Overthrill und Zuckerwatte
Von Roland Schilling
Als ich neulich in der Stadt einkaufen war, wurde ich auf einen Flyer aufmerksam. Er war von einem örtlichen Omnibusunternehmer . Sie boten eine Fahrt zum Münchner Oktoberfest an.
Ich wollte schon immer mal live den Bieranstich mit dem Oberbürgermeister der Stadt München und vor allem mit unserem Ministerpräsidenten sehen. Ich nahm den Flyer mit und beschloss, eine Familienkonferenz ein zu berufen.
„Familie,“ sagte ich, als ich sie alle versammelt hatte, „wir hatten schon lange keinen Familienausflug mehr.“ Während ich den Flyer auf den Tisch legte, fuhr ich fort. „Wie wärs mit dem Oktoberfest in München, nächsten Samstag.“
Mein Sohn David nahm den Flyer in die Hand. „Mit dem Bus?“ Fragte er in einem Ton, als ob ich ihn mit dem Heuwagen vor der Disko absetzten wollte. „Na, wir können auch eine Stretchlimo mieten.“ Antwortete ich. „Au ja,“ rief meine Tochter Lena begeistert. „Das war ein Scherz,“ konterten mein Sohn und ich im Duett.
„Also,“ fing ich an, ihnen die ganze Sache schmackhaft zu machen. „Wir werden mit einem brandneuem luxuriösem Reisebus fahren. Er wird uns direkt an der Theresienwiese absetzten. Wenn wir mit dem eigenen Auto fahren würden, müssten wir außerhalb parken und dann schauen, wie wir irgendwie mit öffentlichen Verkehrsmitteln da hin kommen.“
Das hatte sogar meinen Sohn überzeugt. Er fand das Oktoberfest an sich schon cool und wollte auch mal den ultimativen Overthrill einer der Achterbahnen erleben, was immer das auch sein sollte. Meine Tochter wollte sich den Bauch mit Zuckerwatte voll stopfen, wie sie es ausdrückte. Na ja, wie viel Zuckerwatte kann schon in so eine Neunjährige rein passen. Und meine Frau erhoffte sich, einigen Prominenten zu begegnen. Die Sache war also beschlossen. Oktoberfest, wir kommen. Nächsten Samstag würden wir uns aufmachen, das weltweit größte Volksfest der Welt (O-Ton Reiseveranstalter) zu besuchen.
Am nächsten Samstag klingelte um 5 Uhr früh der Wecker. „Warum so früh, Frau?“ Nörgelte ich in mein Kopfkissen, aus einem wunderschönem Traum gerissen. „Der Bus fährt doch erst um Acht.“
„Willst du etwa aus dem Bett in die Klamotten springen, ohne duschen und ohne Frühstück? Und die Kinder müssen wir auch noch fertig machen!“ Antwortete sie. „Warum willst du denn die Kinder fertig machen? Sie haben doch nichts getan,“ murmelte ich, noch immer schlaftrunken. Während meine Frau aufstand, drehte ich mich nochmal zur Seite. „So früh krieg ich sowieso kein Frühstück runter. Für mich nur einen Eimer Kaffee bitte,“ murmelte ich und gönnte mir noch die fünf Minütchen Schlaf.
Dann aber raffte ich mich auf. Schließlich war der Ausflug ja meine Idee. Was war ich nur für ein Vorbild für meine Kinder.
Als ich mich zum Badezimmer aufmachte, sah ich meinen Sohn am Türstock lehnen. „Lena!“ sagte er nur und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Badezimmertür. „Oje,“ bemerkte ich, „das kann dauern.“ Mein Sohn stimmte mir stumm nickend zu. Meine Tochter legt sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Obwohl, oder gerade weil sie erst Neun ist. Da steht sie ihrer Mutter in nichts nach. Bevor nicht auch das letzte Härchen da sitzt, wo es sitzen soll, wird das Badezimmer nicht verlassen. „Ich schau mal. Was der Kaffee macht,“ teilte ich ihm meine weitere Vorgehensweise mit.
In der Küche hatte meine Frau bereits ganze Arbeit geleistet und ein reichliches Frühstück auf den Tisch gezaubert.
Es tat mir ja Leid, dass sie sich so viel Mühe gemacht hatte, doch ich bekam so früh wirklich keinen Bissen hinunter. Nur das schwarze Gold des Morgens, meinen Kaffee.
Meine Frau warnte mich, dass ich vor Mittag wahrscheinlich nichts mehr zu Essen bekam und riet mir, doch wenigstens ein Brötchen für die Fahrt einzupacken. Doch ich lehnte ab. Ein echter Mann hält so was aus.
