Als ich kürzlich nach Hause kam, saß meine 10 jährige Tochter Lena am Esszimmertisch und machte Hausaufgaben. Natürlich könnte sie das auch in ihrem Zimmer an ihrem Schreibtisch machen, doch hier fühlte sie sich anscheinend wohler. Ich dachte noch, braves Mädchen. Macht immer sofort ihre Hausaufgaben, wenn sie von der Schule kommt. Im Gegensatz zu ihrem Bruder David, bei dem wir schon eine gewisse pädagogische Überzeugungskraft anwenden mussten, damit der Bengel seine Hausaufgaben macht.
Ich grüßte sie und es kam mir sofort komisch vor, dass sie nicht mal aufblickte und den Gruß nur knapp erwiderte. Ich setzte mich zu ihr um zu erfahren, an was sie da arbeitet. Trotz meiner Fragen schaute sie mich nicht an und dann sah ich den Grund. Sie hatte einen knallroten Mund.
„Hast du irgendwas bestimmtes gegessen?“, wollte ich wissen, als es mir dann schließlich dämmerte. Das Zeug auf ihrem Mund war Lippenstift.
„Ist das etwa Lippenstift?“, forderte ich eine Erklärung. „Na und?“, kam die Antwort aus ihrem leuchtend rotem Mund.
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Also redete ich einfach drauflos: „Mädchen. Du bist erst 10. Was willst du denn schon mit Lippenstift. Wieso um Himmelswillen schmierst du dir Farbe ins Gesicht?“ Ich hätte noch mehr auf Lager gehabt, doch sie zog es vor, das Gespräch hiermit zu beenden, in dem sie ihre Sachen zusammenpackte und im Begriff war, das Zimmer ohne weiteren Kommentar zu verlassen. „Und deine Hausaufgaben?“, rief ich ihr hinterher. „Ach, pfeif auf die Hausaufgaben“, schrie sie, rannte in Ihr Zimmer und schlug ihre Zimmertüre so heftig zu, dass noch im Esszimmer die Fensterscheiben zitterten.
Jetzt bereute ich, dass ich nicht diese Türdichtgummis gekauft hatte, die ich letztens im Baumarkt schon in der Hand hatte.
In dem Moment kam meine Frau nach Hause. „Was hast du jetzt wieder getan?“, beschuldigte sie mich. „Ich?“, rief ich entrüstet. „Deine Tochter schmiert sich Farbe ins Gesicht“, versuchte ich ihr die Situation zu erklären. Sie sah mich fragend an. „Sie benutzt Lippenstift“, versuchte ich es ihr etwas deutlicher zu machen. „Und... ?“, fragte sie, als ob das als Grund für mein Verhalten nicht reichen würde. „Sie ist erst 10“, war mein nächstes Argument. „Ja, ich weiß“, sagte meine Frau. „Ich war bei ihrer Geburt dabei. Außerdem ist es kein richtiger Lippenstift sondern eher so eine Art Lippgloss.“
Jetzt musste ich mich erst mal setzten. „Du weißt davon?“, fragte ich in einem vielleicht etwas zu vorwurfsvollem Ton.
„Natürlich“, sagte sie ganz ruhig. „Ich hab ihn ihr ja gekauft.“ Ich war wie vom Schlag gerührt. „Warum um Himmels...“, fing ich an, doch da unterbrach mich meine Frau. „Lass den Himmel da raus und denk darüber nach, dass es vielleicht Gründe geben kann, warum sie den Lippenstift haben wollte.“
Mit meiner untrüglichen männlichen Logik kam ich natürlich sofort zu einem Schluss. „Ich kann mir schon denken, was das für Gründe sind. Wahrscheinlich will sie die Jungs beeindrucken.“
Meine Frau sah mich an, wie man jemanden ansieht, der nur wirres Zeug redet.
„Um Jungs geht es“, sagte sie schließlich. „aber sie will sie nicht beeindrucken.“ Ich verstand gar nichts mehr.
„Wenn du ganz ruhig mit ihr redest, wird sie es vielleicht auch dir sagen“, schlug sie vor.
Ich ging also zu ihrem Zimmer und klopfte an. „Hm“, kam die Antwort von innen. Sie lag bäuchlings auf dem Bett und las in einem Buch. „Tut mir Leid, Lena, aber ich kann wirklich nicht verstehen, warum du dich schon schminken willst“, begann ich.
Sie legte ihr Buch zur Seite und setzte sich auf. „Vanessa war die erste, die mit Lippenstift zur Schule kam“, versuchte sie zu erklären. „Ach ja. Und wenn Vanessa sich schminkt musstt du...“
Da sah sie mich mit diesem lass mich ausreden Blick an, den sonst nur noch ihre Mutter drauf hatte.
„Tschuldigung, erzähl weiter“, entschuldigte ich mich.
„Also“, begann sie nochmal von vorne. „Vanessa kam mit Lippenstift zur Schule und die Jungs haben sie blöd angemacht. Aber was wir machen geht denen einen feuchten Kehricht an. Also haben wir Mädchen beschlossen, wir benutzen alle Lippenstift. Und wenn sie jetzt eine blöd anmachen, müssen sei es mit uns allen aufnehmen. Und das trauen sie sich nicht.“
Ich war perplex. „Wow“, sagte ich. „Das nenn ich mal Solidarität. Da hast du Recht. Gegen geballte Mädchenpower sind wir Männer machtlos.“
Sie musste lächeln und ich auch. Was soll ich sagen. Das ist meine Tochter. Ich war stolz auf meine Kleine.
Texte: Roland Schilling
Bildmaterialien: Roland Schilling
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2014
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