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Operation Maiglöckchen




DEIN LIED IST DREHEND WIE DAS STERNENGEWÖLBE
ANFANG UND ENDE IMMERFORT DAS SELBE
UND WAS DIE MITTE BRINGT IST OFFENBAR
DAS WAS ZU ENDE BLEIBT UND ANFANGS WAR
Johann Wolfgang von Goethe



… eine Frau, in deren Armen er eines Tages sterben wollte. Als er Emma zum ersten Mal traf, er besuchte ihre Eltern in Schaffhausen, da war sie vierzehn. Und doch verriet er später am Abend seinem Studienfreund erschüttert, er sei heute der Frau begegnet, die er eines Tages heiraten werde.
Weißt du, wie er sie eroberte, heiratete und das Leben mit ihr teilte, über fünfzig Jahre?

Wenn mich die Melancholie überfällt – Schwermut begleitete mein Leben –, erinnere ich mich an diese Romanze und frage mich, an wessen Seite ich hätte sterben wollen? Erst das Lebewohl verleiht der Liebe Vollendung. Es beglaubigt ein erfülltes Leben, ist keine Tragödie. Meine Liebe blieb unvollendet, ich starb an der Seite meines Mörders.



Der Mann, der sich so hingebungsvoll um seine Emma bemühte, hieß C. G. Jung. Sechs Jahre wartete er, bevor er Schaffhausen, Kantonshauptstadt und einen Tagesmarsch vom Bodensee entfernt, erneut bereiste. Man schrieb den November 1902.
Jung war ein hoffnungsvoller Assistenzarzt, doch noch ohne Meriten und verschlossen und schüchtern. Da gab sie ihm einen Korb. Freilich warb er unverdrossen weiter und die Zeit ließ die junge Frau wanken.
„Carl Gustav“, sprach sie eines Nachmittags.
„Nenn mich C. G. Alle Welt tut das, bis auf meine Mutter.“
„C. G.“, sprach sie, „ich möchte, dass du mir ein Maiglöckchen pflückst – als Beweis deiner Liebe. Sie wachsen nicht weit von hier, am Rheinfall.“
Jung war keineswegs erfreut, wie sie gehofft hatte. Sein Verstand sezierte jedes ihrer Worte: „Liebe lässt sich nicht beweisen. Und erst recht nicht mit einem Gewächs.“
Doch gegen ihren Charme konnte seine Sachlichkeit nicht bestehen: „Allein diese Blüte ebnet dir den Weg in mein Herz.“
„Du knüpfst deine Zukunft an eine alberne Spielerei?“
„Entscheidend ist nicht ob, sondern wie du es schaffst!“, lautete ihre rätselhafte Antwort.
„Nun gut“, er lehnte sich entspannt zurück und schlürfte siegesgewiss an seinem Hagebuttentee. Emmas Mutter hatte das Meißener Teeservice aufgeboten, welches sie behütete wie ihren Augapfel. Sie war eine alte Freundin seines Vaters und C. G. war in ihrem Haus willkommen, wie auch sein Werben um ihre Tochter.
Emma schaute ihn erwartungsvoll an. Das beunruhigte den jungen Mann. „Wie? Jetzt?“
„Natürlich jetzt“, war die glockenhelle Antwort, „oder musst du erst einen Plan schmieden?“
Seine Brauen krochen aufeinander zu. Kein Studium der Psychologie half dabei, die Frauen zu verstehen. Zögerlich erhob er sich. Sie folgte ihm.
„Du willst mich begleiten?“, er wurde ungehalten. „Hast du Angst, ich könnte dir ein Maiglöckchen vom Laden an der Ecke besorgen?“
Jetzt lachte sie ihn schonungslos aus, als hätte er etwas völlig Illusorisches gesagt: „Ich will sehen, wie du es vollbringst.“

