ich hatte den brief schon gar nicht mehr erwartet. die anfrage lag viel zu lange zurück. vergessen hatte ich sie jedoch nicht - wie sollte ich auch? als ich den brief öffnete, machte ich mich auf eine wahrheit gefasst, der ich immer ausgewichen war. der brief kam aus berlin - von der botschaft des königreichs marokko.
in porto banus
andalusien! - das war so weit weg. es hatte zeiten gegeben, in denen ich meinte, dass dieses land nur ein weit entfernter und unerreichbarer traum war. eines tages fuhr ich dann doch - aber an die costa del sol und nicht nach andalusien. ich hatte mich in einem hotel in porto banus einquartiert - das ist der yachthafen von marbella: sehr neu, sehr luxeriös, sehr kühl - trotz der grossen sommerhitze.
der strand gefiel mir und war nur wenige schritte vom hotel entfernt. ich lag in der sonne, schwamm im meer, las viele bücher, sass beim abendessen am kleinsten tisch gleich neben den waschräumen - ich reiste allein! - schlenderte danach durch den abend in den hafen und trank in einer bar unter freiem himmel ein glas wein.
diesem gleichmass der urlaubstage wollte ich wenigstens einmal entfliehen. ganz früh - es war noch dunkel - wartete ich an der hauptstrasse auf den bus.
immer, wenn ich an den süden denke, fallen mir die frühen morgenstunden ein - die wärme, das dämmerlicht, der duft des oleanders und aller blumen sonst, die trockene leere der stillen strassen, die raschelnd umher wehenden plastiktüten.
das alles steht jedoch nicht im kontrast zum lärm, zur hitze und der luft aus benzin, die über den lauten tagen des südens hängen. vielmehr konnte ich - frühmorgens und im dämmerlicht durch die strassen wandernd - der stillen, abgekehrten seite der tage folgen, wenn ihr schwerer atem für kurze zeit ganz leicht wird.
darum kommen mir die nächte im süden - die wie eingezwängt zwischen einem hellem tag und einer unschlüssig zwielichtigen dämmerung sind - auch immer viel zu kurz vor.
ich wartete frühmorgens an der hauptstrasse in porto banus auf den bus, mit dem ich nach granada fahren wollte. wer einmal vor tagesanbruch in einem touristenort auf einen bus gewartet hat, kennt das: immer andere busse fahren an uns vorüber, wirbeln den staub der strassen auf, und streben unbekannten zielen zu.
ich stand an der strasse - kein bus hielt - und wartete, bis ich mich nur noch nach meinen büchern sehnte.
von den büchern im kopf
in meinen ferien war ich immer ein massloser leser. das änderte sich erst, als ich marokko entdeckte. aber jetzt greife ich weit vor - und doch lohnt es sich, nachzudenken, warum ich alle bücher, die ich für meine ferien in marokko einpacke, am ende ungelesen wieder mit nach hause bringe.
hier ist die antwort: ich habe in marokko keine zeit für bücher - die zeit vergeht stattdessen wie ein kurzer, geblendeter augenaufschlag und es bleibt am ende nichts - ausser vielleicht ein dürres, um worte verlegenes erstes kapitel. aber auch das müssen wir nicht lesen, denn es begegnet uns in jedem fall, drängt sich uns geradezu auf.
es ist aber etwas anderes, von ertrunkenen menschen zu lesen, als einen menschen, der sich uns wie selbstverständlich zugesellt und seine worte gleich widerhaken in unsere haut treibt, vor dem ertrinken zu bewahren. wir haben übrigens gar keine wahl, sondern müssten - würden wir nichts unternehmen - mit ihm zusammen untergehen.
jetzt muss ich aber doch lachen, denn ich schrieb von „meiner“ entdeckung marokkos, so als wäre ich der erste forscher und geograph gewesen, der nordafrikanischen boden betreten hat. die vielen weissen flecken auf der landkarte - ich weiss -verschwanden lange vor meiner zeit. ich kenne den ehrgeiz nicht, ins unbekannte aufzubrechen, um es mühsam ans licht zu ziehen, zu vermessen und zu benennen. ich bin kein geograph - vielleicht erschrecken mich deswegen die weissen flecken in meinem herzen.
damals in andalusien las ich zu jeder stunde und hatte nicht das gefühl - das mich später so erbarmunglos quälte - meine zeit zu vergeuden. die bücher, die ich las, erzählten mir keine geschichten von vergeblichen wünschen und ihrem trostlosen ende. vielmehr nahmen sie mich mit auf lange reisen durch die zeit, bis zu den klippen cornwalls. afrika gab es nicht in meinen büchern - und auch nicht in meinen gedanken.
wenn ein buch 700 seiten hatte, war ich zufrieden. wenn mir jedoch nur noch die letzten 50 seiten zum lesen blieben, wurde ich traurig.
ich frage mich, was wohl die afrika-forscher im 19. jahrhundert dachten, wenn sie nach vielen jahren von ihren erkundungsfahrten nach hause zurück kehrten und ganz bestimmt mit grösster bestürzung bemerkten, dass der sonntagsbraten, den ihre frauen zubereiteten, immer noch genau so schmeckte, wie damals, bevor sie ins unbekannte aufbrachen.
was bleibt also von den dunklen kontinenten und ihren gefahren? doch wohl nur einige bilder und der stets hilflose versuch, gelebte und erlittene zeit in worte zu fassen - als ob die zeit sich überreden liesse, still zu stehen und zuzuhören.
ich will damit sagen, dass mir jedes buch, das ich zu ende gelesen hatte, eine heftige depression verursachte. das erzählte war durchschritten und am ende warteten - auch wenn ich es nicht wahr haben wollte - nur noch die klippen des vergessens. das war mit den büchern so - und später mit den reisen nach marokko.
nur manchmal spürte ich am ende soetwas wie glück - viel öfter aber blieb ich verlassen und verletzt zurück und einige male habe ich tränen geweint. es gibt auch überhaupt keinen trost, denn wir können ein buch - und eine reise - zwar noch einmal von vorn beginnen - doch auch einen traum träumen wir niemals ein zweites mal.
zum glück wusste ich damals nicht, dass die bücher mich auf das vorbereiteten, was mir später die grössten schmerzen bereiten sollte. es ist nämlich etwas anderes, traurig ein gelesenes buch aus der hand zu legen, als hilflos vor einem haus zu stehen, dessen tür niemand mehr öffnet.
manchmal kommt mir der verdacht, dass ich die bücher dazu benutze, um zwischen mir und der welt schutzwälle zu errichten und gräben zu ziehen. auf diese weise kann ich lesend an der welt teilnehmen, ohne jedoch ein teil von ihr zu sein. das würde erklären, warum ich in nordafrika niemals ein buch lese: denn dort überrennnt die wirklichkeit mit einer zuvor nie gekannten gewalt sämtliche wälle und gräben, die ich um mich herum gezogen und aufgerichtet habe - von denen ich indes längst weiss, dass sie nicht besonders stark oder tief, geschweige denn gut gesichert sind.
ich hatte es mir angewöhnt, allein zu reisen. ich vermisste nichts und zog die türen nur manchmal ins schloss. viel öfter jedoch hielt ich sie einen spalt breit offen.
auch meine selbstgespräche erschrecken mich nicht.
dazu neigte ich schon, als ich noch jung war. allerdings haben sich ihre inhalte gewandelt, wenigstens bedränge ich mich nicht mehr mit worten, eine stadt zu verlassen, deren häuser ich - wie damals in venedig - als verwackelte kulissen wahrnahm, und die noch heute - in meinen regenschweren erinnerungen - von menschen ganz und gar entvölkert sind.
meine selbstgespräche führen mich zum glück auch nicht mehr zu der unsinnigen, aber verzweifelten einsicht, immer am falschen ort zu sein - so wie damals in florenz, als mir jeder sinn abhanden gekommen war, und ich tagelang - in meiner seele gelähmt - im hotelzimmer unter blanken drähten sass, die eine nackte glühbirne hielten, und darüber nachsann, wie ich diesem inferno, das sich dante ausgedacht haben mochte, entkommen konnte. mein zeigefinger hätte genügt, um - fast dem bild leonardos gleich - einen schwarzen himmel zu berühren und zu verglühen.
ich sage hingegen nicht, dass meine selbstgespräche mit den jahren heiterer oder mutiger geworden sind. sie folgen inzwischen jedoch der einsicht, dass mich in der fremde meine fremdheit weniger schmerzt. deswegen reise ich.
„warum gehen sie an den paradiso-strand? der ist doch langweilig!“
die nicht mehr junge frau, die zufällig mit mir an der hotelbar in porto banus sass, sah mich neugierig an. weil ich aber nicht antwortete, fuhr sie fort:
„ich langweile mich dort zu tode und komme mir ganz verloren vor. deswegen gehe ich jetzt an den calypso-strand.“
ich bemerkte, dass sie am gespräch, das keines war, nicht den rechten gefallen fand. stattdessen schickte sie lange blicke in richtung des kellners, der sie aber wohl nicht verstand und ihr deswegen einen zweiten campari einschenkte.
„dort gibt es eine bar unter freiem himmel - die leute sind nett“ - wieder ein blick zum kellner - „und die musik sehr hübsch!“
ich schwieg, weil ich höflich sein wollte. sie rutschte vom barhocker, trank hastig ihren campari aus und winkte dem kellner mit angewinkeltem arm zu: „auf wiedersehen, nino - bis bald!“
zu mir aber sagte sie:
„ich verstehe - sie sind lieber allein. sie lesen - wie kann man eigentlich den ganzen tag lang lesen? egal, ich gehe jetzt zum essen. guten abend!“
sie lief in richtung restaurant davon.
ich hatte sie verstanden. wer am strand ein buch liest, gibt seinen mitmenschen zu verstehen, dass er in ruhe gelassen werden will. ein buch ist ein bollwerk gegen zu grosse nähe. wenn wir lesen, halten wir uns die welt fern. das ist aber eigentlich absurd, weil wir doch vorgeben, uns der welt zu öffnen - wenigstens so weit, wie sie aus dem buch zu uns spricht.
vielleicht ist das lesen noch viel mehr als ein „bollwerk“ - nämlich ein „leben aus zweiter hand“. wir blättern uns in seelenruhe durch räume und zeiten, und während in cornwall die ritter im blut liegen, in afrika ein geograph vom tiger angefallen wird, legt unsere umgebung den zeigefinger an die lippen und läuft auf zehenspitzen an unserem leben vorbei.
wissen wir nicht, dass die bücher, die wir lesen, mit zitternder hand und tränenden augen geschrieben sind - von menschen, die dazu verdammt sind, allzu viel wirklichkeit in sich aufzunehmen?
um nicht zu ertrinken, schreiben sie. wir aber lesen ihre bücher, als nähmen wir an einem ausflug durch cornwall oder einer safari in afrika teil.
zwar konnte ich mich nicht entschliessen, den rest meines urlaubs am calypso-strand zu verbringen, machte mich aber auf den weg nach granada. übrigens stimmt es nicht, dass in porto banus kein bus hielt, um mich mitzunehmen, und auch nicht, dass ich mich an diesem frühen morgen nach meinen büchern sehnte. das habe ich mir nur ausgedacht - ein simpler trick, um einen grund zu finden, über bücher und das lesen zu erzählen.
das habe ich nun getan und dabei unter der hand und traurigen sinns verstanden, dass man mir in porto banus etwas mitteilen wollte. statt aber über die worte nachzudenken, las ich weiter in meinen büchern. das war gewiss falsch und dennoch nahm ich die erdachte und erzählte welt mit, als ich die alhambra bestieg, die sich auf einem felsen hoch über granada erhebt.
ich war noch nicht in afrika - ich wusste davon auch nichts.
in granadas gärten
woran eigentlich erinnere ich mich, wenn ich an die alhambra in granada zurück denke? - vor allem wohl an die mosaike, so bunt wie kaleidoskope, an die stukkaturen, so weiss wie der gefrorene palast der eisprinzessin von hans christian andersen, und an die weiten innenhöfe, deren umgänge dächer haben, die von schmalen, in sich verschlungenen säulen getragen werden. überhaupt: die alhambra erinnerte mich an ein kloster und flüchtig kam mir der gedanke, ob vielleicht jegliche klosterarchitektur - abweisend nach aussen und offen nach innen - ihren ursprung in der maurischen architektur hat. mehr noch: dass wir selbst ihr im wandelnden wechsel der generationen immer ähnlicher werden.
dann war da noch ein brunnen, der von vier löwen getragen wurde - und ein garten.
gärten machen mich verlegen. durch gärten zu gehen, ist mir peinlich. ich sehe pflanzen wachsen, blühen, wuchern - und kenne ihre namen nicht. auch wenn jemand an meiner seite wäre - aber jeder weiss doch, dass ich stets allein reise - der mir sagen würde: dies ist ein oleander und das eine fuchsie: ich hätte es im nächsten augenblick schon wieder vergessen.
ich verstehe bis heute nicht, warum mich immer gerade dann mein gedächtnis verlässt, wenn ich einen garten betrete. meine grossmutter und meine mutter liebten die gärten und führten mich an der hand durch ihre grün-verschlungenen labyrinthe. ihre geduld, mir alles zu zeigen, war unendlich. sie wurden auch nicht müde, mir zu erklären, welche pflanzen „dankbar“ und welche „undankbar“ sind.
musste ich dankbar sein, weil sie mir ihre gärten zeigten? war ich undankbar, weil ich ihre erklärungen gleich wieder vergass?
vielleicht ist aber alles viel einfacher und pflanzen langweilen mich.
wenigstens weiss ich bis heute nicht, welche von ihnen „dankbar“ oder „undankbar“ sind - doch gerade diese unterscheidung blieb mir alle zeit im gedächtnis. ich verstehe auch nicht, wie viel sonne, schatten und wasser sie brauchen. ich müsste mich wohl ganz still und viele tage zu ihnen setzen, ihrem wachsen zusehen und beobachten, was sie erhoffen: ein wenig mehr sonne - ein wenig mehr schatten - ein wenig mehr wasser.
vielleicht fällt es müttern leichter, darauf zu achten. ich weiss es wirklich nicht.
ich bin ganz gewiss sehr undankbar.
wer aber nimmt sich die zeit, setzt sich an meine seite und hört mir zu? meine mütter sind tot - aber in ihren gärten wachsen die petunien und der mohn, wie alle jahre zuvor.
die gärten der alhambra sind spiegelbilder des paradieses. so will es der muslimische glaube, der davon spricht, dass ein frommer mensch nach seinem tod in die gärten allahs eintreten darf, wo blumen blühen, sich grüne wiesen mit unzähligen primeln hinziehen, quellen klaren wassers sprudeln und palmen mit ihrem schweren blätterdach die hitze der tage fern halten.
primeln!
„kinder, wir müssen zu den primeln.“
das ist - ich erinnere mich - die stimme meines grossvaters. für ihn waren meine eltern und seine enkel „kinder“, denen er jedes jahr im frühling von neuem ein ganz besonderes schauspiel zeigte: wir wanderten erst durch einen dunklen wald, dann vorbei an einem langen zaun, hinter dem sich kühe drängten, die mir mit ihren fliegen-umsummten schnauzen angst machten, und kamen schliesslich auf eine wiese, die zwar grün, aber doch auch dicht durchwirkt war mit abertausend gelben blüten - das waren die primeln. meine mutter rief: „wie schön!“ und mein grossvater nickte.
als er starb - es war ein tag im frühling - setzte ich mich geradewegs auf diese wiese und weinte inmitten aller primeln. kinder - sogar wenn sie alt geworden sind - dürfen übrigens zu jeder zeit weinen, nicht nur, wenn ihnen das paradies verloren gegangen ist.
die ägypter schufen ihre pyramiden nach dem muster der sterne am himmel. diese mathematische gleichung hat viel für sich, denn sie verbannt aus den herzen der menschen den quälenden gedanken, ob das, was ihnen widerfährt zu recht, oder nur aus versehen passiert. sie müssen auch nicht dankbar oder undankbar sein, denn alles geschieht fern irgend eines willens, dem sie widerstehen oder sich unterordnen müssten.
die freiheit der ägypter ist die mathematik - für den muslim aber ist es der sommer, dem kein herbst folgt. nur für die wenigen, die - wie ich - gott nicht im paradies suchen, werden irgendwann alle blumen welk und jeder weg verliert sich in den schatten.
ich fragte mich, als ich auf der alhambra stand, der mond schon als schwache sichel über dem taghellen horizont aufstieg, und die sonne in die winkel des palastes leuchtete: welcher geheimnisvollen geometrie der grundriss dieser maurischen burg folgt, wenn sogar der brunnen aus löwenköpfen im goldenen schnitt des vierecks seines innersten hofes steht?
eine antwort suchte ich erst viel später. da hatte ich die gärten der alhambra längst verlassen. pflanzen machen mich - nun weiss es jeder - nervös und traurig. sie sind bei mir in schlechten händen, weil ich sie nicht hüte und nicht über ihr leben wache. während ich in die sterne schaue, sterben sie.
vielleicht war das der grund, warum ich auf meine frage am ende keine antwort bekam. stattdessen fanden die wüsten - gegenbilder aller gärten - eingang in mein herz und bedeckten es fortan mit ihrem fast durchsichtigen staub.
gottes segen in al andalus
busfahrten - wie die zurück nach porto banus - verkürze ich mir gern mit gesprächen. es gehört allerdings ein wenig glück dazu, damit sich auch der richtige zu mir setzt. in granada war es ein kleiner, dicker mann, der sich als katholischer pfarrer aus köln vorstellte. nicht viel später nahm er aus seiner jacke - sie war schwarz - ein schwarzes buch.
