloren. er war vor nunmehr drei tagen morgens aufgewacht und wusste plötzlich -
es war sein hellster gedanke überhaupt - dass gott vor 1300 jahren der welt den rücken gekehrt hatte.
gott war unerreichbar geworden - sich an ihn zu wenden, zwecklos. gott hatte seine schöpfung aufgegeben,
weil er nicht mehr an sie glaubte, und die menschem seinem widersacher, dem teufel, überlassen.
er, der papst, seines glaubens und allen sinns beraubt, musste nur noch das elende werk vollenden ...
wobei nichts weiter zu tun war, als zu warten.
er bat maria nicht länger, ihm den tag seines sterbens zu verraten. das war ihm gleichgültig geworden. sein gebet
verkam zu einer sinnentleerten, lästigen angelegenheit, der er sich jedoch beugen musste, weil kardinal angelus
stets an den gebeten teilnahm und auch sonst nicht von seiner seite wich.
als sie die kapelle verliessen, richtete kardinal angelus das wort an den papst. „heiliger vater, mit gottes hilfe sind wir von der pest verschont geblieben. im palast ist niemand in die hände des teufels gefallen. ich wage die prophezeihung, dass - wenn uns heute oder morgen nicht doch noch das unglück trifft - gott unsere bitten erhört hat.“
„warum sind sie sich so sicher, kardinal angelus?“
„weil ihr lebarzt mir versichert hat, dass die abscheulichen exkremente der diener des teufels nach 10 tagen ihre vergiftende
wirkung verloren haben ... und wir verzeichnen heute den 10. tag unserers aufenthalts in der sommerresidenz.“
kardinal angelus hoffte, dass der papst seine worte mit erleichterung aufnehmen würde - aber er irrte sich.
„wir können nichts weiter tun, als abzuwarten!“ entgegnete der papst und sein gesicht wurde noch finsterer als zuvor.
„die herrschaft des teufels zu brechen, gelingt nicht in 10 tagen - auch weil wir seit 1300 jahren ohne beistand sind.“
kardinal angelus verstand den sinn der worte nicht, wagte aber nicht, nachzufragen.
„es ist aber doch ein sieg über den teufel, heiliger vater. wir haben ihn mit gebeten, einem festen glauben, vor allem
aber mit gottes hilfe von diesem haus ferngehalten ... ihr seid erschöpft und müsst - jetzt, wo alles glücklich überstanden ist - wieder
zu kräften kommen. esst eine kleinigkeit, ich habe den koch angewiesen, eine mahlzeit aufzutragen.“
der koch beugte sich über einen topf mit kochender rinderbrühe. er griff nach einer kelle, um das fleisch herauszunehmen.
plötzlich wurde ihm schwindelig. er wollte sich am herd festhalten, taumelte aber zurück, weil er sich dabei die hände verbrannte.
er schwankte, suchte anderen halt und fiel nach vorn, wobei sein kopf in den topf mit der kochenden brühe geriet.
so fand man ihn.
der päpstliche leibarzt bettete den toten auf einen tisch und forderte die neugierigen diener und hilfsköche auf, die küche zu verlassen. das fast bis zur unkenntlichkeit verkochte gesicht des toten bedeckte kardinal angelus, der kraft seines amtes die anweisungen zur obduktion gab, mit einem küchenlappen. der arzt schnitt die kleider auseinander und legte den oberkörper frei. kardinal angelus schrie entsetzt auf, denn der leib des mannes war übersät von schwarzen, walnussgrossen beulen.
zwei tage später wurde kardinal angelus ans bett des papstes gerufen. er hielt, als es zu ende ging, sein ohr an den mund des sterbenden, um ihn besser zu verstehen. „1300 jahre“ hörte er. das waren die letzten worte.
noch in der nacht wurde der papst im park der sommerresidenz gleich neben der leiche seines kochs verscharrt.
kardinal angelus hatte es so angeordnet und dazu bemerkt:
„pesttote müssen auf ein besonderes begräbnis verzichten, denn sie sind bereits in der hand des teufels.“
kardinal angelus, nach dem papst der höchste geistliche im vatikan, wurde in einer eilig einberufenen konklave
zum nachfolger bestimmt. auf dem weg zur krönung, bei dem er auch von zwei furchteinflössenden gestalten
in scharlachroten kutten begleitet wurde, brach er zusammen.
er starb, aus mund und ohren blutend, zu füssen des marienaltars im petersdom.
die pest wütete noch drei monate in rom. dann aber erloschen die feuer in den strassen und die pestkarren nahmen
ihre arbeit wieder auf. die beamten notierten gewissenhaft die namen der toten und zählten die täglichen opfer.
als es immer weniger wurden, fand ein dankgottesdienst im petersdom statt, bei dem der papst seinen
vorgänger mit keinem wort erwähnte - dann kehrte der alltag nach rom zurück.
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ES TANZT DER KAISER ...
Auf einem felsen, hoch über der stadt, zogen sich die mauern der burg hin, unterbrochen von zinnenbewehrten türmen
und kleinen luken, die jedoch fest verriegelt waren. anders das haupttor, zu dem eine zugbrücke führte und das von
soldaten in rot weissen uniformen und goldenen hellebarden bewacht wurde. es stand weit offen.
wenn sich der kaiser in seiner residenz aufhielt, wehte auf dem höchsten turm der burg die schwarz, gelb, rote fahne mit dem kaiserlichen wappen in der mitte: ein adler, der in seinen fängen die reichskrone mit dem kreuz hält. die fahne wurde jedoch nur selten aufgezogen, denn die meiste zeit des jahres hielt sich der kaiser in seinen provinzen auf oder unternahm feldzüge gegen seine nachbarn, von denen er meinte, dass sie nur darauf warteten, seine fruchtbaren landstriche und reichen städte zu überfallen.
kaiser johann war ein misstrauischer mann, der alle fallstricke und finten der politik kannte. damit auch sein sohn karl,
der gerade 18 jahre alt geworden war, die nicht immer friedliche welt kennenlernte, schickte er ihn nach oberitalien,
um dort dubiose besitzansprüche auf die provinz adalanda durchzusetzen, die - so meinten es wenigstens die
rechtsgelehrten - durch heirat und erbe, verwandtschaft und lehnspflicht entstanden waren.
karl, den man hätte hübsch nennen können, wenn nicht sein gesicht wegen einer schwäche des rechten augenlids einen schläfrigen, abwesenden und ein wenig törichten ausdruck gehabt hätte, verstand sich auf die höfische etikette und war vor allem bei den damen am mailänder hof - als sie sich an die müdigkeit seines gesichts gewöhnt hatten - gern gesehen. auch bei den rittertunieren sass er fest im sattel, beeindruckte zwar nicht durch grosses geschick, dafür aber durch kraft und ausdauer.
diese ausdauer mussten auch die höflinge zur kenntnis nehmen, mit denen er wegen adalanda verhandelte, und bei dieser
gelegenheit vergilbte schriftstücke hervor zog, die beweisen sollten, dass die provinz von alters her zum eigentum seiner familie gehörte .. samt ihrer städte, dörfer, wälder, wiesen, weiden und menschen. die höflinge nannten ihn
stur und - je länger sich die verhandlungen hinzogen - auch uneinsichtig.
karl beharrte auf seiner forderung, behielt aber den grössten trumpf in der hinterhand. er sprach mit schneidender stimme
zu den höflingen, schmeichelte im nächsten augenblick den damen, ritt mit dem sohn des mailänder fürsten, der wie
sein vater nichts von den querelen um adalanda hören wollte, zur fuchsjagd, liess sich auf empfängen die
abgesandten europas vorstellen und nahm mit einem stolzen, aber verbindlichen lächeln die
segenswünsche für seinen vater, den kaiser des heiligen römischen reiches deutscher nation, entgegen.
er zog die gesandten ins vertrauen, versicherte ihnen die besondere wertschätzung seines vaters und fragte beiläufig, wie sie über den streitfall adalanda dachten. mit einiger verblüffung musste er feststellen, dass er zwar bei jeder dieser begegnungen mindestens einen neuen verbündeten auf seine seite gezogen hatte, die sich aber allesamt - aus räson gegenüber dem mailändischen fürsten - schon am nächsten tag an keinerlei zusagen mehr erinnern konnten.
als karl erkannte, dass in diesem fall die diplomatie nicht ausreichte, er die angelegenheit adalanda aber doch an ein ende bringen musste (immerhin hielt er sich schon über drei monate am mailänder hof auf) kündigte er seine abreise an.
die höflinge triumphierten im stillen. um aber die etikette zu wahren, sprachen sie davon, dass das letzte wort über adalanda noch nicht gesagt sei, man aber erst neue rechtsgutachten einholen müsse, um das problem - hoffentlich endgültig - aus der welt zu schaffen. wenn es karl wünsche, könne man die verhandlungen gern irgendwann wieder aufnehmen. man sei überzeugt, zu einer lösung zu kommen. das alles benötige aber zeit ... viel zeit.
sie wünschten karl eine gute heimreise.
karl bedankte sich höflich, gab aber, bevor die tür der kutsche geschlossen wurde, zu bedenken, dass ihm diese zeit leider fehle, er deswegen in jahresfrist an der spitze der kaiserlichen armee zurückkehren werde.
er sei gern bereit, die mailänder abgesandten in adalanda zu empfangen - sofern noch etwas zu verhandeln wäre.
noch bevor karl mit seinem tross das nördliche stadttor von mailand erreicht hatte, wurde er von sechs berittenen
soldaten eingeholt, die ihn baten, umzukehren, weil wichtige staatsgeschäfte seine anwesenheit erforderlich machten.
als sich karl nach zwei tagen endültig auf die heimreise nach prag begab, hatte er ein vom fürsten unterzeichnetes dokument
im gepäck: die provinz adalanda war nunmehr „für alle zeiten“ dem eigentum der kaiserlichen familie zugehörig.
karl konnte sich über diesen politischen erfolg jedoch nicht lange freuen, denn in innsbruck, wo er station machte, erreichten
ihn zwei nachrichten, die sein leben für immer verändern sollten und die provinz adalanda sich selbst überliess.
kaiser johann, karls vater, war in prag gestorben. karl wusste, dass er selbst in kurzer frist den thron besteigen würde.
er hatte immerhin so gewichtige fürsprecher wie den papst in avignon, so dass mit der lästigen und langwierigen
proklamation eines „gegenkaisers“ dieses mal nicht gerechnet werden musste.
die zweite nachricht, die ihn erreichte, war beunruhigend. in prag war die pest ausgebrochen. karl fragte sich, ob es unter diesen umständen ratsam war, in die stadt zurückzukehren, oder doch besser den luxemburger familiensitz aufzusuchen und dort
abzuwarten, bis die pest vorbei war. seinem anspruch auf die kaiserkrone hätte ein solcher entschluss jedoch geschadet.
gerade jetzt musste er sich ins zentrum der macht begeben, um von dort aus die politik in seinem sinne zu lenken.
als er prag erreicht hatte, wurde ihm das unglück, das die stadt erfasst hatte, in allen einzelheiten bewusst. er und mit ihm
sein gefolge hatten mühe, die strassen zu passieren, in denen scheiterhaufen errichtet waren, um die pesttoten,
die man aus den häusern getragen hatte, zu verbrennen. schwarze gestalten, die masken mit grotesk langen nasen trugen,
tänzelten an ihnen vorbei und ritzten in die türen der häuser das pestzeichen.
karl hielt sich ein tuch vor nase und mund, denn in der stadt stand ein entsetzlicher gestank.
