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Tag 1 - Hektor ohne Furcht und Tadel



Josef M. Ackermann gewidmet, dem ersten, amtierenden und einzigen Vorsitzenden der Deutschen Bank.

(Es folgt Kapitel 1. Die anderen sechs Kapitel gibt's gratis und in Farbe unter BadBanks.de)

02:17

„Hab ich dich erwischt, Bürschlein.“
Und wieder blicke ich in den Lauf einer Heckler & Koch P2000 mit verdecktem Spannstück.
„Kein guter Tag, um herumzuschnüffeln. Man tappt leicht in die Falle der eigenen Neugierde.“
Kein guter Tag, um in Panik zu verfallen: Mit einer Mündung vor der Nase. Ich arbeite an einer selbstsicheren Erwiderung, doch es gelingt nur ein panisches „Nicht schießen, um Gottes Willen“.
Gnadenlos folgt der Lauf der Waffe meinen ängstlichen Zuckungen.
Der Besitzer der Mündung mustert mich missbilligend, nimmt mir meine Panik nicht recht ab. Unbemerkt hat er sich in meinen Rücken geschlichen, durch den einzigen Eingang der Poststelle. Was für ein Anfänger bin ich!
Schwitzend grüble ich in den Tiefen meiner Gehirnwindungen nach dem rettenden Einfall. Da war doch was …?
„St. Josef“, schmettere ich dem Fremden hoffnungsvoll entgegen.
Verblüffung.
„Du weißt von dem Kennwort?“
„Sicherheitshalber, damit ich nicht gleich zu Auftragsbeginn erschossen werde.“
Der Kerl kneift die Augen zusammen und begutachtet mich wie die Amsel einen Regenwurm. Aber die Waffe sichert er und beginnt, sich mit dem Lauf an der Nase zu kratzen; das lässt ihn noch verwegener erscheinen.
„Die Bank hat dich geschickt?“
Beflissen nicke ich mit dem ganzen Oberkörper: „Ich untersuche das Briefbombenattentat auf den Vorsitzenden der Deutschen Bank.“
„Was für eine bescheuerte Mission!“ Spöttisch grinsend steckt er die Waffe zurück ins Schulterhalfter. „Ich verfolge dieselbe. Der Vorsitzende persönlich hat dich beauftragt?“
Ich gerate ins Stocken: „Die Polizei hat den Fall abgeschlossen, meine Auftraggeber nicht, sie ermitteln weiter. Eines dieser Mittel bin ich. Steckt mehr hinter dem Attentat? Du scheinst mir kein Angestellter?“
Er knurrt verächtlich: „Ich bin ein Schnüffler, wie du. Möglicherweise spielen wir im selben Team.“
Möglicherweise? Lauernd umkreisen sich unsere Blicke.
Plötzlich zuckt seine Hand hoch. Ich quieke auf wie ein Ferkel vor der Schlachtbank. Aber er grinst nur müde und reicht mir seine Rechte: „Zwei Eindringlinge im Hauptgebäude der Deutschen Bank. Machen wir uns das Leben nicht unnötig schwer. Nenn mich Hektor!“
„Hektor?“ Seine Eltern müssen ihn gehasst haben! „Und wie hieß bei euch zuhause der Hund, Karl-Heinz?“
Doch er hat sich schon umgedreht und stöbert in den Archiven und Regalen der Poststelle herum. Und das ohne die geringste Angst vor mir, wie ich zerknirscht feststelle.