Eine Stunde später standen die beiden am Fuße des Rheinfalls. Der bedeutendste Strom Europas ergoss sich hier fast hundert Fuß in die Tiefe. Jeder Atemzug, den sie seit ihrer Geburt getan hatten, ließ vierhundert Tonnen Wasser die Felsen hinabdonnern; und es würde weiter fallen, weit über ihren letzten Atemzug hinaus. Die Wassermassen und das Getöse brachten C. G. jedes Mal zum Verstummen. Emma ließ ihn kurz gewähren, dann führte sie ihn zielstrebig den Hügel hinauf.
„Und wo finde ich nun deine Maiglöckchen?“
„Hinter den Wassern.“
Verstimmt schüttelte er den Kopf: „Da können unmöglich Blumen gedeihen. Du hältst mich zum Narren!“
Wie wenig Verständnis er doch für diesen einzigartigen Dienst aufbrachte: „Folge dem Weg! Er führt dich hinter den Wasserfall.“
„Ich sehe keinen Weg! Hier sind Felsen und Wiesen, ein denkbar ungeeigneter Ort für Maiglöckchen.“ Seine Stimme hatte sich erhoben.
Sie überging seinen Zorn. Für ihren Erfolg war er unbedeutend: „Der Weg liegt vor dir, er hat sich nur deinem Blick entzogen.“
Ohne ein Wort wandte Jung sich um und stapfte den angedeuteten Trampelpfad entlang. Nicht nur Menschen beschritten ihn, sogar Aale hatten sich immer wieder emporgewunden. Mit zäher Sturheit umgingen die jungen Steigaale in den klammen Morgenstunden den Wasserfall über Land und gelangten so in die Lebensräume ihrer Ahnen.
Emma ließ ihm etwas Vorsprung. Sollte seine Verbitterung andere Ziele finden. Sie nahm noch einen tiefen Zug der klaren Herbstluft, denn bald würde es dunkel und stickig werden.
In ihrem Rücken vernahm sie regelmäßige, stapfende Geräusche und blickte sich um: Eine hagere, vermummte Gestalt schritt da durch das Gras, schaute nicht auf und kam doch immer näher. Emma beeilte sich zu ihrem Begleiter aufzuschließen: „Wer ist der Bursche hinter uns?“
Jung schaute nicht zurück: „Das ist mein Träger. Er trägt die Lasten, die mir selbst zu schwer sind.“
In der Tat hatte sich der Vermummte ein weißes, längliches Bündel auf die Schulter gepackt; es war mit einem Strick zusammengehalten. Die andere Hand spielte mit einem Zündbandfeuerzeug. Der Fremde hatte die Kapuze tief über das Gesicht geschoben; staubgrau gespeckt war sein Mantel, so überlistete er den Schmutz. Emma hätte nicht zu sagen vermocht, ob Mann oder Weib in ihm steckten, doch war die Gestalt hochgewachsen, wie auch C. G.
Das Paar erreichte eine mannshohe Öffnung. Sie führte geradewegs in den Felsen hinein, von dem sich der Rheinfall stürzte. Der Träger wartete in einigem Abstand. Jung kratzte sich am Kopf und besah sich den Eingang zu der Höhle. Sie schien natürlichen Ursprungs.
„Du willst mich wirklich dort hineinbegleiten? Das wird dein Kleid ruinieren!“
Wieder ihr helles Lachen: „Ruiniere du nicht unsere Ehe und ich werde das Kleid verschmerzen. Ich weiß seit Langem, was mich erwartet.“
Sie vollführte eine einladende Geste, der er grimmig folgte. Dunkelheit empfing ihn. Sie blieb dicht an seinen Fersen, einen Zipfel seiner Jacke in Händen.
Ein Schnippen und ein sanfter Lichtschein erhellte die Höhle. Der Geruch von Benzin stach in ihre Nasen: Jungs Träger hatte sein Feuerzeug entzündet. Emma drängte sich näher, der Unbekannte war ihr unheimlich.
„Ich bin hier gewesen, vor langer Zeit“, er vermochte nicht zu sagen woher, aber C. G. kannte die Höhle. Der Gang war schmal, gerade breit genug für einen Menschen. Mehrmals musste er sich ducken. Tautropfen liefen seinen Nacken hinab. Sicherlich war kein Ort der Welt weiter entfernt vom nächsten Maiglöckchen.
Sie erreichten ein Gittertor.
„Der Weg ist versperrt. Kein Zutritt.“
„Willst du schon aufgeben? So sehr verzehrst du dich nach mir?“
Mürrisch griff er nach den verrosteten Eisenstäben und rüttelte kräftig. Sie tat es ihm gleich, doch einziger Erfolg war ein Eisenspan in ihrem Zeigefinger. Es blutete.
Im Hintergrund klimperte es. Das Feuerzeug immer noch in der Rechten, hatte der Träger sein Bündel entrollt, wobei ihm der Inhalt vor die Füße gefallen war. Er streckte seinen langen, knochigen Arm aus und hielt Emma das weiße Leinentuch hin. Sie näherte sich ihm zögerlich und griff danach, jede weitere Berührung vermeidend.
Während sie sich den Stoff um den Finger wickelte, erkannte Emma, was der Fremde in dem Bündel mit sich getragen hatte: Eine Brechstange.
„Wie passend!“, war ihr einziger Kommentar.
Der Träger wich zurück und wartete.
Emma nahm mit der verbleibenden Hand die Eisenstange auf und reichte sie ihrem heiratswilligen Begleiter. Jung war kräftig genug, um den Eisengittern zuzusetzen. Nach wenigen Minuten und ein paar Flüchen war das Hindernis überwunden. Sie quetschten sich zwischen den verbliebenen Stangen hindurch. Das Brausen des Wasserfalls schwoll wieder an.
Noch eine Biegung, dann traf sie Helligkeit. Die Höhle endete vor einer Wand aus Wasser, durch die sich vereinzelt Lichtstrahlen zwängten. Zehn Meter tiefer traf das Wasser mit Getöse auf sein Flussbett, doch hier oben übertönten ihre Stimmen den Krach.
Von hinten erklangen die Schritte des Trägers, der sich ebenfalls durch die Öffnung gezwängt hatte. Beharrlich hielt er sich im Hintergrund, das erloschene Feuerzeug ruhte willfährig in seiner Rechten.
„Da hast du dein Maiglöckchen“, Jungs Stimme war tonlos. Eine Handbreit neben dem tosenden Wasserfall wuchs ein Strauch mit Dolden voller schneeweißer Blüten.
Im Winter!
C. G. Jung beugte sich hinab und pflückte eine Blütentraube. Er besah sich ihre Kelche genau und roch ihr süßes Aroma, bevor er die Blumen, schlicht und unromantisch, an seine Angebetete weiterreichte. Hinter seiner Stirn ratterten die Maschinen.
Ihre Stimme sickerte in seine Überlegungen: „Ich bin stolz auf dich, mein Liebster. Du hast deine Aufgabe mit Bravour erfüllt. Lass uns heimkehren und unsere Verlobung verkünden.“