wenn er sonst nach prag zurückgekehrt war, wartete stets eine grosse menschenmenge, um ihn jubelnd zu begrüssen
und auf seinem weg zur burg zu begleiten. vermutlich hätten die prager ihn dieses mal jedoch traurig und stumm
empfangen, um zu zeigen, wie sehr sie der tod ihres kaisers bekümmerte. doch so oder so - niemand beachtete
die kaiserliche kutsche, die sich, eskortiert von soldaten zu pferde, einen weg durch fäkalien und unrat suchte.
jedermann war viel zu sehr damit beschäftigt, ein unheil abzuwehren, vor dem es kein entrinnen gab.
karl fuhr durch eine düster-verzweifelte stadt und erreichte die burg, über der eine schwarze fahne wehte. die kaiserliche standarte
hatte man hingegen vom mast genommen, denn der kaiser war in seinen gemächern nur noch als leblose hülle anwesend.
karl übernahm sogleich die regierungsgeschäfte, wozu auch die trauerfeierlichkeiten für seinen vater gehörten. das stellte ihn jedoch vor einige probleme, denn keiner der trauergäste wollte einer einladung in eine stadt folgen, in der die pest wütete und täglich mehr opfer fand. es war aber auch keine andere stadt im deutschen reich bereit, die trauerfeier für den kaiser auszurichten. obwohl der kaiserliche leibarzt beteuerte, johann sei am schlagfuss gestorben, glaubte ihm keiner und alle hatten angst, man würde ihnen einen pesttoten in die stadt tragen. schliesslich entschied karl, den leichnam seines vaters ohne jede feierlichkeit einbalsamieren zu lassen,
ihn in einen zinksarg zu betten und auf bessere, pestfreie zeiten zu warten.
als nächstes galt es, die fürsten des reiches auf seine seite zu ziehen, denn sie waren es, die ihn zu ihrem kaiser wählen sollten. es mussten auch die krönungsfeierlichkeiten vorbereitet werden, wobei als ort nur die kaiserpfalz in aachen in betracht kam.
sein haushofmeister erklärte ihm mit ernster miene, dass allein die überzeugungsarbeit, die man gegenüber den fürsten leisten müsste, mehr geld verschlingen würde, als es die kaiserliche privatschatulle zuliess. die fürsten erwarteten, dass ihre stimme nach alter gewohnheit mit einer stattlichen menge von goldmünzen bezahlt wurde. manche kirchliche würdenträger verlangten überdies während ihres aufenthalts in aachen auch eine mätresse an ihrer seite. von einem fürsten war bekannt,
dass er sich - wie auch schon zu kaiser johanns zeiten - neben den goldstücken ein kleines schloss in böhmen erbat.
andernfalls würde er - aber auch dieses argument war wohlbekannt - dafür sorgen, dass ein „gegenkaiser“ proklamiert würde.
käme also statt karl ein habsburger auf den kaiserthron, wäre es eben ein schloss in tirol anstatt in böhmen ...
aber, so fuhr der haushofmeister fort, nicht nur die bezahlung der fürsten, auch die krönungsfeierlichkeiten selbst, stellten die staatskasse vor allergrösste probleme. um es einmal frei heraus zu sagen: kaiser johann hatte allzu viel geld bei sinnlosen feldzügen gegen seine vermeintlichen feinde gelassen. weil er aber von den siebzehn kriegen, die er in seiner regierungszeit führte, nur einen gewann, könne karl sich gewiss vorstellen, in welchem zustand sich der staatshaushalt befand.
„geld“, so schloss der haushofmeister seine ausführungen, „verdient man nur an einem gewonnenen krieg.“
karl musste etwas falsch verstanden haben, dennoch fragte er: „also, was schlagen sie vor - gegen wen
soll ich einen krieg führen, um die staatskasse zu füllen?“
dass er etwas falsch verstanden, aber dennoch mitten ins schwarze getroffen hatte, wurde ihm gleich darauf klar.
„führen sie einen krieg gegen die juden, majestät!“
dies sagte der haushofmeister mit so viel nachdruck, dass gar kein zweifel daran bestehen konnte, wie ernst er es meinte.
„warum, um himmels willen, sollte ich gegen die juden einen krieg führen? sie haben uns nichts getan.“
„ihr volk ist anderer meinung!“
„und was sagt mein volk?“
der haushofmeister lächelte schief. „ ... dass die juden schuld an der pest sind!“
so erfuhr karl von den gerüchten, die in prag in umlauf waren. die menschen suchten nach einer ursache für die pest, aber auch nach einem schuldigen, den sie für ihre not verantwortlich machen konnten. ihre verzweiflung brauchte gesichter und namen - und das waren die juden, denen sie unterstellten, die brunnen zu vergiften. den juden galt ihr ganzer hass. das machte ihre angst nicht kleiner, sorgte aber dafür, dass ihre qual erträglicher wurde. angeklagt waren die juden, alles unheil ging von ihnen aus.
schon hatte eine aufgebrachte menge die häuser der juden angezündet ... prag versank in krankheit, gewalt und tod.
„es ist meine aufgabe, die juden zu schützen - und nicht, gegen sie krieg zu führen!“
„nun, gut“, der haushofmeister zuckte mit den schultern. „nennen sie es nicht krieg - nennen sie es ... vergeltung.“
karl verstand nicht, wovon sein haushofmeister sprach. was konnten die juden für die pest - was hatten sie damit zu tun?
diese fragen konnte ihm sein haushofmeister nicht beantworten - wohl aber, warum es nützlich war, die juden für die
pest verantwortlich zu machen. die leere staatskasse würde rasch wieder gefüllt sein, wenn man den juden eine
grössere busszahlung auferlegen würde. man könnte bei dieser gelegenheit auch gleich das „königliche judenregal“,
also die jährlichen schutzzinsen, die von den juden zu zahlen waren, an andere reichsstädte verpfänden. er gäbe hinweise
aus frankfurt, dass man dort grosses interesse hat, gegen eine beträchtliche barzahlung das „judenregal“ zu übernehmen.
karl schüttelte den kopf. „mit den jährlichen zinsen erkaufen sich die juden meinen persönlichen schutz. wie kann ich diese aufgabe nach frankfurt geben? die juden, die mir ihren zins bezahlen, leben hier in böhmen.“
„sie könnten den juden allerdings den schutz entziehen, wenn sie sich nicht zu einer busszahlung bereit erklären ...“
„ ... weil sie für die pest verantwortlich sind!“
„so ist es, majestät!“
die staatskasse füllte sich, die deutschen fürsten wurden für ihre stimme bezahlt, die krönungsfeierlichkeiten
fanden wie geplant in aachen statt. auf der rückreise nach prag klagte karl über unwohlsein.
sein tross machte halt in leipzig, wo weitere ärzte hinzugezogen wurden, weil der kaiserliche leibarzt keine beurteilung
des erkrankten wagte. dafür gab es gründe, denn wenn seine diagnose, die er insgeheim längst gestellt hatte, zutraf,
würde ihn der kaiser auf der stelle verfluchen. er war aber nur ein schwacher, wenn auch redlicher mann,
der so einen fluch nicht verkraften würde ... weil damit seine laufbahn als kaiserlicher medicus jäh zu ende wäre.
aber auch die leipziger ärzte äusserten sich reichlich vage. der eine sprach von einem eitrigen zahn, der andere von einem entzündeten magen, ein dritter vermutete zu viel schwarzes blut in den adern, ein vierter eine zu langsame verdauung.
als sie sich vom bett des immer schwächer werdenden kaisers zurückgezogen hatten - eigentlich in der absicht, bei einem consilium ihre diagnosen abzuwägen ... und die richtige medizin zu finden, schauten sie sich stattdessen ratlos an.
„wer sagt es ihm?“ fragte karls leibarzt.
alle schwiegen.
„ich kann es nicht, aber - gott sei dank - er stirbt auch so!“
karl befahl den aufbruch. was sollte er in einem bett mitten in der provinz? er musste nach prag - die regierungsgeschäfte warteten.
in den kaiserlichen tross kam bewegung. bedienstete liefen treppauf, treppab, die kutsche fuhr vor, das gepäck wurde eingeladen,
der kaiser zum ankleiden aus dem bett gehoben. er stand auch wenige sekunden ohne fremde hilfe, dann jedoch knickten seine
beine ein und er brach zusammen. eilig bettete man ihn wieder in die kissen, die er gerade verlassen hatte. man rief den leibarzt.
besorgt trat er ans bett und sah, dass der kaiser das bewusstsein verloren hatte. endlich war die gelegenheit gekommen,
den körper des kranken genauer zu untersuchen. als karl noch bei bewusstsein war, hatte er dies seinem arzt strikt untersagt.
er entfernte die decke vom kranken und knöpfte dessen wollenes hemd auf.
was er sah, war entsetzlich und erfüllte ihn mit grauen.
kaiser karl kam nicht mehr zu bewusstsein. er starb einige stunden später. noch einmal traten die ärzte zur beratung zusammen.
„es darf niemand wissen, dass es die pest ist!“ sagte der leibarzt. „sonst wird es sein, wie mit seinem vater ...
und wir bekommen auch ihn nicht unter die erde.“
„woran ist denn sein vater gestorben?“ fragte einer der leipziger ärzte.
„am schlagfuss - ich war dabei!“
„dann steht die diagnose fest,“ meinte sein leipziger kollege.
„kaiser karl verstarb soeben infolge des schlagfusses!“
als alle schwiegen, beeilte er sich hinzuzufügen:
„ ... infolge des schlagfusses in der schönen stadt leipzig!“
in zeiten der pest glaubt kein mensch dem anderen ... auch nicht dem leibarzt eines deutschen kaisers. schon bald verbreitete
sich das gerücht, dass karl in wahrheit an der pest zugrunde gegangen war. in prag wütete die seuche immer noch - also
lehnten es die eingeladenen trauergäste abermals ab, zum begräbnis eines deutschen kaisers in die stadt zu kommen.
die nicht von der pest heimgesuchten städte im reich, bei denen man wegen eines begräbnisses anfragte, wollten von karl nichts
wissen. auch frankfurt, im besitz des vom kaiser verliehenen privilegs des „judenregals“, winkte ab, schickte nur eine trauernote
nach prag und bedauerte, als freie reichsstadt für ein begräbnis nicht zur verfügung zu stehen - erinnerte bei dieser gelegenheit
jedoch daran, dass in böhmen immer noch juden lebten, die nach recht und gesetz in den einflussbereich frankfurts gehörten.
nur so, und damit endete das kondolenzschreiben nach prag, sei der schutz der juden sicherzustellen.
prag beherbergte nun zwei deutsche kaiser in zinksärgen - und keiner wusste, wohin mit ihnen. da erinnerte sich der haushofmeister
an die ferne provinz adalanda in norditalien, die vor noch gar nicht langer zeit in den besitz des deutschen kaisers geraten war.
im februar 1377 quälte sich ein trauerzug mit zwei särgen über die steilen pässe der alpen. nicht nur einmal kam es fast zur katastrophe, als die karren, auf denen die zinksärge festgezurrt waren, aus der spur gerieten und drohten, mitsamt ihrer ladung in die tiefe zu stürzen. im märz erreichte der trauerzug adalanda und endlich auch die provinzstadt luccabene. vor dem altar der kleinen, gefährlich aus den fugen geratenen ortskirche, auf dem einige verwelkte blumen standen, war eine gruft ausgehoben worden, in der die beiden zinksärge ihren platz fanden. man verschloss das grab mit einem stein aus granit, auf dem nichts weiter als „johann, karl“ zu lesen war.
einige einwohner von luccabene hatten sich auf dem marktplatz versammelt und hätten gern gewusst, wer da in ihrer kirche beerdigt wurde. ihre neugier wurde erst befriedigt, als der besitzer der trattoria, die gegenüber der kirche lag, zu ihnen trat und verkündete:
„das sind johanno und karlos, sie lieben adalanda so sehr, dass sie nicht in milano begraben sein wollten!"