„grossartig“, sagte er und tippte mit dem zeigefinger auf den buchdeckel. „kennen sie paulus?“
ich kenne mich in der bibel nicht wirklich aus, hatte aber irgendwann einmal gelesen, dass einige bürger von damaskus paulus in einem weidenkorb von der stadtmauer hinab liessen. er war - kaum dass er getauft war und seinen alten namen „saulus“ abgelegt hatte - ins visier jüdischer häscher geraten, die wegen seiner predigten aufruhr und revolution fürchteten. so ein mann musste verschwinden.
das erzählte ich dem pfarrer, der freundlich zuhörte und dabei einige male mit der hand zärtlich über den rücken des schwarzen buches strich.
„paulus predigte nicht nur in syrien - er kam bis in die türkei und noch viel weiter“, unterbrach er mich und sein gesicht zeigte nichts weiter als grosse zufriedenheit. „ich aber suche nach den christlichen ursprüngen in spanien. sie wissen doch: die conquista und das alles entscheidende jahr 1492. aber weil wir gerade bei paulus sind: darf ich ihnen aus seinen briefen vorlesen? sie sind sehr interessant.“
ohne abzuwarten, was ich von seinem vorschlag hielt, schlug er das schwarze buch auf - dort, wo ein schwarzes lesebändchen zwischen den seiten lag.
die busfahrt von granada nach porto banus liegt lange zurück. ich weiss nicht mehr, was genau er mir vorlas. weil ich es aber vergessen habe, wird es mich nicht besonders beeindruckt haben.
überhaupt: dieser ausflug machte mich nicht glücklich. der pfarrer deklamierte mit unnötig pastoraler stimme aus der bibel - und mir fiel ein, dass unter den christen ein grosser streit ausbrach, den es ohne paulus nicht gegeben hätte.
er wollte es nämlich nicht nur den beschnittenen juden erlauben, den christlichen glauben anzunehmen, sondern allen, die es wünschten. das sorgte für heftigen widerspruch. immerhin war jesus ein beschnittener jude gewesen. jetzt allen ungläubigen - die noch dazu unbeschnitten waren - die taufe zu ermöglichen, rüttelte am heiligsten willen.
der heiligste wille!
ich hätte den pfarrer gern unterbrochen und - nur damit er eine weile die bibel vergisst - gefragt, ob es gottes wille sein könne, dass eltern ihre kinder in höchste angst versetzen. ich biss mir aber auf die zunge und war froh, ihre spitze nicht abgebissen zu haben.
paulus suchte den glaubensstreit nicht aus religiöser überzeugung, sondern handelte aus politischem kalkül. denn ihm begegneten auf seinen missionsreisen viele menschen, die zwar bereit waren, den christlichen glauben anzunehmen, allerdings vor den konsequenzen erschraken und ihren leib vor jeglicher verletzung schützten wollten.
der pfarrer schlug mit aller sorgfalt eine weitere seite um - und las weiter.
paulus setzte sich schliesslich durch und weil bei der taufe kein blut mehr floss, verbreitete sich das christentum bald um das ganze mittelmeer.
wie stark die jüdische tradition war - und wie schwer, eine neue religion gegen die alte durchzusetzen - erfuhr nicht nur paulus, sondern auch - wenn auch viel später - mohammed, der deswegen die wichtigste jüdische regel unangetastet liess. er erklärte, dass auch muslims beschnitten sein müssen, weil der islam die besten traditionen der juden und christen vereint und in einer alles krönenden religion zur vollendung gebracht habe.
der pfarrer hielt das schwarze buch in einigem abstand. ich schloss daraus, dass er weitsichtig war - aber doch nicht weitsichtig genug, um meinen gedanken zu folgen, die an einem schwarzen würfel endeten, den in trance zu umrunden, die heiligste pflicht aller gläubigen ist und - gewiss, gewiss - direkt ins paradies führt.
keiner der mitreisenden mochte den pfarrer unterbrechen - immerhin: er las aus der bibel. sie dachten sich vielleicht, dass die busfahrt bald zu ende sein würde. schon hatten wir die küstenstrasse erreicht, die durch staubig-verschattete schluchten aus beton von malaga bis nach algeciras reicht. mich jedoch konnte dieser gedanke nicht trösten, zumal ich spürte, dass die sätze der bibel einen keil in meine erinnerungen trieben und dazu beitrugen, die bilder der alhambra auszulöschen.
wie war das, als christen mit den worten der bibel auf ihren lippen die stadtmauern granadas schleiften und die muslimischen mauren von der alhambra vertrieben? mit welchem recht schmieden menschen aus worten der nächstenliebe tödliche schwerter?
und warum um alles in der welt deklamierte ein katholischer pfarrer unbekümmert worte aus der bibel, während wir durch „al andalus“ - fuhren, das einmal das einzig wahre paradies auf erden genannt wurde?
ich spürte, wie es mir eng wurde, und meinte bald, mich gar nicht mehr bewegen zu können. eine seltsame starre erfasste mich, die vielleicht ähnlichkeit mit jener hatte, die sultan boabdil überfiel, als er - schon auf der flucht - ein letztes mal zur alhambra hinüber sah, und nicht wusste, ob ihre mauern im widerschein des letzten abendlichts glühten oder das blendende rot ein feuer war, das betrunkene spanische soldaten hinter den fenstern des palastes entfacht hatten.
ich war nach spanien gereist - aber nun geschah es, dass ich nicht mehr sagen konnte, wohin genau ich gekommen war. ich ahnte, dass sich meine starre erst lösen würde, wenn ich wieder zusammen bringen könnte, was - immer nur notdürftig kaschiert, zwischen buchdeckeln eingesperrt und mit vielen worten zerredet - auf der busfahrt von granada nach porto banus endlich auseinander gebrochen war: das misstrauische spiel, die verdrehten worte, die heiligen lügen, die hinterhältigen versprechen, die schamlose vertreibung und der billige triumph.
ich musste - und das schien mir überhaupt das dringendste zu sein - die perspektive wechseln und den spuren boabdils folgen, um seine schmerzen zu verstehen, die mich - nur wenig verwandelt - als lähmung erreichten.
als der bus vor meinem hotel in porto banus hielt, wünschte mir der pfarrer aus köln zum abschied „gottes segen!“ ich hätte lachen mögen - konnte es aber nicht.
endlich auf boabdils spuren
ich ging in mein hotelzimmer, setzte mich aufs bett und schaute mich um. warum war es mir nicht schon früher aufgefallen? der schrank, der tisch, der stuhl - sie waren so peinlich und gewöhnlich wie überall. nichts unterschied sie von einem schrank, einem tisch und einem stuhl irgend eines anderen hotels - in tripolis oder sansibar. aber das weiss ich nicht - dort war ich nie.
ich dachte - aber warum gerade jetzt? - an ein gedicht von rainer maria rilke: „herr, gib jedem seinen eigenen tod ...“ richtig gelesen müsste es aber doch wohl heissen: herr, gib jedem seinen eigenen raum, ... der mit fenstern aus lauter licht und den mosaiken aus erinnerung und hoffnung geschmückt ist, um in seinen dunklen nischen, die hoffentlich nicht fehlen, zwiesprache mit sich selbst zu halten.
ich dachte zurück an die sierra nevada, deren weisse gipfel sich als kühle kulisse hinter den sonnenheissen mauern granadas hinziehen. ihr geschmolzener schnee lässt die gärten andalusiens blühen. er verwandelt die erde in ein paradies, von dem boabdil einst - traurig zwar, aber ohne wehmut - abschied genommen hatte. denn sehnsucht können wir erst empfinden, wenn wir das eine verlassen und - ohne jede möglichkeit der rückkehr - es mit anderem getauscht haben.
es gab eine zeit, da schien mir der himmel nach allen seiten hin offen zu sein. ich konnte mich in jede seiner richtungen wenden und nichts verstellte mir den horizont. mein leben war mir vertraut und - so schien es mir - mit wenigen worten erklärt. wenn ich aber an eine frage geriet, deren antwort ich nicht wusste, änderte ich meine blickrichtung nur ein wenig und fand sogleich neue, andere wegemarken am horizont.
so geschieht es, wenn wir in jungen jahren auf unsere reise gehen. erst viel später - wenn wir die schritte ins gänzlich unbekannte tun müssen - stellen wir manchmal mit erschrecken fest, dass der kompass immer fehlte.
nicht viel anders muss es den arabern gegangen sein, die fast 800 jahre in andalusien lebten. sie verschwendeten keinen gedanken daran, dass dies - wie alles - nur vorläufig und widerrufbar war. sie hatten ein paradies gefunden und besangen dieses glück mit immer neuen liedern. 711 waren sie gekommen - 1492 wurden die letzten von ihnen vertrieben. das ist eine zeitenspanne, die viel zu gross ist, als dass ein mensch sie ermessen oder zu durchdringen wüsste. ein kompass zeigt nur die richtung des wegs - aber niemals den verlauf der zeit.
im sommer 711 überwand tariq ibn ziyad mit 7000 soldaten die meerenge zwischen afrika und europa - genau an der stelle, wo sich ein gewaltiger felsen erhebt, den die araber „djabal at-tariq“ nennen und den wir als „gibraltar“ kennen. in kurzer zeit nahm tariq das land in besitz. die blütezeit andalusiens brach an, als die abbasiden das omaijaden-kalifat stürzten, und erst in damaskus und später in bagdad die herrschaft über die arabischen länder antrat. es war abd-ar-rahman I., der letzte omaijaden-kalif, dem die flucht aus damaskus gelang, und der in andalusien ein gegenreich zum feindlichen abbassiden-kalifat schuf. er regierte bis 788 in cordoba und hinterliess seinem sohn, hakam I., ein geeintes spanien unter maurischer herrschaft.
ich legte das buch beiseite, das mir auf wenigen seiten etwas über die geschichte spaniens erzählte - gerade so viel, um es schon bald wieder zu vergessen. es ist immer so: wenn sich die worte der bücher nicht zu bildern in meinem kopf verwandeln, bleiben ihre geschichten wie zwielichtig-leere räume hinter mir zurück.
es wurde zeit, zum abendessen zu gehen. gleich neben dem eingang des restaurants war das bufet aufgebaut. hier fand ich alles, was die araber einst mit nach andalusien gebracht hatten: pfirsiche, apfelsinen, aprikosen, granatäpfel, mandeln, kastanien, bananen, melonen und datteln. die mauren verwandelten andalusien in einen grossen garten, in dem so viel wuchs und blühte, weil ein nach mathematischen regeln gebautes wassersystem die unzähligen gärten und felder gleichmässig versorgte.
ich hatte mich gerade an meinen tisch gesetzt, als die tür zur terrasse aufflog. ein nur mit badehose bekleideter mann kam ins restaurant gerannt und fiel über einige stühle. das machte ihn wütend - wenn er es nicht schon längst gewesen wäre. er griff sich einen und schleuderte ihn durchs restaurant. krachend landete der stuhl auf einem der tische und die teller, die darauf standen, zerbrachen und fielen scheppernd zu boden.
ich begriff nichts von dem, was um mich herum vorging, konnte darüber aber auch nicht nachdenken, weil ich unter dem tisch deckung suchen musste. ein zweiter stuhl kam heran geflogen und schlug hinter mir in eine gläserne vitrine, deren glas mit lautem knall zersprang. ich hatte angst und suchte nach einer möglichkeit, das restaurant so schnell wie möglich zu verlassen. der mann - inzwischen rotgesichtig vor wut - griff nach immer anderen stühlen und warf sie durch die luft. sie trafen die regale mit den weinflaschen, fegten über die eingedeckten tische hinweg und landeten in den grossen fenstern, die zum garten gingen.
in kurzer zeit hatte sich das restaurant in einen trümmerhaufen verwandelt, durch den schreiend die hotelgäste irrten.
ich kam zu der einsicht, dass es am sichersten war, einfach unter dem tisch zu bleiben. irgendwann musste der wahnsinnige mit seinem zerstörungswerk ans ende kommen - spätestens dann, wenn er keine stühle mehr fand. da irrte ich mich jedoch, denn jetzt wuchtete er die tische über seinen kopf und schleuderte sie brüllend durch die luft. krachend zerbrachen sie auf den harten steinfliesen des restaurants.
zwei kellner, die ebenfalls schutz unter einem tisch gesucht hatten, kamen aus der deckung und wollten - zusammen mit einigen mutigen gästen - einen ring um den tobenden mann bilden, um ihn an der weiteren zerstörung zu hindern. das liess er jedoch nicht zu. er boxte dem ersten kellner in den bauch und verpasste dem zweiten einen kinnhaken. bevor er aber auch noch die gäste niederstrecken konnte, flohen sie mit lauten schreien und schon klirrte, schepperte und krachte es weiter.
als das restaurant ganz und gar demoliert war, raste er brüllend auf die terrasse und zu den gartenstühlen, um an ihnen sein zerstörungswerk fortzusetzen. im selben moment stürmten polizisten von der angrenzenden strasse heran, warfen sich auf den tobenden und überwältigten ihn. sie mussten ihm die hände hinter dem rücken fesseln und stiessen ihn in ein polizeiauto.
ich war unter dem tisch hervor gekrochen und zur terrassentür getreten. neben mir stand einer der kellner und rieb sich sein kinn.
„tut es sehr weh?“ fragte ich. er nickte. „warum macht der mann das?“ wollte ich wissen. der kellner sah mich aus traurigen augen an. „das ist die hitze. wenn sie zu gross wird, drehen wir alle durch. am besten ist es, sie vergessen spanien im august.“
er wandte sich ab und begann, die wenigen heil gebliebenen stühle wieder aufzustellen.
welche qualen müssen die mauren durchlitten haben, als sie sahen, wie der spanische könig alfons VI. mit rücksichtsloser gewalt nach ihrer stolzen festung toledo griff? das war aber erst der anfang. es fielen in blutig-rasender eroberungswut cordoba und murcia, am ende auch die mächtigste aller maurischen festungen: sevilla.
übrig blieb das kleine maurische königreich granada, das sich noch 250 jahre behaupten konnte. der todeskampf der stadt dauerte noch einmal 11 jahre, dann musste der letzte maurenkönig, boabdil, besiegt von einem christlichen heer, aus granada fliehen.
am horizont meiner gedanken tauchte überraschend die wegemarke auf, nach der ich - ohne es zu wissen - suchte. ich hatte in längst vergangenen zeiten leichtfertig auf einen kompass für mein leben verzichtet. inzwischen lag eine zeitenspanne hinter mir, die viel zu gross ist, als dass ein mensch sie noch ermessen oder zu durchdringen wüsste. vielleicht konnte ich mich - ziellos wie ich war - dem letzten maurischen könig an die fersen heften. denn - ganz egal, wohin er mich führen würde - jemand, der ein paradies verlassen muss, wird immer auf der suche bleiben: nach räumen mit fenstern aus lauter licht, mosaiken, zusammen gesetzt aus erinnerungen, und dunkel-schweren nischen, um zwiesprache mit sich selbst zu halten.
boabdil ging nach marokko ins exil und lebte den rest seiner tage in fes.
ein intermezzo mit grünen fahnen
abschied zu nehmen, wie boabdil es tat, ist niemals einfach. es gibt eine kurze zeitspanne in unserem leben, in der wir glauben, niemals abschied nehmen zu müssen. mehr noch: wir wissen gar nicht, dass es abschiede gibt. ein glücklicher moment - angesiedelt im zwischenreich der unendlichkeit und der ersten, noch schwachen wahrnehmung, dass es eine welt gibt, die getrennt von uns ist. obwohl noch kinder, die alles wünschen und alles glauben, müssen wir lernen, abschied zu nehmen. kaum sind wir in der lage, uns zu erinnern, werden wir gezwungen, das paradies zu verlassen.
sich zu erinnern heisst abschied nehmen.
die küste andalusiens ist dicht bebaut, unzählige hotels reihen sich aneinander und die kleinen städte, die sich am meeressaum hinziehen, sind längst zusammen gewachsen. keiner weiss, wo die eine stadt beginnt und die andere endet. weiss stehen die häuser vor einem blauen meer und einem blauen himmel. wenn die uferstrassen mit fahnen gesäumt sind, mischen sich in dieses weiss und blau noch andere farben - besonders aber das grün.
alle islamischen länder tragen das grün - die farbe des propheten - in ihren fahnen. das wusste ich nicht, als ich nach andalusien kam. ich wusste auch nicht, dass andalusien schon immer eine brücke in die islamische welt war. es stehen in marbella und malaga mindestens genau so viele arabische wie europäische handelshäuser, die den warenverkehr über die strasse von gibraltar lenken. es gibt sie seit menschengedenken - mit ihren schweigenden fassaden erzählen sie eine geschichte, die einst in cordoba und sevilla begann.
so ganz und gar verschwanden die mauren - und ihr letzter könig boabdil - also nicht aus andalusien. es erlosch auch zu keiner zeit das gespräch zwischen europa und nordafrika - wenn es auch oft leise, verzagt und ohne grosse hoffnung war.
die spanier hatten den mauren andalusien entrissen. sie konnten mit dem eroberten land jedoch nicht viel anfangen, weil ihnen die kenntnisse fehlten, aus felsigen feldern gärten zu schaffen. in ihren erinnerungen fanden sie nur ausgedörrte täler, durch die der wind ging, zerfurchte berge aus granit, schwere ritterrüstungen, das „ave maria“ der priester ...