Jung hielt seinen Traum in Händen – und zögerte. Dieser Ort barg ein Geheimnis. Er verhieß größeren Segen als schlichtes Familienglück. C. G. blickte sich um: Am Eingang wartete noch immer schweigend sein Träger. Der Blick des Seelendoktors wanderte zu dem Maiglöckchen in Emmas Hand und endete in den tosenden Wassern.
„Nein!“
Seine Schärfe unterband jeden Einspruch. Er griff nach ihrem Arm und zog sie in Richtung des Rheinfalls.
Anfangs ließ Emma ihn gewähren, dann wuchsen ihre Augen, ihr Schritt stockte und sie hob abwehrend die Hände: „C. G.! Ich will nicht hindurch. Du kannst mich nicht zwingen!“
Er zögerte. Sie hatte recht. Das vermochte er nicht.
Überlegenheit kehrte in ihr Gesicht zurück. Das versetzte ihn in Wut. Die Reste der Blütenblätter fielen auf den kargen Steinboden.
Er selbst vermochte es nicht – aber ein anderer!
Jung ließ ab von ihr und wandte sich seinem dunklen Begleiter zu – zum ersten Mal im Leben: „Sag mir, Knochenmann, was hast du noch Hilfreiches mitgebracht?“, sein Blick bohrte sich durch die Kapuze des anderen.
Der zog schweigend ein Grablicht aus seinem Mantel hervor, eine winzige Laterne mit einer Kerze darin. Die Hand mit dem Feuerzeug zitterte unsicher.
Jung schluckte einen Kloß hinunter. Ein weitreichender Entschluss: „Wir werden es nicht brauchen.“
Die Gestalt nickte, packte Grablicht und Feuerzeug geschwind zurück und senkte demütig das Haupt.
„Ergreife sie und folge mir!“, mit diesen Worten drehte Jung sich um und sprang mit aller Kraft in die Wand aus Wasser. Der Rhein verschluckte seinen Anblick.
Jungs Träger nahm den Strick zur Hand, der bis eben noch sein Bündel zusammengehalten hatte, und näherte sich Emma. Sie wich erschrocken zurück, aber es gab kein Entkommen. Sie wehrte sich mit Tritten und Schlägen aber letztlich erwischte er ihre Handgelenke und band sie zusammen. Derart verschnürt erlahmte ihr Widerstand rasch. Er nahm die Frau auf und schritt auf den Wasserfall zu.
Sie beruhigte sich: „Sag mir, Fremder. Wer bist du?“
„Das Böse“, lautete die Antwort.
„Du sprichst? Ich habe keine Vorstellung vom Bösen.“
Die Stimme des Trägers wurde weicher: „Aber ich habe eine Vorstellung von dir. Und nur du verfügst über Sinne, meiner Stimme zu lauschen.“ Mit diesen Worten sprang er mit ihr durch den Fluss.
Sie wurden nicht herabgezogen. Es war nicht der Rheinfall, durch den sie fielen – nur eine dünne Wand aus Wasser, welche sie in einen Gemüsegarten führte – mitten in den Frühling.
Ihr Träger landete in einem schmalen Bachbett und ließ sie ans Ufer. Sie schüttelte sich die Feuchte aus den Haaren; eine Bewegung befreite sie von ihren Fesseln. Der Bach schlängelte sich durch einen Garten mit Rhabarber, Ranken von rotblühenden Kletterbohnen und Feldsalat. Ein Kiesbett entlanglaufend mündete er hundert Schritte entfernt in einen langgezogenen See mitten in den Bergen. Sie kannte das Gewässer aus Kindheits-Erinnerungen: der Zürichsee. Er lag fast hundert Kilometer entfernt vom Bodensee. Und wie im Frühling blühten die Narzissen.
C. G. stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Das Wasser tropfte von seinen Kleidern, aber er starrte regungslos auf einen Lehnstuhl, der mitten im Garten stand und ihnen die Kehrseite zuwandte. Dahinter ließ sich eine Person vermuten, von der klopfende und schabende Geräusche ausgingen.
„Willst du nicht zu ihm, mein Liebster?“
Er schüttelte vehement den Kopf: „Seinen Anblick vermag ich nicht zu ertragen!“
Sie nahm ihn bei der Hand und er ließ sich mitführen: „Lange genug warst du feige. Ein halbes Leben ist bereits vergeudet, dein Boot leckt, aber noch ist Zeit. Blicke dem Mann in die Augen und führe das sinkende Schiff zurück in den Heimathafen.“
Als sie um den Lehnstuhl herumschritten, wandte ihnen eine gebeugte Gestalt den Kopf zu und stellte das Hämmern ein. Jung sah in sein eigenes Gesicht, es schaute mehr zeitlos denn alt, doch voller Gleichmut.
Mit einem Meißel hatte der Alte einen Stein von einem halben Meter Kantenlänge bearbeitet. Von allen Seiten blickten ihnen Bilder, Verse und Symbole entgegen.
Der greise C. G. Jung erhob sich und begrüßte sein jüngeres Ich: „Treffen wir uns endlich wieder.“
Der Jüngere verstand; es war ein Wiedersehen: „Ich kenne dich, wie ich auch die Höhle kannte, die uns hierher führte. Du warst der Begleiter meiner Jugend. Der Weise, Immerwährende, der Gott geschaut hat. Bis eben hatte ich dich vergessen.“
Ein gütiges Nicken: „Ich bin das Ewige in dir, das dich in die Welt sandte. Wir kannten uns, aber verstanden hast du mich nie. Als du heranwuchsest, der Kindheit entsagtest, wurden unsere gemeinsamen Erlebnisse aufgesogen – und zwar von ihm“, er deutete auf die dunkle Gestalt, die immer noch ehrerbietig tropfend im Hintergrund ausharrte. „Jetzt kehren die Erinnerungen zu dir zurück, denn du brauchst sie für dein weiteres Leben.“
Jung verstand: „Du bist eine Projektion meiner Konflikte, ein Traumbild meiner selbst.“
„Falsch!“, Emma hatte gesprochen. Sie konnte den Blick nicht von dem Alten nehmen, der ihr Herz sperrangelweit öffnete.
„Falsch“, bestätigte der Alte. „Die Projektion bist du. Dein Leben ist mein Traum. Und heute hast du dir das Werkzeug verdient, um ihn zu verwirklichen. Du kannst mich verstehen“, er schaute zu Emma hinüber, „aber nur sie kann mein Wesen durchdringen.“
Jung war erleichtert: „Dann kehren wir heim, als Paar?“
„So ist es. Aber Vorsicht, die Geborgenheit, die du bei ihr suchst, die Rettung vor der Einsamkeit, wirst du nur bei mir finden. Verlier ihn nicht wieder, den Weg zu mir!“
So kehrten denn C. G. Jung und seine Verlobte Emma zurück nach Schaffhausen. Sie heirateten im nächsten Jahr, er begründete die Analytische Psychologie und sie blieben bis zu Emmas Tod zusammen …

