Vor Kurzem erreichte uns eine traurige Nachricht. Unsere Tante Adele war von uns gegangen. Einer meiner Cousins hatte uns abends angerufen um uns darüber zu informieren. Ein sehr entfernter Cousin. Nicht nur verwandschaftlich, sondern auch geografisch. Meine Tante Adele war auch seine Tante Adele. Im Verlauf des Gespräches stellte sich heraus, dass sie irgendwie jedermanns Tante war. Nicht etwa die Mutter von irgendwem oder die Schwester. Je mehr mein Cousin erzählte, desto angestrengter musste ich nachdenken, wer diese Tante Adele überhaupt war.
Ich hatte das Telefon auf Lautsprecher geschaltet, so dass meine Tochter, mein Sohn und meine Frau mithören konnten. Als ich den Hörer aufgelegt hatte, blieb ich ziemlich nachdenklich zurück.
Meine Frau sah mich an. „Du hast keine Ahnung, wer Tante Adele war“; bemerkte sie ganz richtig.
„Könnte es nicht sein, dass sie deine Tante war?“, fragte ich zögerlich. Meine Frau atmete einmal tief durch. „Ich kanns nicht fassen“, rief sie. „Das kommt davon, weil du dich nie um deine Verwandtschaft kümmerst. So viel ich weiß, war sie väterlicherseits mit dir verwandt. Dein Onkel Edward hat doch mal erzählt, wie andächtig du als Kind immer ihren Geschichten gelauscht hast.“
Langsam dämmerte es mir. „Ich glaub ich kann mich erinnern“, sagte ich. „Sie war eine kleine Frau mit weißem Haar, das sie am Hinterkopf immer zu einem Konten gebunden hatte. Ihre Geschichten, die sie sich zusammen phantasiert hatte, hatten nie ein richtiges Ende. Und ich fragte immer, wie es weitergeht.“ „Und was hat sie dann geantwortet?“, wollte meine zehnjährige Tochter Lena wissen. „Sie hat immer gesagt, das erzähl ich dir das nächste mal.“
Ich musste lächeln. Meine gute alte Tante Adele. Irgendwann erzählte sie mir in fernen Kindertagen ihre letzte Geschichte und ich warte heute noch auf die Fortsetzung, die es nie geben wird.
Als ich erwachsen wurde, verloren sich unsere Wege. Ich glaub ich hatte sie 40 Jahre nicht mehr gesehen.
„Das Talent, Geschichten zu erfinden muss ich von ihr geerbt haben“, war ich mir sicher. „Ja“, bemerkte mein 15 jähriger Sohn David. „Und jetzt haben wir den Salat.“
„Die Beerdigung ist nächsten Freitag“, sagte ich. „Ich schlage vor, wir reisen schon donnerstags an und bleiben zwei Nächte dort. Ihr habt ja gehört, wie sich mein Cousin freuen würde, wenn sich mal wieder die ganze Verwandtschaft treffen würde.“ „Müssen wir da mit?“, riefen meine Tochter und mein Sohn im Duett. „Und ob ihr da mitkommt“, entschied ich. „Das Verwandtschaftsverhältniss ist eine zarte Pflanze, die gepflegt werden muss. Außerdem glaub ich, dass euch mein Cousin noch gar nicht kennt.“ Meine Frau lächelte mich an. „Na, wenigstens kannst du dich an deinen Cpusin erinnern.“ „Äh“, meinte ich. „Wenn ich ehrlich bin, nicht wirklich.“
Die Fahrt ging Richtung Stuttgart. Ganz in der Nähe der Schwabenmetropole lag das kleine Dorf, in dem meine Tante Adele lebte. Wir hatten zwei Doppelzimmer in einer Frühstückspension gebucht. Mehr gaben unsere finanziellen Möglichkeiten einfach nicht her. Trotz Protesten meiner Tochter und meines Sohnes, die jeweils ihr eigenes Zimmer wollten. „Ich kann ja nicht gleich einen ganzem Hotelflügel mieten“, war meine Argumentation. „Außerdem habe ich auch kein eigenes Zimmer mehr, seit ich verheiratet bin.“
Nachdem wir die Zimmer bezogen hatten, machten wir uns gleich auf den Weg zu meinem Cousin. Als ich ihn dann zum ersten mal nach vielen Jahren wieder sah, konnte ich mich sofort an ihn erinnern. Den alten Haudegen. Er war schon als Kind der unerschrockene Abenteurer, der uns andere Kinder immer mit zog. Als er dann von Tante Adele erzählte und wie sie in letzter Zeit immer mehr der Realität den Rücken kehrte, sah ich eine kleine Träne in seinem Auge. Ich hatte als Kind ernsthaft gedacht, er wäre der einzige Mensch auf Erden, der niemals weinen konnte.
„Weißt du“, sagte er leise. „Am Schluss lebte sie in ihren eigenen Geschichten. Nicht mehr in dieser Welt. Als sie kaum noch denken konnte hatte sie sich in den Kopf gesetzt ihre zusammen gesponnenen Geschichten auf zu schreiben. Das kann einem ganz schön angst machen, wenn jemand nicht mehr richtig da ist. Sie meinte dann, sie wäre auf irgendeiner Insel. Ich hab mir nie viel aus ihren Geschichten gemacht. Aber wenn du willst, kannst du ja die Ordner, in die sie sie geheftet hat mitnehmen.“ Ich nahm dankend an. Natürlich wollte ich Tante Adeles Geschichten.