... und blut - so viel blut.
aber selbst diese erinnerung ist immer noch besser als gar keine. was wäre das für eine not, an ein „nichts“ anknüpfen zu müssen, an die leere und das ungelebte leben? wenn wir aus den wüsten kommen, wird uns womöglich nicht mehr einfallen, als wüsten um uns her zu schaffen. aber auch eine wüste kann uns trösten, wenn sie nachts ein schwarzes tuch, durchwirkt von goldenen fäden, über uns deckt. sie ist - bei aller not - unser zufluchtsort und hütet unter ihren steinen unsere erinnerungen.
so eine wüste war andalusien jedoch nicht. die einmal gepflanzten olivenbäume wuchsen auch ohne menschliches zutun und es gab felder genug, die vom wasser der berge getränkt wurden. was an einer stelle verdorrte, wuchs woanders einfach weiter.
wer nichts - oder doch nur das blut längst geschlagener schlachten erinnert, legt sich dankbar in den schatten eines baumes, den er endlich in der wüste findet. wie sollte er auch wissen, dass dieser baum der letzte von ungezählten ist - übrig geblieben, wo einst ein blühender garten war.
so dachte ich über spanien, rätselte über das grün der fahnen - und sah immer öfter über das mittelmeer, wo ich meinte, im dunst und nebel marokko, boabdils zufluchtsort, zu entdecken.
tariks abenteuer
die „tarifa II.“ entfernte sich in langsamer fahrt vom pier, drehte im hafenbecken und verliess al-jezirah al hadra, was im arabischen „grüne insel“ heisst, uns aber unter dem namen algeciras bekannt ist. was heute ein geschäftiger hafen ist, war einst landeplatz der arabischen truppen, die sich in al-jezirah al hadra sammelten, um erst andalusien zu überrennen und dann immer weiter nach norden vorzudringen. 650 jahre später fiel die stadt in die hände der spanier, die aber nur noch rauchende trümmer vorfanden, denn die mauren hatten algeciras, bevor sie flüchteten, verbrannt.
ich legte den reiseführer beiseite, den ich mir in porto banus gekauft hatte, um mich nicht ohne jedes wissen auf den weg nach marokko zu machen. die spanische küste war inzwischen nur noch ein schmales, weisses band am blauen horizont des mittelmeers, überragt von einem riesigen, ins meer geworfenen felsen: der dschebel al tarik, benannt nach dem persischen feldherrn tarik ibn zeyad, der 711 mit einer armee aus 500 reitern und 10.000 fussoldaten nach spanien übersetzte, um die iberische halbinsel zu erobern.
... als ich die dunkle lehmkasbah von gulmima durchwandert hatte - dunkle augen folgten mir aus noch dunkleren nischen - bedankte ich mich bei meinem kleinen führer, gab ihm einige dirham und fragte nach seinem namen. „ich heisse tarik!“ antwortete er. „das ist ein stolzer name!“ erwiderte ich und dachte an den hohen felsen, der aber - von der „tarifa II.“ aus betrachtet - immer unscheinbarer wurde, bis er schliesslich ganz verschwand. während die küste spaniens hinter den horizont sank, stieg aus dunst und nebel eine andere kulisse von bergen auf, von denen ich wusste, dass sie zu marokko gehörten.
tarik liess die geldstücke in seine hosentasche gleiten und lächelte schüchtern. er wusste nichts von dem persischen feldherrn tarik - und vielleicht was das auch gut so. wir sollten uns das herz nicht schwer machen und über etwas nachdenken, das unwiderruflich vorbei und in die nacht von geschichte und ihren geschichten gesunken ist.
als die berge vor mir immer klarer und deutlicher umriss und farbe annahmen und ich mit einiger verblüffung feststellte, dass sie sich in nichts von denen unterschieden, wie sie auch in spanien in dem himmel wachsen, dachte ich:
wer eigentlich war tarik?
und erschrak.
nun, gut! ein feldherr, der mit seinem muslimischen heer 711 über das meer kam, um spanien in besitz zu nehmen. aber dieser tarik konnte mich doch nicht erschrecken! sein schwert war viel zu stumpf geworden, um mich zu bedrohen, und seine stimme viel zu schwach, um mich zu ängstigen.
es musste also noch einen anderen tarik geben. einen, der mich - halb wach und halb im traum - durch eine niedrige tür in eine dämmerig-kühle kasbah geführt hatte, die für alle, die sich dort nicht auskennen, ein dunkles labyrinth ist.
ich ahnte - und heftete meine augen auf die aus dem meer wachsenden afrikanischen berge - dass ich selbst dieser tarik war: ein kleiner, einsamer junge, der nichts weiter besass als eine sehnsucht aus lauter fest geschnürten knoten um sein herz und einen rotlackierten tretroller. dieser tarik war so mutig in seinen träumen wie der persische feldherr - und so verzagt, wie der kleine junge in gulmima, der die augen nieder schlug, als sein vater stolz bemerkte. „das ist mein jüngster sohn!“
wenn ich mit dem rotlackierten tretroller von meinem elternhaus aufbrach, warteten keine wüsten und oasen, keine tiger, lehmburgen und weissbehelmten forscher oder geographen auf mich - nur die hellen, nach blumen duftenden frühlings- und sommertage, durch die ich singend fuhr. aber - jeder weiss es - wir singen nicht immer aus lauter freude, sondern manchmal aus purer angst. je weiter ich mich von meinem elternhaus entfernte, desto fremder wurde mir die welt. mit meiner entdeckerfreude war es bald vorbei. ich wäre gern umgekehrt, aber irgendein wissen sagte mir, dass es nur eine richtung für mich gab - fort aus dem vertrauten, was nichts anderes hiess, als der angst zu begegnen.
im nachbarort stand ein bauernhof in flammen. meine neugier trieb mich, das feuer anzusehen, denn immer ist es so, dass sich kindern das grösste unglück der anderen nicht als mitleid, sondern als sensation in ihre herzen brennt.
ich hörte die feuerwehren erst, als sie dicht hinter mir waren. ihre sirenen heulten in meinen ohren und ich stürzte mich mit meinem tretroller in den strassengraben. dort fand ich mich zwischen lauter brennesseln wieder, während die feuerwehren - es waren drei - auf der landstrasse an mir vorbei brausten. meine beine brannten, denn ich trug - wie alle jungen - kurze hosen. je mehr ich mich aber zwischen den brennesseln bewegte, um aus dem strassengraben heraus zu kommen, desto schlimmer wurde der schmerz. bald waren auch meine arme und sogar mein gesicht feuerrot.
einem kleinen jungen, der sich mit seinem tretroller in den brennesseln verirrt hat, schickt man keine feuerwehr. und doch brannte ich lichterloh und der schmerz war so gross, dass ich beschloss, mich nicht mehr zu rühren. irgendwann, so dachte ich voller mitleid, würden die feuerwehren umkehren und mich finden.
seit diesem tag mied ich die landstrasse und entfernte mich nicht mehr allzu weit von meinem elternhaus - aber doch weit genug, um mir zu jeder zeit der gefahren, die an fremden wegen warten, bewusst zu sein.
einmal waren es drei jungen, die mir den weg verstellten. sie verlangten meinen tretroller und wollten mich schlagen. nur durch zufall (und weil ich kleiner war als sie) entkam ich und konnte mich in den hof einer kohlenhandlung retten. dort war man so freundlich, mich nach hause zu begleiten.
ein anderes mal bog ich mit meinem tretroller in einen dunklen, dicht mit sträuchern überwachsenen weg ab. neugier trieb mich und ein unbekanntes verlangen, während sich meine nackenhaare wie elektrisiert anfühlten.
dieses verlangen war durchaus unschuldiger natur - es hatte etwas mit dem wunsch zu tun, meiner einsamkeit zu entfliehen. mein instinkt trog mich auch nicht, denn ich kam bald auf einen spielplatz, an dessen rand einige schaukeln standen und in der mitte der sandkasten war.
aber ebenso wenig wie es länder gibt, durch die ein geograph reist, ohne auf menschen zu treffen, gibt es spielplätze ohne kinder. ich hatte gar keine zeit, die forscher-utensilien bereit zu legen - also ein notizbuch und die stifte heraus zu nehmen, die stative mit den vermessungsgeräten aufzustellen, um eine möglichst genaue berechnung des terrains vorzunehmen, das tonband einzuschalten, um die fremden, aber doch wohl menschlichen laute festzuhalten. ein forscher braucht dieses gewisse mass an zeit, um zwischen sich und dem objekt seiner beobachtung eine wand der wissenschaftlichen neugier zu errichten. wenn aber der tiger zu früh angreift oder die pfeile der eingeborenen zu hastig abgeschossen werden, hat er verloren. dann helfen auch die bunten glasperlen nicht mehr, die er, tief in den taschen vergraben, bei sich trägt.
eine horde von schreienden jungen stürzte auf mich zu. der erste, der mich erreichte, stiess mich von meinem roller, der zweite trat mir ans schienbein, der dritte rammte mir sein knie in den magen, der vierte spuckte mir ins gesicht, der fünfte zerriss meine jacke. ein kleines mädchen aber sass auf der schaukel, streckte ihre nackten beine in den wind und lachte.
ich erwarte - wenn ich dies erzähle - kein mitleid. die heftigen magenschmerzen und die brennenden beine zuvor haben mich nicht zu einem gemacht, der die menschen meidet. wenn aber damals mein vater seine hand auf meine schulter legte und sagte: „das ist mein jüngster sohn!“ sehnte ich mich an die seite des kleinen mädchens auf der schaukel, wo alles ganz einfach war: man musste nur die beine ausstrecken, um lachend und leicht wie der wind durch den frühling zu fliegen.
die „tarifa II.“ fuhr in den hafen von ceuta und die schweren ankerketten rasselten aus den luken. die schiffsschrauben wirbelten das wasser weissschäumend auf, schwere seile wurden wie lassos ans ufer geworfen und männer, die unten am pier warteten, zogen das schwere schiff vorsichtig an land.
ich kniff die augen zusammen, denn die sonne blendete mich. ich sah hinter dem hohen gitter, das den hafen begrenzt, einen kleinen jungen stehen. er lehnte an seinem fahrrad und winkte uns zu.
„tut es sehr weh?“ fragte ich leise und winkte zurück, in der hoffnung, dass er meinen gruss bemerken würde. jetzt erst wusste ich, dass tarik, der doch eigentlich nach spanien wollte, in afrika angekommen war.
verzweifelte blicke ins paradies
ich hatte die kontinente gewechselt, nicht aber die landschaften. hier, im äusserten norden afrikas, erinnerte mich alles an adalusien. die berge, die sich bis an die küste vorschieben, sind denen spaniens zum verwechseln ähnlich. wie sollte es auch anders sein? irgendwann brachen die kontinente - die so lange eins gewesen waren - auseinander und entfernten sich jedes jahr einige millimeter mehr voneinander. was aber ist ein jahr angesichts der zeit, für die uns jedes verständnis fehlt?
in die bruchstelle der kontinente stürzte das wasser des atlantiks. die strasse von gibraltar, die auf diese weise entstand und von mir gerade überquert worden war, ist eine gefährliche meerenge geblieben, weil entweder der atlantik seine wassermassen in das mittelmeer drückt, oder - wenn sein pegel sinkt - das wasser des mittelmeers mit grosser geschwindigkeit in umgekehrter richtung durch die meerenge in richtung atlantik drängt.
aber nicht nur die kontinente entfernten sich immer weiter voneinander, sondern auch die herzen der menschen, die diesseits und jenseits der meerenge lebten. nur einmal - aber das war nur ein kurzer augenaufschlag in der zeit - schien es, als gäbe es eine unsichtbare brücke, die beide kontinente unter der obhut einer kultur, die aus poesie und krieg geboren wurde, vereinen könnte.
nicht nur kontinente - auch das herz des menschen erträgt keinen stillstand. das alte, in das es hinein geboren wird, bedeutet ihm nichts. es sinnt nach veränderung und ruht nicht eher, bis das neue gestalt angenommen hat. ob das neue so viel besser als das alte ist, sei dahin gestellt. darum geht es dem unruhigen herz auch nicht. es scheint, als wäre es allein die bewegung, die es braucht, um weiter zu schlagen. da aber jedes herz begrenzt ist und nur über die bemessene zeit eines menschenlebens verfügt, wird es immer dann ungeduldig, wenn es fürchten muss, das neue in dieser - bestürzend kurzen - zeitenspanne nicht mehr zu erreichen. wenn aber die angst zu gross wird, das nicht mehr zu erleben, wofür ein herz mit leidenschaft schlägt, bleibt nur noch das äusserste und lebensgefährliche risiko - der krieg, diese blutige beschleunigung der zeit, bei dem sich das neue mit dem alten einen erbitterten kampf liefert.
es gibt in diesem streit keinen sieger, auch wenn das alte vielleicht vergeht und das neue triumphiert. wer auch gewinnt, sieht sich schon bald widersachern gegenüber, denen er - wir wissen es ohne jeden trost - nach einer kurzen zeitenspanne weichen muss.
grenzen zwischen ländern und völkern sind nicht für die ewigkeit errichtet, auch wenn sie - in einem winzigen ausschnitt der zeit - altes und vertrautes von allem neuen, das angst macht, trennen sollen. sogar wenn sie mannshoch, mit stacheldraht bewehrt und mit kameras bestückt sind, reisst sie doch der nächste sekundenschlag einfach nieder.
so einen grenzwall haben die spanier auf afrikanischem boden um ihre stadt ceuta gezogen. es ist, als hätten sie erst einen rostigen nagel in das fleisch afrikas getrieben, um dann der wunde zu befehlen, nicht weiter zu eitern. dabei sollten sie doch wissen, dass sie erst den nagel entfernen müssten, damit die wunde sich erholen und vernarben kann. ganz heil - das wusste ich, als ich diesen grenzwall sah - würde hier überhaupt nichts mehr werden - wenigstens nicht in der zeit, die uns allen, die wir ohne erbarmen am rande des unglücks stehen, bleibt.
im hafen von ceuta wartete ein bus auf mich. schon in porto banus hatte ich den tagesausflug nach marokko gebucht, denn auf eigene faust das land zu entdecken, schien mir gerade so, wie mit einem rotlackierten tretroller in dunkle wege abzubiegen. in langsamer fahrt passierten wir die von soldaten bewachte grenze, die spanien von marokko trennt. der bus war klimatisiert und die vorhänge vor den fenstern zur hälfte herunter gezogen, um die sonne abzuwehren. ich lehnte mich in die weichen polster zurück und erwartete ...
... ja, was? vielleicht ein theaterstück, das „marokko“ heisst, einen bunten jahrmarkt, über den in grossen buchstaben „maghreb“ steht, einen zoologischen garten, der sich „nordafrika“ nennt, ein variete, das „1000 und eine nacht“ verspricht.
die luft war staubig und auf der strasse, die unser bus gleich hinter dem grenzzaun nahm, schmolz der asphalt in der mittagssonne. ich sah menschen, die regungslos an der strasse standen - es waren sogar unübersehbar viele menschen. der bus fuhr im schrittempo, denn immer wieder lösten sich gestalten aus den gruppen der wartenden, liefen ziellos über die strasse und kümmerten sich überhaupt nicht um den verkehr. sie alle hielten entweder vollgestopfte taschen in den händen, oder hatten sich ein schweres bündel auf den rücken geschnallt. es gab auch welche, die schiefe, hochbeladene handwagen hinter sich her zogen oder mit rostigen fahrrädern unterwegs waren, aus deren satteltaschen zeitungspapier und lumpen quollen. ihre dunkel-ernsten gesichter, die kleider, die zerissen um ihre körper hingen, die verbogenen plastiksandalen, mit denen sie durch den staub schlurften, der dunst, der über ihren köpfen stand - das alles schien (aus dem bus betrachtet) ein ganz und gar unwirkliches elend zu sein.
„ganz phantastisch!“
erst einige kilometer weiter lösten sich die menschengruppen auf, die wegen eines tagesvisums vor der grenze nach spanien ausharrten. ich ahnte, dass sie dort viele tage warten mussten, bis irgendein zöllner so grossherzig war, sie passieren zu lassen, oder so hartherzig, sie zur umkehr zu zwingen.
sie wollten fliehen und mussten doch warten, denn die not und der hunger gaben sie so leicht nicht frei. sie suchten einen weg wie tarik und vielleicht hatten sie ähnliche beweggründe wie er. wer weiss das schon? doch tarik zog weiter - über das meer nach spanien. bis dahin konnten sie ihm nur mit ihren herzen folgen, während sie selbst schon nach tagesfrist zurück nach marokko geschickt wurden. es kann aber sein, dass boabdil, der den selben weg wie sie nehmen musste, bei ihrem anblick zum ersten mal den schmerz und die traurigkeit über das verlorene paradies hinter dem meer spürte.
ich war verwirrt - vielleicht war es aber nur die müdigkeit nach der langen schiffsreise. wenigstens wirbelten die bilder, die in mir aufstiegen, durcheinander, bis staubwolken sie erfassten und unter einer dicken schicht vergruben. es waren bilder einer glücklichen zeit, von der wir aber doch wissen, dass sie nur in unserer erinnerung hell, leuchtend und ohne widerspruch ist.
dieser staub, ich ahnte es, war dabei, alle meine lügen zuzudecken. es hätte aber eines feuers bedurft, die lügen zu vernichten.
unruhe stieg in mir auf. ich hatte schwierigkeiten, mich zu entsinnen, was ich verlassen und welchen weg ich genommen hatte. war ich tarik oder boabdil? mit trat der schweiss auf die stirn und irgend jemand rief: „das war tarik, mein sohn. sie sagen, dass er an den felsen zerschellte, bevor er das paradies erreichte!“ die klimaanlage im bus blies mir eisige luft ins gesicht, ich fror, aber auf der schaukel, an der seite des lachenden boabdils, ging es immer höher und höher hinauf. wie oft habe ich als kind angst gehabt, dass sich die schaukel, auf der ich sitze, überschlagen und mit mir in den himmel - oder ins nichts stürzen könnte.