… aber natürlich blieben sie nicht glücklich. Ein halbes Jahrhundert fortwährendes Glück findet niemand. Nichts in dieser Welt währt ewig, das weiß ich nur zu gut. Sein Leben lang litt Jung unter Erscheinungen; doch dieses Erlebnis versöhnte ihn soweit mit der Welt, dass er die beunruhigenden Bilder aus seinem Inneren zehn Jahre lang vergaß. Erst dann, er besaß jetzt die Kraft, den Trugbildern zu begegnen, drängten sie erneut hervor und bestimmten Leben und Werk des Gelehrten.
Deshalb mag ich die Geschichte. Und wegen der verschütteten Erinnerungen, die in dem Garten zutage traten.
Du findest das unglaubwürdig?
Jung sagte, er könne nur Geschichten erzählen; ob sie wahr wären, frage er sich nie, vielmehr ob sie seine Wahrheit erzählten.
Ihr setzt euch so gerne gleich mit eurem Bewusstsein, mit dem, was ihr wisst, wie beschränkt dieses Wissen auch sein mag. Aber als Jung sich selbst wiederbegegnete, da eröffnete sich ihm eine neue Welt. Aus diesem Wissen schuf er ein Leben voller Erfüllung und ein Werk mit Bestand.
Warum erzähle ich dir davon? Was du daraus lernen sollst?
Geboren werden macht alles erst einmal einfach. Begierden wollen befriedigt werden; das entscheidet über Freude und Frust. Es gibt kein Morgen und kein Gestern. Doch mit dem Verstand wächst die Sorge. Das Morgen fordert schon heute seinen Tribut, das Gestern quält uns noch mit vergangenen Lasten. Auch das Herz reift mit den Jahren. Wünsche entspringen ihm, nach tiefer Erfüllung und höchstem Glück. Mit jedem Jahr entheben wir uns ein wenig der kindlichen Einfalt, streifen Scheuklappen ab.
Hätten wir in Kindertagen gewusst, was das Leben für uns bereithält, wie Peter Pan wären wir dem Erwachsenwerden entflohen; der Reife, der wir so dringend bedürfen.
Und trotzdem glaubt ein jeder Mensch auf Erden, das Heute wäre sein Gipfel und das Morgen würde keine neuen Niederlagen und Einsichten bereithalten.
Und trotzdem glaubt ein jeder Mensch auf Erden, mit dem Tod ende alles Lernen und Streben.
Weit gefehlt. Jungs Erlebnisse sind wahr. Jedes Wort!
Wach auf! Das will ich dir sagen.
Jung tat es, als er durch den Rheinfall sprang, Dornröschen hat es nicht geschadet und auch Schneewittchen wird dir nur Gutes darüber erzählen.
Wach auf, bevor es zu spät ist.
Für mich ist es zu spät!

Das Leben endet mit dem Tod, aber diese Geschichte möge damit beginnen: Mit meinem Tod.
Viele Probleme löst der Tod allein dadurch, dass wir Abstand vom Leben gewinnen. Ich bin jetzt zufriedener als je zuvor, aber ich bin gestorben, die Welt ist mir genommen.
Mein Tod wirft viele Fragen auf, die jetzt einer Antwort harren, denn manche Frage, die das Leben aufwirft, klärt sich erst mit dem Tod. Und die Antwort auf manche Frage findet sich in der eigenen Erinnerung. WIR ALLE BRAUCHEN ERINNERUNGEN, DAMIT WIR NICHT VERGESSEN, WER WIR SIND.
So erzähle ich euch die Geschichte meines Todes. Aber sie beginnt nicht mit mir, sie beginnt mit etwas anderem, einer verlorenen Seele. Einer Seele, die einen neuen Anfang braucht.
Um meine Geschichte zu erzählen, müssen wir einen elenden Ort aufsuchen, einen Ort, wo gestrandete Seelen landen: die Alte Kaiser Stadt …



Vom Märchen Finanzkrise




Hendrik saß am Rechner. Hektisch versuchte er, den Störsendern zum Trotz, eine Verbindung aufzubauen. Ihm verlangte nach Taten. Sein Vater hatte auf einer enormen Sitzgruppe Platz genommen und sich des Zentrums der Klause bemächtigt. Obwohl scheinbar untätig auf den Polstern thronend, gewann man den Eindruck, alles um ihn herum verliefe nach seinem Plan. Großzügig bediente er sich an einer bereitgestellten Schüssel mit Erdnüssen. Jonas kauerte in seinem Sessel und beobachtete seinen Vater nachdenklich: „Als Kind mochte ich immer Märchen. Zu Anfang erzählte Mama die besten Geschichten: Sie waren abenteuerlich, phantasievoll und endeten glücklich. Aber später hoffte ich immer, dass jeder Abend einer der besonderen Tage wäre, an dem du den Märchenonkel spieltest. Deine Geschichten waren moralisch und würdevoll, erzählten von Helden, Magiern und Königen. Von Mutters Geschichten weiß ich heute kaum noch eine, aber deine könnte ich niederschreiben. – Erzähl mir das Märchen von der Wirtschaftskrise!“
Isaak lehnte sich zurück und schmunzelte. Mit sonorer Stimme begann er salbungsvoll zu berichten: „Das Märchen ist eigentlich jüngeren Datums. Aber gut, mein Junge. Ich erzähle das Märchen von der Wirtschaftskrise, die keine war:

In einem fernen Land lebte einst ein armer Mann, der seine Miete nicht aufbringen konnte, weil MacDonalds ihn so schlecht bezahlte. Statt in ein kleineres Haus zu ziehen, riet ihm sein Bankier, das Heim doch einfach zu erwerben. Er könne es über einen langen Zeitraum abbezahlen und hätte später sogar einen Altersruhesitz. Der Mann tat, wie ihm geheißen. Und all seine Nachbarn folgten seinem Beispiel.
Doch gab es weise Männer, die sich fragten: Wie will jemand ein Haus abbezahlen, wenn er nicht einmal die Miete dafür aufbringt? Er wird vermutlich irgendwann bankrottgehen. ‚Macht nichts’, antworteten die Bankiers, ‚die Grundstückspreise steigen immerfort. Sein Haus wird an Wert gewinnen, denn in der Stadt leben immer mehr Hausbesitzer und immer weniger Mieter. Das treibt die Preise in die Höhe. Er wird sein Haus an uns verlieren und wir werden es mit Gewinn verkaufen. Und bis dahin bezahlt er noch jeden Monat wenig Abtrag und reichlich Zinsen an uns.’ Und so geschah es.“
Jonas gefiel es, wie sein Vater von der Finanzkrise erzählte, und fuhr im gleichen Stil fort: „Die Bank wurde unermesslich reich mit diesem Trick und so fand er viele Nachahmer. Die Arbeiter fanden auf ihren Hypotheken die Schulden nicht wieder und blieben frohgemut. Und die Bankiers verloren auf den Schuldverschreibungen den Bezug zu ihren Kunden und badeten in ihren Prämien. Alles wurde herrlich abstrakt. Ging jemand Pleite, wurde die Bank noch reicher und die Nachbarn konnten spotten: ‚Schaut, er hat mit dem Geld geprasst und kann seine Schulden nicht bezahlen, was für ein Versager’, dabei hatten sie selbst nur wenig für sich. Und so verloren immer mehr Menschen ihr Haus und immer weniger konnten sich ein neues leisten. Und das unfassbare, grauenhafte, was es seit Äonen nicht gegeben hatte, geschah: Die Immobilienpreise sanken.“
Auch Hendrik, der seine geschäftige aber erfolglose Tätigkeit unterbrach, wollte sich beteiligen: „Das war den Bankiers allerdings egal, denn sie hatten die Schulden ihrer Klienten längst an andere Firmen verkauft, welche gar nichts wussten von den Häusern, den Menschen und den Preisen, die in dem fernen Land herrschten. Die weisen Männer hatten natürlich die Finger von den Schuldpapieren gelassen oder sie rasch verkauft. Mit Schulden zu handeln ist gefährlich, denn Schulden sind nicht greifbar; sie symbolisieren einen Mangel. Doch viele dumme und gierige Menschen stürzten sich auf das virtuelle Geld und verkauften es mit Gewinn weiter. Und weil irgendwann niemand mehr wusste, mit was da überhaupt gehandelt wurde, wuchs die Seifenblase bis an ihre Grenzen.“
Dem Oberhaupt der Familie oblag es, die Geschichte zu beenden: „Schließlich gingen Abertausende von gar nicht mehr glücklichen Hausbesitzern in dem fremden Land bankrott; und niemand konnte oder wollte mehr ihre Häuser kaufen. Und wie beim Schwarzer Peter hatten all diejenigen verloren, die gerade die wertlosen Papiere in Händen hielten. Millionen verloren ihre Arbeit, Firmen und Banken gingen Pleite, Staaten wankten in ihren Grundfesten. Die Welt balancierte am Abgrund. Aber zum Glück gibt es, wie in jedem Märchen, ein Happy End: Denn die Leute, die ihr Haus verloren, wohnen immer noch darin. Es wird kein Laib Brot weniger auf der Welt gebacken, keine Jacke weniger genäht. Nahrung, Energie und Wohnraum sind geblieben; es werden nur weniger Maschinen, Autos und Computer gebaut, was eigentlich niemanden stört. Einige weise Menschen sind reicher geworden während der Scheinkrise, viele dumme Könige ärmer; aber die Welt, über die sich die Mächtigen die Herrschaft teilen, ist immer noch genau so reich wie zuvor.“

Jonas verstand. Die Familie gehörte zu den weisen Männern und hatte die Krise genutzt. Es war ein normales Auf und Ab. Marktwirtschaft erzeugte Nachfrage, die es eigentlich nicht gab, nach Dingen, die man nicht unbedingt brauchte. Brach die Nachfrage ein, entstand eine Scheinkrise, die nur jenen traf, der mehr kaufte, als er sich leisten konnte oder mit Dingen handelte, von denen er nichts verstand.
Isaak war wieder ernst geworden. Verbitterung nahm Besitz von ihm: „Wenn aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre irgend ein Mensch auf diesem Planeten mehr Not erleiden musste als zuvor, so ist das kein Unglück, es ist Absicht! Denn aus Not lässt sich guter Gewinn schlagen. Der Schaden an der Weltwirtschaft ist – entgegen aller Gerüchte – eher gering.“

Der Tanz mit dem Teufel




Da war Sie, Patrizia Müller, Regentin des Familien-Imperiums, und fegte wie eine Furie über das Land. Jonas hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn Sie sich in der Klause einfand, dem häuslichen Vorposten ihrer Mülheimer Büros. Er hatte den Sturm aufziehen sehen und sich in ein kleines, angrenzendes Beratungszimmer geschlichen. In die weitläufigen Eingeweide Domizils zu fliehen, hatte er nicht gewagt.
„Jonas van Rathen, was hast du getan? Du hast Seniore Jacobi schwer beleidigt. Ein Glück, dass er dir den Vorfall – dank deiner Jugend – großzügig nachgesehen hat. Deine Bemerkung war unangebracht!“
Jonas wusste das. Aber es erschienen ihm zu wichtig, um es zu verschweigen: „Die Kosteneinsparung durch die Fusion zerstört die Lebensgrundlage hunderter Menschen. An sie muss doch gedacht werden.“
„Natürlich. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Wenn wir uns einmischen, ziehen wir seine Befähigung in Zweifel, sich selbst darum zu kümmern. Du hast Jacobi quasi vor meinen Augen herabgesetzt. Das belastet die Verhandlungen.“
„Ich habe an die Menschen gedacht. Du siehst nur ihre Arbeitskraft; sie sind Zahlen für dich.“
Patrizia schnaufte. Als sie sich im näherte, hatte man das Gefühl, sie hinke wie die Hexe aus dem Märchen, aber das täuschte; mit über fünfzig war sie auf dem Gipfel ihrer Kraft, das van Rathen Imperium fest in den Klauen. Isaak ließ sie gewähren, denn sie war brillant. Ihren Sohn Hendrik zog sie als Nachfolger heran und auch Jonas bekam jeden Tag zu spüren, was es hieß, ein van Rathen zu sein: „Richtig. Ich betrachte nicht den Menschen. Ich sehe in den Angestellten nur ihre Arbeitskraft, nur den Teil von ihnen, der für uns bedeutsam ist. Aber ich weiß, dass jeder einzelne ein vielschichtiges Wesen hat, welches fortbesteht, wenn er seine Stelle verliert. Es kümmert mich nicht, aber ich bin mir darüber im Klaren. Wenn du glaubst, wir zerstören das Leben eines jeden, den wir entlassen, reduzierst du ihn auf seine Arbeit und nicht ich. Vereinzelt mag es solche Menschen geben, aber das sind kümmerliche Existenzen!“
Da war sie wieder, die kalte Berechnung; aber stets war ein Kern Wahrheit enthalten. Jonas hatte noch nie einen Disput mit ihr gewinnen können, bestenfalls hatten sie sich im Streit getrennt; aber der junge Mann blieb unverdrossen, stellte sich ihr immer wieder entgegen. Dann lebte sie auf, ihre Augen sprühten, ihre Argumente schnitten wie ein Skalpell durch die Haut. Jonas hatte kein Erbarmen von ihr zu erwarten.
„Und doch erwartest du, dass ich nicht mehr bin als eine solche kümmerliche Existenz. Ein Mensch, der nur für deine Ziele geboren ist.“
„Es geht nicht um mich“, bellte sie zurück, „sondern um die Familie!“
„Zu der du nicht einmal gehörst“, als Unterlegener hatte Jonas keine Scheu, sie damit zu bombardieren.
Sie schüttelte sich wie ein getroffener Hund. Ihr gefürchtetes Lächeln blitzte auf: Man sagte, es habe sogar den Diktator Idi Amin zum frösteln gebracht: „Du bist ein Kämpfer, das zeichnet dich aus. Kaum zu glauben, Luisa ist ein so weltfremdes, naives Geschöpf. Es hat mich immer gewundert, wie sie zwei so kluge Kinder in die Welt setzen konnte. Und der kleine Benny scheint ja noch vielversprechendere Anlagen mitzubringen als du.“
Vorwürfe gegen seine Mutter trafen Jonas besonders und das wusste sie. Verbitterung machte sich in ihm breit: „Es kommt eine Zeit, in der diejenigen, deren Leben du zerstört hast, von dir zurückverlangen, was ihnen genommen wurde. Es kommt eine Zeit, in der sich niemand der Verantwortung für seine Taten entziehen darf. In diesem oder im nächsten Leben.“
Ihr Blick wurde unnachgiebig. Immer öfter flüchtete sich Jonas in religiöse Floskeln, wenn Patrizia ihn in eine Sackgasse getrieben hatte. Doch selbst hierhin folgte sie, mit beißendem Spott als Waffe: „Retten wir uns wieder in die Arme Gottes? Sie sind weit mächtiger als die deiner Mutter. Aber bette dich nicht zu bequem in deiner jenseitigen Welt, deren Bestehen unbewiesen ist. Als Hobby lass ich es gelten, doch trenne es vom Geschäft. Denn das Geschäftsleben ist echt und findet im Diesseits statt.“
Der Junge kannte das Argument. Tausendmal hatte er versucht, sich einzig der Wirklichkeit zuzuwenden. Aber wie sollte das möglich sein, im Angesicht der Vergänglichkeit? „Alles hier ist endlich. Die Welt wird vergehen – eines Tages. Und wir beide weit früher.“
„Dem Leben sind Grenzen gesetzt, innerhalb derer wir Erfüllung finden müssen. Deine jugendliche Ignoranz will die höchsten Gipfel erstürmen, aber du hörst nicht auf uns, auf die, welche danach selbst einst strebten. Du wirst dir den Kopf einrennen an zu hochgesteckten Zielen. Und du wirst scheitern, wenn du in höheren Sphären schwebst, anstatt fest auf dem Boden zu bleiben. Aber das werde ich nicht zulassen. Die Familie braucht starke Anführer. Zu einem solchen werde ich dich formen!“
Alles, nur das nicht! Er wollte nicht so werden wie Sie. Seine Eltern waren schwach; seine Mutter kümmerte sich nicht um das Geschäft, Domizil war ihre einzige Leidenschaft; so konnten die beiden Frauen einander meiden. Und sein Vater ließ diesen Drachen achtlos gewähren: „Was du willst, ist einen Klon. Eine andere Ausgabe von dir selbst. Wozu bin ich denn ich, wenn ich nur dazu geschaffen bin, deine Gedanken zu denken? Ich werde niemals so sein wie du!“
Mit diesen Worten stürmte er aus der Klause; es war das letzte Mal, dass sie zusammentrafen.