Wir unterhielten uns noch bis spät Abends und fuhren dann zurück in die Pension.
Am nächsten Morgen waren wir die ersten im Frühstücksraum. Die Wirtin begrüßte uns mit einer fast schon übertriebenen Fröhlichkeit. Sie konnte ja nicht ahnen, weswegen wir hier waren und dachte wahrscheinlich an einen Wochenendurlaub.
„So, die Herrschafte“, begann sie. „Ham se au gut geschlafe in unserem herrlichem Ländle? Möchtet sie Kaffe oder Tee und für die Kinderle vielleicht an Kakao?“ „Für meine Frau und mich Kaffee, für meine Tochter Kakao.“ Ich sah meine Sohn fragend an, da ich nicht sicher war, ob er sich unter der Bezeichnung `Kinderle` angesprochen fühlte. „Kaffee, schwarz, ohne Zucker“, orderte er seine Bestellung. „Is recht, kommt glei“, sagte die Wirtin.“Bedienet sie sich scho mal an unserem Frühstücksbuffet.“ Wir kamen der Aufforderung nach, als sie auch schon mit den Heißgetränken ankam und diese auf dem Tisch platzierte, nicht ohne ihre fröhliche Morgenunterhaltung fort zu setzten.
„Habet sie heut au was schönes vor, bei dem herrlichen Wetter in unserem schönen Ländle?“, wollte sie wissen. Mein Sohn hatte gerade eine Schluck schwarzen Kaffee aus seiner Tasse genommen, stellte diese wieder auf den Unterteller und sagte eiskalt: „Wir bringen ne Tante unter die Erde.“
Der Wirtin blieb vor Schock der Mund offen stehen. „Entschuldigen sie bitte die etwas direkte Art meines Sohnes“, versuchte ich die Situation zu retten. „Aber wir sind tatsächlich wegen einer Beerdigung hier. Meine Tante Adele...“ Weiter kam ich nicht, denn jetzt hatte sich die Wirtin wieder gefangen. „Die Adeeeeele...“, rief sie. „Des war ihr Tante? Mei des war a so a gute Frau. Die müsset sie ja arg gern ghabt hen.“ Ich wurde etwas verlegen. „Ehrlich gesagt, kannte ich sie kaum.“ Ein verächtlicher Blick der Wirtin war die Reaktion auf meine Aussage. Wie kann man a so a gute Frau, die noch dazu die eigenen Tante war kaum kennen?
Endlich kamen andere Gäste in den Frühstücksraum, denen sie von ihrem schönen Ländle vor schwärmen konnte.
Die Beerdigung war sehr ergreifend. Die kleine Friedhofskapelle konnte gar nicht alle Trauergäste fassen. Einige Reden wurden gehalten, bei denen ich meine Tante neu kennen lernen durfte. Besonders ihre Geschichten wurden immer wieder erwähnt, die den Kindern im Dorf sehr viel Freude gemacht hatten.
Als wir uns wieder auf die Heimreise machten, hielt ich den Ordner mit den eingehefteten Blättern in der Hand. Ich blätterte etwas darin herum und wusste, ich musste das alles so bald wie möglich lesen. Ich wollte wissen, in welcher Welt Tante Adele lebte und bat meine Frau, die Rückfahrt zu übernehmen, damit ich inzwischen lesen konnte.
Vertieft in die Worte die ich las hörte ich, wie sich meine Kinder auf dem Rücksitz unzerhielten und miteinander scherzten. Meine Frau blickte kurz zu mir rüber und lächelte. „Du bist wirklich eine unverbesserliche Leseratte, weißt du das?“
Ich blieb ihr eine Antwort schuldig. Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite tauchte ich immer tiefer ein in Tante Adeles Welt. Als wir zu Hause waren, las ich weiter, so oft ich nur konnte, bis zum Schluss, der eigentlich gar keiner war. Denn als letzter Satz stand da: „Ihr wollt wissen, wie es weitergeht? Das erzähl ich euch das nächste mal“.
Tja, Tante Adele. Du lässt uns hier zurück mit einer fantastischen Geschichte und tausend Fragen im Kopf. Nur ein nächstes mal wird es nie mehr geben.
Da fiel mir etwas ein, das ich gleich zu Anfang gelesen hatte. Ich blätterte auf die erste Seite zurück und las die ersten Sätze
„Dies ist meine Geschichte. Man muss sich nicht mit dem zufrieden geben, was ist. Jeder kann sich seine eigene Welt gestalten. Willkommen in meiner Welt. Tante Adele.“
Vielleicht musste das doch nicht das Ende von Tante Adeles Welt sein, Vielleicht würde sich jemand finden, der weiterbaut an Tante Adeles Welt. Und was dann passiert? Das erzählt er dann das nächste mal.
Texte: Roland Schilling
Bildmaterialien: Roland Schilling
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2013
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