„ich glaube, ich werde alle bücher, die ich über marokko gelesen habe, vergessen müssen. das ist ja phantastisch!“ die frau neben mir im bus beugte sich weit vor und sah an mir vorbei zum fenster hinaus. sie wiederholte schon seit ceuta ohne unterlass diese zwei worte: „ganz phantastisch!“
der bus nahm den weg nach tetouan und fuhr durch gelb leuchtende weizenfelder, in denen die silbrig-grünen olivenbäume wie hingetupft standen. am wegesrand blühten die roten mohnblumen und über allem stand ein blauer, hoher himmel, in dem sich weisse wolken bauschten.
ich lehnte mich in die polster, die unruhe wich, mich erfasste stattdessen eine grosse müdigkeit und ich schloss die augen.
wer ins land arkadien kommt, sollte - ich weiss es - nicht zurück blicken.
ein könig kommt nach errachidia
ich fiel in einen zustand, der halb wachen und halb traum war. es zogen ohne unterlass gedanken durch mein herz.
dem alten, so dachte ich im bus von ceuta nach tetouan, bleibt gar keine andere wahl, als sich dem neuen geschlagen zu geben. vielleicht ist aber alles viel einfacher und das alte ergibt sich sogar freudig, wenn nur die aufbewahrten und sorgsam behüteten gedanken - freilich in verwandelter form - weiter getragen werden. machen wir uns doch nichts vor: veränderungen finden höchstens im quadrat der gitterstäbe statt, hinter denen ein tiger unruhig seine spur sucht - und wir mit ihm.
meine mutter gab mir einzige ohrfeige, von der ich noch heute weiss, dass sie richtig war. es gab aber auch schläge von meinem vater, an die ich mich nur mit schmerzen erinnere. ein vater aber, der seinen sohn liebt, legt ihm den arm um die schulter und sagt: „das ist tarik, mein sohn!“ ich frage gar nicht danach, wer dabei den grösseren stolz empfindet, wen dieser stolz verlegener macht und wer am ende daran verzweifelt. immer möchten wir, dass uns der anvertraute mensch grösser und besser macht - anstatt zu erkennen, dass hinter selbst gezogenen gittern nicht viel mehr gedeihen kann als ein ganz und gar unvollkommenes glück.
aber warum sollten wir uns darin - wenigstens so gut es geht - nicht einrichten können? wir kennen doch die geschichten, die von der sehnsucht, dem verhandelten glück und dem scheitern erzählen. warum nehmen wir immer wieder anlauf, um als erste (und wohl einzige) ein arkadien zu erreichen, das seine kulissen doch nur in der vorhölle des paradieses aufgestellt hat?
am ende wusste ich gar nicht mehr, warum ich darüber nachdachte, denn das land, in das ich gekommen war und durch das ich fuhr, hatte gar keine zeit, von einem paradies zu träumen. es war viel zu sehr damit beschäftigt, der not ein gesicht zu geben.
manchmal verzweifeln eltern an ihren kindern. ihre ohrfeigen und schläge sind in diesem fall nichts weiter als die resignierte und letzte kapitulation auf halbem weg ins glück. sie zwingen ihre kinder aus lauter furcht hinter das gitter, denn jenseits des gitters beginnt die angst - vielleicht aber auch das glück. wer weiss das schon!
nicht nur eltern verzweifeln an ihren kindern, sondern auch könige. sie versprechen jedem untertan ein paradies. sie tun es rasch und ohne nachzudenken. wir sollen ihnen glauben - wie es kinder tun, die alle worte von den lippen ihrer eltern ablesen und sie ernst bedenken, weil sie hoffen, dass hinter den worten die auflösung eines grossen rätsels wartet.
so viele worte, so viele rätsel, so viele könige ...
marokko ist ein königreich. wenn es eine erinnerung gäbe, die von zukünftigem erzählt, müsste ich berichten, wie der marokkanische könig nach errachidia kam - eine stadt, die am rand der sahara liegt.
die menschen standen dicht gedrängt an der strasse. sie säuberten mit palmwedeln die wege vom staub, der anschliessend wie dunkle wolken über ihre köpfe wehte. die menge war von einer grossen unruhe erfasst, die sich in spitzen schreien und dumpfen wellen von applaus entlud. polizisten liefen auf und ab und drängten die menschen mit dem stakkato schriller, warnender befehle aus ihren trillerpfeifen auf die gehwege zurück. immer, wenn sich auf der strasse ein fahrzeug aus richtung gulmima näherte, geriet die menge in noch grössere unruhe, drängte vorwärts, wurde zu einer einzigen schäumenden welle, die sich auftürmt und ungeduldig das signal erwartet, sich im taumel der erlösung zu überschlagen und zusammenzubrechen. keine sperre konnte die menschen zurück halten. an diesem vormittag in errachidia ertrug ihre leidenschaft keine grenzen mehr. sie hatten die absperrungen, die sie von der strasse fern halten sollten, einfach nieder getrampelt. die gitter lagen umgestürzt unter ihren füssen.
eine autokolonne kam heran - in ihrer mitte ein offenes, weisses fahrzeug, in dem der könig stand. sogleich verwandelten sich die wartenden menschen in einen einzigen, fürchterlichen schrei. sie stürzten auf die fahrbahn und warfen sich vor die langsam fahrenden autos. einige krochen insektengleich durch den staub, andere klammerten sich an den stosstangen fest. das auto des königs kam keinen zentimeter mehr voran. frauen warfen ihre babies auf die kühlerhaube, kinder versuchten, aufs heck zu klettern. soldaten eilten herbei und schlugen mit ihren schlagstöcken in die menge. die schmerzen kamen dort jedoch nicht an, denn das glück - oder vielmehr: die endgültige zusammenballung aller lügen - hatte längst alle betäubt und unempfindlich für jeden schmerz gemacht.
eine gruppe von alten männern, die in schwarzen anzügen steckten, drängte ebenfalls zum auto des königs. sie waren umringt von polizisten, die ihnen einen weg durch die menschenmenge bahnen wollten. aber immer wieder blieben sie in einem knäuel schreiender leiber stecken und den polizisten blieb nichts weiter zu tun, als mit ihren stöcken wütend um sich zu schlagen.
die menge wich keinen schritt, sondern bedrängte die autokolonne immer heftiger und bildete schliesslich einen engen kreis um die fahrzeuge. zwei männer, die sich schützend zu beiden seiten des königs postiert hatten, winkten die schwarzgekleideten alten mit energischen handbewegungen zu sich heran. die soldaten, die nicht wussten, wie sie die ihnen anvertraute gruppe sicher bis zum könig bringen sollten, griffen nach ihren maschinengewehren. doch keiner beachtete sie - im gegenteil: die soldaten wurden von der vorwärts schiebenden menschenmenge fortgerissen und verloren im gedränge und dem staub, der über allem hing, im nächsten augenblick die schwarzgekleideten männer aus den augen.
aus dem gesicht des königs war das lächeln verschwunden. er beugte sich zu seinen leibwächtern. sie schrien in ihre funkgeräte und wenig später schlug ein alles erstickender lärm in die ohren der rasenden menschenmenge. über ihnen kreiste ein hubschrauber, dessen flügel einen solchen sturm verursachten, dass die kleineren kinder von der hand ihrer mütter gerissen wurden. eine wolke aus staub, dunst und abgasen wirbelte hoch, in der die menschen herum irrten, stolperten und übereinander fielen.
die menge lief entsetzt auseinander und suchte schutz vor dem hubschrauber, der in den sinkflug gegangen war und jetzt dicht über den köpfen der menschen in der luft schaukelte. schüsse aus maschinengewehren, dröhnender lärm der hubschraubermotoren, laute schreie der menschen - das war die begrüssung des marokkanischen königs in errachidia.
soldaten rückten im laufschritt und mit entsicherten maschinengewehren vor, um den leeren platz, der sich plötzlich um das offene auto gebildet hatte, zu besetzen und den könig, der bewegungslos auf dem rücksitz sass, zu beschützen. die menschen drängten zurück auf den gehsteig und die polizisten versuchten, die umgefallenen gitter wieder aufzurichten. der hubschrauber, der über dem könig wie festgebunden in der luft gehangen hatte, hob sich, neigte sich dann in eine weite rechtskurve und verschwand, eine drohend-schwarze dieselwolke hinter sich her ziehend, hinter den flachen häusern.
der könig stand auf, seine leibwächter winkten und aus der menge hinter den gittern löste sich abermals die gruppe schwarz gekleideter männer und lief über den jetzt freien platz zum fahrzeug des königs. die autotüren sprangen auf, einzeln kamen die alten heran, berührten einer nach dem anderen mit dem knie die staubige strasse, richteten sich mühsam wieder auf, küssten die rechte hand des königs, die er ihnen entgegen streckte, und schlugen schliesslich - aber erst, nachdem sie unter vielen verbeugungen zurück getreten waren - den staub von ihren anzughosen.
sie stellten sich mit gesenktem blick, der weniger ihren staubigen schuhen galt, als viel mehr ihre grenzenlose bedeutungslosigkeit zum ausdruck bringen sollte, seitlich zum auto auf. der könig sah über ihre köpfe hinweg, winkte kurz dorthin, wo niemand stand, und im nächsten moment setzte sich sein fahrzeug in bewegung und mit ihm alle anderen der kolonne.
mit den schreien und dem applaus der menschenmenge war es längst vorbei. die autos fuhren im schrittempo an einer kulisse immer noch neugieriger, aber schweigender menschen vorbei. die polizisten, die in dichter kette vor den wieder aufgestellten absperrgittern standen, hatten nichts zu tun. niemand drängte auf die strasse - im gegenteil: die menschen waren erstarrt und verstummt.
als das letzte auto ausser sicht war, kam bewegung in die menge. jeder lief hastig in eine andere richtung davon. es war, als seien sie erleichtert, einem tückischen schicksal entronnen zu sein. bald lag die hauptstrasse von errachidia still, leer - aber immer noch staubig - unter der heissen mittagssonne.
die frau neben mir im bus stiess mir in die seite. „sie müssen aufwachen, wir sind gleich in tetouan!“
ich öffnete die augen und sah mich um. „wo sind wir?“
„gleich in tetouan!“ wiederholte sie. „es ist ganz phantastisch!“
ich hatte also alles nur geträumt und der könig war gar nicht nach errachidia gekommen. oder war er doch dort gewesen und ich hatte an der strasse gestanden und alles mit angesehen? wann aber sollte das gewesen sein? es kann ja sein (ich glaube nicht daran), dass wir die zukunft erinnern können, wenn ihre bilder nur stark und deutlich genug sind - und nicht verdunkelt von ...
... zu vielen worten, zu vielen rätseln, zu vielen königen.
„haben sie kinder?“ fragte ich die frau neben mir im bus. sie nickte. „einen sohn und eine tochter!“
„das ist schön!" erwiderte ich. „versprechen sie ihnen nur niemals das paradies!“
als sie mich fragend ansah und ich bemerkte, dass sie mich nicht verstand, lächelte ich mit aller freundlichkeit, die mir möglich war, und sagte:
„denn das paradies ist wirklich „ganz phantastisch“!“
die handschrift von salim el-kashir
unzählige minarette wuchsen aus dem gewirr flacher, schmutzig weisser häuser und enger gassen. das ist tetouan, die stadt im norden marokkos, die einst die mauren aufgenommen hatte, die vor den spaniern aus andalusien geflüchtet waren. ich sah in das kleine heft, das uns von der reiseleitung in ceuta überreicht worden war. nach einem stadtrundgang, so hiess es dort, seien wir zu gast im restaurant „salama“, das berühmt für tajine und cous-cous sei. danach wäre gelegenheit, auf der dachterrasse des restaurants einen blick über die altstadt von tetouan zu werfen und bei einem glas tee unserem reiseleiter mohammed zuzuhören, wenn er uns etwas über die geschichte marokkos erzählt.
und fes? unzählige minarette wuchsen aus dem gewirr flacher schmutzig weisser häuser und enger gassen, in denen sich der unrat häufte. jeden tag lag über der stadt ein geruch von fäulnis, so wie er auf den souks den körben verdorbener früchte entströmt. boabdil trat an die brüstung der dachterrasse und sah auf die stadt, die sein exil geworden war. sie lag in einer senke und wurde von einer mauer aus lehm begrenzt, die an allen vier seiten kunstvoll verzierte tore besass. fes erschien ihm wie eine insel aus häusern, medresen, moscheen und karawansereien, denn vor ihren wällen streckte sich die ausgetrocknete, leere ebene und stieg bis zu den bergen, die - wie eine zweite, nur viel mächtigere mauer - an klaren tagen als schattenrisse vor einem blauen himmel standen.
es tat seiner dunkel-verlassenen seele gut, dass ihn so wenig an die heimat erinnerte. die alhambra war auf einem felsen gebaut, lag aber inmitten grüner gärten und felder - und nicht wie fes in einem tal, umringt von steinig-trockener steppe. das war aber auch alles, was er noch wusste. seine erinnerungen waren verblasst, obwohl er doch - aber das war ganz am anfang seines exils gewesen - alles getan hatte, um zu verhindern, dass auf die kalligraphie der schönen andalusischen bilder ein farbklecks des marokkanischen vergessens fiel.
immer nachmittags hatte er hamil rufen lassen - einen jungen mann, der sich besonders gut mit dem zeichenstift und den farben auskannte. dann lehnte er sich in die kissen zurück und begann, von der alhambra in granada zu erzählen - von den schattigen räumen, den stillen höfen, den kühlen gärten, den bunten vögeln, den grauen und gelben katzen, die über die zinnen des palastes schlichen. hamil, der ihm zu füssen sass, hörte genau zu und hielt das, was boabdil erzählte, in bildern fest.
beide wussten, dass dies ihre religion verbot.
aber sie liebten die stunden viel zu sehr, wenn sie beisammen sassen, die grosse hitze nachliess, der wind die vorhänge bauschte, kühle in die räume wehte, und nur das flüstern boabdils und das kratzen von hamils feder zu hören war. bevor sie auseinander gingen, beteten sie zusammen und baten allah - mit einem versteckten lächeln auf ihren lippen - um verzeihung für ihre erzählten und gemalten bilder.
boabdil unterbrach seine erinnerungen und nahm einen schluck vom tee, der - zusammen mit einigen früchten - auf einem niedrigen, silbernen tablett vor ihm stand.
„hamil, mein freund! lasse einmal das zeichnen und nimm dir eine orange!“ der junge mann sah von seinen papieren auf und lächelte. „nur noch der vogel mit seinen bunten federn, mein herr!“
„ich erinnere mich.“ boabdil lehnte sich wieder in die kissen zurück. „die vögel waren im hof der löwen zu hause. sie stolzierten dort den ganzen tag um den brunnen und spreizten ihr gefieder in den farben des regenbogens. mein vater hatte sie geschenkt bekommen. er sagte mir einmal, dass sie aus den gärten medinas kommen. ob das wahr ist?“
hamil dachte nach. „das kann schon sein, herr! je trockener das land, um so bunter seine vögel!“
boabdil lächelte, denn hamil sprach wie ein erfahrener, weit gereister mann. „du hast hast recht, mein freund! deswegen vermisse ich die vögel hier in fes. aber es gibt weit und breit keine gärten, in denen sie sich wohlfühlen könnten.“
„aber lieber herr! sie selbst haben den schönsten garten, den je ein mensch gesehen hat. gleich hinter diesen fenstern hier ...!“ hamil zeigte zu den öffnungen in der mauer am ende des saals - mit ihren bögen, getragen von zierlichen, in sich gedrehten säulen, hinter denen das spiel von sonnenlicht und schattengrün begann.
„du hast recht" antwortete boabdil. "es ist ein schöner garten, aber es fehlt ihm etwas. es kommt niemand aus medina, um die bunten vögel zu bringen.“ er öffnete seine rechte hand und besah sie sich. „es kommt überhaupt niemand mehr.“
„dann müssen wir sie eben malen!“ lachte hamil und beugte sich wieder über das papier. „wenn mein herr nur so gütig wäre, mir zu erzählen, wie die paradiesvögel im fernen granada aussahen.“
die zeichnungen, von denen es mit der zeit unzählige gab, zeigten boabdil ein granada, das schöner war, als er es erinnerte. das mochte daran liegen, dass in ihnen die täglichen sorgen ausgespart und der kummer ausradiert war. denn die spanischen könige hatten boabdil - und sie erinnerten ihn mit jedem tag aufs neue daran - nur eine letzte frist gewährt. immer enger zog sich der kreis christlicher heere um granada und der herr der letzten maurischen festung war in wahrheit ein gefangener, dem nichts anderes übrig blieb, als mit den paradiesvögeln in seinen gärten zwiesprache zu halten.
eines tages ging boabdil über den souk von fes und geriet in die gasse der schreiber. sie sassen dort zwischen grossen folianten aus ziegenhaut, auf denen das leben des propheten aufgeschrieben war. boabdil, der sich seit seiner kindheit für kalligraphierte und illuminierte folianten, mehr aber noch für die geschichten interessierte, die auf ihnen geschrieben waren, trat näher. der schreiber, der auf einem niedrigen hocker vor seinem pult sass, schickte einen abschätzenden blick aus kaum geöffneten augen zu boabdil, nickte, als er zu der überzeugung gekommen war, einen wohlhabenden mann vor sich zu haben, winkte mit einer kurzen handbewegung, näher zu kommen und lud boabdil ein, sich alles anzuschauen.
boabdil prüfte einige pergamente, stellte aber bald fest, dass sie von schlechter qualität waren. gerade wollte er weiter gehen, als der schreiber ihn mit den worten: „hier ist etwas ganz besonderes, mein herr!“ zurück hielt. er reichte boabdil eine ziegenhaut, die mit winzigen arabischen schriftzügen bedeckt war - so eng, dass fast kein rand mehr übrig blieb.
„was ist das?“ fragte boabdil. „wagt es jemand, das lange, herrliche leben unseres propheten auf eine einzige kümmerliche ziegenhaut zu schreiben?“
„aber, mein herr, sehen sie doch genau hin. hier spricht nicht der prophet, sondern einer seiner knechte - der uns allen bekannte, überaus kluge und weit berühmte salim el-kashir.“
boabdil hatte diesen namen noch nie gehört. das war ihm peinlich, denn wenn er die worte des schreibers ernst nahm, musste man diesen el-kashir einfach kennen.