Als wir fertig waren, machten wir uns auf den Weg zum Busbahnhof, wo der Reisebus uns bereits erwartete. Pünktlich um Acht fuhr er los.
Der Busfahrer begrüßte uns, erzählte einige Fakten über das Oktoberfest, teilte uns mit, wo und wann wir uns bei der Abfahrt wieder treffen sollten, erinnerte uns daran, dass Samstag war und die Geschäfte zu einem Einkaufsbummel einluden, bemerkte noch, dass er Snacks und Getränke während der Fahrt zum Verkauf anbot und wünschte uns noch einen schönen Tag auf dem Oktoberfest.
Das mit den Snacks hätte er lieber nicht sagen sollen. Eine Stunde nach Fahrtantritt meldete sich mein leerer Magen. Ich rutschte nervös auf meinem Sitz hin und her. Meine Frau fragte, was ich hätte. „Ich hab Hunger,“ antwortete ich. „Na dann geh vor und hol dir was!“ Befahl sie. Ich ging nach vorne und holte mir einen Schockoriegel. Ich kam ziemlich missmutig wieder zurück. „Was ist denn jetzt schon wieder?“ fragte meine Frau, als sie meine finstere Mine sah. „Zwei Euro hat er dafür verlangt,“ sagte ich und hielt ihr den Schockoriegel unter die Nase. „Na, dann iss ihn schnell, bevor du zur Diva wirst!“ Lachte sie. Sie spielte damit auf einen Werbespott im Fernsehen an, aber sie hatte ja Recht. Nächstes mal würde ich auf sie hören und mir was von zu Hause mit nehmen.
Kurz vor 10 Uhr kamen wir dann in München an. Der Busfahrer erinnerte jeden noch einmal daran, wann wir uns hier, wo wir ausstiegen, wieder ein zu finden hätten.
Um 12 Uhr sollte der Anstich sein. Genug Zeit also, um gemütlich in Richtung des Zeltes zu schlendern, in dem das Ereignis statt finden sollte. Dort angekommen, sahen wir schon eine enorme Menschenmenge, die sich vor dem Zelt versammelt hatte. „Vielleicht haben sie noch nicht geöffnet,“ mutmaßte meine Frau. Doch als wir uns näherten, sahen wir den Grund des Menschenauflaufs. Ein großes Schild auf dem stand: „Wegen Überfüllung geschlossen.“
„Na, sauber,“ sagte ich, „Und jetzt?“ „Schopping!“ Kam die Antwort meiner Tochter.
Wir mussten ihr zu stimmen. Es machte keinen Sinn, von jetzt, bis spät Abends auf diesem Festplatz rum zu lungern. Wenn wir schon mal in München waren, konnten wir uns auch mal die Stadt ansehen.
Wir verließen also die Wiesn und machten uns auf den Weg in die Innenstadt.
Mein Sohn blieb am Bordstein stehen und sah nach links und rechts und wieder nach links. Ich wusste nicht, wonach er schaut und fragte ihn deshalb. „Wartest du, bis der gestrige Tag vorbei kommt, oder was?“ „Ich schau nach einem Taxi,“ war seine Antwort. „Ein Taxi,“ rief ich, „wozu hat dir der Herr zwei gesunde Beine gegeben? Wir laufen.“
Ich fand der kurze Abstecher in die Stadt war eine gute Idee, doch für meine beiden Damen musste der Bummel durch die Kaufhäuser die Hölle gewesen sein. Alles, was sie kaufen wollten, müssten sie ja bis zum Abend mit sich herumschleppen.
Jedenfalls sahen wir den Bieranstich dann doch noch live. Auf einem Großbildfernseher in einem Kaufhaus.
Als wir unseren Stadtausflug beendet hatten, gingen wir zurück zur Wiesn. Mein Sohn wollte endlich mit der Achterbahn fahren. Meine Tochter war noch zu klein dafür, was uns eine Messlatte am Eingang verriet. Also stellten nur mein Sohn und ich uns der Gefahr, wie echte Männer.
Kaum hatte ich mich in den engen Sportsitz eingefädelt, schloss sich der Sicherheitsbügel mit einem beängstigendem zischendem Geräusch.
Was ich nicht wusste war, dass das keine herkömmliche Achterbahn war, bei der die Wagen ruckelnd auf eine Anhöhe gezogen wurden, um sich dann todesmutig in die Tiefe zu stürzen. Nein.
