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Wenn ich ihn von der seite anschaute, - wir gingen über den souk oder sassen zusammen mit anderen marokkanern in einer daimler-taxe, die uns von agadir nach inezgane oder taroudant brachte -, dachte ich:

„du kennst ihn nicht. du wirst ihn auch nie kennenlernen!“

aber immer, wenn ich so dachte, wendete er seinen kopf, sah mich aus seinen dunklen augen an und sagte:

„denkst wieder nach über deutschland? bist aber in marokko!“

er sprach nur wenige worte deutsch und meistens verstand ich ihn nicht. ich wollte ihm einen sprachkurs in einer privaten schule bezahlen. sie lag an der avenue hassan II. und wir mussten lange warten, bis der patron kam. ich sah es gleich: er war ein araber - ihre schmalen gesichter mit der hohen stirn kann ich inzwischen immer besser von denen der berber unterscheiden. die gesichter der berber sind rund und ihre nasen oft wie eingedrückt. berber sehen aus wie boxer, denke ich manchmal. in ihren gesichtern liegt gutmütigkeit und arglosigkeit, in denen der araber aber ein hochmütiger stolz und ein dunkles wissen, das sie für immer bei sich behalten wollen. mein marokkanischer freund war ohne zweifel ein berber.

der patron blickte aus tiefen, müden augen. er fragte auf französisch, was ich wollte. ich bat ihn, englisch zu sprechen und entschuldigte mich, dass mein französisch nicht ausreichen würde, um ihm alles zu erklären. er hatte gleichmütig zu mir und meinem marokkanischen freund gesehen. jetzt aber zischte er plötzlich wie verwandelt und mit einer erschreckend strengen stimme, die überhaupt nicht zu seinen augen passte durch fast geschlossene zähne: „sie befinden sich in marokko! wir sprechen hier arabisch oder französisch. bitte entscheiden sie sich!“

mein marokkanischer freund duckte sich und zog die schultern hoch, übersetzte aber so gut er konnte. ich sagte, dass ich ihm einen deutschkurs bezahlen wollte. einige worte wüsste er bereits, es sei aber besser, er würde die sprache systematisch lernen. vielleicht könnte er mit seinen sprachkenntnissen später deutschen touristen helfen und sich auf diese weise etwas geld verdienen.

der patron sah meinen marokkanischen freund lange aus seinen dunklen arabischen augen an, als müsste er die ganze geschichte marokkos bedenken. dann hörte ich, wie er sagte:

„no“!

er sagte nur dieses eine wort. ich fragte, warum er meinen marokkanischen freund nicht in den deutschkurs aufnehmen wollte. ich sei bereit, den unterricht im voraus zu zahlen.

„no!“

er stand auf, deutete knapp zur tür und forderte uns auf diese weise auf, das zimmer zu verlassen.

„warum will er dich nicht?“ fragte ich meinen marokkanischen freund, als wir die schule verliessen. er zuckte mit den schultern. „mag mich eben nicht!“

ich war wütend und wusste nicht weiter. wir standen unschlüssig auf der avenue hassan II., der abendverkehr hatte eingesetzt, überall hupten die autos. mein marokkanischer freund sah mich von der seite an:

„denkst wieder nach über deutschland? bist aber in marokko!“

sehr viel mehr als diese zwei sätze konnte er nicht auf deutsch sagen. das war zu wenig, um ein gespräch zu führen, zu wenig, um ihn kennen zu lernen, zu wenig, um zu erfahren, wer er wirklich war. wenn ich mich fragte, warum ich wollte, dass er einen deutschkurs besuchte, dann war dies die antwort - es gab keine andere.

wir setzten uns in ein dunkles restaurant und bestellten ein bier. dann schwiegen wir. was sollten wir sagen, worüber sprechen? mein marokkanischer freund beobachtete mich eine weile. ich konnte meine wut und enttäuschung nicht verbergen. das wenige, was ich in marokko wollte, scheiterte, am „no!“ eines arabers, der zu stolz war, mir seine ablehnung zu erklären.