„oh, ja - salim el-kashir! ich habe viel gutes von ihm gelesen. seine verse - er schreibt doch verse? - sind die schönsten, die ich kenne, und sein leben ist so mustergültig wie das der fatima!“ boabdil hätte seinem lob gern weitere worte folgen lassen, doch leider fiel ihm nichts weiter ein, um sein unwisssen vor dem schreiber zu verbergen.
„du sagst es, mein herr! kashirs verse sind schön wie der morgen und seine erzählungen spannend wie die nacht. viel grossartiger aber noch ist seine geschichte von boabdil, dem letzten sultan granadas, die du - wenn du nur magst - hier lesen kannst.“ der schreiber tippte mit dem finger auf die ziegenhaut, die er boabdil, so als traute er ihm nicht, längst wieder aus der hand genommen und vor sich aufs pult gelegt hatte.
boabdil erschrak. wer wagte es, seine geschichte aufzuschreiben? niemand hatte ihn um erlaubnis gebeten - wer also war so frech, etwas zu berichten, von dem er nichts wusste?
er griff tief in seine kleider, suchte einige münzen hervor und warf sie dem schreiber mit den worten. „das wird gewiss reichen!“ hin. er griff nach der ziegenhaut.
„40 dinare für ein so wertvolles stück? nein, nein, mein herr! die reichen höchstens für eine sure von allah. geben sie mir 80 und das leben boabdils gehört ihnen!“
boabdil bezahlte den geforderten preis und wusste, dass der schreiber ihn gründlich betrogen hatte. aber, was half es? er wollte das schriftstück unbedingt lesen - vielleicht erinnerte es ihn an die tage in granada, die er schon vergessen hatte. er verbarg die ziegenhaut unter seinen kleidern und eilte nach hause.
hamil stand mit seinem zeichengerät vor der tür und wurde nicht vorgelassen. niemand durfte zu boabdil hinein. in den räumen, die er bewohnte, war über viele tage hin nur das rascheln von pergament zu hören.
immer wieder erhob sich boabdil von seinen kissen, um an den tisch zu treten, auf dem er die ziegenhaut ausgebreitet hatte, die von seinem leben erzählte. er hatte alles schon hundert mal gelesen - aber immer, wenn er sich gerade wieder stöhnend in seine kissen geworfen hatte und sich fest vornahm, die geschichte von boabdil nun endlich ins feuer zu werfen, richtete er sich mühsam wieder auf und lief, wie von fremder hand gezwungen, ein weiteres mal zum tisch.
was er dort las, war eine einzige lüge. aber die ganze welt - er ahnte es - würde sich fortan nur noch das erzählen, was salim el-kashir - der lügner - über ihn aufgeschrieben hatte. das war entsetzlich - aber wohl kaum zu ändern, denn er wusste: man muss die lüge nur so lange wiederholen, bis die wahrheit - die nichts anderes beteuert als die lüge - endlich ausgelöscht ist.
die spanier hatten granada nicht nach blutiger und verlustreicher schlacht eingenommen - vielmehr war es boabdil, der die festung an die spanier verriet. so wenigstens ist es in salim el-kashirs schrift „vom leben eines maurischen königs“, nachzulesen, die heute im nationalmuseum in rabat aufbewahrt wird. boabdil liess den spaniern, so liest man bei kashir, eine geheime mitteilung mit dem lageplan eines tunnels unterhalb der alhambra zukommen, durch den die feinde ungehindert in die festung gelangen konnten. das alles geschah, weil die spanier boabdil zuvor zugesichert hatten, als freier mann und unter mitnahme seines königlichen schatzes die stadt verlassen zu können. so sei es auch geschehen. die spanier hätten, das schreibt el-kashir, mit der eroberung granadas so lange gewartet, bis ihnen boabdil (oder einer aus seinem gefolge), mit einem feuerzeichen zu verstehen gab, dass die festung geräumt und frei zur plünderung war.
boabdil - der letzte sultan in spanien - ein verräter!
aber salim el-kashirs aufzeichnungen enthielten noch weit schlimmeres und boabdil musste sich zwingen, die nächsten sätze zu lesen, die seinen stolz und seine ehre vernichteten.
salim el-kashir berichtet in einem zweiten abschnitt von einer dunkelhäutigen frau namens amina. kaum war ihr mann, der kein anderer als der könig von granada war, in einer schlacht gegen die spanier gefallen, drängte ihr halbwüchsiger sohn muhammad auf den thron und vergass über die freude, endlich herrscher in granada zu sein, sogleich die trauer über seinen vater. er verwies noch am selben tag seine mutter aus den königlichen gemächern und verbot ihrem gefolge, weiter in ihrer nähe zu sein. boabdil - denn so wurde muhammad gerufen - tat alles, um das andenken seines vaters und seiner mutter auszulöschen. salim el-kashir schreibt, man habe boabdil voller mitgefühl nach seinen eltern gefragt und nur die antwort erhalten, dass seine mutter an der seite ihres mannes in der schlacht gefallen sei - und es im übrigen die trauer verbiete, im palast von granada von den beiden und der schrecklichen vergangenheit zu sprechen.
erst an dem tag, als die spanier der königlichen familie freies geleit versprachen und boabdil granada verliess, rief der sultan seine mutter wieder an seine seite. sie ritten, so schreibt salim el-kashir im dritten und vorletzten abschnitt seines berichts, schweigend nebeneinander her und erreichten auf ihrem weg zur küste, wo zwei schiffe - eines für sie, das andere für den königlichen schatz - auf sie warteten, gegen abend die granada gegenüber liegenden berge. als sie an der höchsten stelle angekommen waren - dort, wo der weg eine kehre macht und einen letzten blick auf granada erlaubt - sei boabdil vom pferd gestiegen, habe stumm in seine heimat zurück geblickt und schliesslich - war es geheuchelt, war es schmerz? - zu weinen begonnen. seine mutter sei hinter ihn getreten, habe mit kaltem blick auf granada geschaut und auf eine weise, dass es alle hören konnten, gerufen:
„ein könig weint nicht um sein königreich, er kämpft dafür. wenn er es aber verloren hat, wäre er ein weib, darüber zu jammern!“
... ein weib, darüber zu jammern!“ boabdil beugte sich über die ziegenhaut und las den satz wieder und wieder. ihm fielen tränen aus den augen, die sich mit der winzigen arabischen schrift vermischten und das verwischten, was einst sein leben war ...
„es ist nicht wahr“, flüsterte boabdil, „doch alle welt wird glauben, dass es so geschehen ist.“
von diesem tag an erzählte er hamil nichts mehr von granada. mehr noch: er verbot ihm, fortan seine räume zu betreten. die zahllosen folianten, auf denen paradiesvögel in allen farben des regenbogens stolzierten, verbrannte boabdil. seinen garten, der ihn mit seinen seltenen blumen an granada erinnert hatte, betrat er nicht mehr. bald wuchs das unkraut mannshoch und erstickte am ende auch noch die letzte, kümmerliche rosa farbene fuchsie, die sich tapfer einen weg ins licht gesucht hatte.
boabdil verliess die brüstung der dachterrasse, von der er über die stadt fes - sein exil - geblickt hatte. wen interessierte es, dass salim el-kashir ein lügner war? wenn sonst keiner über boabdil erzählt, wird es sein bericht sein, den historiker in fernen zeiten zur hand nehmen, um mehr über sultan muhammad XII., den sie boabdil riefen, zu erfahren. es kann sogar sein - boabdil lächelte ohne freude - dass diese handschrift eines tages zu den wichtigen zeugnissen der maurischen herrschaft in spanien gehören wird, verspottet von den einen, die voller trauer über das sind, was verloren ging und voller zorn zitiert von den anderen, die den verachten, dem ein königreich aus den fingern glitt.
boabdil war zu alt geworden, um noch irgend etwas zu wünschen. ein lügner, dessen namen er vergessen wollte, wies ihm den platz im weltenlauf zu. nun gut! er träumte und erinnerte nichts mehr. das aber, so schien es ihm, war das beste, was einem menschen widerfahren konnte. er war nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich. er fand keinen frieden, wusste aber auch um keinen krieg. er war einfach nur alt geworden und lebte in fes. die sonne stand heiss am himmel, es war mittag und fäulnis stieg von der strasse herauf. mehr gab es nicht, das musste genügen.
„ich habe granada nicht verraten“, flüsterte er, als er sich umdrehte, um ins haus zu gehen. als er über die schwelle ins dunkle innere trat, dachte er noch: „es war mir aber, allah sei dank, erlaubt, das paradies eine kurze weile in meinen händen zu halten. das ist genug!“ dann stürzte er.
wer ihn tot im eingang zum haus fand, wissen wir nicht. salim el-kahirs bericht, der nur in einer einzigen handschrift erhalten blieb (sie liegt heute, wie schon erwähnt, im nationalmuseum in rabat), ist an vielen stellen verwischt und unleserlich, so als sei sie irgendwann einmal mit feuchtigkeit in berührung gekommen. wenigstens ist der letzte teil, der über die umstände des tods von boabdils berichtet, nicht mehr zu entziffern.
wir sassen auf der dachterrasse des restaurants „salama“ in tetouan und tranken tee. bevor unser reiseführer mohammed seinen vortrag zur marokkanischen geschichte beendete, zeigte er uns von dort oben noch die grösste moschee von tetouan und das jüdische viertel. dann sah er in die runde: „hat ihnen der tee geschmeckt? möchten sie noch mehr über tetouan und marokko wissen?“ wir schüttelten den kopf. erst der rundgang durch die stadt und danach tajine und cous-cous hatten uns müde gemacht.
eine einzige frage hatte ich aber doch noch.
„kennen sie salim el-kashir?“
mohammed sah mich verständnislos an.
„er soll ein bedeutender historiker gewesen sein. seine schriften verwahrt das museum in rabat!“
mohammed dachte nach. „salim el-kashir? warten sie ... hat er nicht über muhammad XII., den letzten sultan von granada, geschrieben?“
„richtig! über den armen boabdil, der nach fes ins exil gehen musste!“
mohammed lächelte. „meine damen und herren, der bus wartet. bitte kommen sie!“ als ich an ihm vorbei zur treppe ging, beugte er sich zu mir:
„glauben sie diesem salim el-kashir kein wort. er ist ein lügner. aber seine geschichten sind trotzdem ... nun, wie soll ich sagen: ... so viel phantasie!“
von tetouans himmlischen türen
warum erzähle ich von boabdil, seinem exil und tod in fes, wo ich doch nur nach tetouan gekommen war - die erste grössere stadt im hinterland der marokkanischen küste? ich wusste nicht, woher die bilder kamen, die sich in meine erinnerungen schoben und mich davon ablenkten, das zu sehen, was wirklich war. andererseits waren die bilder nicht unwirklicher als das, was um mich herum geschah. es war eher so, dass alle bilder hinter meinen augen in eine ätzende lauge fielen und eine tiefenschärfe erhielten, die meine augen verletzten.
ich war zum ersten mal in marokko. deswegen meinte ich, dass mich die vergangenheit und die zukunft - also die verschwundene geschichte und die geschichten, die daraus wachsen - nicht wirklich betrafen. ich war nur der fotograf, der bilder im laugenbad entwickelt - vielleicht geschult darin, tiefer in die bilder hineinzuschauen und sie von der firniss zu befreien, die bei alten bildern - wir wissen es doch - rissig und trüb vom staub ist.
mit den bildern ist es nicht anders wie mit der geschichte und unserem leben. alles wird so oft retuschiert, verwandelt, umgeschrieben, bis endlich eine kontur und ein sinn zu erkennen sind. diese taschenspielertricks kommen immer dann zum einsatz, wenn wir (oder die geschichte) an einem punkt angekommen sind, wo wir nicht weiter wissen. plötzlich soll alles geschehene schon immer einen sinn gehabt haben, dem wir auch weiterhin vertrauen wollen, um nicht den verstand zu verlieren.
alles vergangene soll sich der gegenwart in einer weise unterordnen, dass es uns schliesslich vorkommt, als sei auch das schlimmste und widersprüchlichste, das wir in unserem leben durchlitten haben, nur geschehen, um uns einen hinweis zu geben, welchen weg wir zukünftig einschlagen sollen. ganz und gar absurd wird es immer dann, wenn wir diesen weg - der in wahrheit zu jeder zeit ein verschlungener, verknoteter umweg ist - zum königsweg in unsere gegenwart erklären. nichts anderes bedeutet es, wenn ein mensch versichert, er habe in seinem leben alles richtig entschieden und würde es - vor die wahl gestellt - noch einmal genau so machen.
hoffen wir zu seinen gunsten, dass er ein vergesslicher mensch ist.
dieses vergessen ist - wir sahen es bei boabdil - durchaus eine gnade, weshalb wir uns auch nicht wundern sollten, wenn ein alter mensch in seinen erinnerungen zwar an seine früheste kindheit anknüpft - über die lange zeit dazwischen, die ihn schliesslich an das ende seines lebens führte - aber nichts mehr weiss. in wahrheit narrt er uns. er will sich ganz einfach nicht mehr an die grotesken, unsinnigen, erzwungenen umwege erinnern, die er nahm, obwohl sein kindliches herz ihm doch - daran erinnert er sich nur allzu gut - immer nur den einen, den königsweg durchs leben wies.
ach, was! es ist die vergesslichkei, die uns vorgaukelt, dass es von anfang an nur diesen einen weg gegeben hat, den der eine mit einem rot lackierten tretroller und der andere in erwartung königlicher pracht einschlägt. bunte paradiesvögel aber sind wie eichelhäher: von der zwille getroffen, fallen sie tot aus den zweigen der bäume. so ein eichelhäher sass ausgestopft über dem bett meines bruders. ich habe den vogel viele stunden beobachtet und darauf gewartet, dass er seinen kopf neigt oder seine flügel bewegt. er tat es nicht - und war deswegen genauso wie der paradiesvogel, den hamil nach den erinnerungen boabdils zeichnete. an den königswegen unseres lebens - es kann schon sein - liegen viele tote vögel.
die häuser in marokko gewähren keinen einblick und lassen jede neugier ungestillt - eine mauer und eine tür, das ist alles.
mohammed, unser reiseführer in tetouan, verriet uns beim rundgang durch die stadt, woran wir in den gassen ein grosses und ein kleines haus erkennen können - denn die schmutzig-fleckigen mauern verraten nicht, was dahinter ist. es sind, so erklärte mohammed, die türen, die uns den fingerzeig geben: grosse, reich verzierte führen in mehrstöckige, vielräumige häuser, mit kühlen innenhöfen, die vom erdgeschoss bis zum dach reichen.
immer aber befinden sich neben der grossen tür auch viele kleine. sie führen nicht in herrschaftliche häuser, sondern in dunkle, feuchte behausungen, wo sich die armut eingenistet hat. dort leben - oft in nur einem einzigen, winzigen raum - grosseltern, eltern und kinder beisammen. der gestank des unrats, der bei tag - und der heisere husten, der bei nacht aus den behausungen dringt, sind trostlose hinweise, dass alle dort dem tode näher als dem leben sind.
weil manchmal die not grösser ist, als der mensch, der sie ertragen muss, haben sich im schatten der auffälligen türen diejenigen angesiedelt, die zu müde - oder zu stolz - sind, die müllhalden der stadt nach essbarem zu durchwühlen. sie wissen, dass der prophet von der pflicht spricht, almosen zu geben - und den bedürftigen das recht gibt, diese almosen zu nehmen. deswegen gehört die geöffnete hand, die mir in tetouan von einem zahnlosen alten in einer fleckigen djellabah entgegen gestreckt wurde, auch nicht einem bettler, sondern einem in wahrheit stolzen mann, der fünfmal täglich sein gebet nach mekka spricht - nicht ohne allah zu danken, dass er auch an diesem tag für ihn sorgt.
die reichen menschen hinter ihren verzierten türen wissen, dass allah ihnen die - viel grössere, viel prächtigere, viel buntere - tür zum paradies nur öffnet, wenn sie ihre pflicht tun. und das heisst: mit den armen hinter den niedrigen türen das brot zu teilen. deshalb achten die kleinen türen darauf, immer in reichweite der grösseren zu sein - und die grösseren, in reichweite der grössten, der himmlischsten tür zu bleiben. allein sie gewährt ihnen, was für einen bettler ihr almosen ist.
so gibt es in tetouan - und in allen anderen städten marokkos auch - in wahrheit nur eine tür, in deren schatten sich, kleiner und kleiner werdend, tausende von türen finden.
ich sah die armut in den strassen tetouans und dachte darüber nach, ob ein mensch, der abends kein dach findet, unter das er sich zur ruhe legen kann, ähnlich denkt wie ich: dass ihn nämlich das schicksal schlimm bestraft und ihm ein leben beschert hat, das es nicht wert ist, durchlitten zu werden. oder täuschte ich mich womöglich, weil ich nicht verstand, dass menschen, die morgens beim aufwachen nicht wissen, wie sie satt werden sollen, ihr leben einfach einem anderen anvertrauen, von dem sie fest annehmen, dass er ihnen helfen wird.
und wenn nicht?
es gibt immer schlimmeres. fehlt dem einen ein bein, beklagt ein anderer den verlust von zweien. ist ein mensch stumm, kann er froh sein, nicht wie sein nachbar taub zu sein. hungrig? warum darüber klagen, wenn sich ein anderer gerade an schimmeligem brot den magen verdirbt? alle probleme schnurren aus diese weise zu einer nicht erwähnenswerten unpässlichkeit irdischen lebens zusammen.
es kann schon sein, dass uns auf unserem königsweg durchs leben die dunkelheit überrascht. dann wäre es aber allemal besser, still abzuwarten, bis die morgendämmerung kommt, anstatt furchtsam die wölfe zu erwarten - die wir noch nie zu gesicht bekommen haben.