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ES TANZT DER BISCHOF ...
„Aber ich bin doch nur noch ein pfarrer in einer leeren kirche - umringt von wüstungen!“
pater androni sass zusammengekauert auf seinem stuhl und starrte zu boden. er hätte weinen mögen,
aber das schickte sich in gegenwart eines bischofs nicht.
bischof lambert hielt es nicht mehr auf dem reich geschnitzten sessel, der vor einem noch viel reich verzierteren tisch stand.
er sprang auf. vor dem hohen fenster, das auf den hof der bischöflichen residenz ging, blieb er stehen und blickte hinaus.
er wusste, was „wüstungen“ waren - aufgegebene bauernhöfe und ländereien, weil es keine menschen mehr gab,
um sie zu bewirtschaften. überall im land standen bauernhöfe leer, weil die bewohner von der pest hinweggerafft worden waren.
manche landstriche waren bereits ganz und gar entvölkert.
„wir können die pfarrei lönedorf nicht aufgeben. täten wir es, würde sie für immer verloren sein. wenn wir in rom
um die entweihung von st. barbara bitten, geschieht das für alle zeiten. das darf nicht sein.“
pater androni kämpfte mit den tränen - aber auch mit der übelkeit, weil ein geruch von verwesung,
in den sich ein duft von rosenwasser mischte, ihm ekelig süss in die nase stieg.
er wusste nicht, dass bischof lambert angeordnet hatte, dass in der residenz zu jeder vollen stunde rosenwasser verprüht
werden sollte, um den pestgeruch zu vertreiben - oder doch wenigstens zu überdecken.
„in lönedorf gibt es nichts mehr zu tun. ausser mir und der hexe lucia lebt keiner mehr dort.“ pater androni hörte seinen
eigenen worten mit widerwillen zu. warum aber sollte er die alte lucia, die seinen haushalt besorgte, keine hexe nennen?
war doch damals der bischof höchstpersönlich angereist, um die teufelsaustreibung an lucia vorzunehmen.
man hätte lucia sofort im dorfteich ertränken können, denn sie hatte gegenüber bischof lambert ihr hexenwerk ohne wenn und aber zugegeben. dazu hatte es ausgereicht, dass der dorfschmied ihr einen glühenden nagel in die seite gestossen hatte. als aber der
bischof das kreuzeszeichen über lucia geschlagen hatte, um sie danach der hölle zu überantworten, hatte der
teufel als lodernde flamme lucia verlassen. alle, die dabei standen, erschraken aufs äusserste, denn noch niemand
hatte gesehen, dass der teufel unter blitz und feuer von einem menschen, den er schon in seiner gewalt hatte, abliess.
als sie sich von ihrem schrecken erholt hatten, sahen sie sich ratlos an. wie sollten sie lucia, die der teufel soeben so eindrucksvoll und für alle sichtbar verlassen hatte, noch als hexe im dorfteich ertränken? erst recht kam eine verbrennung nicht mehr in frage, denn die wurde nur angewendet, um den teufel im leib einer hexe zu vernichten. aber der teufel war schon fort ...
als sie alles bedacht hatten, kamen sie zu dem entschluss, lucia am leben zu lassen. es war der bischof, der ihr eine kleine,
windschiefe kate am rand des dorfes zuwies und ihr verbot, jemals wieder die kirche st. barbara zu betreten.
lucia hielt sich alle jahre widerspruchslos an das urteil des bischofs, bis die pest nach lönedorf kam und nach und nach alle
einwohner hinweg raffte. in dieser situation blieb pater androni nichts weiter übrig, als die letzte überlebende, also lucia zu bitten,
in die pfarrei zu kommen, um dort nach dem rechten zu sehen ... ihm also das mittagessen zuzubereiten, auf dem altar
von st. barbara für frischen blumenschmuck zu sorgen, die kirche auszufegen und seine gewänder in ordnung zu halten.
bischof lambert schaute nicht länger aus dem fenster, sondern drehte sich zu pater androni.
„es liegt kein segen auf dieser verbindung, man hätte es niemals zulassen dürfen, dass diese hexe die heilige kirche
st. barbara betritt. sie ist schuld, dass lönedorf zu einer wüsten stätte geworden ist.“
pater androni wagte keinen widerspruch, auch wenn er in den worten des bischofs einen fatalen logischen fehler bemerkte.
es war genau andersherum: erst als die pest so unbarmherzig gewütetet hatte, musste er es der alten lucia erlauben,
in der kirche nach dem rechten zu sehen. aber gewiss hatte der bischof in einem höheren und spirituellen sinne recht -
es war eine ironie, dass gerade er und die hexe lucia in lönedorf übrig geblieben waren.
„wir werden sie verbrennen müssen, damit sie ihren frieden findet!“ sagte bischof lambert
und setzte sich wieder hinter seinen arbeitstisch.
„verzeihen sie, exellenz, dass ich widerspreche. aber wenn sie lucia auf den scheiterhaufen befehlen, ist st. barbara verloren. ich selbst kann nicht neben den täglich drei gottesdiensten auch noch die glocken läuten, die beichte abhalten, für den blumenschmuck sorgen, die kirche ausfegen, die gewänder in ordnung halten, die kirchenbücher führen, die ....“
„ ... für wen tun sie das alles?“ bischof lambert sah seinen priester mit blödem gesicht an, so als würde er nichts
von dem begreifen, was er da gerade hörte.
„das weiss ich auch nicht, exellenz ... deswegen bin ich ja hier!“
der bischof reckte sich in seinem stuhl. „ich sage es noch einmal: st. barbara darf nicht aufgegeben werden ...
um nichts in der welt. eine kirche, die zu gottes ehren erbaut wurde, kann nicht so einfach - mir nichts, dir nichts -
wieder entweiht werden. das würde das unheil, das über uns gekommen ist, nur noch grösser machen.
gott würde zu recht mit uns zürnen ... und eine strafe ersinnen, die alles übersteigt, was wir schon ertragen müssen.
pater androni, ich zähle auf sie ... gehen sie mit gottvertrauen zurück an ihr gottgefälliges werk.“
„und was soll mit der hexe lucia geschehen? vielleicht könnte seine exellenz mit dem scheiterhaufen warten, bis die pest vorüber ist.“
„ihr sei fürs erste vergeben ... später wird man weiter sehen.
gehen sie mit gottes segen, auf wiedersehen!“
bischof lambert fragte nie wieder nach seinem pfarrer - auch nicht nach lönedorf und der kirche dort. so erfuhr er nicht, dass pater androni wenige wochen nach ihrer unterredung vor dem altar seiner kirche zusammenbrach und in den armen der alten lucia starb.
jetzt war sie die letzte, die in lönedorf von der pest verschont geblieben war. nachdem sie den pfarrer beerdigt hatte, ging sie
an die arbeit. sie läutete zu jeder vollen stunde die glocken von st. barbara, versorgte den altar mit frischen blumen,
fegte die kirche aus und hielt die priesterlichen gewänder in ordnung. bei sonnenuntergang aber erinnerte sie sich
an die weisung des bischofs und kehrte gehorsam in ihre windschiefe hütte am rande des dorfes zurück.
bischof lambert sah pater androni zufrieden nach. er rief seinen sekretär, pater saubert, zu sich und diktierte ihm:
„im september des jahres 1355 konnte ich, bischof lambert, der christenheit die gott geweihte kirche st. lucia in lönedorf retten ...“
„verzeihen sie, exzellenz“, pater saubert sah von seinen notizen auf. „es existiert keine kirche namens st. lucia in lönedorf.“
bischof lambert war erstaunt. „wovon hat pater androni denn die ganze zeit gesprochen?“
„das weiss ich nicht!“ sein sekretär zuckte die schultern.
„dann lass` einfach den namen fort. es gibt in lönedorf nur eine kirche - jeder weiss also, welche gemeint ist.“
als bischof lambert zum mittagessen ging, war er stolz, an diesem vormittag so viele richtige entscheidungen getroffen zu haben. nun wollte er ausruhen ... zuerst einmal ein gebratenes täubchen zu sich nehmen, sodann einen erfrischenden mittagsschlaf halten, sich danach zu seiner mätresse, madam luisa, begeben ... um den abend bei einer besonders guten flasche rotwein ausklingen zu lassen.
der leichengeruch, der noch stärker als sonst in den räumen der bischöflichen residenz stand und auch mit dem gleich
literweise vergossenen rosenwasser nicht mehr überdeckt werden konnte, trübte seine laune jedoch empfindlich.
er rief, kaum dass er am tisch sass, nach seinem sekretär.
„riechen sie es nicht?“ fragte der bischof, als er sich gerade ein stück täubchen in den mund schob. „es ist nicht zum aushalten.“
pater saubert bedauerte. man käme gegen den gestank, der in der stadt übrigens noch viel schlimmer sei, nicht mehr an.
man könne ja nicht die fenster und türen vermauern.
„und warum nicht?“ der bischof wischte mit einer serviette über seinen mund und trank einen schluck wein.
„wenn es hilft und für frische luft sorgt ...“
noch am gleichen tag rückten arbeiter an, die die türen und fenster der residenz mit steinen vermauerten. die folge war, dass sich der gestank nun erst recht in den räumen der residenz festsetzte, weil kein offenes fenster für frische luft sorgen konnte.
mit dem pestgeruch verhielt es sich so: an manchen tagen ... den windstillen ... lag er über den städten und dörfern,
als wollte er sie ersticken. die menschen wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten,
denn er verfolgte sie selbst durch die schmalste ritze des mauerwerks.
an anderen tagen ... zumal, wenn ein frischer westwind wehte ... war nichts vom pestgeruch zu bemerken. die luft war wie im
frühling: leicht und erfrischend. an solchen tagen atmeten die menschen auf, füllten ihre lungen mit der reinen luft und hofften,
dass das schlimmste überstanden sei. nicht wenige glaubten, dass die keime der tödlichen krankheit ihren sitz in
pestgeschwängerten wolken hatten, die ohne regel - einmal hierhin und einmal dorthin - wehten.
die schneisen des todes waren abbilder der pestwolken, die - unberechenbar, was ihren lauf betraf - über das land hinweg zogen.
so kam es, dass ein ort wie lönedorf am ende ganz und gar entvölkert war -
aber nur wenige meilen entfernt ein anderer ort von der pest verschont blieb.
die einen glaubten an gottes geheimen ratschluss ... und dass es in lönedorf womöglich mehr sünder gegeben hatte als im nachbarort - andere aber (die mit gott haderten und wegen des unglücks, dass sie getroffen hatte, hier und da sogar seine existenz in frage stellten) sprachen vom unberechenbaren wind, der die pest mit sich führte.