„ist komisch. musst kommen nach smara, nur noch mamma, du weisst, macht für nichts und schwester ist in spania mit ihr mann. laibt und will mich. musst aber wissen, nicht gut, weil wasser ist gross, immer gross. du weisst?“

als er zu ende gesprochen hatte, sah er mich fragend an. er hatte mir so viel erzählt und ich nickte nur müde und nahm einen schluck vom bier.

"will schiff von fisch! kannst nehmen mich in visum für deutschland, dann weisst, dass kommen kann. ist nicht so?“

schon wieder hatte er mir eine frage gestellt, auf die ich nicht antworten konnte. die bierflasche war fast leer. ich bestellte eine neue.

„ist gross wasser, mich für nichts! weisst doch! ich muss nehmen occasion wie mohammed, dann wird, wirst sehen! oder meinst, patron will nicht und macht extra portion?“

ich schüttelte den kopf. ich wusste bereits: für mich bereitete der patron keine besondere portion. für mich nicht! aber davon hatte mein marokkanischer freund wohl überhaupt nicht gesprochen.

„muss lachen. ist lachen alles. willst sehen nur, wo lachen ist. in europ? mohammed lacht mich. ist so. glaubst nicht? in ramadan er sagt, italy ist gut für kartonage. du glaubst, italy ist gut für kartonage?“

ich wusste es nicht. was wusste ich schon? ich schluckte das bier hinunter, um einen schrei zu töten, der in mir aufstieg. ich wollte mit aller kraft verhindern, dass er meine kehle erreichte. ich schluckte, aber der schrei blieb. erst schnürte er mir den hals zu und gleich darauf ...

„musst wissen, mohamed will haben transmission. ist gut transmission für alles. kost nur viel! hat warm jacke dafür. musst haben für gross wasser, weisst?“

... erreichte der schrei meine gelähmte kehle, umging aber - ich weiss nicht, warum - meine stimmbänder. dabei wäre es doch richtig gewesen, in diesem dämmrigen restaurant mitten in agadir zu schreien, einfach zu schreien. es wäre mir auch egal gewesen, wenn alle zusammen gelaufen wären und gerufen hätten:

„was ist los? brauchst arzt?“

ich spürte: die lähmung hatte nicht nur meine kehle, sondern meinen ganzen körper erfasst. ich wollte zum glas greifen und konnte es nicht. ich sass nur da und hörte angestrengt in die wirren girlanden unverständlicher worte.

ich bemühte mich etwas zu sagen - und konnte es nicht, ich wollte etwas sagen - und wusste nicht was.

„will haben ein visum für neu in rabat. musst nur haben connection für alles in europ. ist aber nicht schwer. für transmission nach spania oder italy.“

mein marokkanischer freund hatte sich in aufregung geredet. es musste ihm sehr wichtig sein, was er mir erzählte. er nahm hastig sein glas und trank gierig den rest vom bier. er rief, was er sonst nie tat, den kellner. sofort stand ein neues bier auf dem tisch.

ich räusperte mich, weil ich dachte, dass sich etwas zähes, klebriges auf meine stimmbänder gelegt hätte und mich am sprechen hinderte. aber so oft ich auch hustete - ich konnte kein wort heraus bekommen.

er sprach hastig weiter:

„gibt in italy alles wie uns? sag mal! hast vielleicht klein velo in deutschland zu haben statt gross? könnte doch sein, du gibst klein velo für gross velo an mich und kommst nach italy oder spania für connection zu machen mit patron! willst?“

er trank sein glas mit einem zug leer und sah mich neugierig an. ich wusste, er hatte mich etwas dringendes gefragt. er wollte sofort eine antwort. ich hustete, sah aber ein, dass sie mir auch dieses mal nicht gelingen würde. ich schüttelte den kopf.

als ich nicht antwortete, schwieg er trotzig und starrte auf die leere flasche auf unserem tisch. wir sassen uns stumm gegenüber, während es um uns noch dunkler wurde. auch der kellner musste uns vergessen haben, denn er schaute nicht mehr vorbei. vielleicht war er aber auch schon lange fort und es bediente ein anderer.