02:24

Also wende ich mich wieder dem Schreibtisch vor mir zu, erspähe einen Briefumschlag in dem Körbchen mit der Ausgangspost für leitende Angestellte und stecke ihn hastig ein. Besorgt schaue ich mich um, aber keine weiteren Waffen oder Störenfriede vereiteln die Bergung meines Schatzes.
„Mein Name ist übrigens Roland. Roland Bell.“
Eine Verunglimpfung fällt Hektor dazu nicht ein, er wirbelt jedoch herum und nimmt mich ins Visier: „Das ist die Lösung all meiner Probleme!“
Mein Name löst Probleme? Drohend kommt er näher. Ich greife nach meinem Taschentuch, bereit, es im Notfall als Waffe zu gebrauchen. Doch er stapft einfach an mir vorbei zu einem Aktenschrank. Von Möbelstücken hält er offenbar mehr als von mir.
Mit erschreckender Lässigkeit reißt er die Tür des Schränkchens aus den Angeln und stürzt sich auf die Ordner, die dort in Reih und Glied warten.
„Natürlich werden hier alle Vorgänge digital erfasst und verarbeitet“, doziert er. Ich bin nicht sicher, ob er mich oder den Aktenschrank belehrt. „Aber im Verordnungs-Dschungel Deutsche Bank wird vor dem Löschen alles ausgedruckt und archiviert.“
Er greift sich einen Ordner. Gemeinsam durchforsten wir Dutzende von Seiten mit Einträgen.
„Über den gewöhnlichen Postweg erreichte diese Poststelle ein Umschlag, adressiert an den Vorsitzenden der Deutschen Bank; darin ein Gruß und ein Sprengsatz. Doch das Attentat war schlampig vorbereitet. Sperrige Sendungen werden ausnahmslos geröntgt.“
Ich erspähe den gesuchten Eintrag: „Hier steht’s: Objekt konnte nicht zugestellt werden, Beschlagnahmung durch das Landeskriminalamt, LKA.“
Mister Perfect nimmt meine Nase ins Visier: „Deine Auftraggeber haben dir nicht zufällig einen Tipp gegeben, wo du mit der Suche nach den Tätern beginnen sollst?“
„Wikipedia?“, wage ich vorzuschlagen. Aber Hektor ist einfach nicht in Rage zu versetzen, was mir sonst bei jedem im Handumdrehen gelingt.
„Am besten schnüffeln wir in der Vorstandsetage, da findet sich immer schmutzige Wäsche. Nur fehlt uns freier Zugang und überall lauert der Sicherheitsdienst.“
„Zugang haben wir“, widerspreche ich und klopfe auf meine Hemdtasche mit dem geklauten Umschlag.
Wir verlassen die Poststelle, ich schreite voran; eine Frage erfüllt mich: Wer verübte das Briefbombenattentat auf den Vorsitzenden der Deutschen Bank?
02:36
Meinen Pferdeschwanz verstecke ich für alle Fälle unter einem grauen Banker-Hut. Eine getönte Brille verwandelt mich augenblicklich in Heino.
„Und wo ist die Krawatte?“, fragt Hektor spöttisch.
„Reinigung“, presse ich zwischen den Lippen hervor. Ich hasse Krawatten! Dann präsentiere ich meinem Mitstreiter den Schatz aus der Poststelle.
„Eine Gold-Card“, pfeift er anerkennend und hält die Plastikkarte gegen das Licht. Das holografische Logo der Bank glitzert in schwachem Gold. Daneben klebt das Bild einer Banker-Visage. Der eigentliche Besitzer mit Namen Ulrich C. Hausen sollte seine neue ID-Card morgen früh mit der Post erhalten. Verkleidet sehe ich seinem Bild leidlich ähnlich.
„Der Administrator hat die Karte bestimmt schon aktiviert“, bemerkt Hektor. „Nerds sind Morgenmuffel.“
Wir schleichen uns über den Gang. Die Poststelle liegt ebenerdig, in der Nähe eines Nebeneingangs, der abends verschlossen bleibt.
„Wie bist du ins Gebäude gelangt? Mit dem Kennwort: St. Josef?“
Ich schüttle den Kopf: „Ich bin seit Stunden hier. Gegen Abend habe ich mich auf der Toilette versteckt.“
„Was für eine Heldentat! Erfreulich, dass wir in verschiedenen Kabinen gewartet haben. Eine gute Verdauung ist wichtiger als der Weltfrieden.“
„Das geheime Kennwort, wird es täglich geändert?“, frage ich.
„Wo denkst du hin? Es ist fast fünfzig Jahre alt. Hermann Abs, der unvergessliche Vorstandssprecher der Deutschen Bank, hat es ersonnen. Ihm zu Ehren bleibt es unverändert.“
„Aber ist Josef nicht eine unglückliche Wahl?“, wage ich einzuwerfen. „Immerhin heißt der Vorstands-Vorsitzende so?“
„Die Deutsche Bank ist ein Unternehmen mit Tradition! Tradition übersteht selbst schwierige Zeiten. Der Vorsitzende räumt nächstes Jahr seinen Posten, das Kennwort bleibt.“

02:46

Wir schleichen uns einige geschwungene Flure entlang und erreichen unerkannt die Fahrstühle. Sie verbinden die vier Stockwerke des Sockelbaus, in dem wir herumirren, mit dem Ungetüm von Wolkenkratzer darüber.
Ich zücke die Gold-Card und halte sie an das Lesefeld, denn Knöpfe sucht man hier vergeblich. Das Display schickt mich zu Aufzug zwei.
„In wenigen Sekunden wissen wir, was deine Karte wert ist, Roland“, bemerkt Hektor seelenruhig. Seine Worte steigern augenblicklich meinen Blutdruck.
Doch der Fahrstuhl öffnet sich artig. Wie alle Fahrstühle in der Deutschen Bank wartet er im Erdgeschoss. Wir treten ein und die Kabine beginnt ihre Fahrt nach oben.
„Automatische Datenabtastung“, stellt Hektor anerkennend fest. „Der Fahrstuhl weiß, wohin wir wollen: ins Penthouse, zu den Wichtigtuern.“
Vor mir spielt ein Monitor bildgewaltige und kritisch recherchierte Werbefilmchen der Bank ab. Dezent beaufsichtigt eine Kamera die Kabine. Misstrauisch schaue ich hinauf, sie scheint abgestellt.
Wie um mich bloßzustellen, flackert ein schwachrotes Licht auf, direkt unter dem Objektiv, und die Werbung macht Platz für das Gesicht einer Blondine mit Schirmmütze.
Hektor, bis dahin gleichgültig herumlungernd, hechtet elegant in den toten Winkel der Kamera.
Ich sammle mich, versuche möglichst bankisch dreinzuschauen und stoße ein „Bitte schön?“ zwischen den Zähnen hervor.
„Herr Hausen? Sicherheitsdienst. Guten Abend“, ertönt ihre viel zu routinierte Stimme aus dem Lautsprecher. „Sie haben ihre neue ID-Card eingesetzt, ohne sie zu aktivieren, das hat bei mir Alarm ausgelöst.“
„Hoffentlich haben Sie nicht den Bundesgrenzschutz herausgeklingelt, meine Liebe. Bei mir ist es nur später geworden. Die neue Karte habe ich mir in der Poststelle abgeholt.“ Entschlossen führe ich meinen Feldzug wider Wahrheit und Redlichkeit.
Die Amazone rückt missmutig von der Kamera ab. Offenbar hat sie mein Aussehen mit einem Bild auf ihrem Rechner verglichen. Ich nestle nervös an meiner fehlenden Krawatte herum. Was für einen armseligen Banker gebe ich ab?
Je mehr die Blondine von ihrem Aussehen preisgibt, desto unwohler wird mir. Sie trägt Uniform mit Schusswaffe und ruft vermutlich aus dem Foyer an. Bewaffnete Frauen machen mich nervös – ungeachtet eines reizvollen Aussehens.
„Ich finde hier keinen Vermerk für Ihre Ankunft, Herr Hausen. Wie sind Sie hereingekommen?“
Ich zögere: „Mit, äh, Fitschen.“
„Müssen Sie sich an den Namen des Chefs erst erinnern? Oder schulden Sie ihm ebenfalls Geld? Sie liegen mit zwanzig Euro beim Fußball-Tippspiel im Rückstand; ich verwalte die Kasse.“
Augen zu und durch: „Sie kennen ja Fitschen. Er kam heute aus Asien zurück und rief mich erst mal zum Rapport, um den Jetlag zu nutzen.“ Ich zwinkere verschwörerisch. „In der Hektik haben wir uns nicht angemeldet.“
Ich sprühe vor Charme, aber an ihr scheitert mein Zauber.
„Ich werde mich bei Fitschen rückversichern. Und geben Sie Ihre alte Karte am Empfang ab, wenn sie das Gebäude verlassen, am besten zusammen mit Ihren Spielschulden.“
„Ich werde daran denken. Ist die Cafeteria noch geöffnet?“
Verflixt, Argwohn kehrt in ihr Gesicht zurück: „Natürlich. Die Cafeteria hat immer geöffnet.“ Sie schüttelt den Kopf und schaltet ab. Das Kameraauge erlischt; ich bin mit Hektor allein und erleichtert, etwas Zeit herausgeschunden zu haben.

