Ich wurde 1969 eingeschult. In dem Jahr, als der erste Mensch einen Schritt auf den Mond wagte, wagte ich den ersten Schritt in die Schule.
Da ich vorher in keinem Kindergarten war und die Einschulung knappe zwei Monate nach meinem 6. Geburtstag stattfinden sollte, musste ich mich zuerst einem Eignungstest unterziehen. Es war damals durchaus nicht selten, dass Kinder im Vorschulalter nicht in den Kindergarten gingen.
An viel aus diesem Test kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich musste Fragen beantworten, Bilder zuordnen und Farben erkennen. Aber eines weiß ich noch ganz genau. Ich musste ein Bild von meiner Familie malen. Ich bekam eine Unmenge von Buntstiften und ein riesiges Blatt Papier. Ich malte also meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder, meine Schwester und mich. Und zum Schluss noch meine Oma, die ich fast vergessen hätte.
Als die Frau, die den Test durchführte das Bild sah, musste sie lachen. Ich wusste nicht, was jetzt so komisch an meiner Familie war. Doch die Frau sagte nur:lächelnd: „Das ist ein sehr schönes Bild.“
Erst danach erfuhr ich von meinen Eltern, was sie so amüsiert hatte. Ich hatte meinem Vater eine Elvistolle verpasst. Seine Frisur war in echt natürlich damals nicht so extrem, wie die von Elvis Presley, doch im Ansatz ähnlich.
Erst sehr viel später erfuhr ich dann auch, dass man mir eine sehr gute Auffassungs- und Beobachtungsgabe bescheinigt hatte.
Ich kam also in die Schule und hatte schreckliche Angst davor. Das war auch nicht gerade unbegründet. Meine Schwester und mein Bruder, beide älter als ich, gingen ja bereits zur Schule. Jedesmal, als sie nach Hause kamen, waren erst mal Hausaufgaben angesagt. Nix mehr mit Leben, frei wie der Wind. Und von den Erwachsenen wurde die Schule auch eher als Drohung benutzt. „Wart nur, wenn du in die Schule kommst!“, war damals so was wie der Lieblingssatz, wenn man mal wieder nicht artig war.
Kein einziges Kind, mit denen ich zum ersten mal das Klassenzimmer betrat war mir bekannt. Ich kannte ja nur die Kinder aus der Nachbarschaft. Und das einzige in meinem Alter, das mit mir eingeschult wurde, kam in die Parallelklasse. Natürlich waren meine Mutter und meine Oma dabei, doch die Erwachsenen wurden schon nach kurzer Zeit aus der Klasse geschickt.
Wir waren allein mit Herrn Kunert. Ein etwas älterer Herr, den ich im Laufe der Zeit sehr zu schätzen gelernt hatte. Er war so ein richtiger Großvatertyp.
Wir schauten ihn also alle gebannt an, abwartend, was passieren würde.
An den ersten Satz, als er mit uns alleine war, kann ich mich noch erinnern.
„Habt ihr Tiere?“
Betretenes Schweigen.
„Ich meine Haustiere.“
Einige meldeten sich zögerlich, Sagten, dass sie einen Hund hätten, oder eine Katze oder Hamster. Herr Kunert hörte sich das alles an und als wieder Schweigen herrschte, begann er zu erzählen.
Er erzählte von seinen Katzen. Wie sie ihm Streiche spielten und was er sonst noch alles mit ihnen erlebte. Es waren lustige Geschichten und so war das Eis gebrochen. Von dem Zeitpunkt an war er nicht nur unser Lehrer, sondern unser Freund.
Es bürgerte sich nun so ein, dass er vor jedem Unterrichtsbeginn eine kleine Geschichte von seinen Katzen erzählte. Eines Tages, ich weiß nicht mehr wie und warum, kam ich auf die Idee und meldete mich. „Ich weiß eine Mausgeschichte“, verkündete ich. „Du hast eine Maus?“, wollte er wissen. „Nein“, antwortete ich. „Aber ich weiß eine Geschichte.“ „Auch gut“, sagte er. „Dann erzähl mal!“ Und so erzählte ich vor versammelter Klasse meine erste erfundene Mausgeschichte.
Es wurde fast so etwas wie ein Ritual. Natürlich fiel mir nicht täglich eine neue Geschichte ein, doch ich tat mein Bestes.
Nun war es so, dass ich damals zu Anfang noch von meiner Oma zur Schule begleitet wurde. Es gab auf dem Schulweg eine ziemlich gefährliche Kreuzung, die zwar mit Ampeln versehen war, doch wir mussten das zuerst mal verinnerlichen, dass wir nur bei Grün gehen durften und dann aber auch noch schauen mussten, ob die Autos auch tatsächlich hielten.
Eines Morgens kamen wir also an der Schule an ud einige meiner Klassenkameraden standen in einer kleinen Gruppe vor der Schule. Einer von ihnen kam auf mich zugelaufen und fragte, ob ich wieder mal eine Mausgeschichte erzähle.
Meine Oma fiel aus allen Wolken. „Er macht was?“, rief sie. „Herr Kunert erzählt von seinen Katzen und der Roland eine Mausgeschichte“, antwortete der Junge eingeschüchtert.
Ich musste mir eine ordentliche Standpauke anhören. Was mir einfiele, überall herum zu erzählen, wir hätten Mäuse. Wir hatten keine Mäuse. Ich könnte doch nicht einfach Geschichten erfinden.Was sollten denn bloß die Leute denken.
Herr Kunert stellte in einem der folgenden Elternabende klar, dass er nichts Schlimmes dabei fände, wenn Kinder ihrer Fantasie benutzten. Und meine Eltern fanden das ganze auch nicht so schlimm, wie meine Oma.
Jedenfalls, von diesem Zeitpunkt an habe ich keine Mausgeschichten mehr erzählt. Leider kann ich mich auch an keine einzige dieser Geschichten erinnern. Und ich hatte beschlossen ab diesem Zeitpunkt alleine zur Schule zu gehen.
Ich wurde ein Stückchen erwachsener. Doch ich hatte beschlossen, dass ich tief in mir drin immer Kind bleiben werde. Und eines Tages würde es wieder erfundene Geschichten von mir geben.
Texte: Roland Schilling
Bildmaterialien: Roland Schilling
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2014
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