ich sah durch die grossen scheiben des restaurants nach draussen. die bogenlampen, die mit ihrem gelben licht die strassen agadirs überspannen, waren schon angezündet. die autos schoben sich wie in zeitlupe über den boulevard hassan II. und fussgänger suchten einen weg an den stosstangen vorbei auf die andere seite der strasse.

mein marokkanischer freund war in ein tiefes schweigen verfallen. seine stirn hatte sich in falten gezogen. das kinn stützte er in seine hände, so als grübelte er über den sinn des lebens. mich sah er nicht mehr.

„du kennst ihn nicht. du wirst ihn auch nie kennenlernen!“ dachte ich und beobachtete ihn aus den augenwinkeln. ich wollte ein letztes mal versuchen, mich zum sprechen zu bringen. ich hustete und suchte nach worten.

ich fand sie nicht. stattdessen hörte ich:

„denkst wieder nach über deutschland? bist aber in marokko!“

jetzt lächelte mein marokkanischer freund und zuckte, als ich sein lächeln erwiderte, leicht mit seiner linken schulter, als wollte er sagen: „anders weiss ich dein schweigen nicht zu deuten!“

„es wäre wirklich besser, wenn du eine schule besuchen würdest, um richtig deutsch zu lernen. vielleicht kannst du eines tages hier in marokko als fremdenführer arbeiten und deutschen touristen das land zeigen. das wäre doch schön!“

ich war überrascht, dass ich auf anhieb so viele sätze heraus bekam. dabei hatte ich noch vor kurzem gedacht, stumm geworden zu sein.

„ja, wär vielleicht schön, muss aber nicht mehr!“ hörte ich ihn sagen.

als wir das restaurant verliessen und auf den boulevard hassan II traten, fiel mein blick auf das schaufenster eines reisebüros. zwischen den farbigen plakaten sah ich ein schild: „deutsche gäste willkommen!“.

mein marokkanischer freund folgte mir, als ich die künstlich temperierten räume des reisebüros betrat. ein älterer mann sass weit hinten an einem schreibtisch. jetzt stand er auf und eilte zu uns. sein blick fiel auf meinen fotoapparat, den ich in der hand hielt. „das ist eine canon, digital!“ rief er. „eine schöne camera! ich werde sie ihnen abkaufen!“ ich schüttelte den kopf. „wie sie wollen, mein herr! wäre auch zu schön gewesen!“ er lächelte mich an. dann fiel sein blick auf meinen marokkanischen freund und sein lächeln verschwand.

„wo haben sie so gut deutsch gelernt?“ fragte ich.

„ich habe drei jahre in duisburg gelebt. ich habe dort studiert - technik!“

„und jetzt haben sie in agadir ein reisebüro!“ das sagte ich nur, um zeit zu gewinnnen und darüber nachzudenken, warum ich in seinen laden gekommen war.

„es ist nicht mein geschäft. es gehört dem patron. aber er wohnt in casablanca.“

warum hatte ich so dumm gefragt? ich wusste doch, dass ein patron in marokko immer einen patron über sich hat, der seinerseits einem patron gehorcht. keiner weiss, wo diese kette endet - vielleicht bei allah?

„mein bekannter würde gern in der reisebranche arbeiten. er spricht ein paar deutsche worte. das ist nützlich, um deutsche touristen zu betreuen.“

der angestellte besah sich meinen marokkanischen freund mit ernstem gesicht und sagte: „in agadir sprechen fast alle marokkaner einige worte deutsch. das ist nichts besonderes!“

„er würde gern mehr lernen. aber die schule will ihn nicht. wir haben nachgefragt!“

„sie nehmen eben nicht jeden. so eine schule kostet viel geld.“

„ich werde alles bezahlen, daran soll es nicht scheitern.“

„machen sie mit ihrem geld besser eine reise durch marokko. ich habe eine zweitages-fahrt nach marrakesch im programm.“

„dort waren wir bereits! wir haben uns alles angesehen, auch die umgebung - der hohe atlas! in vier wochen kann man viel entdecken.“

„waren fünf wochen“, hörte ich meinen marokkanischen freund sagen.

der angestellte schickte einen verächtlichen blick in seine richtung. „die polizei sieht es nicht gern, wenn touristen in marokkanischer begleitung sind. es passiert zu viel. es wäre besser, wenn sie sich einem erfahrenen reiseunternehmen anvertrauen würden. sie müssen wissen, dass viele marokkaner es nur auf das geld der touristen abgesehen haben“. wieder traf meinen marokkanischen freund ein unfreundlicher blick.