hier liegt ein so grosser unterschied von orient und okzident, dass ich nicht umhin kann, darauf hinzuweisen - wobei ich weiss, dass ich mir damit kaum freunde machen werde. aber - hatte boabdil freunde? höchstens ihm ergebene diener, die ihm so lange den dienst versahen, wie er sie bezahlte. hatte tarik freunde? höchstens ihm ergebene krieger, die den sold aus seiner hand empfingen, ansonsten in die eigene tasche plünderten.
ich behaupte - und bin auf jeden widerspruch gefasst - dass die menschen des orients keine umwege kennen - diese grotesken, unsinnigen, erzwungenen oder freiwilligen umwege, die es so schwer machen, unser leben als geglückt zu begreifen. die menschen des orients kennen nur den einen - den königsweg ihres lebens, dem sie beharrlich folgen und an seinen abzweigen achtlos vorbei gehen. sie würden niemals - von neugier getrieben - einem von hecken überwachsenen, dunklen weg folgen, von dem sie nicht wissen, wohin er führt.
sie müssen sich auch nicht am ende ihrer tage das leben zurecht biegen und ihre vergangenheit einmal in dieses und einmal in jenes licht rücken. sie brauchen auch keine rechtfertigung für irgendwelche umwege und sackgassen - die kennen sie nicht. sie taten nie etwas anderes, als geradeaus zu gehen.
nun wird keiner, der auch nur halbwegs weiss, was es heisst, ein leben treu zu sich selbst zu führen, behaupten, dass auf die menschen des orients keine rat- und mutlosigkeiten, keine fallgruben, sackgassen und anfechtungen warten. im gegenteil: sie begegnen ihnen jeden tag und ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass sie den grössten teil ihrer kräfte darauf verwenden, das tägliche unheil abzuwehren.
ich habe von unseren taschenspielertricks und den mutwilligen vergesslichkeiten gesprochen, die helfen sollen, anderen unser leben - ohne jeden umweg - als „geglückt“ darzustellen.
die menschen des orients mögen geschickt darin sein, erfundene geschichten als wahrheiten auszugeben, oder geschichten, die sich allzu harmlos anhören, mit ganz unglaublichen - weil erdichteten - details auszuschmücken. aber in widersprüche werden sie sich nicht verwickeln. ihre geschichten sind vielleicht manchmal übertrieben und haben so, wie sie uns erzählt werden, nie stattgefunden - immer aber bleiben sie arabeske und ornament. sie sind, mit anderen worten, der schmückende teppich auf ihrem lebensweg, den sie auslegen, um nicht zu hart zu fallen, wenn sie einmal stürzen.
den religionsunterricht erhielt ich von einem pastor, der an unserer schule die fächer ethik und religion lehrte. ich glaube fast, man hatte ihn vom kirchendienst suspendiert, weil er sich allzu sehr mit den nationalsozialisten eingelassen hatte. es soll ja christen geben, die der frommen überzeugung sind, dass der fanatismus die weltliche ergänzung ihres glaubens ist. für sie ist es beruhigend, am karfreitag unter dem kreuz zu stehen und zu wissen, dass die vermeintlichen mörder nicht ungeschoren davon gekommen sind.
dieser pastor war ein umgänglicher mann. es musste aber irgendetwas schlimmes in ihm schlummern, denn der satz, den er zu jeder gelegenheit zitierte, lautete:
„der mensch ist dem menschen ein wolf!“
weil ich genau diesen satz hier her stellen wollte, musste ich meinen religionslehrer erwähnen. einen anderen grund dafür gibt es nicht, denn marokko war für ihn nichts weiter als eine oase mit palmen inmitten der wüste. im unterricht wurde dieses schöne bild noch um einen sprudelnden bach ergänzt, an dem eva sass, nach einem apfel griff und ihn adam reichte ....
es kann schon sein, dass auf unserem königsweg durchs leben des nachts die wölfe lauern. darum sollten wir uns - ohne weiter nachzudenken - seitlich in die büsche schlagen oder einen anderen weg suchen, der uns aus der gefahr führt.
ach, was - nichts davon stimmt! wir haben - geben wir es doch zu - einzig und allein blöde angst. das ist die ganze wahrheit.
wir vertrauen nicht den sternen der nächte. das wäre auch nicht weiter schlimm, wenn wir wenigstens wüssten, dass der weg - trotz (meinetwegen) vieler irrtümer - der richtige ist. wir treffen aber einen, der sagt: vollkommen falsch! einen zweiten, der sagt: fast richtig! und einen dritten, der sagt: nicht mit mir - lebe wohl! am schluss sitzen wir ratlos am weg und wissen nicht vor und nicht zrück.
im orient gibt es keine dämmerung. kaum ist die sonne hinter den horizont gesunken, kommt die nacht.
es ist so dunkel - wo ist der weg? - ich habe angst! - hier her oder dort hin? - höre ich die wölfe? - ja, sie heulen! - sie werden kommen und mich fressen! - lieber will ich sterben! - gleich jetzt! - diese nacht nimmt nie ein ende!
es gibt viele wege, um der gefahr - auch wenn sie nur in unseren köpfen ist - zu entkommen. das sind dann die sackgassen, in die wir uns flüchten, wenn die wölfe heulen.
die menschen im orient kümmert das nicht. wenn die nacht kommt, halten sie an auf ihrem weg, zünden ein feuer an, um die wölfe zu vertreiben. ansonsten vertrauen sie darauf, dass einer, der grösser ist, seine schützende hand über sie hält und das licht am östlichen horizont zur rechten zeit wieder entzündet. wenn einer angst hat, nimmt der andere seine hand und hält sie fest. wenn einer sprechen möchte, hören alle zu. wenn einer davon erzählt, dass sie ganz und gar verloren sind, schütteln die anderen ihre köpfe. wenn der morgen kommt, klopfen sie den sand aus ihren kleidern und wandern weiter.
so war es immer. so wird es immer sein.
ich blieb bei einer tür stehen, die so bunt bemalt war, dass ich meinte, in einen garten zu schauen. ich erkannte inmitten aller farben gelbe primeln.
mohammed, unser reiseführer, der uns durch die gassen von tetouan führte, bemerkte, dass ich stehen geblieben war. er verliess die reisegruppe, lief zurück und stellte sich zu mir.
„was ist so besonderes an dieser tür?“ fragte er mich.
„die blumen - es sind primeln!“
„was ist so besonderes an den primeln, die ich - um ehrlich zu sein - überhaupt nicht erkennen kann?“
mohammed schaute mich - ohne ungeduld - an.
ich sah mich inmitten der wiese und den primeln sitzen. es war frühling, die sonne schien. ich weinte. eine tür war zugeschlagen.
„geht es ihnen gut?“ mohammed sah mich besorgt an.
„sogar sehr gut! wissen sie, was boabdil damals in fes zu allerletzt sagte, bevor er tot zusammen brach?“
„ich glaube, er sprach vom paradies. so schreibt wenigstens salim el-kashir ... es ist das wenige, das in seiner handschrift noch zu entziffern ist!“
„dieser lügner wusste nichts. er hat nur aufgeschrieben, was jeder lesen wollte.“
„was also sagte boabdil?“
„kinder, lasst uns zu den primeln gehen!“
mohammed sah mich überrascht an. „sind sie sicher, dass dies die letzten worte boabdils waren? aber egal, wir müssen gehen. die anderen warten schon!“
er fasste mich leicht am oberarm und führte mich wie einen blinden durch die gassen tetouans zum restaurant „salama“.
allah, der satan und eine ohrfeige
die kaum gewürzte tajine mit huhn und kartoffeln hatte ich mit wenig appetit gegessen. überhaupt: das restaurant „salama“ mit seinem marokkanischen nippes in allen ecken schien mir ganz und gar auf touristen eingestellt zu sein, denen ein „marokko“ gezaubert werden sollte, das es gar nicht gab. dazu gehörten auch die orientalisch verkleideten kellner und die drei musikanten, die uns mit einer art geige (die zwischen den beinen festgehalten wurde), einer trommel und einer schelle unerträglich in den ohren lagen.
ich verliess das restaurant - dieses marokkanisch-verwackelte marionettentheater - und trat auf die strasse. gegenüber entdeckte ich ein kleines café, in das ich mich setzte und einen tee bestellte. wenig später trat ein junger marokkaner an meinen tisch.
„du bist aus deutschland?“
ich rührte zucker in den tee und nickte.
„ich darf setzen mich?“
ich wollte nicht unhöflich sein und zeigte auf den freien stuhl neben mir. ausserdem war ich neugierig, was er von mir wollte.
„woher kommst aus deutschland?“
ich dachte nicht lange über seine frage nach und wählte einfach nach dem deutschen alphabet den ersten namen: "aachen".
„das ist schöne stadt, mein onkel lebt in aachen - ich heisse karim!“
ich bestellte ihm einen tee.
„karim, wie kommt es, dass du so gut deutsch sprichst?“
„ist einfach! mein onkel schreibt briefe an mich aus aachen auf deutsch. wer lesen will, muss deutsch können!“
„das ist eine originelle art, sprachen zu lernen - du bist jung, was lernst du sonst noch in marokko?“
karim dachte nicht lange nach: „das leben und die weisheit!“
ich trank einen schluck vom tee und bemühte mich, karim meine verwirrung (und skepsis) wegen dieser antwort zu verheimlichen. ich wusste noch nicht, dass alle marokkaner philosophen sind - jeder anders und auf seine weise. ganz egal ob auf dem souk, im weichen sand der wüste oder des nachts am strand: die gespräche mit ihnen enden immer bei allah und den sternen.
„und - bist du jetzt ein weiser mann?“ ich sah ihn amüsiert an.
karim antwortete mit ernstem gesicht und seine stirn legte sich dabei in viele falten. „ich sagte doch: ich lerne. jeder, der sagt, dass er weise ist, lügt.“
„warum?“
„weil sich hinter jeder weisheit ganz viele neue fragen verstecken!“
karim hatte recht. er sprach mir sogar aus dem herzen - aber warum nun gerade nach einem ausführlichen und - im fall „salama“ - ziemlich schlechten mittagessen? ich war müde, sass träge im schatten eines cafés und erschrak nicht über meinen ganz und gar leeren kopf.
„ich werde dir drei fragen stellen. darf ich?“
ich ahnte, dass karim mich nun nach frau und kindern, nach beruf und meinem auto aushorchen würde. alle marokkaner tun das, wenn sie sich mittags zu einem touristen, den sie nicht kennen, ins café setzen.
er rückte die teegläser beiseite, stützte seine ellenbogen auf eine weise auf den tisch, dass er den kopf in seine hände legen konnte und sah mich nachdenklich an:
„karims erste frage: ist allah existent und wenn ja - wie sieht allah aus? karims zweite frage: was ist schicksal und bestimmung? karims dritte frage: wenn der satan aus feuer ist - warum sollte ihm das feuer weh tun, in das allah ihn wirft?“
er richtete sich auf, lehnte sich zurück und wartete - mit einem ausdruck grosser genugtuung im gesicht - meine antworten ab.
.
ich wusste aber keine. um ehrlich zu sein: die fragen schienen mir ein wenig seltsam und abwegig. sie passten überdies nicht in das bild eines sonnig-bunten mittags in tetoaun.
karim beugte sich zu mir: „kannst oder willst meine fragen nicht beantworten?“
ich schüttelte den kopf. „ach, karim! zum einen habe ich mir noch keine gedanken über eure religion gemacht - zum anderen strengt mich das beantworten schwerer fragen nach dem mittagessen an!“
„dann bitte ich schon jetzt um pardon für die ohrfeige, die ich dir geben muss!“ karim holte mit der rechten hand aus, tat so, als ob er mich ohrfeigen wollte, stoppte aber kurz vor meiner wange.
ich wich der hand aus und riss mir dabei fast den kopf von den schultern - und das, obwohl ich mir sicher war, dass karim mich niemals geschlagen hätte. dennoch war ich verwirrt und wusste nicht, was ihn dazu gebracht hatte, mir eine ohrfeige anzudrohen. vor allem aber war ich ärgerlich, wie karim mich behandelte - immerhin, wir kannten uns erst seit einer halben stunde. warum begegnete er mir nicht mit respekt, dem wir allen - und erst recht einem fremden - entgegen bringen müssen?
„tut es sehr weh?“ er sah sich neugierig meine wange an und grinste.
„wie sollte es? du hast es dir ja gott sei dank im letzten moment anders überlegt. aber warum drohst du überhaupt mit ohrfeigen? was habe ich dir getan?“
„ich wollte dir nur meine fragen beantworten!“ lächelte karim.
„das verstehe ich nicht!“
„noch nicht - aber gleich! wenn ich dir eine ohfeige gegeben hätte, würdest du jetzt schmerzen haben - ist richtig?“
ich nickte und rieb mir die wange - wie töricht!
„aha, der schmerz existiert also. dann zeige mir mal, wie er aussieht!“ karim sah mich mit zusammen gekniffenen augen an.
„wie sollte ich! erstens hast du mir gar keine ohrfeige gegeben und zweitens kann man einen schmerz nicht vorzeigen!“
„danke, du hast meine erste frage beantwortet: auch allah existiert - wir fühlen ihn sogar. aber ihn deswegen sehen oder gar vorzeigen? nein, das können wir nicht!“
ich fand trotz meines ärgers gefallen an der rabulistik von karim, auch wenn ich nicht wusste, warum er sich gerade mich ausgesucht hatte, um sie an den mann zu bringen. er fragte aber schon weiter:
„wusstest du gestern, dass du mich heute in tetouan treffen würdest?“
„bin ich ein hellseher?“
„womit auch die zweite frage nach dem schicksal und der bestimmung beantwortet ist!“ karim lachte laut auf und die gäste des cafés drehten sich zu uns um.
ich sah auf die uhr. ich erinnerte mich, dass unsere reisegruppe nach dem mittagessen auf der dachterrasse des restaurants „salama“ verabredet war - das wollte ich nicht versäumen.
„siehst du diese hand?“ karim streckte mir seine rechte hin.
ich nickte.
„sie hätte dich fast geschlagen. pardon! aber das hätte ich nie getan - es war nur ... wegen der fragen, du verstehst?
ich verstand ihn nicht, nickte aber trotzdem.
„würdest du sagen, dass meine hand aus fleisch und blut ist ...?“
ich nickte und dachte angestrengt darüber nach, wie ich karim für ein anderes thema interessieren könnte. dieses wenigstens war mir zu verworren.
„... und auch sagen, dass dein gesicht aus fleisch und blut ist?“
ich nickte schon wieder. es wurde mir entschieden zu dumm, auf die fragen von karim immer nur zu nicken.
„sag mal: was fühlt jemand, dem man mit der hand auf die wange schlägt?“
ich dachte an die ohrfeige meiner mutter - die einzige, die sie mir im leben gegeben hatte - und antwortete:
„scham, traurigkeit und grossen schmerz!“
karim sprang so plötzlich auf, dass fast der tisch umgefallen wäre.
„grossartig! meine dritte frage ist auch beantwortet! du siehst: obwohl satan aus lauter feuer besteht, ist die brennende hölle, in die ihn allah wirft, der schrecklichste und schmerzhafteste ort, den man sich für satan vorstellen kann!“
karim setzte sich mit einem triumphierenden ausdruck im gesicht wieder hin und griff nach seinem leeren teeglas. „oh, nichts mehr da!“
ich sah auf der gegenüberliegenden seite der strasse mohammed, unseren reiseführer, aus der tür des „salama“ treten. er sah mich auch gleich und winkte.
„es tut mir leid, karim. aber wir können unser interessantes gespräch nicht fortsetzen. mohammed ruft mich!“
„das macht nichts. vielleicht treffen wir uns wieder. wenigstens weisst du jetzt mehr über allah!“
„eine menge mehr!“ antwortete ich und stand auf.