02:57

Hektor wartet tiefenentspannt in seiner Ecke der Kabine wie ein Chauffeur am Flughafen. In den Händen hält er noch den Zettel, auf welchen er hastig den Namen Fitschen gekritzelt hat. Was für eine verschnörkelte Handschrift. Doch mit dem Namen hat er mich aus der Klemme befreit.
„Muss man diesen Fitschen kennen?“
„Iwo, er wird nur der nächste Vorsitzende der Deutschen Bank.“
„Ich dacht, das wäre dieser Inder?“, frage ich.
„Es gibt zwei. Fitschen ist der Deutsche.“
Wir verlassen den Fahrstuhl, der längst sein höchstes Stockwerk erreicht hat. Indirekte Beleuchtung hüllt den Flur in schwaches Licht. Hell und freundlich verbreitet sich der Gang zu einem Großraumbüro; weitere Türen schließen sich an, tragen seltsame Bezeichnungen wie: „Seminarraum Alpha 3, Gebäude- und Flächen-Management“. Tagsüber verteilen großzügige Glasscheiben das Sonnenlicht der Büros in die Flure. An den Wänden entdecke ich eine Serie von Ölgemälden mit einem gemeinsamen Thema: Zwanzig Dinge, die eine nackte Frau mit ihrem Kamm anzustellen vermag.
„Wir haben ein Problem.“ Hektor hat das Ende des Ganges erreicht. Ich trete neben ihn und schaue aus einem der über tausend Fenster des Turms.
„Wie hoch ist dieser Wolkenkratzer?“
„155 Meter. Genauso hoch wie das Gebäude neben uns.“
Ich schaue aus unserem Zwillingsturm hinaus. Aus dem Sockelgebäude ragen zwei nahezu identische Wolkenkratzer hervor, die punktsymmetrisch angeordnet sind: die zehntgrößten Hochhäuser Frankfurts, die elftgrößten Deutschlands.
Hektor deutet in die Nacht hinaus: „Soll und Haben heißen sie im Volksmund.“
Ich weiß nicht, in welchem der Türme wir uns befinden. Aber sein Zwilling liegt keine zwanzig Meter entfernt und seine Spitze ragt noch weitere vierzig Meter in die Höhe. Offenbar haben die Türme mehr als dreißig Stockwerke. Das Penthouse liegt noch einige Etagen über uns.
„Dein Ulrich ist wohl kein Vorstand?“
„Sag nicht Ulrich“, tadle ich. „Das ist Christians Taufnahme. Nenne ihn Herr Hausen. Höher bringt uns seine Gold-Card nicht, unsere Reise endet hier. Schade, ich hätte mir Fitschens Büro gerne angesehen; ist bestimmt ein Palast. Wo liegen denn die Edel-Fahrstühle für den Vorstand?“
„Angeblich gibt es Vorstands-Fahrstühle. Angeblich gibt es auch geheime Räume in den Türmen; von einem versteckten Büro ist die Rede, das Zugriffe auf alle Bereiche des Unternehmens bereitstellt. Wie sollen wir sie finden, wie öffnen, wie uns legitimieren?“
„Und die Treppe?“
„Alarmgesichert. Niemand geht hier zu Fuß; wofür sonst die kostspieligen Fitness-Studios?“
Hektor seufzt: „Wir müssen einen Ort aufsuchen, wo alle Fäden zusammenlaufen.“
Ich grunze zustimmend: „Cafeteria klingt gut.“