„vielleicht kann er ihnen ein wenig zur hand gehen. er hat einen führerschein, ist nicht dumm und interessiert sich für die reisebranche!“ ich sah den angestellten aufmunternd an. „wie wäre es?“

ohne zu antworten, ging er langsam zu seinem schreibtisch zurück und nahm dahinter platz. „ich hätte noch eine fahrt nach tafraoute anzubieten - aber ich sehe schon, sie geben ihr geld lieber für anderes aus.“

„sie haben mir meine frage noch nicht beantwortet!“

„muss ich das?“ er blickte mich mit zusammen gekniffenen augen an. darin sah ich nur zorn.

„natürlich nicht!“, antwortete ich schnell. „es war nur eine idee, weiter nichts.“

er zog einen stapel prospekte zu sich heran und begann darin zu blättern. das gespräch war beendet. ich hatte ihm keine reise abgekauft und er mir nicht meine frage beantwortet. ich räusperte mich, hustete. ich spürte, dass sich schon wieder etwas zähes und klebriges auf meine stimmbänder gelegt hatte, so dass ich, - auch wenn ich es gewollt hätte -, nichts mehr sagen konnte. wir verliessen das reisebüro.

auf dem boulevard hassan II. hatte der verkehr noch zugenommen. je später es wurde, desto mehr autos schoben sich mit grossem lärm durch blau-schwarze wolken von dieselgasen. mein marokkanischer freund lief durch sie hindurch und winkte mir, ihm zu folgen.

„du kennst ihn nicht. du wirst ihn auch nie kennenlernen!“ dachte ich und lief hinter ihm her. er wendete nicht seinen kopf, um mich aus dunklen augen anzusehen und zu sagen: „denkst wieder nach über deutschland? bist aber in marokko!“ denn er hatte viel zu viel damit zu tun, die autos zum bremsen zu bringen, damit wir heil auf die andere strassenseite kamen.

der dieselqualm brannte in meiner nase und obwohl ich den atem anhielt, legte er sich wie ein zäher, klebriger film auf meine stimmbänder. jetzt wusste ich: mir versagte die stimme, weil die abgase der autos in jeden winkel meines körpers vordrangen und ihn verstopften, - bis er sich nicht mehr rühren konnte und auch keinen laut mehr von sich gab.

atemlos erreichte ich die andere strassenseite, wo mein marokkanischer freund auf mich wartete. er deutete mit dem kopf in die richtung von zwei polizisten, die in einiger entfernung standen und den verkehr und die passanten beobachteten.

jetzt durften wir nicht mehr zusammen gesehen werden. in der touristenzone wurde jeder urlauber angehalten, der mit einem marokkaner unterwegs war. die polizei wollte nichts von den urlaubern, aber die marokkaner nahmen sie mit auf die wache. ich verstand die knappe kopfbewegung meines marokkanischen freundes inzwischen nur zu gut und blieb in einiger entfernung hinter ihm zurück.

wenn ich gerade fürchtete, ihn in der menschenmenge verloren zu haben, sah ich ihn irgendwo auf mich warten. wenn er mich bemerkte, lief er sofort weiter. ein unsichtbares band verknüpfte uns, mit dem wir alle polizisten narrten. das gefiel mir - und auch, dass ich mich auf ihn verlassen wollte: er lotste mich durch agadir. er gab das ziel vor, ich kannte es nicht.

ich kannte es nie.