Dies war eine so genannte Katapultachterbahn. Bei der wirst du abgeschossen, so schnell schaust du nicht. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Beschleunigung beim Start der Wagen drückte mich dermaßen in die Rückenlehne, dass ich dachte, man würde uns auf den Mond schießen. Ich wusste nicht, wie viele Schrauben, Wellen oder Loopings wir durchrasten. Ich wusste nicht, was oben und unten war. Ich wusste noch nicht einmal mehr, in welcher Stadt wir uns befanden, als die Wagen so abrupt bremsten, dass ich dachte, der Sicherheitsbügel würde mir einige Rippen brechen.
Als ich ziemlich benommen und umständlich aus stieg, lachte mein Sohn. „Na wie wars?“ wollte er wissen. „In so ein Höllending kriegst du mich mein ganzes Leben nicht mehr rein!“ Antwortete ich.
Doch zum Ausruhen war keine Zeit. Denn schon hatte mich meine Tochter an der Hand und zerrte mich zur gegenüber liegenden Geisterbahn.
In diesem Fahrgeschäft schloss sich der Bügel nicht zischend, man musste ihn manuell schließen .
„Wenigstens werden wir da nicht rein geschossen,“ bemerkte ich, als wir auch schon in die Finsternis der Schattenwelt ein tauchten. Bei jedem gruseligem Pappkamerad, der uns entgegen sprang, stieß meine Tochter einen gellenden Schrei aus. Dabei hielt sie die ganze Zeit meine Hand. Am Ende dachte ich, meine Hand wäre in einen Schraubstock geraten.
Endlich waren unsere Seelen erlöst und der von einem Teufel geschobene Wagen hielt polternt an der frischen Luft des Oktoberfestes.
„Ich will noch mal!“ Rief meine Tochter begeistert, als wir das Fahrgeschäft verließen. „Aber du hattest da drin doch Angst,“ entgegnete ich, während ich meine Hand schüttelte, um wieder Gefühl rein zu kriegen. „Nö,“ antwortete sie. „Aber warum hast du dann geschrien wie am Spieß?“ Wollte ich wissen. Sie lächelte. „Na, weils Spaß gemacht hat.“
Weibliche Logik, sag ich da nur.
Aber es gab ja noch so viel zu sehen. Meiner Tochter kaufte ich noch ihre Zuckerwatte,meinem Sohn Popkorn, meiner Frau ein Lebkuchenherz mit irgendeinem sinnfreiem Spruch und mir eine 500g Tüte gebrannte Mandeln.
Ich brauche immer gebrannte Mandeln, wenn ich auf einer Kirmes bin. Das ist ein Naturgesetz.
Dann betraten wir den Himmel der Bayern. So jedenfalls stand es auf einem großem Schild über der Bühne des Festzeltes.
Es war eines der wenigen Zelte, die nicht wegen Überfüllung geschlossen waren, aber es herrschte doch ziemliches Gedränge. Mühsam kämpften wir uns durch die Reihen, als ich eine Gruppe Jugendlicher sah, die Anstalten machten, ihren Tisch zu verlassen. „Da wird was frei!“ Teilte ich meiner Familie mit und lotste sie zu dem frei werdenden Tisch. Ein sich im mittlerem Alter befindliches Paar verblieb noch an diesem Tisch, weshalb ich höflich fragte, ob diese Plätze noch frei seien. „Jo, freili!“ War die Antwort des stilecht in Lederhose, Trachtenjacke und Gamsbarthut gekleideten Mannes. Seine Frau im feschem Dirndl, lächelte uns freundlich zu, während wir Platz nahmen.
Die Bedienung nahm die leeren Krüge unserer Vorgänger mit und unsere Bestellung auf. Ich bestellte zwei Maß Bier für mich und meine Frau, eine Maß Spezi (Cola-Orangensaft Mischgetränk der Aut.) für meinen Sohn und eine Limo für meine Tochter.
Erstaunlich kurze Zeit später kam sie mit einer enormen Menge Maßkrüge im Arm zurück und stellte diese knallend auf den Tisch, während sie mir die Summe, die ich für die Getränke zu zahlen hätte ins Ohr brüllte. Inzwischen schleuderte nämlich die Kapelle auf der Bühne eine ohrenbetäubendes „Prosit der Gemütlichkeit“ durchs Zelt. Ich blätterte die Euros auf den Tisch, die wir sonst nicht mal in einer Woche für Getränke ausgaben.
Nachdem sie uns unsere Getränke hin geschoben hatte, nahm sie den Rest de Maßkrüge wieder an sich, um sie an andere Gäste zu verteilen.