03:28

Der Fahrstuhl hat uns anstandslos (und ohne sich nach einem Ziel zu erkundigen) ins Erdgeschoss zurückgebracht. Jetzt schleichen wir uns durch gewundene Flure und verwinkelte Räume in die Cafeteria, aber ohne das Foyer am Haupteingang zu betreten, wo die neugierige Amazone vom Sicherheitsdienst lauert.
Eine Putzfrau passieren wir elegant, indem ich ein wichtiges Gesicht aufsetze, während Hektor sie mit dünkelhafter Nichtachtung straft. Hat die Welt jemals einen derartigen Damenbart gesehen? Beängstigend! Aber die gute Putze achtet nicht auf uns, sondern schrubbt gelangweilt vor sich hin; die Reinigungsbrigade kennt in Frankfurt keinen Feierabend.
Wir gehen an einer elektronisch gesicherte Tür vorbei. Nur Schlüssel, PIN und Fingerabdruck gemeinsam vermögen sie zu öffnen. Neugierig halt ich inne.
„Viele bedeutende Sektoren finden sich nahe der Cafeteria. Dieser beherbergt angeblich Pläne der Deutschen Bank zur Erlangung der Weltherrschaft; ist aber nur ein Gerücht.“
„Vermutlich eine Besenkammer“, spiele ich meine Scheu herunter und beschleunige meine Schritte.
Die Cafeteria erstrahlt im Himmelblau der indirekten Beleuchtung. Ein friedliches Bild; vereinzelte Gestalten rekeln sich an einer Schar von Bistrotischen und in einer gemütlichen Sitzecke: Putzmänner, Sicherheitsfrauen, Techniker, Admins. Natürlich keine Banker, die längst nicht so hart am Erfolg der Bank arbeiten wie an ihrem Ruf. Hektor schmeißt sich auf einen Plastikstuhl, während ich nach der nimmermüden Kaffeemaschine linse. Vor den Wachleuten fürchte ich mich nicht. Das Innere der Cafeteria ist Heiliger Boden. Bis auf das Personal arbeitet hier niemand und im Angesicht eines doppelten Espressos sind alle gleich. Vorstand und Toilettenfrau trinken gemeinsam einen Latte macchiato. Allerdings trinkt der Vorstand aus handsignierten Tassen mit Namenszug. Sie stammen aus dem Insignien-Schrein, einer edel illuminierten Glasvitrine mit Vorstands-Zahnstochern und Ressortleiter-Eierbechern; vom niederen Stande neidvoll belugt.
Ich greife mir heimlich das Saftglas des Vorsitzenden, fülle es mit Capuccino und geselle mich zu Hektor, der auf zwei Stuhlbeinen wippend die Decke begutachtet.
„Wenn du nicht weiter weißt, könntest du deine Auftraggeber verständigen“, schlage ich vor und ernte ein Grunzen.
Gelangweilt wendet er mir das Gesicht zu, bekommt große Augen, greift nach meinem Capuccino, verliert das Gleichgewicht und stürzt tosend zu Boden.
Ich schaue mich gehetzt um, aber seltsamerweise nimmt niemand Notiz von uns.
„Gib mir das Glas!“
Mutig stemme ich mich hoch, bereit zu verteidigen, was mir zusteht; aber an seinem finsteren Blick zerbricht mein Widerstand. Ich stürze den Rest des heißen Getränks hinunter und reiche ihm triumphierend hustend das leere Glas.
Er nimmt es auf wie einen Schatz.
„Hochbezahlten Angestellten steht ein eigenes Klo zu!“
„Ist was mit deiner Verdauung?“
„Und zwar direkt neben ihrem Büro, weil Führungskräfte faul sind. Aber der Vorstand leistet sich keine eigene Cafeteria, der Betriebsrat würde auf die Barrikaden steigen.“
Ich warte geduldig auf den Springenden Punkt, während ich dem Personal beim Spülen zusehe.
„Es muss einen schnellen und direkten Zugang von den Vorstandsräumen zu dieser Cafeteria geben“, doziert Hektor weiter und rappelt sich auf, das Saftglas vor sich haltend wie besagte Briefbombe. „Ich sehe zwei Möglichkeiten, einen solchen Zugang zu schützen.“
Ich werde neugierig und folge ihm.
03:36
Hektor trägt das Glas vor sich her wie einen Reichsapfel: „Moderne, digitale und unfassbar zeitraubende Maßnahmen könnten eine Tür vor unerlaubtem Betreten schützen – und die Mittagspause entsprechend verkürzen. Oder man schützt den Zugang mit einer uralten, erprobten Methode: einem Geheimnis. Wer würde einer unscheinbaren, ungesicherte Tür neben dem Insignien-Schrein Bedeutung zuschreiben?“
Mit diesen Worten öffnet er eine unscheinbare, ungesicherte Tür neben dem Insignien-Schrein mit der Aufschrift Biomüll-Sammlung. Mit einem Blick zurück vergewissere ich mich: Alle Wachleute schlürfen friedlich an ihrem Kaffee; so schlüpfen wir durch die Tür und landen in einem Flur, in dem keine vertrocknete Kartoffelschale und kein einsamer Teebeutel auf ihre Kompostierung warten. Stattdessen sehen wir gegenüber eine wichtige Stahltür und daneben einen unwichtigen, rustikalen Holzstuhl. Auf dem Holzstuhl döst entspannt ein hochgewachsener Schwarzer, der Morgan Freeman aufs Haar gleicht.
„Guten Morgan“, grüße ich unwillkürlich. Zum Glück reagiert der Alte nicht.
Natürlich ist er nicht schwarz, sowenig ich weiß bin. Dunkelhäutig träfe es besser. Besser als farbig und viel besser als maximal pigmentiert. Ich bleibe bei schwarz. Politisch korrekt verläuft der Weg in die Hölle!
Ich straffe mich, winke mit meiner Gold-Card und presche vor: „Hausen mein Name, ich werde erwartet. Krisensitzung bis in den frühen Morgan, sie wurden bestimmt unterrichtet.“ Ich winke Hektor, der mir kopfschüttelnd folgt, lasse den Alten rechts liegen und erreiche die Tür …
… die keinen Knauf hat, keine Klinke, überhaupt keine Mechanik. Das ruiniert mein Konzept. Ich beuge mich zu dem Schwarzen hinab und flüstere: „Sie können uns jetzt hindurchlassen.“
Der Alte hat bis jetzt keine Miene verzogen. Entdecke ich einen Hauch von Genugtuung in seinen Augen? Langsam wendet er mir den Kopf zu und sagt: „Wenn zu wenig Luft in einem Raum ist, atmen alle ein wenig schneller.“
„Wie bitte?“
„Wenn den Kunden dein Wein nicht schmeckt, dann erhöhe doch einfach die Preise“, antwortet er in einem Ton, als wäre damit alles klar.
Ich schaue ratlos zu meinem Mitstreiter. Hektor runzelt die Stirn. Zum ersten Mal in der heutigen Nacht scheint er ernsthaft interessiert.
Ich ermuntere Morgan zu weiteren Statements, in der Hoffnung, Hektor möge schlau daraus werden. Mich befriedigt keine Phrase wie: „Könnten nur wenige Menschen an Grippe erkranken, die Gesunden würden den Infizierten ihre Krankheit neiden.“
Langsam kommt Hektor dem Rätsel auf die Spur: „Es geht um einen Mangel! Und es geht um Wirtschaft!“
„Du meinst wie bei der Inflation?“, frage ich.
„Inflation“, grätscht Morgans Bass sogleich dazwischen und bringt uns zum Schweigen. Er nimmt eine Märchenonkel-Haltung ein und beginnt mit seinem Vortrag:

03:43

„Menschen sind wie Kinder und der Staat ist nicht mehr als ein Kindergarten.
Nehmen wir an, eine Kindergärtnerin kommt auf die glorreiche Idee, eine Küchenhilfe einzusparen. Stattdessen sollen die Kinder beim Abwasch helfen. Kinderarbeit ist natürlich verboten, die Kleinen sollen freiwillig abspülen. Von dem ersparten Geld wird nämlich eine Playstation gekauft und wer fleißig mithilft, darf dafür Ego-Shooter spielen. Allerdings erst später, denn bis die Playstation gekauft werden kann, muss noch eine Menge Geschirr abgetrocknet werden. Die Kindergärtnerin verteilt Gutscheine als Ersatz für eine Stunde Konsolenspiel. Das nennt man die Einführung der Geldwirtschaft. Nichts anders ist Geld als ein Versprechen. Doch wir alle vertrauen unserer Kindergärtnerin, nicht wahr? Ist das Spiel endlich angeschafft, hat der Kindergarten bereits kräftig (Staats-) Schulden bei seinen Zöglingen, die gierig darauf warten, endlich zu zocken. Doch der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden und so müssen viele auf morgen oder nächste Woche vertröstet werden.
Plötzlich will keiner mehr abspülen, die Betreuerin muss den Kindern viel mehr Stunden an der Playstation versprechen, damit sie in der Küche helfen. Das nennt man eine Schuldenkrise. So kommen immer mehr Schulden, immer mehr versprochene Stunden zusammen; der ganze Kindergarten ist bedroht, denn die Kinder dürfen auf keinen Fall das Vertrauen verlieren und aufhören zu spülen.
Doch bietet uns die Lehre der Volkswirtschaft zwei Lösungen aus dem Dilemma: Wachstum und Sparen. Sparen hieße, die Betreuerin gäbe weniger Stunden für die Playstation heraus, es würde weniger abgewaschen und dafür gäbe es weniger Gutscheine. Die Reichen, die darauf warten, ihre Stunden abzuspielen, freut das, denn sie können hoffen, nun bald an der Reihe zu sein. Die Armen, die sich noch keine Stunden verdient haben, murren, denn sie müssen für die gleiche Leistung mehr arbeiten und kommen schwieriger an die begehrten Gutscheine.
Die Zweite Möglichkeit hieße Wachstum: Die Kindergärtnerin würde einfach die Anzahl der Mahlzeiten erhöhen. Dann gäbe es mehr abzuwaschen und mehr Versprechen für die Konsole. Im ersten Augenblick hört sich das unsinnig an, nicht wahr? Aber die Kinder steigern damit die Produktivität und sparen mehr als eine Küchenhilfe ein; dem Kindergarten werden mehr Mittel zugebilligt, welche er für den Kauf einer zweiten Playstation vorsieht.
Doch das kostet Zeit. Die Kinder müssen noch mehr abwaschen, bekommen noch mehr versprochene Zeit und müssen noch länger warten, denn die zweite Konsole wird sich der Kindergarten nicht so schnell leisten können. Die Kleinen verlieren das Vertrauen in die Versprechungen und tauschen untereinander. Sie wollen unbedingt bald spielen, koste es, was es wolle. So tauschen sie drei Gutscheine für später in einen für sofort. Damit werden die Versprechen der Kindergärtnerin immer weniger wert, das nennt man Inflation.
Inflation verringert zwar die Schulden, aber auch die Produktivität und mehrt die Unzufriedenheit, will heißen: Die Kinder wollen nicht mehr abwaschen, die Eltern beschweren sich und die Kindergärtnerin muss um ihre Stelle fürchten.
Doch keine Angst, es gibt ein Happy End. Ein Mittel bleibt der Kindergärtnerin noch, der unbeliebte dritte Weg: Der Schuldenschnitt. Plötzlich sind alle Versprechen nur noch die Hälfte wert. Man darf für einen Gutschein nur noch eine halbe, statt eine Stunde spielen. Da murren und heulen sie auf, die Kinder, die schon viele Versprechen gesammelt haben. Doch ist die Schuld des Kindergartens nicht mehr so erdrückend; die Wartenden kommen jetzt schneller zum Spielen und eine halbe Stunde ist besser als gar nichts. Und als die übrigen Kinder sehen, dass sie nicht mehr so lange warten müssen, bis sie an die Konsole dürfen; da spülen sie auch wieder eifrig ab. Und sollte das Geld für eine zweite Konsole bald verdient sein, ist der Kindergarten vor weiteren Krisen vielleicht gefeit.“
Morgan schweigt und starrt wieder gegen die Tür zur Cafeteria. Wir haben ergriffen gelauscht und gar nicht bemerkt, dass die Stahltür neben ihm aufgeglitten ist. Schnell schlüpfen wir hindurch in das gelobte Land: Vorstandsebene.
„Ein seltsamer Kauz, dieser Knilch“, unke ich.
„Der seinen Posten lausig erfüllt, zu unserem Glück.“ Doch Hektors Stimme schwankt, verstohlen schaut er sich um. Das ist neu.