Der Kardinal




„Jonas van Rathen. Ein klangvoller Name. Ich freue mich, wenn auch verspätet, Sie persönlich bei uns in Regensburg willkommen zu heißen.“
Der alte Mann faltete die Hände. Seinen Worten fehlte es an Wärme, aber keine Spur von Ablehnung begleitete sie. Ein hoher kirchlicher Würdenträger auf der einen Seite des Schreibtisches, ein junger Erwachsener, verloren im Selbstzweifel auf der anderen. Jonas kaute auf seiner Unterlippe. Er wünschte sich weit weg. Und sein Gegenüber tat nichts, um die Barriere zwischen ihnen niederzureißen: „Ihr Name öffnet natürlich Tür und Tor unserer Universität. Hatten Sie Bedenken, ihn einzusetzen?“
Der Junge schaute argwöhnisch hinüber. Trotzdem schuldete er seinem Gegenüber eine aufrechte Antwort: „Mein Name gehört zu mir. Er verdeutlicht wer ich bin und woher ich stamme. Ihn zu nutzen, um Wissen und Berufung zu erlangen, erscheint mir redlich. Denn was sich daraus entwickelt, was mich hier erwartet, wird allein mein Verdienst sein, Eminenz.“
Kardinal Joseph Ratzinger erhob sich lächelnd: „Ich habe den Brief gelesen, den Sie dem Dekan unseres Fachbereiches geschrieben haben. Er war aufrichtig und fesselnd. Ich musste sicher gehen, dass er aus Ihrer Feder stammt. Dessen bin ich mir jetzt gewiss.“
„Niemand hätte mir helfen können. Ich bin allein.“
Ratzingers Züge wurden weicher: „Mit den wahren Fragen sind wir zumeist allein, Jonas. Nur Gott kann uns nahe kommen. Aber ich entdecke ihn noch nicht in Ihrem Herzen.“
Jonas empfand Dankbarkeit wie auch Verwunderung. Der Kardinal zeigte echte Anteilnahme und erwies sich als wahrer Seelsorger. So kannte der Junge ihn nicht von den Vorlesungen, die Ratzinger trotz seines engen Zeitplans immer noch hielt. Jonas hatte ihn als geistreichen und unnachgiebigen Denker schätzen gelernt.
„Verstehen Sie mich nicht miss, Jonas. Ihre ersten Studienarbeiten haben ein wenig Aufsehen erregt. Wir sehen Ihrem akademischen Werdegang hoffnungsvoll entgegen. Aber das ist eine aufregende Zeit für Sie. Die Wogen in Ihrem Inneren müssen sich glätten. Pflegen Sie Ihr Gemüt, sonst nutzt all das Wissen nichts.“
„Deshalb bin ich hier. Ich suche Antworten, suche Bestimmung. Die heilige Kirche hat mir mehr zu bieten als Macht und Geld. Vielleicht kann mir dieses Studium eine Richtung aufzeigen. Das Wissen hier dringt tiefer als der Volksglaube bei uns zu Hause.“
Die Stimmung des Kardinals hob sich. Er war froh, sich Zeit für den jungen van Rathen genommen zu haben, der noch so viel vor sich hatte. Er war voller Potential, ein leeres Gefäß. Gerade im Alter war es wichtig, sich mit jungen Menschen zu umgeben. So gewann der Kardinal neuen Schwung. Die Lehre war immer sein Steckenpferd gewesen.
Gewiss war der Name bemerkenswert. Erbe einer der mächtigsten Familie des Landes. Aber Jonas hatte sich mit seinem Elternhaus überworfen; suchte eigene Wege. Derzeit würde der Einfluss der van Rathens der Kirche keinen Vorteil verschaffen. Doch seine Anlagen waren vielversprechend. „Der Glaube des einfachen Mannes basiert zumeist auf Tradition und Gewohnheit. Er kennt die Geschichten der Heiligen Schrift und die Regeln, die dem Gläubigen auferlegt werden. Aber dass zwischen den Evangelien und dem lebendigen Glauben ein zusätzlicher, geistiger Schritt verborgen liegt, davon ahnt er nichts. Aus dem geschriebenen Wort ist durch das Wirken der Apostel tätige Liebe geworden. Das war ein bewusster Schritt! Die frühen Kirchenmänner haben Nächstenliebe und Mitleid in eine Tradition gewandelt. Das lehren wir hier. Es ist kein Geheimnis, aber kaum einen kümmert es, man nimmt es einfach hin.
Jemand mit ein bisschen mehr Wissensdurst lässt das keine Ruhe: Wer verändert die Welt? Wer bestimmt, was Einzug hält in den gesellschaftlichen Kanon, was gut und richtig ist; und was verdammenswert? Und wie geschieht es? Ich sage Ihnen: Es ist die Tat einzelner, denen es gelingt, etwas Bedeutendes, Wichtiges so innig mit der Seele des Volkes zu verbinden, dass es allgemeines Gut wird. Wer das erkannt hat, der löst sich von allen Konventionen und kann Großes bewirken: entweder für sich, und er wird ein haltloser Egoist – oder für ein höheres Gut: dann findet er hier her, um zu lernen. An diesem Scheideweg stehen wir – und nur der Himmel ist das Limit!“
Jonas lauschte aufgeregt. Unversehens fühlte er sich etwas Bedeutendem zugehörig; wollte Anteil daran nehmen: „Ich habe schreckliche Zeiten durchlebt, in denen sich die Frage nach dem Sinn meines Daseins so schwer auf mein Gemüt legte, dass ich die Fähigkeit zu leben verlor. Niemand verstand meine Pein und die einfältige und lustlos praktizierte Religion meiner Umgebung brachte keinen Trost. Wozu ist solcher Glaube gut?“
Der Kardinal fühlte sich durch den Angriff auf den kirchlichen Ritus keineswegs getroffen. Ein beherzter Streit um die Sache diente dem Guten. Aber diesen Vorwurf konnte der Kirchenmann nicht gelten lassen: „Achte stets den Glauben der breiten Masse, an ihm erprobt sich manch hochstrebender Gedanke. Erinnere dich an die Geschichte: Nach Jesu Tod und Auferstehung verstreuten sich die Apostel in der damals bekannte Welt. Sie überbrachten die frohe Kunde, mussten sich aber auch mit dem auseinanderzusetzen, was sie vorfanden. In Griechenland waren es die Gedanken der bedeutenden Philosophen; in ihnen fanden sie wahrhaft Göttliches. Auf der einen Seite die Vernunft, der Logos. Auf der anderen Seite die neue Botschaft von Liebe und Barmherzigkeit. Was taten sie? Sie fügten beides zusammen. Ein wahrhaft hoheitlicher Akt! Aus dieser Zeit stammen die anmutigsten und erhabensten Schriften des neuen Testaments. Die kalte Vernunft der Griechen wurde mit Liebe erfüllt. Die Mathematik wurde lebendig. Aus den Zahlen wurde eine Melodie. Das ist es, was die Religion der Naturwissenschaft voraus hat und der Gottesdienst der theologischen Vorlesung: Die Lebendigkeit, die Schönheit. Wenn Sie mal wieder zu viel gelernt haben, Jonas; wenn Theorien und Strukturen Ihre Sinne vernebeln, besuchen Sie einen Gottesdienst; egal, ob er in einem Dom oder einer kleinen Kapelle abgehalten wird, seine Kraft ist stets dieselbe. Schauen Sie in die Herzen der Gläubigen. Darin ist eine Reinheit, die dem Theologen zuweilen verlorengeht. Auch mir ist dies widerfahren.“
Jonas fasste Zutrauen zu dem Kirchenmann: „Ich bin erleichtert, zu hören, dass auch Würdenträger wie Sie ihre dunklen Stunden haben.“
Ratzinger lachte: „Die gehören zu jedem guten Leben, mein junger Freund. Und so sehr man mich in der Öffentlichkeit schätzen oder fürchten mag, so wenig sagt dies über den wahren Menschen aus. In der katholischen Kirche erwirbt man sich einen gewissen Ruhm erst in späteren Jahren. Das erleichtert es, das ausufernde Ego ein wenig zu bremsen; und doch kostet es fortdauernde Mühe, so mancher brave Gläubige scheitert daran. Lassen Sie sich Zeit! Die persönliche Entwicklung lässt sich nicht so beliebig beschleunigen wie das Aneignen von Wissen. Man verliert sich schnell in den Fakten. Alles Wesentliche erhalten wir als Geschenk. Sie sind auf der Suche nach dem Göttlichen? Damit wandern Sie auf den Spuren vieler weiser Männer. Kein Weg gleicht dem anderen; aber letztendlich führen sie alle zum selben Ziel.“
„Doch Zahllose scheitern. Sie verzweifeln daran.“ Jonas konnte das Unbehagen, welches er empfand, nicht verbergen.
„So ist es. Gott sei Dank. Gott hat die Welt mit dem Risiko des Dunkels geschaffen, um des helleren Lichtes wegen. Du hast die Freiheit zu scheitern. Das verleiht dem rechten Weg wahrhaft Bedeutung. Doch gibt es keinen Grund zur Furcht. Die Riten und Schriften der Kirche bieten allerhand Hilfsmittel an die Hand des Suchenden. Jonas, Sie sind hier von Seelsorgern umgeben. Nichts ist gewaltig genug um Gott zu umschließen, aber nichts so gering, um von ihm ausgeschlossen zu werden.“
„Dann könnten wir alle den Weg in die Dunkelheit einschlagen? Selbst die Christliche Kirche?“
Ratzinger verzog erheitert die Mundwinkel. Was für ein vielversprechender Kopf: „Unsere Archive sind voller Beispiele. Und sie wurden niemals gelöscht, wie manche behaupten. Gerade durchleuchten wir zahlreiche Aufzeichnungen aus der Zeit der Inquisition. Es wird Zeit, hervorzuholen, was manch einer gerne vergessen würde. Wir werden sie auf Geheiß des Heiligen Vaters öffentlich machen. Niemand ist vor dem Bösen gefeit, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die heiligen Sakramente, wie Taufe und Weihe, die Evangelien der Bibel, sie alle sind beseelt vom Heiligen Geist. In ihrem Licht verliert die Dunkelheit ihre Kraft.“
„Niemand leugnet die Fehler der Vergangenheit, Eminenz. Das waren die Jugendsünden der Kirche.“
Der Professor der Dogmatik widersprach: „Die Kirche ist jung! Man muss unterscheiden zwischen Menschenwerk und Gotteswerk. Im Namen Gottes wurden zahlreiche Gräueltaten begangen. Aber nicht alles hier hat göttliches Ausmaß. Auch bei uns tummeln sich Kaufleute und Juristen; ich selbst verwalte mehr als das ich wirke. Leider.“
Sie lachten, aber Jonas wurde gewahr, wie sehr dies den Kardinal schmerzte.
„Mein Junge, ich will sie nicht mit den Visionen eines alten Mannes plagen, aber ein paar Worte noch, bevor wir uns trennen müssen: Niemand will das Mittelalter zurück. Aufklärung und Wissenschaft haben der Menschheit zu einer neuen Blütezeit verholfen, das ist unbestritten. Aber wer denkt heute noch langfristig? Wir als Kirche sind dazu verpflichtet, die Zukunft offen zu halten. Wir wollen die Vernunft nicht zurücknehmen, sondern ausweiten. Ihre Seele, Jonas, ist unsterblich und auf Gott ausgerichtet. Diese Tatsache ist bedeutend für alle Seelen der Welt. Sie ermutigt uns, die Möglichkeiten unserer Zeit sinnvoller zu nutzen. Es ist schwieriger ein Egoist zu werden, wenn man gewiss ist, eines Tages seinem Schöpfer entgegenzutreten.“
Jonas war froh. Dieser weise Mann verkörperte alles, was er sein Leben lang gesucht hatte; alles woran es Ihr mangelte. Bis eben hatte er gezweifelt, jetzt war er sicher: Sein Weg lag bei Gott. Er verabschiedete sich.
„Leben Sie wohl, Jonas van Rathen. Unser kleines Gespräch war ein Jungbrunnen für mich. Seine Heiligkeit wird mich demnächst zum Subdekan befördern; ein offenes Geheimnis“, er zwinkerte, „also warten weitere Aufgaben auf mich, die meine Besuche in der bayrischen Heimat einschränken werden. Aber Sie werden im Lauf Ihrer Ausbildung noch das eine oder andere Mal Rom besuchen. Ich hoffe, dann können wir ein wenig Zeit finden für einen Plausch. Ein kleiner Rat: Lernen Sie Italienisch, es ist das Englisch der Kirche und nicht schwer zu verstehen, wenn man Latein beherrscht.“