vor dem „café central“ war er stehen geblieben. ich wusste, dass er mit mir noch etwas trinken wollte. wir setzten uns an einen der tische. es gehört zur dunklen logik agadirs, dass sich urlauber mit marokkanern nicht auf der strasse zeigen dürfen. wenn sie aber mit ihnen in einem restaurant oder café sitzen, stört es niemanden mehr.

wieder stand eine flasche bier vor uns. "warum immer alkohol?" fragte ich. er nahm sein glas, tat so, als wollte er mir den schaum ins gesicht pusten und antwortete:

„wie oft bist in marokko - wie lang bin ich noch da? siehst! das müssen wir feiern - alles!“

er trank das bier mit einem zug aus. immer wieder winkte ich den kellner heran. es musste nun aber bald schluss sein mit dem trinken, denn mein marokkanischer freund starrte inzwischen nur noch düster vor sich hin und reagierte auf keine meiner fragen mehr. dachte er an seine mutter in smara? oder an seine schwester in spanien? dachte er überhaupt an etwas, oder waren seine vergangenheit und zukunft eingeschwärzt und begraben in einer endlosen gegenwart?

in agadir kenne ich eine bar. sie liegt gegenüber dem eingang zur strandpromenade und ist eine der wenigen, in der alkohol ausgeschenkt werden darf. die bar ist dunkel und die gesichter der männer, die um den tresen herum sitzen, sind noch dunkler. sie trinken bier und schweigen. der patron stellt immer wieder kleine schälchen vor sie hin. darin befinden sich heisse linsen, chips und erdnüsse. die männer essen davon und bestellen noch ein bier. überhaupt ist es so, dass dort niemand spricht. alle grübeln und trinken. ich weiss nicht, wie es in einer psychiatrischen krankenstation aussieht. aber wenn es dort viele depressive gibt, muss es so ähnlich sein wie in der bar am eingang zur uferpromenade in agadir.

vor dem "café central“ gingen muskelbepackte schwarze marokkaner in schwarzen anzügen auf und ab. sie hantierten mit ihren handys, musterten die gäste und liessen die europäer hinein, während die marokkaner draussen bleiben mussten. sie durften das café - wenn überhaupt - nur in begleitung von europäern betreten.

auf der strassenseite gegenüber lehnten marokkanische jungen an den hauswänden und warfen den europäischen männern, die alleine unterwegs waren, aufmunternde blicke zu. manchmal blieb einer stehen und lud sie auf ein bier ins café ein.

auch geschminkte marokkanische frauen liefen vor dem café hin und her, aber keine von ihnen betrat das café. die schwarzen marokkaner in den schwarzen anzügen hätten das verhindert.

um mitternacht öffneten sich grosse türen im hintergrund des cafés. sie gaben den weg über eine breite treppe in eine discothek frei. alles drängte sich hinunter und auch die besonders auffällig geschminkten frauen bestürmten jetzt die schwarzen marokkaner, die ihre augen jedoch nur kalt auf alles richteten, was an ihnen vorbei wollte. diejenigen aber, die es geschafft hatten, eilten die treppe hinunter - hinein in den weit geöffneten rachen aus rasend-lauter musik und explodierenden blitzen aus licht.

hier, so schien es es mir, war der zweite ort des vergessens in agadir. er unterschied sich von der bar am eingang zur promenade nur dadurch, dass dort keiner sprechen wollte, hier aber keiner sprechen konnte.

mein marokkanischer freund zeigte zu den türen der discothek: „wir wollen auch?“ ich schüttelte den kopf. ich übersah die enttäuschung in seinem gesicht und beobachtete stattdessen eine junge frau. sie fasste gerade einem der schwarzen marokkaner in die hose und lachte laut auf. „das macht nichts“, hörte ich meinen marokkanischen freund sagen. er lief auf die strasse. „komm!“

ich konnte ihm nicht folgen, denn zu dieser stunde drängten sich dort die touristen und marokkaner. immer wieder verlor ich ihn aus den augen, weil ich von jungen frauen aufgehalten wurde, die sich mir in den weg stellten: „hallo, woher kommst du?“ warum sprachen sie mich auf deutsch an? als ich gerade dachte, dass ich meinen marokkanischen freund nicht wieder finden würde, sah ich ihn vor der bar beim eingang zur strandpromenade stehen. er winkte mir zu.