... was - bei licht besehen - aufs selbe heraus kam.
der mittagsschlaf geriet bischof lambert zum ärgernis. er bekam kein auge zu, denn das üppige mittagessen drückte in seinem magen.
viel schlimmer aber war, dass ihm der süssliche leichengeruch in die nase stieg, den er selbst mit einem taschentuch,
das er - rosenwassergetränkt - vor sein gesicht hielt, nicht vertreiben konnte.
als er sich nachmittags wollüstig über madam luisa beugte, kam es ihm vor, als müsste er den beischlaf an einer leiche
vollziehen. der gestank in der schlafkammer war entsetzlich. er sprang wütend vom bett, ordnete nur nachlässig seine
kleider und rannte - einige flure entlang und treppen hinauf - zu seinem arbeitszimmer. als er auf dem weg dorthin
die arbeiter bemerkte, die dabei waren, die fenster der residenz zu vermauern, blieb er keuchend stehen und fragte einen,
der gerade einen stein mit mörtel bestrich, was das zu bedeuten habe.
bischof lambert hatte offensichtlich vergessen, was er beim mittagessen gesagt und seinem sekretär aufgetragen hatte.
vielleicht hatte er dies aber auch nur so dahin gesagt, seinen worten also keine besondere bedeutung beigemessen ...
sein sekretär sie aber wörtlich genommen und den arbeitern befohlen, die residenz zu vermauern.
„was tust du da?“ fragte bischof lambert den arbeiter und rang nach luft, wobei er aber nur den atem der pest in seine lungen zog.
„ich nehme an, es soll ein mausoleum werden“, antwortete der weisshaarige, im gesicht ganz graue mann. er wusste offenbar nicht,
mit wem er sprach, denn er fuhr plaudernd fort: „wir haben schon viele schöne mausoleen gebaut ... mit drei, vier und mehr räumen, zwei und dreistöckig, mit innenhöfen, arkaden und säulen ... aber natürlich immer ohne fenster ... denn der tod verbietet jeden ausblick. jetzt aber ist auf dem friedhof kein platz mehr für ein mausoleum. es sind einfach zu viele reiche menschen gestorben ...
... an der pest.“
„ja, und?“ bischof lambert lehnte keuchend an der wand des flures, der zu seinem arbeitszimmer führte, und suchte nach dem mit rosenwasser getränkten taschentuch. er fand es nicht - er musste es bei madam luisa vergessen haben.
„ich weiss gar nichts, ich bin nur ein einfacher mann“, antwortete der arbeiter und fügte den stein, den er mit mörtel bestrichen hatte,
in die reihe der anderen. „wenn sie mich aber fragen: der friedhof ist voll.“
„das weiss ich ... keiner liegt dort ohne meinen segen. ich tue ja nichts anderes mehr, als menschen zu begraben.“
bischof lambert wusste, dass dies gelogen war. denn er hatte noch keinen einzigen pestkranken an dessen sterbebett aufgesucht, um ihm auf dem letzten weg beizustehen. das überliess er aus lauter angst den priestern und novizen. er selbst musste sich, so beruhigte er sein gewissen, von den sterbenden fernhalten ... was nützte den gläubigen ein bischof, der sich der gefahr des todes aussetzte?
„dann wissen sie ja auch, dass auf dem friedhof kein platz mehr ist.“ der arbeiter klopfte den stein fest.
„das alles ist bedauerlich - wenn es aber gottes ratschluss ist, werden wir uns fügen müssen.“ bischof lambert musste nach diesen worten nicht suchen. er hatte sie stets auf den lippen, entprachen sie doch der schlichten theologie,
die ihn fast bis an die spitze der katholischen hierarchie getragen hatte.
damit war aber die frage, warum die arbeiter seine residenz zumauerten, immer noch nicht beantwortet. also setzte er noch einmal an:
„was tut ihr hier?“
ein letzter stein war nötig, um das fenster zu verschliessen, dann liess der arbeiter seine kelle in den mörteleimer fallen.
„wenn sie meine meinung hören wollen, herr pfarrer ...“, er sah sein gegenüber mit einer mischung aus ernst und belustigung an,
„ ... wir bauen hier das mausoleum für den herrn bischof ... weil ja auf dem friedhof kein platz mehr ist.“
„ist der bischof denn schon tot?“ fragte bischof lambert entsetzt und suchte nervös nach seinem taschentuch.
der mann griff nach dem eimer mit mörtel, um ihn unter das nächste fenster zu tragen.
„das weiss ich nicht. aber mausoleen - das ist meine meinung - sollten sich menschen zu lebzeiten bauen. dann können sie selbst entscheiden, wie viele stockwerke es sein sollen und in welchem der räume sie als tote liegen möchten ...“
„... ich bin in meinen privatgemächern zu finden", rief bischof lambert entsetzt und eilte, das grauen im rücken, davon.
als nur einige wochen später über der bischöflichen residenz die schwarze fahne aufgezogen wurde und eine
trauernde öffentlichkeit erfuhr, dass bischof lambert, versehen mit den sterbesakramenten der heiligen kirche,
verstorben war (die ursache nannte man nicht, denn ein bischof stirbt nicht an der pest), versammelte sich eine
grosse menschenmenge vor dem bischöflichen palast. darunter war auch ein weisshaariger, im gesicht ganz grauer mann.
er blickte über die reihen der vermauerten fenster und stellte befriedigt fest:
„das ist mit meiner hilfe ein besonders stattliches mausoleum geworden!“
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ES TANZT DER GRAF ...
Peter holtenhausen verliess den gastraum seines wirtshauses „zum adler“, überquerte den lehmig feuchten hof und betrat die
ställe, in denen mehr als ein dutzend pferde standen, die vom alten jacob und dem jungen tomasek
versorgt wurden. sie striegelten die tiere, wechselten das heu und schütteten futter in die tröge.
„was macht das gelenk von florint?“ fragte er jacob, der ihm am nächsten stand und gerade die sattelgurte bei
einem unruhig tänzelnden pferd löste. jacob antwortete nicht gleich, sondern forderte peter holtenhausen auf,
das pferd festzuhalten und zu beruhigen. als er den sattel abgenommen hatte, führte er das tier zu einem
der futtertröge und rief nach tomasek, damit er das fell des pferdes bürstete.
erst danach kam er auf die frage von peter holtenhausen zurück. „noch ist florint nicht wieder auf den beinen -
aber das wird schon. ich fürchte jedoch, dass er als kurierpferd nicht mehr zu gebrauchen ist.“
für peter holtenhausen war das ein schlimmer verlust, denn die zahl seiner pferde reichte gerade aus, um den kurierdienst
des kaisers ohne grössere einschränkungen aufrecht zu erhalten. waren aber von den pferden nicht alle zu gebrauchen, musste
sich wenigstens einer der täglich eintreffenden kuriere gedulden, bis ein anderes pferd zum weiterritt bereit stand. das bedeutete
auch, den kurier im gasthaus zu beherbergen und zu bewirten. diese kosten ersetzte ihm keiner - ganz abgesehen davon,
dass die kaiserlichen beamten in prag ungehalten auf solche verzögerungen reagierten. peter holtenhausen wusste, dass einige wirte,
die wie er eine kurierstation besassen, deswegen das kaiserliche privileg verloren hatten.
es war zwar kein problem, pferde zu bekommen, die tiere, die ihm angeboten wurden, waren jedoch zumeist in
einem erbärmlichen zustand. niemand trennte sich in zeiten der pest von seinen gesunden tieren.
die nachfrage und damit die preise waren einfach zu gering ... weil immer mehr bauernhöfe von der pest getroffen waren und verwaisten, wurden auch keine pferde gebraucht, um die äcker und weiden zu bewirtschaften.
wenn doch einmal ein pferd zum verkauf auf seinen hof geführt wurde, handelte es sich zumeist um ein tier, das man zufällig
auf einem der pesthöfe gefunden hatte. skrupelose diebe wanderten durchs pestverseuchte land, brachen die türen der bauernhöfe auf, liessen die toten in ihren betten liegen, nahmen mit, was ihnen von wert erschien und schauten auch in die ställe,
wo zwischen den kadavern der kühe und schweine machmal auch ein halbverhungertes und -verdurstetes pferd stand.
mit diesen tieren, das wusste peter holtenhausen, war nichts anzufangen. entweder waren sie krank und verendeten schon
nach wenigen tagen, oder sie erholten sich trotz bester pflege nicht, standen nur kraftlos, wie gelähmt
und mit stierem blick in den ställen, so als warteten sie auf ein schnelles, gnädiges ende.
peter holtenhausen machte sich sorgen, als er den stall verliess. es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als nach
arnstadt zu reisen, um dort nach ersatz ausschau zu halten. arnstadt, das 120 meilen entfernt lag, war auf
wundersame weise von der pest verschont geblieben. alles dort ging seinen gewohnten gang und auf dem pferdemarkt,
der an jedem zweiten sonntag abgehalten wurde, würde er bestimmt fündig werden ... wenn er dazu das geld hatte.
er konnte nur hoffen, dass der kurier aus prag pünktlich eintraf, um ihm den monatlichen lohn für die bereitstellung
der pferde auszuhändigen. er wusste, dass sich die kaiserlichen beamten damit zuweilen viel zeit liessen.
es kam auch vor, dass die zahlungen ganz ausblieben. dann musste er auf umständlichem weg
seine forderungen nach prag übermitteln - immer in der sorge, dort jemanden gegen sich aufzubringen, denn die
kaiserlichen beamten liessen sich nicht gern nötigen ... so nannten sie die berechtigten forderungen ihrer untertanen.
dieses mal waren seine sorgen jedoch unbegründet, denn schon am nächsten morgen traf der kurier aus prag ein,
übergab sein schweissnasses pferd dem alten jacob, liess sich in der wirtsstube eine kräftige mahlzeit und eine
flasche wein vorsetzen und rief danach den wirt an den tisch.
die arrogante und hochmütige prozedur war immer dieselbe. gnädig beschied der kurier peter holtenhausen, ihm gegenüber
platz zu nehmen, erlaubte aber nicht, dass man das wort an ihn richtete. das ritual, das dabei zu beachten war,
hatte peter holtenhausen längst akzeptiert, auch wenn jedes mal wieder groll in ihm aufstieg.
„erzähle er ... gibt es besondere vorkomnisse, was den kurierdienst betrifft?“
„es ist alles in bester ordnung. hatten der kurier eine gute reise von prag hierher?“
der kurier wiegte seinen kopf, nahm einen schluck vom wein und antwortete: „man wird es einem beamten des kaisers
nicht länger zumuten können, durch pestverseuchtes land zu reisen. in zukunft hätte dafür sorge getragen werden müssen,
dass man sich seinen lohn selbst in prag abholt!“
der kurier sprach immer so gedrechselt und auch stets in der dritten person von seinem gegenüber, wobei er jegliche
anrede vermied. umständlich und mit einem unendlich blasierten ausdruck im gesicht entnahm er einer ledertasche,
die er sich seitlich umgebunden hatte, ein schriftstück und legte es vor sich auf den tisch. er zeigte darauf und bemerkte:
„nehme er es als ehre - wer weiss, wie lange der kaiser noch seine hand über ihn hält.“
peter holtenhausen fragte sich, wo denn nun der leinenbeutel mit den geldstücken blieb, auf die er so dringend wartete.
er hörte den kurier sagen:
„sind sie peter holtenhausen?“
eine dümmere frage gab es nicht. mit wem hatte der kurier es denn all´ die jahre zu tun? der wirt des gasthauses
„zum adler“ liess sich jedoch seinen ärger nicht anmerken, sondern antwortete nur „so ist es.“
„dann darf ich ...“, und jetzt geschah etwas noch nie dagewesenes, denn der kurier erhob sich umständlich von seinem tisch und
entrollte das schriftstück. „ ... ihnen im namen des kaisers, des beschützers des heiligen römischen reiches,
den adelsbrief überreichen. graf peter von holten und zu hausen ... stehen sie auf.“
peter holtenhausen sprang von seinem stuhl und wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte.