Inkognito




Das mächtige Haupttor thronte schützend vor den Mauern Domizils. Niemand hätte gedacht, dass es seit Jahrzehnten nicht mehr entriegelt worden war. Der schmale, in das Tor eingelassene Eingang öffnete sich und eine Gestalt trat ungelenk hervor.
Das war nicht unbemerkt geblieben bei den Belagerern des Hauses. Neugierige Wachsamkeit stellte sich Domizil entgegen. Die Gestalt schloss gewissenhaft die Pforte und lenkte ihren Blick auf die Wand aus Bäumen vor sich. Der schmächtige Mann schlenderte los.
Seine Ohren vernahmen Schüsse. Sie galten ihm, doch die Kugeln jagten in den Himmel; zur Umkehr wollten sie ihn bewegen. Es entstand eine kurze Pause, in der er unverdrossen weiterstapfte. Sogleich peitschten ihm die ersten Kugeln um die Beine. Der Staub, den sie aufwirbelten, war furchteinflößend; aber keine Kugel wagte sich an ihn heran. Der kleine Mann zog sich seine Strickjacke fester um die Schultern und trottete unbeirrt auf die feindlichen Linien zu. Er stellte nicht gerade eine Ausgeburt von Gefahr dar.
Jonas war unbeeindruckt. Er fand keinen Grund, ihm ein Leid anzutun. Von den Brüdern war er der unwichtigste. Nicht mal der Vatikan wäre bereit gewesen, ein Lösegeld für ihn zu zahlen. Er dachte flüchtig an die Wächter im Haus hinter sich. Vielleicht hielten sie ihn für tollkühn, aber er suchte nach Antworten und dazu musste er sich in Gefahr begeben. Die Armee vor ihm wurde von Lakaien geführt. Ein ungeschickter Lakai verriet oft mehr über seinen Herrn als beabsichtigt. Deshalb empfahl es sich, fachkundiges Personal einzustellen. Doch selbst das Format eines Handlangers sagte noch viel über die Raffinesse seines Gebieters aus. Mr. Inkognito hatte sich mit seinem einzigartigen Streich gegen die Familie den Anschein des Meisterhaften gegeben. Doch es blieb abzuwarten, ob hinter der Fassade ein ebenso meisterhafter Plan steckte. Wieso richteten sich die Waffen der Belagerer hauptsächlich nach außen? Was beschützten sie vor wem? Und wieso wurde nicht verhandelt? Die Behörden konnten jeden Augenblick Wind bekommen von den kriegsähnlichen Zuständen in der Lüneburger Heide.
Als Jonas das Pförtnerhäuschen erreicht hatte, trat ihm die Mündung eines Gewehrs entgegen; sie wackelte zögerlich, ließ ihn aber nicht vorbei.
„Bring mich zu deinem Anführer“, ersuchte er die Mündung, „ich habe mit ihm zu reden!“
Nach einigem Zögern nickte sie, wandte sich um und er folgte ihr. Die Heeresleitung tagte in einem Sattelschlepper. Er musste kurz warten, bis er hereingelassen wurde. Ein blitzender und klimpernder Offizier musterte ihn herablassend. Im Gegensatz zu den Männern um ihn herum trug er sorgsam gepflegte Rangabzeichen, die Jonas völlig unbekannt waren. Sein verzwirbelter Schnurrbart verlieh ihm etwas Preußisches.
Die Gier war ihm nicht anzusehen, aber Isaaks erfolgreiche Bestechung hatte sie offengelegt. Die meisten Söldner waren gierig, es lag in ihrer Natur und bedeutete eine Schwäche, die es auszunutzen galt. Dazu gesellte sich reichlich Arroganz, ein weiterer Vorteil.
„Ich wollte mich gleich an die Junta wenden“, eröffnete Jonas das Gespräch.
Die Reaktion des Mannes zeigte, dass er um den Begriff wusste, also gebildet war. Die Junta stammte aus südamerikanischen Militärdiktaturen: „Sie haben Mut, mich aufzusuchen, Herr van Rathen.“
„Wer für die Freiheit kämpft, muss damit rechnen in Gefangenschaft zu geraten“, zitierte Jonas lapidar. „Ich muss mich entschuldigen, bringe ich Ihnen doch kein weiteres Bestechungsgeld; ich bin arm wie eine Kirchenmaus“, tönte er mit aller Freundlichkeit quer durch den ganzen LKW und verdunkelte die Gesichtsfarbe seines Gegenübers um mehrere Nuancen. „Ich möchte verhandeln.“
„Was könnten Sie mir denn anbieten, was einen Handel wert ist?“, kam die eiskalte Antwort zurück.
Jonas lächelte pastoral. „Oh, ich möchte nicht mit Ihnen verhandeln, sonder mit jemandem, dem es erlaubt ist, Entscheidungen zu treffen.“
Damit hatte er ihn. Keinen Schritt würde sein Gegner ihm von nun an entgegenkommen: „Sie werden mit mir Vorlieb nehmen müssen, Herr van Rathen. Ich bin der einzige, der Ihnen zu helfen vermag.“
„Sie wollen keinen Kontakt zu Ihrem Auftraggeber herstellen?“
Der Kommandeur lächelte: „Wie ich schon sagte …“
Jonas spielte den Zerknirschten. Sein Gegner sollte seine Macht genießen und die Lust an dem Gespräch nicht verlieren. „Darf ich meinen Bruder und meine Stiefmutter sehen? Ich will sicher sein, dass sie wohlauf sind.“
Kopfschütteln.
„Wir haben Mediziner in unseren Reihen, die auf ihre Leiden spezialisiert sind; erlauben Sie eine Untersuchung?“
Der Kommandeur genoss es, ihn auflaufen zu lassen.
Jonas versuchte es erneut: „Können Sie wenigstens eine Nichtangriffs-Garantie für heute Nacht gewähren? Unsere Leute sind übermüdet und könnten unbesonnen handeln.“
Wieder verneinte man sein Ansinnen. Aber ein kurzes Zögern zeigte Jonas, dass dem Kommandeur in diesem Punkt bindende Befehle vorlagen. Entweder gab es eine festgesetzte Angriffszeit oder er durfte keinen Ausfall provozieren. Jonas hakte nach und schaute dabei recht hilflos drein: „Mein Bruder ist es nicht gewohnt, aus der Defensive zu agieren. Zu Hause geht er die Wände hoch und könnte sich zu einem Gegenangriff entschließen.“
„Der keine Aussicht auf Erfolg hätte.“
Es waren nicht die Worte des Offiziers, sondern seine Körpersprache, die Jonas triumphieren ließen. Der Seelenkundige lehnte sich entspannt zurück und zog den Abzug: „Deshalb werde ich dafür sorgen, dass unser Angriff größtmögliches Aufsehen erregt. Wir werden einen Flügel des Hauses sprengen und einige Gastanks zur Explosion bringen. Die Flammen werden bis nach Hannover strahlen. Wollen wir mal sehen, wie sich Ihre Söldner gegen Sondereinsatzkommandos bewähren. Missverstehen sie mich nicht, ich weiß von der Aussichtslosigkeit eines Ausfalls; aber mein Bruder ist nicht zu bremsen, also muss ich ihn von Herzen unterstützen.“ Er breitete hilflos die Arme aus und schaute befriedigt dem davoneilenden Kommandeur hinterher, der klug genug war, seine Grenzen zu kennen.
Wenig später sah sich Jonas einem altertümlichen Funkempfänger gegenüber und wartete auf Mr. Inkognito. Der Kommandeur hatte ihn alleingelassen, nur ein Posten wachte bei Jonas. Das Gerät quietschte und rasselte und mühte sich, den Störsendern zu widerstehen, die über die Gegend befahlen. Eine blecherne Stimme schälte sich schließlich aus dem Krach; es war tatsächlich ein Mann: „Was wollen Sie, Jonas?“
„Eine Einigung. Sie spielen auf Zeit; und da ich nicht weiß, wieso, kann ich das nicht zulassen. Wenn wir uns schnell einigen, werden Sie die Früchte Ihrer exzellenten Verhandlungsposition ernten – andernfalls fahren wir alle gemeinsam zum Teufel!“
Kurze Pause.
„Sie drohen mit Ihrer Vernichtung? Ich dachte, das sei mein Druckmittel?“
„Wir wollen der Vernichtung entgehen. Aber Sie können uns keine Garantie bieten, selbst wenn wir Ihnen alles gewähren, was Sie verlangen.“
Die Antwort, die folgte, ließ Jonas erschauern. Die seelenlose, quäkende Maschine, welche sie ausspuckte, verlieh ihr die rechte Drohung: „Die Vernichtung der Rathens ist mein Ziel. Ihr Ehrgeiz nahm überhand, Ihr Horizont erhob sich zu weit. Sie haben geschaut, was ungesehen bleiben soll; das wird Ihren Untergang herbeiführen. Wir werden Ihnen alle Mittel nehmen, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen. Der Vorwitz ihrer Brüder kommt Sie teuer zu stehen, Jonas. Sie hätten in Ihrem Kloster bleiben sollen. Es stellt sich nur die Frage, wer überlebt. Mehr liegt nicht in Ihrer Hand!“
Jonas bemühte sich, über die Freilassung seiner Nächsten zu verhandeln, aber Inkognito blieb kurz angebunden. Schließlich versuchte er, sich mit einer Drohung uns der Defensive zu befreien: „Sie werden also auf einen Ausfall mit Gewalt reagieren? Und auf beiden Seiten die Gesundheit unschuldiger Menschen gefährden?“
Keine Antwort.
Inkognito hatte abgeschaltet. Es gab keine Verhandlung!
Der Kommandeur hatte das Gespräch anscheinend belauscht, denn er trat hinzu und sonnte sich im Glanz seines Meisters und Jonas’ Bestürzung. Einige gebellte Anweisungen warfen den Theologen aus dem Funkraum hinaus und die Gewehrmündung eskortierte ihn zurück in Richtung Domizil. Offenbar hatte man keine Verwendung mehr für ihn.
Die Sonne war untergegangen. Noch ein Licht weniger, das der Familie leuchtete. Jonas trottete enttäuscht zurück. Er witterte eine weltumspannende Verschwörung. Vielleicht eine Konspiration, welche den beträchtlichen Aufwand an Mensch und Material rechtfertigte? In was hatte Hendrik seine Nase gesteckt? Und wieso verschloss er sich weiterhin? Es sah ihm ähnlich, eine Fehde allein auszufechten, die seine Kräfte überstieg. Er hatte in ein Wespennest gestochen. Aber kämpften sie gegen Wespen oder gegen jemanden, der das Nest nur geschickt platziert hatte?