03:58

Wir erreichen den Vorstands-Fahrstuhl.
„Paternoster“, stellt Hektor fest.
„Nein, das ist ein herkömmlicher Aufzug, für den wir eine Legitimation brauchen.“
„Wäre mir jetzt nicht aufgefallen. Aber die Angestellten nennen den Vorstands-Aufzug Paternoster, zu Deutsch: Vater Unser. Teste deine Gold-Card!“
Zögerlich wedle ich mit der Karte vor dem Sensor herum. Es gelingt, die Tür öffnet sich sogleich. Deutsche Bank Fahrstühle warten immer im Erdgeschoss.
„Runter zu den Tresoren oder rauf zu den Büros?“ Hektor grinst unternehmungslustig. „Lass mich nur fünf Minuten alleine mit den Millionen.“
Ich schaue missbilligend: „In den Kellern wirst du weder Tresore noch Geld finden. Sie speichern das Geld auf Festplatten. Die darfst du klauen, wenn du willst. Dafür kannst du an deine Millionen noch ein paar Nullen dranhängen.“
„Ist vielleicht auch besser so. Also los, zu Fitschens Büro.“
„Nicht zum Vorsitzenden?“
„Fitschen wird leichter!“
„Leichter?“
Hektor lächelt überlegen, springt mit einem Satz in den Paternoster und kreuzt die Arme wie ein Feldherr. Ich folge ergeben. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, der Bildschirm bleibt dunkel, die Leitenden müssen nicht von Werbung berieselt werden.
„Belastendes Material über den Vorsitzenden finden wir bei Fitschen. Die beiden sind Rivalen und spionieren sich gegenseitig aus.“
„Rivalen?“, Hektor scheint mir gut informiert. „Dass der eine den anderen beerbt, steht doch fest.“
„Der schweizer Geldjongleur mag den aufrechten Norddeutschen nicht. Der Vorsitzende baute diesen Inder als Nachfolger auf, der scheffelte sagenhafte Gewinne auf dem Finanzmarkt. Das ist der Markt, auf dem nicht mit Waren, sondern mit Ideen, Versprechen und Wetten gehandelt wird: mit Aktien, Devisen und Derivaten. Die Traditionalisten stehen auf Fitschens Seite, der ist gesellschaftspolitisch superb vernetzt. Sie haben eine Doppelspitze durchgesetzt und seit dem herrscht Zickenkrieg zwischen dem Schweizer und dem Deutschen. Der Vize wäre bereit, auf Forderungen der Politik einzugehen. Der Staat strebt nach mehr Sicherheit, verlangt von den Banken mehr Eigenkapital. Sicherheit allerdings geht zu Lasten der Rendite. Der Vorsitzende hingegen will seinen Thron vergolden, bevor er ihn räumt, träumt von astronomischen Gewinnen, setzt alle Tricks dazu ein, mehr Eigenkapital vorzugaukeln als vorhanden. Die nächste Krise sieht er jenseits seiner Amtszeit.“
Auf welcher Seite mag Hektor bei diesem Machtkampf stehen? Er lässt sich nicht in die Karten schauen, so betoniere auch ich mein Poker-Face.
Der Aufzug hält im obersten Stockwerk, keine Minute dauerte die Reise. Ich springe sogleich zum nächsten Fenster und vergewissere mich, dass nur noch der Himmel über uns thront – und der Commerzbank Tower.
Knapp hundertfünfzig Meter geht mein Blick in die Tiefe, welche des Nachts fiebrig erleuchtet ist. Mir schwindelt.
Hektors Stimme von der anderen Seite des Flurs: „Ich habe sein Büro gefunden. Wie kommen wir hinein?“