„in anerkennung ihrer verdienste um den kurierdienst im reich hat unser kaiser befohlen, sie in den adelsstand zu versetzen. der adelsbrief, den ich ihnen überreiche, billigt ihnen und ihren nachkommen für alle zeiten das privileg zu, in den gemarkungen vatershausen, reichenbach, liebendgrund, warmsiechen, treueneichen, wegesam, quellenmoos, wiesentreu, neuenhöhe, astenstett, treuland und windendorf unangefochten jeder konkurrenz den kaiserlichen kurierdienst zum wohle des reiches zu ordnen und zu festigen. gleichzeitig wird ihr besitz, also ihr haus samt aller stallungen, wiesen und felder, zum adelssitz des namens
„hoher adler“ erklärt. ausgefertigt und unterzeichnet von kaiser karl, genannt der aufrechte, zu prag am 25. oktober 1345.
der kurier überreichte peter holtenhausen - jetzt graf von holten und zu hausen - das schriftstück. „ich muss wohl nicht
darauf hinweisen, dass dies mein letzter besuch war“, erklärte er dann. „die zahlungen sind mit dem heutigen tage eingestellt worden,
graf von holten und zu hausen wüsste sicher von dem gräflichen privileg, in den soeben genannten gemarkungen eigene beamte einzusetzen, um der bevölkerung die erforderlichen steuern für den kaiserlichen kurierdienst abzuverlangen.
näheres ist in diesem schriftstück geregelt, das ich dem adelsbrief beifüge ... man bringe mir mein pferd!“
peter holtenhausen sah dem kurier dankbar nach, als er im galopp den hof verliess. er wusste, dass ihm soeben eine besondere
ehre zuteil geworden war. das erfüllte ihn mit stolz. es schmerzte jedoch, dass er deswegen erst einmal auf seinen lohn verzichten musste, den er so dringend für ein neues pferd benötigte. es würde eine geraume zeit dauern, bis von ihm bezahlte beamte
bereit standen, um in den gemarkungen vatershausen, reichenbach, liebendgrund, warmsiechen, treueneichen, wegesam,
quellenmoos, wiesentreu, neuenhöhe, astenstett, treuland und windendorf die ihm zustehenden steuern einzutreiben.
peter holtenhausen erschrak. die orte, von denen der adelsbrief sprach, waren allesamt pestverseucht
und nahezu ausgerottet. erst in richtung arnstadt traf man wieder auf normales, geordnetes leben ...
aber von arnstadt war im kaiserlichen privileg nicht die rede.
der tag, der eigentlich der stolzeste in seinem leben sein sollte - immerhin: er war jetzt ein graf und besass das steuerprivileg
für zwölf gemarkungen im umkreis - verwandelte sich, je länger er darüber nachdachte, in eine immer grössere katatstrophe.
er musste feststellen, dass er schon bald ohne mittel sein würde.
wenn, wie angekündigt, der lohn aus prag ausblieb und es
niemanden weit und breit gab, der steuern bezahlte, war sein schicksal besiegelt.
ihm fielen die worte des kuriers ein ...
„nehme er es als ehre - wer weiss, wie lange der kaiser noch seine hand über ihn hält.“
... und er wusste, dass er an diesem tag den schutz des kaisers verloren hatte. er ahnte aber noch mehr - dass
nämlich der kaiser angesichts der übergrossen not im land seine geschundenen untertanen vergass und sie -
manchmal unter vortäuschung besonderer ehrungen - ihrem ungewissen schicksal überliess.
graf von holten und zu hausen musste dem niedergang seines hauses nicht mehr lange zusehen. ein gnädiges geschick sandte
auch ihm die pest ins haus. als er unter qualen gestorben war, öffnete der einzig überlebende, der junge tomasek,
die tore der ställe und trieb die pferde hinaus. sie hielten sich noch einige tage im umkreis des gräflichen anwesens auf,
dann wurden sie von besonders skrupellosen dieben eingefangen und fortgeführt - die zuvor das
gräfliche haus geplündert und wertvolles mitgenommen hatten ...
... unter anderem auch ein schriftstück mit dem kaiserlichen adelsprivileg.
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ES TANZT DER BÜRGER ...
Das sind keine bürger, neuenstädter können niemals bürger werden“. mathis matissen schlug zornig auf den ratstisch. „sie sollen draussen bleiben!“ torben hinrichsen, der neben ihm sass, fasste ihn am oberarm, so als wollte er ihn beruhigen. „aber mathis, sie kommen doch alle tage in die stadt. kein mensch würde sie an den stadttoren abweisen, nur weil sie aus der neuen stadt sind.“
mattissen sah seinen nachbarn böse an. „nun, gut - die stadttore werden um sechs uhr morgens geöffnet - und um sieben uhr abends geschlossen. mögen sie in dieser zeit so viel unheil in der stadt anrichten, wie sie wollen.
nachts bleiben sie mit ihrem unrat und ungeziefer draussen!
torben hinrichsen wusste, warum mathis mattissen so aufgebracht war. aus seinen worten sprach die angst, dass er mit
seinem tuchgeschäft schon bald schiffbruch erleiden könnte. weil die stadt vor einigen jahren die handelsfreiheit erklärt hatte,
kamen mit anderen kaufleuten auch die tuchhändler aus der neustadt herbei, die auf dem markt ihre ware für einen bruchteil
dessen anboten, was mathis mattissen dafür forderte.
lange jahre war es das privileg der familie mattissen gewesen, als einzige mit feinen tuchen handeln zu dürfen. ihre geschäftsverbindungen reichten bis venedig, lyon und manchester. schon der grossvater, albertus mattissen, hatte das erste steinhaus
am markt erbauen lassen und damit gezeigt, wer in der stadt etwas bedeutete und zu sagen hatte. albertus mattissen war auch
der erste seiner familie, der in den senat gewählt worden war - wie nach ihm sein sohn lukas und später sein
enkel mathis mattissen. wenn eine familie erst einmal einen ratsstuhl besass, hielt sie ihn für alle kommenden generationen warm.
so ein sitz im senat wurde vererbt wie häuser und grundstücke.
„wir werden uns mit dem gedanken anfreunden müssen, dass die neuenstädter das recht haben, genau so behandelt zu werden wie wir altbürger.“ torben hinrichsen sah mathis mattissen nicht an, als er dies sagte, denn er wusste, welchen zorn er damit weckte. die anderen ratsmitglieder murrten missbilligend, keiner aber ergriff das wort. sie kannten den streit der beiden männer bis zum überdruss und wussten schon vorher, welche worte und argumente sie zu hören bekommen würden. eine eigene meinung aber, die dem streit vielleicht eine andere richtung gegeben hätte, hatten sie deswegen noch lange nicht.
mathis mattissen liess sich nicht beirren. „wie lange leben unsere familien in dieser stadt ... 100 jahre ... 200 jahre? sie haben den grundstein des wohlstands gelegt. davon angelockt, hat sich gesindel vor den stadtmauern eingenistet ... nicht etwa in gebührendem abstand ... oh, nein ...sie haben ihre liederlichen hütten direkt unter der stadtmauer errichtet ...“
„... was ihnen, wenn ich darin erinnern darf, dein grossvater, albertus mattissen, offiziell und mit senatsprivileg erlaubte.“ torben hinrichsen lächelte bei seinen worten. „die häuser - du nennst sie „hütten“ - der neuenstädter schienen ihm, wenn ich mich recht erinnere, ein wirkungsvolleres bollwerk gegen heran rückende feinde zu sein als ein freies glacis im umkreis der stadtmauer.“
„sogar ein vorwerk liess der alte albertus errichten, um die neuenstädter zu schützen“,
meldete sich hagen burmeister, der weinhändler, zu wort.
mathis mattissen sprang auf. „ihr wisst genau, warum mein grossvater dies tat. die stadt hatte damals nicht genügend männer, um sich zu verteidigen. deswegen war im privileg vermerkt, dass die neuenstädter im kriegsfall waffendienst leisten müssten.“
hagen burmeister sah den zornigen mattissen amüsiert an. „was dann ja auch regelmässig geschah“.
die ratsherren lachten, denn tatsächlich war die stadt seit über 100 jahren nicht mehr angegriffen worden. womöglich war dies glück - vielleicht aber auch dem umstand zu verdanken, dass mächtige stadtmauern die feinde davon abgehalten hatten,
eine eroberung zu versuchen.
mathis mattissen spürte, dass er dabei war, seine autorität zu verspielen. wenn erst über ihn gelacht wurde, würde es bestimmt auch bald stimmen geben, die ihn für unfähig hielten, das amt des senatsvorstehers zu bekleiden.
„ihr wisst, dass die pest bereits in lauendorf angekommen ist. ich bekam nachricht, dass mehr als die hälfte der armen seelen
dort gestorben sind. lauendorf liegt nur 20 meilen von uns entfernt. was geschieht, wenn die pest sich einen weg in die reihen
der neuenstädter sucht? sie sind ohne mauer - also ohne jeden schutz. ein vorwerk in ihrem rücken hilft da auch nichts.
wenn wir unsere stadttore weiterhin für sie geöffnet halten, mag sich jeder ausrechnen,
wann die pest auch uns erreicht. die neuenstädter werden sie geradewegs zu uns tragen.“
niemand von den senatoren konnte sagen, wie sich die pest im land verbreitete. weil man aber so gut wie nichts über die
krankheit wusste, es nur vage vermutungen gab, dass die ratten schuld an ihrer verbreitung sein könnten, war es durchaus
möglich, dass eine mauer die pest aufhielt - oder doch wenigstens die ratten am vormarsch hindern würde. der vorwurf,
sie würden die neuenstädter vor den mauern der stadt schutzlos der pest aussetzen, schien stichhaltig zu sein -
noch dazu, weil sie dadurch selbst in grösste gefahr gerieten.
im saal des senats machte sich nachdenkliches schweigen breit. die worte von mathis mattissen hatten die senatoren beeindruckt -
ihr lachen war verstummt.
„das glacis muss geräumt und die stadttore bis auf weiteres geschlossen werden!“ mathis mattissen nutzte das schweigen, um wort für wort seine autorität zurück zu gewinnen. er bemerkte aber zugleich, dass er dabei war, sich eine falle zu bauen. wenn nämlich die stadttore geschlossen blieben, konnten auch keine tuche mehr sein handelshaus erreichen. wie aber sollte er den senatoren erklären, dass zwar die neuenstädter die pest brachten, nicht aber die fuhrleute, die für den transport der tuche sorgten?
er änderte deswegen seinen vorschlag um nuancen ab - um nuancen freilich, die ihm das überleben als tuchhändler erleichtern sollten.