ich war von der einen hölle agadirs nur aufgebrochen, um in die andere gewunken zu werden.

ich blieb stehen. die menschen suchten sich ihren weg an mir vorbei und manche schimpften, weil ich ihnen nicht platz machte. ich spürte, dass die lähmung zurück gekehrt war. ich konnte keinen schritt weiter gehen. dort vorne stand mein marokkanischer freund und winkte. „du kennst ihn nicht. du wirst ihn auch nie kennenlernen!“ flüsterte ich und war froh, dass sich die lähmung noch nicht auf meine stimmbänder gelegt hatte. was war besser - zu schreien oder zu laufen?

ich wollte laufen - so schnell ich konnte. ich wollte auch schreien - so laut es ging. stattdessen stand ich auf der strasse, die autos bremsten und die fahrer schrien mir etwas zu, was ich nicht verstand.

er winkte - er bewegte seinen mund.

„denkst wieder nach über deutschland? bist aber in marokko!“

neben mir hielt ein zerbeultes petit-taxi. der fahrer öffnete die tür. „wohin möchten sie?“

ich sah durch seine frage hindurch zu dem araber, der mich aus müden augen betrachtete und mit einem „non“ meine hoffnungen zerstörte, - ich sah auch zu dem angestellten aus dem reisebüro, der meine wünsche mit einem einzigen bösen blick verbrannte. gleichzeitig drangen worte zu mir, die sich als eine wirre girlande, die immer irgendwo zerriss, aneinander reihten: "europa, spanien, visum, deutschland, patron, grosses wasser, mohammed, italien".

ein satz jagte durch meinen kopf: „geh nicht fort, bleib hier!“ ich hatte ihn nie zuvor gehört, niemand hatte ihn zu mir gesagt. galt er überhaupt mir? und wenn, dann hatten sie eben alle geschwiegen, als ich ihnen, alles bedenkend, was ich wusste, meine frage stellte ...

... die wichtige, die notwendige, die einzige - von der alles abhing.

„wohin möchten sie?“ der taxifahrer hatte sich aus dem auto gebeugt und machte eine einladende geste - ich sollte mich zu ihm setzen. er fuhr mich durch die nacht zu meinem hotel. ich krümmte vorsichtig meine fusszehen in meinen schuhen. sie bewegten sich. ich probierte es auch mit meinen fingern. sie funktionierten. das wichtigste aber stand mir noch bevor: wie war es mit meinen stimmbändern? gehorchten sie mir oder waren meine schreie und alle worte, die ich auf dieser welt jemals sagen wollte, verloren - auf halbem weg zwischen zwei höllen, von denen ich annahm, dass ich mich nur in eine taxe setzen musste, um ihnen zu entfliehen?

„woher kommen sie?“ fragte der taxifahrer und sah mich freundlich an, während er sein auto geschickt durch den verkehr lenkte. „aus der hölle“, antwortete ich, als er sein auto vor meinem hotel bremste. ich ging hinauf in mein zimmer und trat auf den balkon. unter mir lag agadir inmitten von tausend lichtern. ich ahnte, dass ich den taxifahrer belogen hatte, weil ich aus der hölle nicht wirklich geflohen war. ich hatte zwar leichtfertig gedacht, dass es davon nur zwei gab. jetzt aber - im angesicht der nächtlich-friedlichen stadt - wusste ich, dass ich der dritten, der einzig existierenden hölle nicht entkommen konnte.

als das telefon klingelte, streckte sie bereits ihre brennend kalten hände nach mir aus. und als ich von weit her die worte hörte:„denkst wieder nach über deutschland? bist aber in marokko!“ stand ich schon mitten im feuer, war aber überrascht, dass ich nicht sofort verbrannte.


(c) rolf d. venzlaff 2004

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beate gewidmet

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