Auch unser bayuwarischer Sitznachbar hatte eine frische Maß erhalten und prostete uns zu. Klirrend begegnete sich unsere Krüge und der erste Schluck kühles Oktoberfestbier ran unsere Kehlen hinab.
Inzwischen hatte ein weiteres Paar, das eindeutig dem schwäbischem Volksstamm zu zuordnen war, die noch verbleibenden zwei Plätze an unserem Tisch entdeckt und nahmen Platz. Die Kapelle spielte deutsche Schlager aus längst vergangenen Tagen, wahrscheinlich um das Zelt von den ganzen Jugendlichen zu befreien, denn auch meine Kinder wollten sich lieber noch mal den Festplatz ohne ihre Erziehungsberechtigten ansehen.
Nach einem erneutem „Prosit der Gemütlichkeit“ verabschiedete sich die Kapelle in eine kurze Pause. Die Bedienung kam mit einem Arm voll leerer Maßkrüge und einem „Kim glei!“, das an die Neuankömmlinge an unserem Tisch gerichtet war vorbei gehuscht. Wenig später kam sie dann wieder vorbei, um die Bestellung der beiden Schwaben auf zu nehmen. Der Mann orderte eine Maß Bier und seine Frau fragte ganz freundlich: „Ham se au a Glas Wasser?“
Mein bayrischer Nachbar lachte schallend. „Wennst a Wasser saufn willst, gehst and Isar,“ meinte er. Seine Frau knuffte ihn mit dem Ellbogen in die Seite, womit sie ihm zu verstehen gab, dass er sich mit seinen Äußerungen etwas zurück halten sollte.
Die Schwäbin tat aber so, als hätte sie diese Bemerkung überhört.
Schließlich hatte die Kapelle ihre Pause beendet und kam als Rockband wieder. Einige hatten ihre Blasinstrumente gegen E-Gitarren ausgetauscht und kündigten an, dass sie nun einige Songs der Spidermurphey Gang, einer Münchner Band, spielen werden.
Schon als die ersten Klänge des Gitarrenintros von „Skandal im Sperrbezirk“ das Zelt erbeben ließen, standen die ersten Gäste auf den Bänken und klatschten im Rhythmus mit.
Auch meinem bayrischen Freund, der anscheinend schon einigen dieser Maßkrüge den Garaus gemacht hatte, hielt es nicht länger auf seinem Sitz. Umständlich kletterte er auf die Bank und klatschte und stampfte zum Takt der Musik, dass ich dachte, gleich würde die Bank durch krachen und wir machten Bekanntschaft mit dem harten Bierzeltboden. Doch bayrische Bierbänke halten anscheinend einiges aus.
Inzwischen kamen auch unsere Kinder zurück. Meine Tochter hatte Glück an der Losbude, denn sie hatte eine Captain Kitty Plüschfigur im Arm. Sie setzte die weiße Stoffkatze vor sich auf den Tisch.
Als mich der Typ mit seiner Augenklappe, seinem einem Knopfauge und dem auf gesticktem Lächeln angrinste, kam mir der Kerl irgendwie suspekt vor. Irgend woher kam er mir bekannt vor, ich wusste nur im Moment nicht woher. Außerdem waren sie noch mal in der Geisterbahn. Ich erkannte es daran, weil mein Sohn seine Hand schüttelte, um wieder Gefühl rein zu bekommen
Als die Band „Sommer in der Stadt“ spielte, standen fast alle Gäste auf den Bänken und sangen oder lallten (je nach Verfassung) den Song mit. Schräg gegenüber von uns tanzten sogar zwei junge Damen in feschen Minidirndeln auf dem Tisch. Ein Blick von meiner Frau sagte mir aber, dass mich die zwei bayrischen Grazien nicht weiter zu interessieren hätten.
Außerdem war es schon ziemlich spät und wir mussten uns auf den Weg machen, wenn wir den Bus nicht verpassen wollten. Als wir das Zelt verließen, spielte die Band, wie zum Abschied, noch einmal das „Prosit der Gemütlichkeit“. Nur diesmal in der Hardrockversion.
Ein letztes mal schlenderten wir über den nun bunt glitzernden und leuchtenden Festplatz, der in eine vielstimmige Melodie getaucht war. Wir stiegen in unseren Bus ein, der uns sanft nach Hause schaukelte.
Unsere Kinder waren so müde, dass sie gleich in ihre Zimmer verschwanden, während meine Frau und ich den Tag noch bei einem Glas Wein Revue passieren ließen. Dann gingen auch wir zu Bett.
Und ich träumte noch lange von overthrill und Zuckerwatte.
Texte: Roland Schilling
Bildmaterialien: Rolland Schilling
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2012
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