„hast du vielleicht 20 dirham?“
„wofür brauchst du das geld?“
karim sah auf sein leeres glas. „beim tee kommen mir immer die besten gedanken zu allah!“
ein zuhause für sadik
als wir vor dem „salama“ in den bus stiegen, der uns nach ceuta zum hafen zurück bringen sollte, sah ich noch einmal über die strasse zum café, wo ich mit karim gesessen hatte. ich entdeckte ihn nicht. ich spürte, dass mich von irgend woher dunkle augen beobachteten, von denen ich wusste, dass ich sie kannte. ich drehte mich um - da stand karim und lächelte mir zu. aber war das überhaupt karim? seine augen erkannte ich - dunkle, zusammen gekniffene augen, die allah im himmel und den satan in der hölle sahen. sein hemd war aber nicht - wie noch vor wenigen minuten im café - blaugemustert, sondern weiss und seine augen? sie gehörten genau so ihm - wie sadik.
sadik - auch wenn es mir schwer fällt - jetzt muss ich von dir erzählen.
von den türen sprach ich bereits - den grossen verzierten und den kleinen unscheinbaren - die uns aber zumeist verschlossen bleiben. nur manchmal gewähren sie uns eintritt - wenn die alten häuser zu hotels oder restaurants umgebaut werden. dann sind ihre seele und ihr herz aber schon längst aus dem quadrat der lehmmauern geflüchtet und suchen - heimatlos geworden - nach trost und neuen aufgaben. ich vermute jedoch, dass sie angesichts der trotlosen wellblechhütten, die sich im schatten der marokkanischen städte ausbreiten, der mut verlässt und sie schliesslich zu grunde gehen.
ich kenne sadiks augen - und eine tür, die sich immer öffnete, wenn ich anklopfte. sie gehört zu einem unscheinbaren, flachen, weissen haus, das auf halber anhöhe in talborjt, dem wohnviertel agadirs, steht. der eingang ist von oleander fast zugewachsen und führt in einen dämmrigen flur, von dem rechts und links feuchte kammern abgehen. an seinem ende öffnet er sich zu einem quadratischen innenhof, an dem noch weitere räume liegen.
ich weiss bis heute nicht, wie viele menschen in diesem haus wohnen. manchmal huschte eine gestalt über den dunklen gang oder ich hörte leise gespräche und musik aus einem der zimmer. mehr wusste ich nicht von seinen bewohnern.
eines der grösseren - aber in meinen augen immer noch winzige - zimmer, dessen kleines, nicht mehr zu schliessendes fenster zum innenhof ging, bewohnte sadik. dort lagen zwei matratzen, die mitte wurde von einem flachen tisch ausgefüllt und an der einen wand stand ein schrank, den ich für sadik auf dem souk der tischler für wenige dirham erworben hatte. weil sadik nichts besass, konnte ich mir nicht vorstellen, was er in diesem schrank aufbewahrte. zum zimmer gehörte auch ein winziger vorraum - dort stand ein bauchiges gefäss aus gebranntem ton für die holzkohle, auf dem sadik manchmal eine tajine aus kartoffeln und karotten zubereitete.
so bescheiden sadiks zu hause war - es war doch ein platz, wohin er sich flüchten konnte, wenn das leben in agadir - so unbarmherzig, laut und ohne mitleid - nach ihm greifen wollte, um ihn bei lebendigem leib aufzufressen.
was geschah, wenn ein geograph, der im 19. jahrhundert nach afrika kam, von einem löwen oder tiger angefallen wurde? frassen sie ihn? schmeckte den tieren sein fleisch überhaupt - oder spuckten sie es gleich wieder aus und überliessen es den geiern? irgend ein tier - das steht fest - musste ihn gefressen haben, weil nur noch ein vom wind zerzaustes notizbuch und eine zerbrochene wasserflasche übrig geblieben waren, die besorgte zeitgenossen schliesslich fanden und wie reliquien zurück nach europa brachten.
agadir ist gefrässig und unablässig kommen menschen von weit her, um sich der stadt in den rachen zu werfen. sie tun es freiweillig, weil sie auf irgendeine erlösung hoffen, oder wenigstens ein stück brot, oder auf einen winzigen trockenen winkel, wo sie allein sein und - vielleicht zum ersten mal in ihrem leben - aufatmen können.
boabdil fand seine ruhe erst in fes. andalusien war zuletzt nur noch von der tyrannei der spanier beherrscht, die den mauren ein rasches ende prophezeiten. es hatte dann doch noch eine weile gedauert, bis sie die letzten vertrieben hatten - aber was bedeutet schon „zeit“, wenn man an ihrem unwideruflichen ende steht - so wie boabdil, als er granada verlassen musste?
er hatte beim abschied geweint - aber doch nicht so, wie salim el-kashir es auf eine armselige ziegenhaut gekritzelt hatte. boabdil trauerte vielmehr um seine kindheit und jugend und um seine gefährten, mit denen er duelle ausgefochten und um schöne frauen gekämpft hatte, die nichts anderes wollten, als seine wunden fortzuküssen.
erst später - da lebte er schon viele jahre in fes - lernte boabdil die tröstungen der einsamkeit kennen. wenn er - ein mann wie jeder andere - über die souks der stadt schlenderte, freute er sich, unerkannt mit den marktfrauen zu plaudern und mit den gewürzhändlern zu feilschen. hier war es auch, wo er seinem „falschen leben“ begegnete. soetwas geschieht manchmal, wenn wir allein sind und keiner da ist, der im namen unseres „richtigen lebens“ einspruch erhebt.
weil es das „richtige leben“ aber nicht gibt, benötigen wir auch den einspruch nicht - und müssen am ende für immer allein bleiben.
das wort „einsamkeit“ ist den marokkanern nicht besonders vertraut, da sie tag und nacht von menschen umgeben sind: im besten fall von einer vielköpfigen familie, im schlimmsten fall von falschen freunden. sogar in den entlegendsten winkeln des landes - im gebirge oder in der wüste - wo wir wirklich keinen menschen vermuten, müssen wir nur eine weile still abwarten. es dauert nie lange, bis wir umringt von menschen sind, die uns neugierig nach dem woher und wohin fragen.
es kann sein, dass niemand in marokko allein ist - das sagt aber nichts darüber aus, wie verlassen und verloren die menschen dort manchmal sind. der sicherste weg, in der hölle des alleinseins anzukommen, ist entweder ihr entschluss, sich von der familie loszusagen - oder die katastrophe, von ihr verstossen zu werden. wenn sie der fluch der väter und das schweigen der mütter trifft, sind sie verloren. kein nachbar wird ihnen noch ins auge sehen und kein verwandter ihnen ein stück brot zustecken.
mögen sie im zorn gegangen oder von der familie verstossen sein - immer werden sie dramatisch beweint. ein vielstimmiges, endgütiges klagelied über den tod des kindes hebt an, während es gerade die letzten häuser hinter sich gelassen hat, dort wo die wüste - das neue zu hause - beginnt.
ich weiss nicht, warum sadik seine familie, die in smara lebte, verliess. er liebte seine mutter - zeigte es aber nicht. von seinem vater sprach er nicht. wenn er am strand von agadir mit kindern spielte, wusste ich, dass er dabei an seine zwillingsbrüder und an seine schwester dachte.
das waren überhaupt die schönsten momente unserer freundschaft.
mit mir war er oft ungeduldig - bei kindern zeigte er eine zärtliche, alles verzeihende langmut. er spielte mit ihnen und sie lachten, er erklärte, was er wusste, und sie hörten ihm mit ernstem gesicht zu. in diesen momenten lebte er im fernen smara und vergass seine heimatlosigkeit.
sadik lebte am strand von taghazout oder in den höhlen unterhalb der medina von agadir. er ging morgens - die hände auf dem rücken verschränkt - durch den hafen und nachmittags über den souk. seine augen spähten ohne unterlass umher, damit ihnen nichts entging: ein aus dem korb gerutschter fisch konnte eine mahlzeit sein, eine versehentlich fallen gelassene zigarette einige minuten ausruhen bedeuten.
bald nachdem wir uns kennengelernt hatten, lud sadik mich zum essen ein, was bedeutete, dass er das essen bestellte und ich bezahlte. wir sassen auf wackligen holzstühlen vor einer niedrigen garküche und löffelten aus tiefen tellern ein linsengericht, das nur wenige dirham kostete, aber so gut schmeckte, dass es mir aus lauter dankbarkeit die kehle zuschnürte - was aber ganz gewiss nicht am essen, sondern an dem bild lag, in das ich geraten war: wir sassen an der strasse, die abendsonne warf ihr rotes licht auf die häuser und wände, die autos schoben sich laut hupend durch blauen dieselgestank und trüben staub, menschen liefen eilig hin und her und in alles wob sich eine girlande von gebeten, die vom nahen minarett kamen. wer es nicht kennen gelernt hat, wird allerdings sagen: das alles ist das linsengericht nicht wert.
an dieser stelle ist es an der zeit, davon zu berichten, dass auch ich (wie boabdil und alle vor ihm und danach) die einsamkeit kennengelernt habe, vielleicht nicht stärker als andere, aber doch quälend genug. sie kam getreulich, wenn ich sie rief - viel öfter aber noch, wenn ich gar nicht an sie dachte. sie setzte sich - wie aus dem nichts erschienen - immer dann neben mich, wenn ein anderer sich gerade erhob und mit den worten: „es tut mir leid, aber es ist besser so!“ fort ging.
verlässlich - und ohne zu fragen - gesellte sich die einsamkeit in den schlimmsten stunden zu mir, ob sie mich aber trösten wollte, sei dahin gestellt.
warum wir endlich vertraut miteinander wurden, ist eine lange geschichte. als ich sie kennenlernte - da war ich noch ein kind und sass mit vielen tränen nicht nur in den sonnenwarmen wiesen meines grossvaters - verachtete ich die einsamkeit und wollte sie nicht zum freund. ich verabscheute ihr trauriges gesicht mit den schweren, geschwollenen augenlidern, ihr müdes lächeln und die beschwichtigenden gesten ihrer hände. sie aber wurde nicht müde, um meine freundschaft zu werben - klopfte mir die kissen auf, in die ich weinen konnte und stellte mir den spiegel hin, in dem ich mich hassen konnte. sie war überhaupt immer dann zur stelle, wenn ich allen mut verloren hatte. in diesen momenten entfaltete sie die grösste freundeskraft: sie bestätigte mir die sinnlosigkeit meines lebens und führte ungezählte beispiele ins feld, warum es richtig war, dass ich verzweifelte. wenn ich daran dachte, aufzugeben, beeilte sie sich, mir rezepte zu nennen, wie ich dies am besten bewerkstelligen könnte. sie war - mit anderen worten - sehr besorgt um mich.
erst später lernte ich, ihre gegenwart zu akzeptieren. wenn ich ihr, so fand ich heraus, keinen allzu grossen raum zugestand, funktionierte das auch. wir lebten wie zwei menschen beisammen, die sich viel zu lange kennen, um noch miteinander zu sprechen. wir schwiegen, um uns nicht gegenseitig zu langweilen. ich konnte mich allerdings nie überwinden, ihr das „du“ anzubieten. ich erklärte ihr das mit meiner erziehung, die mich zu höflicher distanz gegenüber allzu grosser vertraulichkeit eingeschworen hatte.
in wahrheit aber hatte ich angst, ihr zu verfallen und ihr geliebter zu werden. denn, wer weiss: hätte auch sie mich noch verlassen - was wäre mir am ende geblieben? darüber nachzudenken, verbiete ich mir bis zum heutigen tag.
wenn ich mit sadik zusammen war, konnte ich nicht einsam sein. ich schwieg und er fragte mich, warum ich traurig war. ich sprach von deutschland und er sagte: „ich weiss, deine mutter heisst hildegard, ist aber leider tot!“. wir fuhren nach taghazoute und kochten am strand eine tajine, wir assen zusammen mit den fischern in tifnit. in tiznit schenkte ich ihm eine silberne kette, die er sich mit den worten: „aber nur gold bringt glück!“ um den hals band. er nahm im gemieteten auto die kurven nach immouzer und tafraoute, als ob allah für uns schon ein zweites leben vorbereitete. er lachte mich aus, wenn ich mir sorgen machte. als er wieder einmal in seine - mich beunruhigende - manisch-ausgelassene stimmung geriet (ich fürchtete sie, weil er sich darin manchmal verlor), bat er mich um ein 10 dirham stück, weil er seine mutter in smara anrufen wollte.
als er zurückkehrte, stand in seinem gesicht die grenzenlose traurigkeit von boabdil, der zum letzten mal nach granada hinüber sieht. in dieser stunde - ich erinnere mich, als wäre es gestern - versprach ich, ihm ein zimmer in agadir zu bezahlen. er sollte wissen, dass er von nun an ein neues zu hause hatte. ich glaubte fest an mein versprechen und bedachte - so fahrlässig war ich - nicht die zeit, die über alles hinweg geht und alles auslöscht.
was überhaupt bedeutet „zeit“, wenn wir nur noch ihr unwiderrufliches ende erleben - so wie es sadik widerfuhr, kaum dass wir uns in agadir kennen gelernt hatten?
ich setzte mich ganz nach hinten in den bus. ich wollte auf der fahrt von tetouan zurück nach ceuta allein sein. ich musste mit meinen kräften sorgfältig umgehen, denn schon seit einer weile spürte ich, wie mich - fast minütlich - ein schwindel überfiel, der mich hart an die grenze der bewusstlosigkeit führte. mein kopf war stumpf und leer. ich konnte mich zwar an das fernste, nicht jedoch an das erinnern, was das nächste war.
das nächste aber war - die fahrt über das meer.
„sind sie das erste mal in marokko?“ die frau, die schon auf der hinfahrt alles „so phantastisch“ fand, zwängte sich auf den platz neben mir.
„ja - ich schwöre es. aber meine erinnerungen spielen mir einen streich. ich sehe - sie werden es nicht für möglich halten - in eine vergangenheit, die der zukunft vorbehalten ist. entschuldigen sie - ich kann es ihnen nicht anders erklären.“
„es ist die sonne - ruhen sie sich erst einmal aus. ich habe auch kopfweh von all´ den eindrücken in marokko!“
sie legte mir ihren arm um die schulter. „ich weiss schon, sie sind gern allein. das habe ich gleich gespürt, als ich sie kennenlernte. aber vorhin - im café gegenüber von unserem restaurant - haben sie sich mit einem marokkaner unterhalten. war er nett?“
„sie meinen sadik?“
„wie soll ich wissen, wie er heisst?“
„er war sogar sehr nett und - dachte die ganze zeit darüber nach, was der satan in der hölle empfindet.“
plötzlich traf mich eine kalte welle. sie hob mich hoch in die luft und ich sah tief unter mir ein kleines boot im schäumenden wasser tanzen. ich erkannte sadik. er rief meinen namen und wurde gleich darauf von der nächsten welle erfasst und von bord gespült. ich schleuderte zurück auf die schiffsplanken und hörte:
„nehmen sie doch eine aspirin - dann wird es ihnen gleich besser gehen!“
die tür schliesst sich
als unser bus durch das tor im gitterzaun fuhr, das den hafen von ceuta absperrt, sah ich schon die „tarifa II.“ ihre heckklappe war geöffnet und matrosen lotsten die fahrzeuge, die am pier warteten, in das innere des schiffes.
mohammed, unser reiseführer, verabschiedete jeden einzelnen von uns. als ich als letzter aus dem bus kletterte, fasste er mich an der schulter und zog mich zu seite:
„wie gut, dass sie mich an salim el-kashir erinnert haben! von ihm stammt übrigens auch der bericht, dass das letzte maurische schiff, das algeciras verliess, mit dem schatz boabdils unterging. wie wäre es, wenn wir zusammen auf schatzsuche gehen würden? aber leider - auf salim el-kashirs angaben ist kein verlass!“ mohammed lachte und gab mir die hand: „ich wünsche ihnen eine gute heimreise!“
es dauerte nicht lange, bis die letzten leinen gelöst waren und die „tarifa II.“ sich vom pier löste. eine weile lag das schiff noch im hafenbecken, so als zögerte es, wohin es sich wenden sollte, dann befahl der kapitän den maschinen „volle kraft voraus“, wir nahmen fahrt auf und verliessen ceuta in richtung spanien.
es war später nachmittag geworden, im westen stand die sonne auf halber höhe, die grösste hitze hatte nachgelassen und es wehte ein frischer, fast kühler wind vom atlantik her. ich stand an der reeling und sah zu, wie die küste afrikas kleiner wurde. bald erreichten wir die offene see und wenn ich meinen blick über den bug des schiffes hinweg richtete, konnte ich schon den schmalen streifen land erkennen, der zu spanien gehört. die überfahrt dauert höchstens zwei stunden - die schnellen flugboote schaffen es sogar in kürzerer zeit.
ich zündete mir eine zigarette an und beobachtete die regelmässig steigenden und fallenden wellen, in denen sich die sonne spiegelte und ein rot-flimmerndes band über das meer spannte.
ich dachte an das letzte gespräch mit sadik. das lag zwar in einer fernen zukunft, jedoch nur einen steinwurf von meinen tränen entfernt. das aber wusste ich nicht, als ich an diesem nachmittag das meer befuhr.
die letzten stunden in marokko verwandeln mich jedes mal in einen verzagten menschen, der von allem, was er sieht, sorgfältig abschied nehmen will: auch von dem weiten platz mit seinen vielen blau- und orangefarbenen taxen, an dessen rand kleine verkaufsstände mit dem saft frisch ausgepresster apfelsinen stehen.
es gibt dort ein café, in das ich mich immer setzte, wenn sadik mit einem der taxifahrer den preis für eine fahrt nach guelmim, essaouira, tafraoute oder taroudannt aushandelte. in diesen momenten war es gerade so, als wartete ich darauf, meinen rotlackierten tretroller hervor zu holen, um ins unbekannte aufzubrechen. immer geschah überraschendes auf unseren fahrten: einmal war es ein kleiner souk am weg und ein anderes mal ein kleiner junge, den ich - weil er mich mit seinen abgerissenen schuhen und den dünnen, schmutzigen hosen so rührte - neu einkleidete. das waren bestimmt nicht die grossen abenteuer eines geographen und die weissen flecke auf meinem herzen wurden auch nur allmählich kleiner. aber zumindest weiss ich, dass diese erlebnisse mich nicht gedemütigt haben oder mich brennend vor schmerzen zurück liessen - wie es mir im leben so oft geschieht und ich am ende keinen anderen ausweg weiss, als mit boabdil an meiner seite auf der schaukel in den himmel zu fliehen.
ich wollte beim abschied von marokko alle bilder festhalten, sie mir einprägen und in meinem herzen verschliessen. es gab sogar eine zeit, da dachte ich, dass sie mir proviant in meiner heimat - im nebelland - sein könnten.
aber, wo ist meine heimat?
ich weiss es noch: ich sass auf dem balkon meines hotelzimmers in agadir und dachte - begleitet vom kreischen der möwen, die gegen den atlantikwind anflogen - ob es nicht besser wäre, gleich ganz zu bleiben. dieser wunsch hatte etwas mit meinen wunden zu tun, die ich mir mit den jahren nicht nur auf meinem rotlackierten tretroller zugezogen hatte. ich ahnte aber: ich wäre in marokko nur ein boabdil im exil gewesen. das paradies lag woanders, auch wenn ich es - und dieser gedanke erschrak mich gott sei dank nicht mehr - niemals erreichen würde.
warum also einen ort des ungenügens mit einem anderen der nicht eingelösten wünsche vertauschen? ich warf entschlossen meine sehnsüchte hinter die fernen berge, die wie schattenrisse an den horizonten marokkos stehen, und hoffte, ihnen nicht mehr zu begegnen.
wie ich mich täuschte!
die allerletzte stunde in marokko war stets dem ernsten gespräch vorbehalten. viel zu oft hatte ich das gefühl, meine zeit in marokko mit nichts anderem verbracht zu haben, als ein havariertes schiff zu reparieren: morsche planken zu ersetzen, dem schiffsrumpf farbe zu geben, die takellage zu knüpfen, neue segel zu spannen. in dieser letzten stunde ging es jedoch nur noch darum, sadik in die navigation des schiffes einzuweihen und ihn vor gefährlichen untiefen zu warnen. er hörte immer geduldig zu, um mir jedes mal am ende mit ernstem gesicht zu versichern, nun endlich ein guter fahrensmann geworden zu sein.
die klippen waren jedoch niemals fern, immer zerschellte das schiff schon nach wenigen wochen und erreichte - wenn überhaupt - nur mit letzter kraft den hafen.
ich sass im café, sah den taxen nach, die nun ohne uns fortfuhren, und trank ein letztes glas orangensaft. sadik hockte neben mir und hatte sein gesicht in der armbeuge vergraben. kaum hörte ich seine stimme, als er sagte:
„ich bleibe nicht in marokko. du wirst schon sehen.“
ich kannte diese worte. er wiederholte sie, seitdem wir uns begegnet waren - manchmal stündlich, manchmal im abstand einiger tage. immer aber blieb ihr inhalt gleich:
sadik wollte fort aus marokko.
ich hatte ihm ein zimmer bezahlt, dazu die matratzen, den tisch und den schrank, hatte dafür gesorgt, dass er unterricht erhielt, um besser deutsch zu lernen, kaufte ihm hefte, stifte und einen rucksack, in den er alles verstauen konnte. aber es reichte nicht. seine wurzeln waren nicht mehr mit marokko verbunden, sondern hingen frei in der luft. einem gärtner gleich, grub ich - obwohl mich doch jede blume hilflos macht - unermüdlich den acker um, lockerte die erde und wässerte sie. aber nichts half. die pflanze wollte keine wurzeln treiben und nicht wachsen, sondern lag, so oft ich hinsah, verwelkt neben dem beet.
ich erinnerte mich an die spanier, die mit blitzenden waffen, aber blinden augen durch die gärten andalusiens gezogen waren und nicht eher froh wurden, bis sie alles zerstört hatten. so können nur menschen handeln, die keine heimat kennen - hatte ich gedacht. jetzt wusste ich, dass es allein der zorn ist, der die erde austrocknet und vergiftet.