Der Klang der Stille




Der Raum war bejahrt und schäbig. Er lag tief in den Eingeweiden Domizils, ohne Fenster, ohne Lüftung. Der Tür gegenüber hing ein Spiegel, fast so breit wie die Wand. Er war in einen Bronzerahmen gefasst und durch ein verblichenes Tuch abgedeckt. Trotzdem beherrschte er den Raum. Einige abgewohnte Möbel und Teppiche waren hier gestapelt; und es war still – mucksmäuschenstill. Juno entlauste das Zimmer notdürftig und trug einen Teil des Mobiliars in benachbarte Räume. Sie war frohen Mutes.
Sie machte es sich auf einer Chaiselongue, einer gepolsterten Liege, gemütlich und zündete eine Petroleumlampe an, denn das elektrische Licht verursachte Störgeräusche. Den Spiegel hatte sie frei gelegt, ein großes Tuch an der Wand wirkte ungemütlich. Allerdings störte sie ihr Spiegelbild, so dass sie ihm den Rücken zuwandte, wenn sie dalag und auf die Bilder ihres Unbewussten wartete.
Wochenlang gab sie sich in jeder freien Minute der Stille hin und langsam aber sicher ordneten sich die Bilder in ihrem Inneren. Sie beschrieb sie in Versen, verlieh ihnen neue und alte Namen, spielte mit ihnen und ließ sie miteinander tanzen. Zuweilen vernahm sie dabei die Musik, doch sie blieb leise und im Hintergrund. Versuchte Juno die Töne zu fassen, verschwanden sie; man konnte den Klang nicht festhalten.
Schließlich der Durchbruch: Eines Abends, sie war allein, Hendrik würde erst spät nach Hause kommen. Weil sie sich unwohl fühlte, hatte Juno eine halbe Valium geschluckt und war früh zu Bett gegangen. An ihre Meditation verschwendete sie keinen Gedanken. Sie dämmerte gerade dahin, als in den letzten Winkeln ihres Bewusstseins sachte die Musik einsetzte.
Ein Mal an jedem Tag gilt es loszulassen. Wir müssen uns ganz hingeben, um in das Reich der Träume zu gelangen, denn dort herrschen ihre Regeln und der Zugang ist dem Verstand verwehrt. An der Pforte zu diesem Reich hörte sie die Musik – außerhalb des Raums der Stille.
Der Augenblick des Einschlafens birgt ein Geheimnis, das sie auch nach tausend Nächten nicht zu ergründen vermochte. Vielleicht hörte Juno die Musik jede Nacht im Augenblick des Übergangs und vergaß sie bis zum nächsten Tag. Aber am Morgen, beim Wegräumen des Valiums, öffnete sich ein Schleier und gebar die Erinnerung an die Nacht zuvor. Juno weinte vor Rührung.
Sofort nahm sie eine Pille und hastete in ihren Raum. Dort ließ sie sich nieder, atmete tief ein, schloss die Augen und dachte angestrengt an die Lampe neben sich. Bis sie glaubte das Leuchten in ihrem Herzen zu spüren. Aus dem Licht schälten sich Bilder und Gestalten, Töne und Stimmen, so plastisch und lebendig wie niemals zuvor. Sie fand sich wieder in einer Gebirgslandschaft, schwebte körperlos zwischen den Gipfeln, die nicht kahl und eisig, sondern grün und saftig unter ihr herglitten. Ein himmelblauer See schimmerte durch das Tal. Seine Windungen folgten den Bergkämmen und Juno dem Verlauf des Stroms bis zu einem brausenden Wasserfall, der den See speiste. Sie flog auf ihn zu und preschte übermütig durch die Wasser. Ein Blitz raubte ihr die Orientierung.
Ihr Sehvermögen kehrte rasch zurück, doch blieb es düster. Sie war inmitten einer Seerose gelandet. Um sie herum nur finsteres Plätschern, über sich ein sternenloser Himmel, erstreckten sich die Blütenblätter wie Dünen über die weite Ebene. Die fleischigen Schwimmblätter waren im Dunkel nur zu erahnen. Das Fruchtblatt ragte wie ein Kran in den Himmel. War der Kelch riesig oder Juno geschrumpft? Selbst die Staubblätter, die den Pollen trugen, erhoben sich über sie, beugten sich herab und griffen nach ihr. Nein, sie griffen nicht zu. Die Fäden wogten nur gleichmäßig hin und her, schaukelten in einem unbekannten Rhythmus. Juno versank in ihr Spiel, ließ sich vom fremden Takt verzaubern.
Da schälte sich ein Klang aus der Stille. Die Rose, das Wasser, selbst die Berge und der Himmel bewegten sich zu einer kaum vernehmlichen Melodie; nach der Musik, die in den Tiefen ihrer Seele wohnte. Doch jetzt erreichten die Töne jeden Winkel ihres Bewusstseins. Der Klang verlieh den verwirrenden Bildern eine Ordnung, wie Juno es nie für möglich gehalten hätte.
Sie ergab sich dem Spiel in stummer Verzückung. Er war gefunden, der Sinn ihres Lebens!
Sie nannte ihn: Den Klang der Stille.
In den Wochen, die kamen, versuchte sie es jeden Tag. Manchmal schlief sie ein, manchmal blieben die Bilder aus oder waren blass und oberflächlich. Aber oft nahm sie Teil an erhabenen Erlebnissen. Und in ihr reiften Verse, die den Bildern Worte schenkten.

Impressum

Texte: Holger Dörr; 56237 Caan; doerr@uni-koblenz.de
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
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