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Stadt der vergessenen Seelen.
Von Roland Schilling.

Die Sonne lugte gerade über den Horizont und versuchte, die eisige Kälte der Nacht aus der Stadt zu vertreiben. Nicht alle konnten die Nacht in ihren beheizten, gemütlichen Wohnungen verbringen. So wie jener Mann, der sich mühsam, in allen Kleidungsstücken, die er noch besaß gehüllt, von der Parkbank erhob. Neben sich am Boden stand eine braune, zerknitterte Papiertüte, die eine Flasche Weinbrand enthielt. Der Grund, wieso er gestern aus dem Wohnheim für Obdachlose geflogen war. Man duldete dort keinen Alkohol. Alles was er noch besaß, war seine Kleidung, die er am Leib trug, die Flasche Weinbrand, und seine Würde. Auch wenn diese Würde in den Augen anderer Menschen nicht viel wert war. Früher hatte er einen Job, eine Frau und eine Familie. Der Alkohol war sein Freund und sein Feind. Er konnte mit ihm rauschende Feste im Kreise seiner Kollegen feiern, aber er würde eines Tages auch mit ihm untergehen. Das wusste er. Nun verlangte man von ihm, dass er sich ändern sollte, aber die Stadt, die Gesellschaft, die Welt, hatte ihn geändert und zu dem gemacht , was er heute war. Das jedenfalls, war seine Überzeugung. Er kramte, mit von der Kälte erstarrten Fingern eine verrostete alte Mundharmonika aus seiner Manteltasche hervor. Mit ihr wollte er in der Fußgängerzone etwas Geld verdienen, um sich Essen zu kaufen und eine neue Flasche Weinbrand. Am Abend würde er sie trinken, eine Schlafstelle für die Nacht suchen, seine Sorgen vergessen und Gott bitten, ihn morgen wieder aufwachen zu lassen. Langsam, die Kälte der Nacht noch in allen Knochen, machte er sich auf den Weg in die Innenstadt. Eine alte, kleine Frau kam ihm entgegen. Die beiden grüßten sich mit einem Kopfnicken. Sie kannten sich nicht persönlich, begegneten sich aber fast jeden Tag. Die Frau schob einen Einkaufswagen vor sich her, in dem sie ihre Habseligkeiten hatte. Bevor sie in die Stadt ging, suchte sie die Abfalleimer des Parks ab, um noch etwas Verwertbares zu finden. Sie hatte ihr Leben lang gearbeitet. Immer aber in niedrig bezahlten Jobs. Zum Schluss reichte es gerade für die Grundrente. Als sie die Miete für ihre kleine Wohnung nicht mehr bezahlen konnte, sagte man ihr auf dem Amt, dass sie die Verdienstbescheinigungen von ihren Kindern vorlegen müsse, damit sie Mietzuschuss bekäme. Seitdem hat sie sich dort nie mehr blicken lassen. Sie wollte lieber auf der Straße leben, als ihren Kindern zur Last zu fallen. Schon vor über 70 Jahren, als die alliierten Bomben ihre Stadt in Schutt und Asche legten, hatte sie mit ihrer Mutter gelernt, für sich selbst zu sorgen. Ihr Vater war im Krieg gefallen. „ Ey, Alte, was geht ab?“ Wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Eine Gruppe Jugendlicher stand ihr im Weg. Fünf Jungs im Alter zwischen 12 und 14. Die alte Frau senkte ihren Blick und schob tapfer ihr Einkaufswägelchen weiter, hoffend, dass die Kinder sie in Ruhe lassen würden. „ Lass doch die Alte!“ Sagte ein Anderer. Grölend und andere Leute anpöbelnd ,machten sie sich mit reichlich Schnaps und Bier im Gepäck, in Richtung Innenstadt. Das Leben war eine Party für sie. Ausländer beschimpften sie, sie nehmen ihnen ihre Jobs, ihre Zukunft weg, nicht ahnend, dass sie sich ihre Zukunft selbst verbauten, in dem sie die Schule geschmissen hatten. Auch über einen Indio in einem bunten Poncho, der an der Ecke des Kaufhauses stand, machten sie sich lustig. Aber, der bemerkte sie gar nicht. Wenn er auf seiner Panflöte träumte, war er weit weg, in seiner ehemaligen Heimat Peru. Er hörte den Ruf des Kondors, der mit weit ausgebreiteten Schwingen über den majestätischen Bergen seiner Heimat seine Kreise zog. Er sah die Lamas, die schwere Lasten trugen und seine Landsleute, wie sie fröhliche Lieder sangen. Dann wurde er durch ein lautes Geräusch aus seinen Träumen gerissen. Ein Notarztwagen mit Blaulicht und Martinshorn hielt mitten in der Fußgängerzone. Er sah, dass ein alter Mann am Boden lag. Die Flasche in der braunen, zerknitterten Papiertüte vergoss ihren Inhalt in eine kleine Pfütze auf das graue Pflaster. Schon bald versammelten sich zahlreiche Schaulustige um die Szenerie, während die Sanitäter versuchten das Leben des Mannes zu retten. „ Scheiß Penner.“ Sagte einer der fünf Jugendlichen. Die anderen lachten. Dann zogen sie weiter, Party machen. Die alte Frau, die mit ihrem Einkaufswagen anhielt fragte die Rettungssanitäter, was passiert sei. „ Kennen sie ihn?“ Fragte der Eine. Sie schüttelte den Kopf. „Nur vom Sehen.“ Antwortete sie leise. „ Er hat´s nicht geschafft!“ Sagte der andere Sanitäter und zog ihm die goldfarbene Rettungsdecke, die den alten Mann vor Unterkühlung schützen sollte über den Kopf. Inzwischen war auch der Indio dazu gekommen. Er nahm seine Panflöte und spielte ein Lied aus seiner Heimat. Die Melodie, so sagt man, trägt die Seele des Verstorbenen in den Himmel.
Du willst wissen, in welcher Stadt sich das alles ereignet hat?
Es könnte in jeder Stadt gewesen sein, auch in deiner. Halte nur einmal die Augen offen. Dann siehst du sie. Die vergessenen Seelen der Stadt.

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Tag der Veröffentlichung: 05.01.2012

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