04:08

Ein grollendes Beben erschüttert den Turm. Wie ein verschrecktes Küken klammere ich mich an Hektor fest: Mitleidig schüttelt er mich ab.
„Was war das?“
„Flugzeug?“, vermute ich.
„Das müsste die Schallgeschwindigkeit aber zu unseren Füßen überschritten haben.“
Ein unangenehmer Gedanke. Ich schüttle die Erinnerung an die New Yorker Zwillingstürme ab und widme mich der Gegenwart. Die Tür zu Fitschens Büro wird durch ein Kartenlesegerät bewacht. Ich fuchtele mit der Gold-Card vor dem Sensor herum. Ein ermutigendes Knacken folgt, die Tür bleibt jedoch verschlossen. Das Tastenfeld leuchtet auf.
Hektor klopft mir auf die Schulter: „Versuche: St. Josef!“
Ich tippe die Zahlen zu den entsprechenden Buchstaben ein. Schon nach 7856 springt die Tür auf. Kein Alarm. Wir erobern das Büro des zweitmächtigsten Mannes der Deutschen Bank.
„Finger weg von den Rechnern“, warnt mich Hektor. „Suchen wir nach schriftlichen Hinweisen.“
Eine elegante Synthese aus Arbeitsstätte und Statussymbol erwartet uns, mehrere Räume, darunter das unvermeidliche persönliche Klo. Hektor verschwindet in einem unordentlichen Nebenraum, während ich den Empfangssaal in Augenschein nehme: Samt auf den Stühlen, Möbel aus edlen Hölzern, dazwischen moderne Technik.
„Wenn der jetzige Vorsitzende seine Abschlusszahlen auf Kosten der Zukunft schönen will, dann ist doch er der Bösewicht, oder?“, frage ich in die Stille.
„In zehn Jahren würde es Fitschen genauso machen. Der persönliche Vorteil geht über alles, so sind wir erzogen. Nicht die Fähigen schaffen es nach oben, Fähige gibt es genug. In dieses Büro bringen dich nur kluge Vernetzung, eine hohe Rendite und genügend Intriganz.“
„Und das geheime Büro irgendwo in den Türmen, von dem du phantasiert hast? Dort gelangt man wie hin?“
Hektor reagiert scharf: „Veralbere das nicht! Ich glaube fest an das Gerücht – und irgendwann lüfte ich das Geheimnis.“
Ich gehe nicht darauf ein, habe Aufregenderes gefunden. Zwei Eintrittskarten für das Stadtderby morgen: Eintracht gegen FSV. Loge mit Buffet. Soll ich die Tickets einstecken? Ich könnte meinen seltsamen Mitstreiter einladen?
Ich entscheide mich dagegen, für ein solches Spiel nimmt man nicht einmal Freikarten. Ein Hooligan-Jahrestreffen. Für verruchtes Gesindel ist Frankfurt weltbekannt, angefangen bei seinen Bankiers.

04:19

„Ich habe etwas gefunden, eine Notiz.“ Hektor wedelt mit einigen Seiten, es erweist sich als ergiebiger, Fitschens Arbeitszimmer zu durchsuchen als seinen Thronsaal.
„Eine Statistik, wonach die Deutsche Bank 2011 vor Steuern über fünf Milliarden Euro Gewinn gemacht hat.“
Ich pfeife stümperhaft durch die Zähne.
„Das ist das fünftbeste Ergebnis aller Zeiten. Aber einen Verlust in gleicher Höhe hat die Bank 2008 verkraften müssen. Das hat Fitschen auf dieser Statistik dick in rot angestrichen. Darunter steht: ‚Den Inder daran erinnern, bohre in alten Wunden, nutze vergangene Triumphe!’ Weißt du, was das bedeutet, Roland?“
„Ähh …“
„Fitschen nutzt im Machtkampf jeden Trumpf. Die Finanzkrise von 2008 hat ihn nach oben gespült.“
Ich erinnere mich an die leidenden Gesichter in der Branche: „Ich dachte, die Krise war für alle Banken ein Fiasko.“
„Natürlich, sie haben Geld verloren. Wir befinden uns in einer Bank. Alles, was zählt, ist Geld. Dieser Inder, Leiter des Finanzmarkgeschäfts, früher in London, heute weltweit, hat die Aktionäre mit Geld zugeschissen. Der Vorstands-Vorsitz war ihm sicher, darüber hinaus förderte ihn der Amtsinhaber.“
„Bis 2008.“
„Richtig. Der Einbruch versetzte die Aktionäre in Panik, Fitschen wurde nach oben gespült, der aufrechte Niedersachse flößt Vertrauen ein. Die Finanzkrise bescherte ihm den Turm, in dem wir gerade stehen. Nächstes Jahr soll der andere folgen.“
Nachdenklich spiele ich an meinem Ohrläppchen: „Fitschen profitierte von der Krise. Heißt das auch: Er hat sie verursacht?“
Ein absurder Gedanke. Als würde ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten.