„ich gehe auf ein schiff und bin weg aus marokko!“
ich erwiderte - so laut, dass er später nicht sagen konnte, er habe das wichtigste, was ich ihm in dieser letzten stunde sagen wollte, überhört - dass ich, sollte er nach deutschland kommen, ihn sofort nach marokko zurück schicken würde. diese worte rissen in mir eine wunde, von der ich wusste, dass sie bis an mein lebensende nicht verheilen würde. aber ich wusste auch, dass ein gärtner manchmal um seine pflanzen kämpfen muss und nicht tatenlos dabei sitzen und rätseln darf, was sie vielleicht brauchen: womöglich ein wenig wasser, ein wenig licht, ein wenig schatten.
sadik hob seinen kopf aus der armbeuge, schaute mich eine weile regungslos an und antwortete: „aber du weisst doch - ich bin frei wie der wind!“
das war das letzte mal, dass ich sadik sah.
ich wusste nicht, in welchem zustand ich das schiff antreffen würde, als ich nach drei monaten wieder nach marokko kam. das wäre auch nicht schlimm gewesen, wenn ich wenigstens gewusst hätte, in welcher schweren see es gerade manövrierte. ich klopfte an der von oleander überwachsenen tür des hauses, das auf halber höhe richtung talborjt in agadir liegt. nach langem warten öffnete mir eine gestalt mit verschlafenem, mürrischem gesicht. „sadik wohnt nicht mehr hier. wohin? das weiss ich nicht!“ die tür schloss sich - für immer.
es blieb mir nichts weiter, als durch die strassen agadirs zu laufen, um nach sadik zu suchen. dutzende male erkannte ich ihn - und dutzende male stellte ich erstaunt fest, dass sie alle von weitem wie sadik aussahen, aus der nähe aber zu fremden wurden.. am ende mochte ich das hotel nicht mehr verlassen und mir war, als sei mein herz in die brennesseln gefallen.
von irgendwo her hörte ich eine stimme. zwei marokkaner lehnten ganz in meiner nähe an der schiffsreeling, rauchten eine zigarette und lachten. das meer hatte das dunkle rot der untergehenden sonne angenommen.
„hallo, hier ist sadik. geht es dir gut?“
was fragte er? viel wichtiger war doch, wie es ihm ging!
„wo bist du, sadik?“
„bald in deutschland! morgen geht schiff, ich will ...“ das telefongespräch war unterbrochen.
das war das letzte mal, dass ich mit sadik sprach.
ich will mich nicht daran erinnern, wann genau das war - denn sonst würden sich immer mehr stumme monate aneinander reihen und ihr schweigen müsste schliesslich auch noch die letzte hoffnung töten - die es in wahrheit schon nicht mehr gab.
der landstrich am horizont mit seinen häusern und den bergen dahinter war spanien. vereinzelt blitzten schon lichter vom ufer her.
ich wurde, anstatt dass endlich müdigkeit von mir besitz ergriff, weiter von schweren erinnerungen überfallen, die aber - recht besehen - einer fernen zukunft angehörten. die musste ich - das spürte ich umso deutlicher, je näher ich dem festland kam - unbedingt vermeiden. aber wie sollte ich meiner zukunft ausweichen? sadik wartete doch in marokko auf mich, auch wenn er noch gar nicht wusste, dass es mich gab.
was hatte karim gesagt?
womit auch die zweite frage nach dem schicksal und der bestimmung beantwortet ist!“
ich musste nur deswegen wieder nach marokko, damit der vorhang des marionettentheaters endlich aufgehen konnte. alles war vorbereitet und eingefädelt, das stück geprobt und die akteure warteten. sogar die souffleuse, die gar nicht gebraucht wurde, hatte das textbuch schon in ihren händen - nur ich allein kannte es noch nicht. welche rolle kam also mir in diesem spiel zu? die fäden - das wusste ich - wurden von anderen gezogen. sollte ich nur aufpassen, dass sie sich nicht verknoteten?
dann hatte man sich wohl kaum den richtigen ausgesucht!
der schiffbruch
es war nacht, als ein fischerboot so leise aus dem hafen glitt, dass niemand es hörte. ein straff gespanntes seil führte von seinem bug ins dunkle wasser, wo zwei gestalten schwammen, die es fest in ihren händen hielten, um auf diese weise das gestohlene boot aus dem hafen zu bugsieren. sie zogen es in richtung offenes meer und als die stömung es erfasste, kletterten sie hinein und liessen es einige meilen parallel zur küste treiben.
am strand wartete eine gruppe dunkler gestalten, von denen die meisten dicke jacken und strickmützen trugen. als einer von ihnen einen schatten auf dem meer entdeckte, entzündete er kurz sein feuerzeug. sofort richtete das fischerboot seinen bug zum strand und glitt heran, bis es in ufernähe lautlos im sand aufsetzte. die am strand wartenden männer liefen ins knietiefe wasser und wurden einer nach dem anderen ins boot gezogen. das ganze dauerte nur wenige minuten, dann wurde ein dieselmotor angeworfen und das fischerboot entfernte sich rasch von der küste.
die nacht war warm und die menschen an bord froren nicht. trotzdem sassen sie fest in ihre jacken gewickelt auf dem bootsdeck, rauchten zigaretten und sprachen nicht miteinander. sie hätten sich auch nicht verstanden, denn nur zwei von ihnen stammten aus marokko, die anderen von viel weiter her. gerade entdeckten sie die fernen lichter der küste spaniens, als der dieselmotor aussetzte. die beiden männer, die das boot aus dem hafen gezogen hatten, kletterten unter deck. nicht viel später suchten sie in allen ecken des schiffes nach kanistern mit treibstoff - sie fanden nichts. wohin das unbeleuchtete fischerboot driftete, bestimmte nur noch der wind und das meer mit seiner mächtigen strömung. das boot trieb in richtung westen. manchmal aber, wenn es für kurze zeit aus der strömung geriet, kreiste es um sich selbst - ein willenloses spielzeug des atlantiks.
nach einer weile verschwanden die lichter der spanischen küste hinter den horizont und die wellen gingen höher. noch immer schwiegen die männer auf dem bootsdeck - die einen, weil sie immer noch nicht begriffen, was geschah - die anderen, weil sie längst das entsetzen gepackt hatte.
einer der marokkaner griff in seine hosentasche und suchte nach einer zigarette. er fand keine. die letzte hatte er geraucht, als der dieselmotor aussetzte. er wusste: die stömung trieb sie auf den offenen atlantik, fort von marokko - aber auch fort von der küste spaniens. „wir werden wohl in südamerika landen!“ er stiess seinen landsmann an, der neben ihm sass, und grinste. „der wind bestimmt jetzt unsere richtung - und ich bin so frei wie er.“
ein schwarzer schatten, hoch wie ein mehrstöckiges haus, durchbrach den nächtlichen nebel, der über dem wasser hing. das gesicht des marokkaners, in dem eben noch ein grinsen gewesen war, verwandelte sich in schreiendes entsetzen. im nächsten augenblick streifte der bug des tankschiffs das fischerboot, schlitzte es über die ganze seite auf, so dass die bohlen und planken wegrissen, wie streichhölzer brachen und zersplitterten. alles passierte zugleich: das deck neigte sich auf die seite und die menschen, die darauf sassen, rutschten - ohne halt zu finden - über die reeling und stürzten ins meer. das fischerboot richtete sich schwer verwundet noch einmal auf, kippte dann zur anderen seite, schlug hart an den rumpf des vorbei fahrenden schiffs, zerbrach in zwei teile und versank. der tanker stoppte nicht, sondern fuhr mit gleicher geschwindigkeit weiter.
der marokkaner, der mit einem schrei wie aus der hölle ins wasser gerissen worden war, kam an die oberfläche zurück. er spürte plötzlich keine angst oder panik mehr, denn er war ein guter schwimmer und das wasser war warm. das schiff, das sie gerammt hatte, war bereits wieder im nebel verschwunden. er wunderte sich, niemanden von den leuten zu entdecken, die mit ihm auf dem bootsdeck gesessen hatten. vielleicht haben sie nie schwimmen gelernt - dann steht es schlecht um sie, grinste er ohne mitleid.
nach einer weile wurden ihm die arme schwer und das salz brannte in seinen augen. ich werde ausruhen und mich treiben lassen, beschloss er. warum er bald darauf wieder unter wasser geriet, konnte er sich nicht erklären. er ruderte mit kräftigen armbewegungen an die oberfläche zurück, schnappte nach luft und schluckte dabei eine menge wasser. nicht nur seine arme, auch seine beine spürte er kaum noch. sie gehorchten ihm nicht länger. deswegen geriet er nun immer öfter unter die wasseroberfläche. dort fühlte er eine so überwältigende leichtigkeit, dass er daran dachte, sich auf diese weise bis nach südamerika treiben zu lassen. die stömung unter wasser, so überlegte er, war bestimmt ebenso stark wie über wasser. seine schwere kleidung wurde ihm lästig. er wollte sich von der gefütterten, mit wasser vollgesogenen jacke befreien ... aber anstatt sie auszuziehen, versuchte er - warum nur? - ihre knöpfe zu schliessen ... was ihm unter wasser nicht gelang ... er hielt seine augen geschlossen ... er erwartete nicht, in den nächsten stunden irgendeine küste zu erreichen ... ein ball wäre gut, sich die zeit zu vertreiben ... er wirft ihn seinen beiden brüdern zu ... seine schwester ... im sonntagskleid ... darf nicht mitspielen ... seiner mutter ... im türrahmen ... fehlt das gesicht ... taghell ... tief unten ... sind es zehn tonkrüge? ... oder mehr? ... viel mehr .... halb eingegraben ... darin goldmünzen ... so viele goldmünzen ... ich bin reich ... so reich ... das fischerboot ... der treibstoff ... nach spanien ... wie der wind ... so frei ...
er hatte boabdils schatz gefunden, von dem einst salim el-kashir - mit einem zynischen lächeln auf den lippen - der welt etwas vorgelogen hatte.
es war schon nacht, als die „tarifa II.“ algeciras erreichte. der hafen war hell erleuchtet. noch bevor wir von bord gehen konnten, wurden schon die autos aus dem bauch des schiffes gefahren. trotz der hektik spürte ich die routine, mit der die fähre entladen wurde. in weniger als zwei stunden würde sie schon wieder auf dem weg nach marokko sein.
marokkaner drängten an mir vorbei. sie waren beladen mit rucksäcken und taschen, die sie durch den schmalen gang, an mir vorbei und entlang der reeling bugsierten. ihnen stand die anspannung im gesicht, denn die alles entscheidende frage schien ihnen noch nicht beantwortet zu sein: würden auch die zöllner in algeciras ihr visum im pass akzeptieren? diese sorge war jedoch unnötig, denn schon als sie vor stunden den schwer bewachten gitterzaun passiert hatten, der ceuta wie eine festung umgibt, hatten sie das erreicht, was ihnen in ihren träumen als das glück und die freiheit erschien.
ich hatte es nicht so eilig wie sie. im gegenteil: einen moment überlegte ich, so lange auf der „tarifa II.“ zwischen spanien und marokko hin und her zu fahren, bis ich den schiffbrüchigen gefunden hatte, der meine hilfe brauchte. aber, was hätte ich tun sollen?
ihm einen rettungsring zuwerfen?
schon als ich ihn zum ersten mal in marokko traf, wollte er nichts davon hören. damals fragte ich, wie ich ihm helfen könnte, und sadik antwortete ohne nachzudenken:
„wer frei ist wie der wind, braucht keine hilfe!“
erst als ich die „tarifa II.“ verliess, durchschnitt ich das erinnerungsband, das mich - mehrfach verknotet - in marokko festgehalten hatte. ich dachte mit einem mal nur noch an einen schönen tag in tetouan zurück. ich freute mich auf die letzten, sonnigen urlaubstage in porto banus und das buch, das ich mir schon vor dem ausflug nach marokko auf den nachttisch gelegt hatte. ich beschloss - und dieser gedanke war heiter und leicht - bald wieder nach marokko zu reisen. dann aber wollte ich nicht für einen tag bleiben, sondern länger ...
... viel, viel länger.
zuletzt (epilog)
ich hatte den brief schon gar nicht mehr erwartet. die anfrage lag viel zu lange zurück. vergessen hatte ich sie jedoch nicht - wie sollte ich auch? als ich den brief öffnete, machte ich mich auf eine wahrheit gefasst, der ich immer ausgewichen war. der brief kam aus berlin - von der botschaft des königreichs marokko.
sehr geehrter herr,
vielen dank für ihr schreiben, in dem sie nach dem verbleib des marokkanischen staatsbürgers sadik boutir fragen. es tut uns leid, dass wir ihnen diesbezüglich keine hinweise geben können. herr boutir ist in marokko nicht als vermisst gemeldet. auch ihre beigefügten angaben zu seiner nationalen identitätskarte führen insofern nicht weiter, da dieses dokument schon vor zwei jahren seine gültigkeit verloren hat und nicht erneuert wurde. die behörden in agadir - nach ihren angaben letzter wohnsitz von herrn boutir - antworteten auf anfrage, dass der gesuchte dort nicht gemeldet war.
wir haben - und setzen dabei ihr einverständnis voraus - das ihrem schreiben beigelegte porträtfoto des herrn boutir den grenzbehörden in marokko zur verfügung gestellt. bei einer etwaigen identifizierung - sie sprachen von hinweisen, dass herr boutir versuchen wollte, nach spanien zu gelangen - könnte das foto unter umständen dienlich sein.
wir schlagen ihnen vor, ihre bitte um nachforschung auch noch einmal direkt an die spanischen grenzbehörden zu richten, die über ein erkennungsdienstliches register aller beim illegalen grenzübertritt verstorbenen, aber noch nicht identifizierten bürger unbekannter nationalität verfügen.
erlauben sie mir zum schluss noch ein persönliches wort:
in jedem jahr ertrinken auf tragische weise mehrere tausend menschen beim illegalen übertritt von afrika in die staaten der europäischen union. darunter ist auch immer wieder eine grosse zahl von marokkanern. das königreich marokko tut alles, um diesem problem durch aufklärung zu begegnen. leider bestehen bei unseren mitbürgern vielfach falsche vorstellungen über die lebensverhältnisse in europa, wenn sie - recht und gesetz missachtend - den riskanten weg der illegalen ausreise wählen. schon allein der versuch wird in marokko mit aller härte bestraft. sollte es ihnen also gelingen, herrn boutir doch noch in marokko ausfindig zu machen, zögern sie nicht, uns davon in kenntnis zu setzen. sie helfen auf diese weise, eine straftat zu verhindern.
hochachtungsvoll
s. kouroudim
botschaftsrat an der botschaft
des königreichs marokko, berlin
- ENDE -
anmerkung: dem abschnitt "allah, der satan und eine ohrfeige" diente eine quelle aus dem internet als gedankliche vorlage. falls trotz erzählerischer variation irgendein copyright verletzt ist, bitte ich um nachricht. alle im text genannten "historischen" bzw. zeitgeschichtlichen personen oder fakten sind im übrigen fiktionaler natur und halten keiner wissenschaftlichen überprüfung stand. darüber hinaus wäre jede ähnlichkeit mit lebenden personen rein zufällig. es mag der hinweis erlaubt sein, dass das historische quellenmaterial reichhaltig ist. wer sich für die spanisch-maurische geschichte interessiert, verweise ich auf die fachliteratur, zu den anderen themen auf die tageszeitungen.
copyright für den text: rolf-dieter venzlaff, mai/juni 2005, überarbeitet juli 2006
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2008
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