„die tore dürfen jedoch nicht ganz geschlossen, sondern müssen täglich wenigstens für eine stunde geöffnet werden, damit lebensnotwenige handelsgüter in die stadt gebracht werden können. jede person und jedes fuhrwerk sind genauestens zu kontrollieren und in augenschein zu nehmen. ich schlage vor, dass dies der bader besorgt, denn er kennt sich mit krankheiten besonders gut aus.“
mathis mattissen war zufrieden, dass er sich auf so elegante weise aus der falle befreit hatte,
die für einen moment seinen plan fast zunichte gemacht hätte.
die überlegungen, das glacis zu räumen und die stadttore zu schliessen, schienen den senatoren durchaus vernünftig zu sein,
reduzierten sie doch ihrer meinung nach die gefahr der pest ganz erheblich.
sie verstanden deswegen nicht, dass torben hinrichsen laut auflachte. „einen feinen plan hast du dir da ausgedacht, mathis mattissen. die pest soll dir also helfen, dich von der lästigen konkurrenz zu befreien. aber deine tuche werden natürlich weiterhin in die stadt kommen, damit du sie für teures geld an uns verkaufen kannst.“
auch hagen burmeister schien nicht besonders überzeugt zu sein: „und wem die feinen tuche zu teuer sind, geht eben zum juden birnbaum in die seilergasse, um sich mit dessen wohlfeilen wollfetzen gegen die kälte zu schützen.“
mathis mattissen spürte, dass ihm mit hagen burmeister und torben hinrichsen lästige widersacher entgegen traten. sie konnten ihm sogar gefährlich werden und irgendwann das amt des vorstehers streitig machen. vor allem torben hinrichsen hatte durchaus das zeug dazu, während hagen burmeister gern dem wein zusprach und deswegen viel zu viel unsinn erzählte.
aber mathis mattissen war schlau. wäre es anders gewesen, hätte man ihn wohl kaum zum vorsteher des senats gewählt. er war sich der sympathie der übrigen senatoren auch besonders sicher, viel zu oft hatte die eine die andere hand gewaschen ...
mit hinrichsen und burmeister würde er schon fertig werden.
„vielen dank, dass du den juden birnbaum erwähnst.“ mattissen blickte in die richtung von hagen burmeister.
„denn er und seine familie sind tatsächlich das grösste problem, mit dem die stadt fertig werden muss.“
„was soll mit dem juden sein? sein laden, in dem er nicht nur schäbige wollstoffe, sondern auch noch kerzen und anderen plunder verkauft, macht dir doch keine konkurrenz!“ der weinhändler zwinkerte den senatoren amüsiert zu.
„davon spreche ich auch nicht!“, antwortete mattissen knapp, wusste aber nur zu gut, welche anstrengungen er unternommen hatte,
um den juden birnbaum vom tuchhandel fernzuhalten. seine handelspartner mussten ihm in die hand versprechen, nur ihn zu beliefern.
er drohte sogar, die geschäftsverbindungen zu beenden, wenn einer von ihnen auf die idee käme, dem juden irgendwelche
tuche zu verkaufen - selbst solche, die er wegen offensichtlicher fehlstellen und webfehler nicht akzeptierte.
für seine lieferanten wäre es durchaus ein lohnendes geschäft gewesen, die minderwertige ware -
wenn sie schon einmal in der stadt war - gleich weiter an den juden birnbaum zu reichen. sie wollten es sich aber um
nichts in der welt - und erst recht nicht wegen eines armen jüdischen händlers - mit mathis mattissen verderben.
der tuchhändler wusste, dass ein jude - wenn er es geschickt anstellte - durchaus in der lage war, den tuchhandel in der stadt
an sich zu ziehen. zuerst waren es vielleicht nur die minderwertigen, später aber bestimmt die besseren und
schliesslich gewiss die besten tuche, die er in seinem laden vorrätig hielt.
juden waren so, vor juden musste man sich in acht nehmen ...
„der jude birnbaum tut keinem etwas!“ meinte hagen burmeister und schüttelte den kopf.
„das sagst du, weil du es nicht besser weisst!“ mathis mattissen sah den weinhändler mit verächtlichem blick an ...
so einer, dachte er, würde ihm nie gefährlich werden.
„ich habe den senat darüber zu unterrichten, dass es gewichtige hinweise dafür gibt, dass die juden im reich schuld am ausbruch der pest sind. in lauterbach hat ein jude gestanden, die dortigen brunnen vergiftet zu haben. in wenzelhausen wurden juden auf frischer tat dabei ertappt, als sie das wasser einer quelle mit quecksilber versetzten. in trautendorf starb eine siebenköpfige familie, als sie im haus eines juden vom angebotenen wasser trank. die nachrichten sind so zahlreich, dass überhaupt kein zweifel daran bestehen kann: nicht die ratten - die juden sind schuld an der pest.“
mathis mattissen blickte triumphierend in die runde, würdigte aber hagen burmeister keines blickes,
rollte ein stück pergament zusammen, das vor ihm auf dem tisch lag und setzte sich.
„dann müssen wir gott sei dank das glacis nicht mehr räumen ...“ grinste torben hinrichsen.
„... es sind also die juden - und nicht die neuenstädter.“
„verdammt ... die pest, wenn sie einmal ausgebrochen ist, kann sie jeder in die stadt tragen - eine ratte, ein jude oder ein neuenstädter.“ mathis mattissen schlug schon wieder auf den tisch.
„nur die tuchhändler aus dem fernen venedig nicht ...“ bemerkte torben hinrichsen. „der bader hat sie ja untersucht ...
und wir wissen doch: nach venedig kommt die pest immer zuletzt.“
mathis mattissen überhörte die ironische bemerkung. er durfte sich nicht auf sinnlose wortwechsel einlassen,
sondern musste seine letzte karte ausspielen. er stand - umständlicher als sonst - auf, griff nach seiner weissen halskrause,
um den sitz der falten zu prüfen, strich seinen grünen überwurf glatt und holte tief luft.
„der senat wird hiermit aufgefordert, den juden birnbaum und seine famiie der stadt zu verweisen. haus und sonstiges
eigentum fallen an den senat. der verweis hat, weil gefahr im verzug ist, unmittelbar zu erfolgen.“
der abend war fortgeschritten und die senatoren hofften auf ein ende der sitzung. sie wollten in ruhe zur nacht essen,
anstatt stunde um stunde im rathaus zu sitzen, um den sinnlossen debatten zwischen mattissen, hinrichsen und burmeister zuzuhören.
es war ja doch wie immer: mattissen geriet in zorn, hinrichsen ärgerte ihn mit ironischen bemerkungen und burmeister
sprang mit launigen zwischenrufen bei. am ende stimmten dann doch alle für mattissen - selbst seine beiden
widersacher mussten einsehen, dass die mehrheit der senatoren immer noch für den resoluten tuchhändler war.
als mathis mattissen den kurzen weg vom rathaus zu seinem geschäft nahm, triumphierte er. an diesem tag war ihm etwas
ganz besonderes gelungen. er hatte nicht nur die konkurrenz der neuenstädter tuchhändler hinweg gefegt, er hatte auch gleich
noch einen händler in der nachbarschaft ausgeschaltet, der ihm vielleicht irgendwann gefährlich geworden wäre.
es war ein grosser sieg - ein sieg freilich, der sich ohne die pest kaum hätte einstellen können. mathis mattissen hoffte im stillen,
dass die pest noch lange im lande blieb - sie war ein probates mittel, um menschen in angst und schrecken zu versetzen.
im schatten der pest konnten, wenn man nur einen kühlen kopf behielt, die besten geschäfte gemacht werden.
der jude birnbaum musste die stadt verlassen und überlebte auf diese weise die pest. die neuenstädter wurden
vertrieben und ihre häuser in brand gesetzt. im januar 1356 erreichte die stadt eine wertvolle ladung von tuchen aus venedig.
torben hinrichsen (und mit ihm viele einwohner) starb im februar 1356, hagen burmeister (und mit ihm noch mehr einwohner)
traf das schicksal im märz. mathis mattissen war noch bis in den april hinein damit beschäftigt, die gelieferten tuchballen zu
vermessen, zuzuschneiden, auszuzeichnen und im lager zu verstauen. seine geschäfte gingen schlecht, weil es immer weniger menschen gab, die bei ihm tuche kauften - wenn sie es dennoch taten, war es nur noch ein wenig leinen fürs totenhemd.
als erfahrener händler aber wusste er, dass schlechten zeiten stets gute folgen.
mit dieser hoffnungsfrohen einsicht legte er sich am 10. april 1356 ins bett - und stand nicht wieder auf.
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ES TANZT DER BAUER ...
Clemens niesewangs felder und wiesen lagen eingeklemmt zwischen dem besitz des bischofs von fulda und dem des
grossbauern kaspar lüditz. es war sein grossvater gewesen, der nach vier aufeinander folgenden missernten den grössten
teil seines hofes an kaspar lüditz verkaufen musste, der damit zum reichsten bauern der umgebung wurde.
das hatte den alten niesewang zwar vor dem ruin gerettet, aber die fläche seines hofes so sehr verkleinert, dass die
bewirtschaftung kaum noch gewinn abwarf. der niesewangsche hof, einst der stattlichste in der umgebung von fulda,
war nur noch eine hofstelle, die allerdings mit dem grossen haus und den weitläufigen stallungen von besseren zeiten erzählte.
die gebäude jedoch verfielen, das haus war, wenn man genauer hinsah, in einem erbärmlichen zustand.
an der nordseite fehlte das halbe dach und fast alle fenster waren mit brettern zugenagelt.
auf dem hof herrschte armut, die nur manchmal im sommer für einige wochen gemildert wurde, wenn clemens niesewang die gerste vom feld holte und seine frau die früchte im garten erntete. waren die sommer verregnet, musste sich clemens niesewang beim bauern lüditz verdingen - oder bekam vielleicht für einige tage arbeit auf dem bischöflichen besitz.
es waren die schlimmsten tage des jahres, wenn er demütig an die türen seiner nachbarn klopfen musste.
es war mai, als man sich erzählte, in fulda sei die pest ausgebrochen. zur gewissheit wurde dies, als der bischof die stadt verliess
und mit seinem gefolge den bischöflichen landsitz aufsuchte, zu dem eine residenz gehörte, die mit ihren erkern und türmchen
fast wie ein kleines schloss aussah und so gar nicht in die bäuerliche umgebung passte.
als clemens niesewang vor sein haus trat und die bischöfliche fahne auf dem dach der residenz im wind flattern sah,
wusste er, dass seine not ein wenig gelindert war, denn einiges, das für die bischöfliche küche gedacht war,
landete auf seltsamen wegen im topf seiner frau.
es war sein freund aus kindertagen, anselm pretorius, dritter verwalter der bischöflichen residenz in fulda, der stets im gefolge seines herrn reiste und auch in der benachbarten bischöflichen residenz dafür sorgte, dass es seinem herrn an nichts fehlte ... und dass hier und da auch ein schinken, eine flasche wein, ein laib brot oder ein sack kartoffeln weiter an clemens niesewang gereicht wurde.
clemens niesewang hatte anselm pretorius einst in fernen kindertagen das leben gerettet, als der sich zu weit aufs eis gewagt hatte und eingebrochen war. er wäre bestimmt ertrunken, wenn clemens niesewang nicht eine leiter genommen, sie übers eis gelegt hätte und bäuchlings zu dem zappelnden anselm gerutscht wäre ... gerade als der sein leben beschliessen und im kalten wasser untergehen wollte.