Könnten wir Fitschen eine Beteiligung an der Finanzkrise nachweisen, wäre er ruiniert und ich würde zum Held. Nicht die hoch bezahlten Manager des Global Players Deutsche Bank, nicht die ewig lauernde Konkurrenz, nicht die staatliche Finanzkontrolle, kein Professor, kein Journalist hätte diesen Skandal aufgedeckt, sondern ich: Roland Bell, ein kleiner Schnüffler und Chemiker aus dem Westerwald. Ein Niemand aus der Provinz, wo der Lehrer noch als Intellektueller durchgeht.
„Traust du Fitschen das Attentat auf den Vorsitzenden zu?“
Hektor verzieht versonnen die Lippen: „Ich traue ihm ein geglücktes Attentat zu. Dieses konnte niemals gelingen. Hat er es geplant, so sollte es schief gehen.“

04:34

„Wer beurteilt eigentlich Rating-Agenturen?“
Damit ist Hektor nicht zu beeindrucken: „Woran glaubt Gott? Wer verführt den Teufel? Wen bestechen Politiker …?“
Ein durchdringender Ton stört seinen Wortschwall. Die Sprechanlage auf dem Ungetüm von Schreibtisch schaltet sich ein.
Spontan bestätige ich mit einem Tastendruck: „Fitschen. Wer stört?“
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Hektor eine Spur blasser wird und sein Gesicht in den Händen vergräbt. Wenigstens ein Erfolg.
Die blondgesträhnte Stimme, die mir entgegenfröstelt, ist wohlbekannt und – wie ich weiß – bewaffnet. „Wollen Sie mich veralbern, Herr Hausen? Dies ist ein Bildtelefon.“
„Sollte nur ein Scherz sein, Mademoiselle“, rede ich mich heraus. „Fitschen müht sich gerade auf dem Lokus ab; Sie wissen schon: asiatisches Essen.“
„Daran sollte er sich mittlerweile gewöhnt haben. Ein Notfall, ich muss ihn sofort sprechen. Wir müssen das Gebäude evakuieren.“
„Soll er Sie nach getaner Arbeit zurückrufen?“ Mein leutseliges Lächeln könnte Stahl schneiden.
Sie zögert: „Ja, bitte. Es eilt.“
Gerade will die Gute abschalten – Triumph keimt in mir auf – als sie zögert.
„Soeben hat sich Jürgen Fitschen an seinem Nutzerkonto angemeldet – von Zuhause aus.“
Verdammt. Aufgeflogen.
„Vielleicht seine Frau?“, unternehme ich einen letzten Versuch. Doch die Alarmsirene besiegelt meine Niederlage. Ich schaue mich nach einem Fluchtweg um.
„Bitte bleiben Sie ruhig, der Wachschutz ist unterwegs, um das Missverständnis zu klären. Verlassen Sie auf keinen Fall das Büro. Die Kollegen sind in der Nähe – und ziemlich nervös.
Hektor schleicht sich am Kameraobjektiv vorbei Richtung Ausgang. Auch ich erhebe mich. Eine lumpige Minute bloß.
„Bleiben Sie um Gottes Willen stehen. Hier unten ist die Hölle los, schon im Fahrstuhl kamen Sie mir eigenartig vor. Warum haben Sie die Sicherheits-PIN für die Gold-Card nicht eingeben?“
„Sie meinen die 3845?“, frage ich im Aufstehen.
„Nein, die 4688“, antwortet die Blondine, stutzt kurz, wird puterrot und schnauzt mich an: „Das hilft dir jetzt auch nichts mehr. Bleib sitzen, du Idiot; wenn du an dem Desaster unschuldig bist, schießen dich die Wachen umsonst über den Haufen!“
Ich bin schon weg. Doch sie brüllt so laut durch die Anlage, dass ihre Stimme bis in den Flur reicht: „Ihr Männer seid wie Kinder, ihr wollt immer alles und sofort. Ein Leben lang mogelt ihr euch von Kick zu Kick, ungeachtet aller Konsequenzen. Ihr glaubt, ein immer mehr und immer öfter mache euch glücklich. Was tut ihr der Welt damit an? Doch gleich kommt die Kindergärtnerin und haut euch auf die Finger …“

04:41

Wir stehen vor dem Paternoster, doch die Tür bleibt verschlossen. Ich wedle wie ein verrückter mit der Karte vor dem Sensor, aber der Aufzug legt sich im Alarmfall selbst still.
„Geh lieber ins Büro zurück“, warnt Hektor. Er zückt und entsichert seine Heckler & Koch. „Die Wachmänner kommen die Treppe herauf, in wenigen Sekunden sind sie hier.“
„Noch habe ich nicht aufgegeben.“
Erst packt Hektor mich bei der Schulter: „Als du mit Morgan geredet hast, da habe ich es gesehen: Eine Todesdrohung schwebt über deinem Haupt. Der Sensenmann schärft bereits seine Klinge.“ Dann entspannt er sich. „Du begegnest heute deinem Schicksal. Folglich kannst du auch hier bleiben.“
Ich verdrehe die Augen: „Demnach bekommt meine Mutter ihr Geld nicht mehr zurück.“ Von fern höre ich die Schritte der heraneilenden Söldner.
Verzweifelt tippe ich St. Josef in das Tastenfeld des Kartenlesers. Jetzt bloß keine Schießerei. Wenn die verdammte Tür sich nicht sofort öffnet, bin ich gescheitert, und zwar viel zu früh.
Das Getrappel wird lauter, im letzten Augenblick öffnet sich die Tür. Ich springe hinein.
In der Deutschen Bank warten die Fahrstühle immer im Erdgeschoss.
Ich falle.
Hektor ruft mir etwas hinterher.
Es dauert fünfeinhalb Sekunden, einen hundertfünfzig Meter tiefen Schacht hinabzustürzen. Ich breite die Arme aus, das verschafft mir ein paar zusätzliche Augenblicke.
Von fern vernehme ich Sirenengeheul.

Aufschlag.

04:44

Exitus …

(weiter geht's gratis und in Farbe unter www.BadBanks.de)

Impressum

Texte: Holger Dörr; 56237 Caan; doerr@uni-koblenz.de
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
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