... da packte ihn eine hand am gürtel seiner hose und zog ihn über den rand des eises auf die rettende leiter.
das war der grund, warum anselm pretorius, der damals beschloss, sein leben jesus christus und der kirche zu widmen, es nie versäumte, clemens niesewang einiges von dem zuzustecken, was eigentlich für die bischöfliche küche gedacht war.
als die pest fulda erreicht hatte, flohen mit dem bischof auch viele einwohner aus der stadt. einige von ihnen klopften bei clemens niesewang an. aber er hatte keinen platz für sie und fürchtete sich überdies, sie könnten ihm die pest ins haus tragen. so wie er dachten alle bauern in der umgebung. keiner wollte die flüchtlinge bei sich aufnehmen, die sich schliesslich in die umliegenden wälder zurückzogen, dort einfache hütten bauten und auf das ende der pest warteten.
alle wussten, dass sie damit der pest keineswegs entronnen waren. wenn die krankheit erst einmal in der stadt war, würde es nicht lange dauern, bis sie sich auch in die umgebung ausbreitete - langsam zwar, doch unerbittlich.
ende juni fand man - nur wenige meilen von clemens niesewangs hof entfernt - eine fünfköpfige familie, die an der pest
zugrunde gegangen war. wenige tage später wurde der pfarrer der nachbargemeinde ein opfer der krankheit.
in den wochen, die folgten, überschlugen sich die hiobsbotschaften. im näheren umkreis blieben viele bauernhöfe
unbewirtschaftet, weil ihre bewohner gestorben waren. die pest, so stellte clemens niesewang fest, hatte sie alle im tödlichen griff.
es war nur noch eine frage der zeit, bis sie auch nach ihm und seinen nachbarn griff.
das geschah rascher, als er dachte ...
ein knecht von kaspar lüditz kam gelaufen und forderte ihn auf, sofort zu seinem herrn zu kommen. er habe es befohlen.
nun liess sich clemens niesewang nichts befehlen, schon gar nicht von seinem hochmütigen nachbarn lüditz. weil der knecht
aber so aufgeregt war und ihm noch dazu ein grosser schrecken im gesicht stand, folgte ihm niesewang dann doch.
er fand seinen nachbarn in dessen schlafkammer. der gestank, der darin herrschte, war unerträglich. clemens niesewang musste sich überwinden, um ans bett zu treten. er erkannte seinen nachbarn nicht. dort lag ein fremder - im gesicht entstellt von schwarzen blasen und flecken, die sich bei näherem hinsehen als verfaulende, eiternde hautfetzen heraus stellten. clemens niesewang kämpfte gegen die übelkeit. keine sekunde länger konnte er die gegenwart dieses totgeweihten ertragen. erst als er dessen stimme hörte,
beruhigte er sich ein wenig - denn das war ohne zweifel die vertraute stimme von kaspar lüditz.
„niesewang - du siehst, mit mir geht es zu ende. ich will es kurz machen, denn dich gesund zu sehen, ist für mich eine ebensolche
qual wie mein anblick für dich. warum verschont dich gott - und schickt mir die strafe? verstehst du das?“ lüditz stöhnte.
„nach allem, wie es auf der erde verteilt ist, müsste es genau andersherum sein!“
clemens niesewang war empört. nicht einmal auf dem sterbebett war kaspar lüditz bereit, dünkel und hochmut abzulegen.
noch in seiner todesstunde verhöhnte er seine mitmenschen ...
niesewang wollte lüditz scharf zurechtweisen, als er vom bett her worte hörte, die vieles in ein anderes licht rückten.
„du weisst, dass ich sterben werde. ich weiss es auch ... die verdammte pest. ich werde noch heute vor gottes gericht treten. man wird mich fragen, ob ich für frau und kinder gesorgt habe. ich werde antworten: sie sind in der obhut meines nachbarn clemens niesewang. ihm habe ich meine familie anvertraut. sie steht unter seinem schutz ... willst du also für meine frau und meine kinder sorgen? der preis, den ich dafür zu zahlen bereit bin, wird dir gefallen: mein anwesen mit allem - haus, scheunen, wiesen und feldern - gehört dir. nur hälftig soll es dereinst mein ältester sohn erben. es ist alles geregelt und aufgeschrieben. ich brauche nur dein „ja“ ...“
dieses „ja“ von clemens niesewang hörte er aber schon nicht mehr. er richtete sich, kaum dass er zu ende gesprochen hatte,
noch einmal auf, stöhnte und fiel tot in die kissen zurück.
clemens niesewang bekreuzigte sich und verliess die schlafkammer. dort drängten sich wenig später jammernd und
klagend frau und kinder, mägde und knechte. nachdem der eilig herbei gerufene pfarrer einen letzten segen
über dem toten gesprochen hatte, nahm er clemens niesewang zur seite:
„es ist wahrlich gottgefällig, für frau und kinder des verstorbenen zu sorgen. der dank der kirche sei dir gewiss.
die urkunden wurden in meiner gegenwart ausgestellt und beglaubigt. das anwesen gehört dir -
es kommt damit glücklich in die hände derer zurück, die es einst verloren.“
clemens niesewang konnte sein glück nicht fassen. von einer stunde zur anderen war er einer der reichsten bauern
weit und breit geworden ... er fragte sich nur, warum kaspar lüditz gerade ihn auserwählt hatte.
"es ist ja immer eins gewesen ... daran hat sich lüditz heute erinnert."
in zeiten der pest kann sich niemand besonders lange freuen, denn die tödlichen nachrichten lauern nur darauf, gehört zu werden. mit den worten: „anselm pretorius, unser grosser gönner, ist tot“, empfing ihn seine frau.
„es ist gottes wille“, tröstete clemens niesewang sie. „wir benötigen seine milden gaben nicht mehr.
gott hat ihn zu sich gerufen, als wir ihn nicht mehr brauchten.“
clemens niesewang war überzeugt, dass gott ihn dazu ausersehen hatte, gutes - und nur gutes - an ihm zu tun.
alles fügte sich zu einem grossen, wunderbar stimmigen bild und alles schien auf wunderbare weise
miteinander zusammenzuhängen. das licht der gnade hatte ihn getroffen. er sank in die knie ...
... es war eine leichte schwäche, ein kaum wahrnehmbarer schwindel, eine schwärze vor den augen, ein rauschen in den ohren ...
er kam nicht wieder auf die beine. seine frau schleifte ihn - als sie endlich begriffen hatte, dass er nicht
zum gebet das knie gebeugt hatte - in die schlafkammer und legte ihn aufs bett.
als er sich wieder mühsam aufrichten konnte, erzählte er ihr vom sterben des bauern lüditz und dessen vermächtnis.
„wir werden in sein haus ziehen ... seine frau und kinder aber sollen hier leben, was meinst du?“
bei diesen worten sahen sie sich um, ihre blicke fielen auf die feuchten wände und sie nickten sich zu.
„so sei es!“ meinte seine frau. „es ist gottes gerechtigkeit ...“
... „und gottes gnade“ fügte er hinzu, bevor er kraftlos zurück aufs kissen fiel.
die gesetze fuldas regelten bis ins kleinste alle fragen herrenlosen besitzes. gab es keinen hoferben, fiel das verwaiste
eigentum an den bischof. war der hoferbe noch zu jung, übernahm der bischof das eigentum zu treuen händen, um es
dem erwachsenen hoferben hälftig herauszugeben. die andere hälfte galt als zins für die bewirtschaftung
und als entgelt für die besondere sorgfalt bei den treuhänderischen obliegenheiten.
bei der regelung zur nachfolge der verwaisten hofstellen lüditz und niesewang ergaben sich für das bischöfliche notariat keine besonderen probleme. die rechtmässigen eigentümer waren an der pest gestorben und auch der hoferbe, der junge lüditz, war seinem vater nur wenige tage später ins himmelreich gefolgt. eine übertragung des erbes an den nächst jüngeren musste auch nicht weiter erörtert werden, weil beide familien - samt und sonders - ausgesegnet und begraben waren.
der besitz lüditz-niesewang fiel somit an den bischof, dessen ländereien sich wie durch ein wunder mehr als verdoppelten.
es war ein segen und dem weitblick roms zu verdanken, dass kein irdischer besitz an die person eines bischofs gebunden ist.
drei bischöfe konnten sich nur kurze zeit an den fruchtbaren feldern und wiesen erfreuen - dann wurden sie von der pest dahin gerafft. erst der vierte konnte nach fulda zurück kehren und weihte - angesichts seiner wundersamen rettung -
die bischofsresidenz mit den dazu gehörigen hofstellen lüditz und niesewang zum kloster.
dort hielt man das andenken noch eine weile in ehren, dann aber vergass man es und am ende wusste keiner mehr, was es mit den namen auf sich hatte, auch wenn das volk noch lange vom „kloster lüditz-niesewang“ sprach.
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ES TANZT DER BETTLER ...
Im tanz will ich durchs leben gehn
mich auch auf jeden scherz verstehn.
die tage nehmen, wie sie sind
mich treiben lassen wie der wind
mein haus das ist die weite welt
stets frohen mutes, ohne geld.
frei wie ein vogel will ich sein
das himmelszelt - es sei mein heim."
johann hatte lange nach worten für dieses lied gesucht und an der melodie gearbeitet, bis sie zu den worten passte.
jetzt schien ihm alles rundherum gelungen und worte und melodie beflügelten ihn auf seinen wanderungen durchs land.
manchmal setzte er sich auf einen stein, um auszuruhen. dann fragte er sich laut: „wer bist du, lieber johann - woher kommst du?“
er wiegte den kopf und antwortete: „ich bin ein ritter des königs von antiochia, dem sein reich abhanden gekommen ist!“
wenn er nicht zu müde war, fragte er weiter: „wie hat sich alles zugetragen?“ ... und er antwortete,
weil ausser ihm niemand davon wusste: „als ritter und christ zog ich mit meinem herrn ins heilige land und erschlug dort
die muselmanen. als aber antiochia zum greifen nah war, sagte der französische könig ... charles war sein name:
„johann, deinem herrn hätte ich die stadt gegeben, doch leider ... uns fehlt das geld ... wir kehren um!“
in strassburg hatte man ihm die geschichte sogar geglaubt, obwohl doch alle hätten wissen müssen, dass sich der letzte kreuzzug
bereits im dunkel der geschichte verlor. als er seine absonderlichen erlebnisse für ein paar groschen auf dem marktplatz zum besten gab, drängte sich ein bürger heran - er trug einen kragen von hermelin - und bat ihn, noch am abend dem rat der stadt vom heiligen land zu berichten. im rathaus gab es gebratene enten und einen schweren roten wein ... johann ass und trank mit grossem appetit.
als er sich zum vierten mal vom rotwein einschenken liess, meinte er, dass er als ritter eines herrn, der in antiochia nur fast zum könig gekrönt wurde, vielleicht nicht genügend eindruck auf die ratsherren machen würde. also entschloss er sich,
einen könig vom jerusalem ins spiel zu bringen und sich ihm als treuer ritter zur seite zu stellen.
„wir nahmen das kreuz, zogen als tapfere ritter und christen ins heilige land und erschlugen dort die feigen muselmanen. als uns das leuchtende jerusalem zum greifen nah war, sagte der französische könig ... charles war sein name: „johann, eurem herrn hätte ich die stadt gegeben. er ist der rechtmässige könig von jerusalem. doch leider ... uns fehlt das geld ... wir kehren um!“
einer der ratsherren sprang auf: „du willst ein ritter sein und bist doch nur ein elender lügner. wer war dein herr und
von welchem krieg im heiligen land sprichst du? der letzte liegt so weit zurück, dass selbst der papst sich
nicht daran erinnert. versündige dich also nicht am heiligen jerusalem ... es mag aber durchaus sein, dass antiochia
einst von einem wie dich ... also einem hasenfuss ... im stich gelassen wurde.“
in dem tumult, der daraufhin im rathaus ausbrach, griff johann nach einer flasche rotwein und flüchtete. er rannte zu einem der stadttore und rief: „der könig von antiochia wünscht unbehelligt zu passieren!“ einer der wachen griff zum spiess, drückte ihn johann
in die seite und rief lachend: „ der kaiser von konstantinopel erlaubt es - ausnahmsweise!“
in gehörigem abstand zur stadtmauer zählte johann die groschen, die er in strassburg für seine ausgedachte geschichte vom krieg im heiligen land bekommen hatte - öffnete dann die flasche rotwein und trank sich in einen ruhigen, durch nichts gestörten schlaf.
die sonne kitzelte ihn. er öffnete die augen und sah in einen blauen himmel. johann sprang auf und reckte sich. ein neuer tag lag
vor ihm - noch dazu einer, den er im septemberschönen elsass verbringen konnte. nirgends fühlte er sich dem paradies näher
als hier - und er hatte - weiss gott - schon viele gegenden durchwandert. der elass war ein grosser garten. man pflückte am
weg einen apfel - und später einige pflaumen. man konnte sich auch in die rebstöcke setzen und von den weintrauben essen,
bis man satt war. in brisach kannte er einen bäcker, der ihm das hasenbrot zuschob - also jenes brot, das länger als einen tag alt war. johann ass es mit appetit, auch wenn es ausser ihm niemand mehr haben wollte.
er beschloss, nach brisach zu wandern.
auf den wegen, die nach strassburg führten, begegneten ihm kaufleute, gaukler, bettler, mönche und soldaten,
sie alle waren in geschäften und missionen unterwegs. niemand hatte zeit für ein gespräch nach dem woher und wohin,
das johann auf seinen wanderungen so schätzte. er war wohl der einzige, der besonders viel zeit hatte.
ob er nun heute oder morgen nach brisach kam, war nicht wichtig.
je weiter er sich von strassburg entfernte, desto spärlicher wurden die menschen auf den wegen. als er sich brisach näherte,
traf er überhaupt keinen menschen mehr. das war ungewöhnlich, denn er erinnerte sich, dass in früheren zeiten auch in diesem
teil des elsass alles, was laufen konnte, auf den beinen war ... bauern, die mit ihrer ernte zu den märkten in die umliegenden orte
eilten, priester, die zu gemeinden unterwegs waren, die keine eigene pfarrei hatten, soldaten auf dem weg in einen fernen krieg,
bader, die an das krankenbett eines bauern gerufen wurden, fahrendes volk, das von irgendwo nach nirgendwo reiste, krämer,
die ihre karren über die sandigen wege zogen ... das war ein strom von menschen, der erst nach sonnenuntergang versiegte.
denn wenn die dunkelheit herein gebrochen war, wurde es auf den wegen gefährlich - das war im elsass wie überall.
johann aber fürchtete die dunkelheit nicht, denn die finsteren gestalten, denen er nachts begegnete, und von denen
keiner etwas gutes im sinn hatte, merkten bald, dass bei johann ausser einem fröhlichen gruss nichts zu holen war.
als er in der ferne den kirchturm von brisach sah, setzte er sich auf einen stein und dachte nach: „warum sehe ich keinen bauern,
der seine felder bestellt? warum verfault der weizen am halm? warum wird das obst nicht geerntet, sondern liegt verdorben
und von maden zerfressen unter den bäumen? warum steht das gras in den wiesen meterhoch? warum treibt man keine
kühe hinaus, damit sie es fressen? warum überlässt man dieses paradies sich selbst und warum ist es so menschenleer?
johann war aber nicht weiter besorgt, denn zu essen fand er im überfluss. was interessierten ihn die menschen,
die ihre felder und wiesen im stich liessen? er wusste jedoch, dass das schönste paradies nichts taugt, wenn man dort allein ist ...
... und wenn es - wie hier - dabei war, sich in eine hölle zu verwandeln.
als er brisach erreichte, sah er, dass das stadttor geschlossen war. er schlug mit der faust gegen die hölzerne pforte. zuerst blieb
alles still, dann öffnete sich eine schmale luke im tor und ein augenpaar sah ihn an. „warum schliesst ihr euch ein? macht das
tor auf und lasst luft und sonne in die stadt“. die luke schloss sich. johann wartete eine weile, aber nichts geschah. also schlug
er noch einmal gegen das tor. „macht endlich auf, ihr schlafmützen.“ wieder öffnete sich die kleine luke, wieder sah
ihn ein augenpaar an, jetzt hörte er: „wir lassen niemanden in die stadt. geh weiter, hier gibt es nichts zu holen.“ johann wusste
nicht, was er antworten sollte. dann fiel ihm aber doch etwas ein - so töricht, dass es ihm noch tage später peinlich war:
„ich habe ein recht auf mein hasenbrot!“
im inneren des stadttores hörte er ein lachen ... und hoch oben ein lautes schimpfen. ein soldat lehnte sich über die brüstung der stadtmauer: „soll ich dir erst deinen kopf von den schultern schiessen, damit du es kapierst? die stadt ist geschlossen ...
es kommt niemand herein und hinaus. suche dir einen anderen ort, um an der pest zu krepieren!“
die pest? johann erschrak.
also war er von strassburg geradewegs in eine pestverseuchte gegend gewandert - und niemand hatte ihn
gewarnt. jetzt wusste er, warum das getreide auf den felden verfaulte und das obst ungepflückt blieb. fast immer brach
die pest in den städten aus - wo viele menschen auf engstem raum lebten. manchmal begann die pest aber auch auf
dem freien land - aus unerklärlichen gründen suchte sie sich eine abgelegene hofstelle und griff dort mit tödlichem
augenmass nach den bewohnern ... um sich danach kreisförmig im ganzen land auszubreiten. wenn brisach seine
tore geschlossen hatte, um sich so vor der pest zu schützen, konnte dies nur bedeuten, dass johann inmitten eines
pestverseuchten landes stand - vor einer stadt, die vielleicht rettung bedeutet hätte, ihm aber den zutritt verwehrte.
johann machte kehrt und entfernte sich von brisach. er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. er wollte die
pestverseuchte gegend so schnell wie möglich verlassen, wusste aber nicht, wo sie begann und aufhörte.
irgendwann tröstete er sich mit dem gedanken, dass die pest ja doch nur den christenmenschen galt. sie wurden für
ihre sünden bestraft. weil aber johann nichts von gott wollte und erwartete - ihn weder bittend anrief, wenn er nichts zu essen
hatte, noch ihm dankte, wenn ein bäcker ihm ein hasenbrot zuschob - würde ihn die pest gewiss verschonen.
wen gott nicht auf seiner rechnung hatte, den konnte er auch nicht bestrafen.
johann bemerkte, dass seine fröhliche stimmung trüben gedanken gewichen war. das war um so ärgerlicher, weil
der himmel immer noch so blau wie zuvor war, die vögel schöner als sonst zu singen schienen und es
überhaupt ein tag so recht nach seinem geschmack war.
er lief immer weiter in westlicher richtung und folgte den sandigen wegen, in die sich die spuren der pferdefuhrwerke
gegraben hatten. er war allein auf seiner wanderung und wusste wenigstens, warum es so war.
„die menschen sitzen ängstlich in ihren häusern und warten auf die pest ... wie dort drüben!“ dachte er, als er hinter
einer dichten hecke ein niedriges haus entdeckte. weil er durst hatte, wollte er dort um wasser bitten. er klopfte an die tür,
aber niemand öffnete ihm. dann bemerkte er, dass sie nur angelehnt war und trat ins haus.
hätte er gewusst, wie viel arbeit es macht, vier menschen zu beerdigen, wäre er gleich weiter gewandert. aber er konnte die frau,
die er tot vor dem herd in der küche fand, nicht einfach den ratten und anderem ungeziefer überlassen ... auch nicht den mann,
der, im gesicht grässlich entstellt, in der schlafkammer lag ... und auch nicht die beiden kinder, die sich vor dem bett tot
auf einem fleckigen teppich krümmten. er hob ein erdloch aus und trug die leichen aus dem haus. nachdem er sie verscharrt hatte,
rollte er einen stein auf die grabstelle. auf ein gebet verzichtete er, denn er wollte gott nicht auf sich aufmerksam machen -
erst recht nicht bei dieser heiklen arbeit.
von stunde an litt er keine not mehr. die speisekammer des hauses war bis zum rand gefüllt und im hof liefen hühner
herum, von denen er sich eines griff und in den topf warf. als er satt war, wollte er ausruhen, konnte sich aber nicht
entschliessen, dafür das bett in der schlafkammer zu benutzen. er nahm also nur die kissen, schüttelte sie aus,
legte sie hinter dem haus auf die wiese und bettete sich darauf. bald fiel er in einen traumlos leichten schlaf.
die tage gingen dahin und niemand störte ihn. er gewöhnte sich an den gedanken, dass seine wanderschaft vorbei und er,
ohne dass er es beabsichtigt hatte, sesshaft geworden war. ein schöneres zuhause in einer schöneren gegend konnte
er sich nicht vorstellen. manchmal überlegte er, was wohl zu tun sei, wenn das letzte huhn gegessen,
der letzte wein getrunken und das letzte brot gebacken war.
aber - es würde auch darauf eine antwort geben, wie sich alles in seinem leben stets zum guten gewendet hatte.
die sonne sank hinter die fernen berge und der blaue himmel färbte sich erst rot und dann violett. johann sass auf der bank vor seinem
haus - denn daran, dass es jetzt ihm gehörte, glaubte er fest - und nahm einen grossen schluck aus der rotweinflasche.
es wäre die rechte stunde gewesen, um von antiochia und jerusalem zu erzählen. er hatte sich bereits eine neue geschichte
ausgedacht, die noch glaubwürdiger war als die alte und selbst die ratsherren in strassburg beeindruckt hätte. nicht er hatte als christlicher ritter die stadt antiochia befreit, sondern die feigen muselmanen waren von gott mit der beulenpest bestraft worden.
es war eine beruhigende vorstellung, dass einem christlichen sieg stets die pest voraus ging ...
... und auch ein versöhnlicher gedanke für alle verängstigten menschen im pestverseuchten elsass.
eine schwere müdigkeit hatte sich in ihm breit gemacht und begleitete ihn seit tagen. über seine oberschenkel kroch ein eitriges geschwür, das er mit essig behandelte. er spürte, dass jetzt, wo er ein zuhause gefunden hatte, seine kräfte schwanden -
so als hätten sie nur darauf gewartet, ihn bei erster, günstiger gelegenheit zu verlassen.
johann erinnerte sich an sein lied und änderte es ein wenig, damit es zu seinem neuen leben passte:
"im tanz wollt ich durchs leben gehn
mich auch auf jeden scherz verstehn.
die tage nehmen, wie sie sind
mich treiben lassen wie der wind
mein haus das war die weite welt
stets frohen mutes, ohne geld.
frei wie ein vogel wollt ich sein
jetzt sei das himmelszelt mein heim."
er fiel kopfüber von der bank und blieb regungslos liegen. nach vielen stunden kam er noch einmal zu bewusstsein und fragte sich,
ob wohl jemand vorbei kommen würde, um auch ihm ein grab zu schaufeln. „so wird es nicht sein“, schüttelte er den kopf.
„die hühner sind aufgegessen, der wein ausgetrunken. es war ein gutes leben ...“ noch ein letztes mal erwachte er
aus seiner bewusstlosigkeit, sah in einen leeren, blauen himmel und fragte sich, wie gott ihn eigentlich gefunden hatte.
mit dieser frage starb er.
COPYRIGHT: Rolf-Dieter Venzlaff, 2008
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008
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Widmung:
Klaus gewidmet