„ Ich geh meine eigenen Wege...“ Der Anfang eines Liedtextes aus, ich glaube, den 80`gern.
Jedenfalls war ich noch jung damals. Sehr jung. Hatte die Zukunft noch vor mir. O.K. Es geht mir nicht schlecht heute, aber ein paar Weichen des Lebens hätte ich schon anders stellen können.
Jetzt schlendere ich durch Berlin. Deutsche Hauptstadt. Ich bin mit einer Reisegruppe hier, für zwei Tage. Hab mich abgesetzt von der Gruppe. Sie wollen das Berliner Nachtleben erleben. Ich auch. Doch auf eigenen Wegen.
Da ist es wieder, das Thema. „Ich geh meine eigenen Wege.“ Wenn es mir sowieso nicht aus dem Kopf geht, kann ich es auch genauso gut gleich mit summen.
Ich gehe also summend und staunend unter den beleuchteten Linden. „ Eigene Wege sind schwer zu beschreiten...“ Da fällt mir eine Frau auf. Zwei kleine Kinder, links und rechts von ihr, mit schweren Tüten bepackt. Allein erziehend, nicht wissend, wo ihr Weg des Lebens sie hin führen wird. Was die Zukunft ihr und ihren Kindern beschert.
So etwas wird einem auf der Stadtrundfahrt nicht erzählt. „ Rechts sehen Sie die Staatsoper und links eine allein erziehende Mutter, die nicht weiß welche Zukunft sie ihren Kindern bieten kann.“
Auch meine Kollegen, die sich gerade im Berliner Nachtleben amüsieren, bekommen davon nichts mit. Sie lassen sich eine glitzernde Scheinwelt vor gaukeln. Aber, jeder soll seinen eigenen Weg gehen.
Ich beobachte, summend, weiter. Doch nicht die Gebäude, oder die leuchtenden Bäume sind es, die mich jetzt interessieren, sondern die Menschen. 3 Millionen Einwohner. Und jeder geht seine eigenen Wege. 3 Millionen Wege in Berlin.
Und dazu noch die Besucher . So viele Millionen Wege. Und jeder ein bisschen anders.
Ich habe Hunger und kaufe mir eine heiße Wurst bei einem Mann der sie von einem Bauchladen aus verkauft. Vor sich hat er den Grill mit den Würstchen und Brötchen umgeschnallt und auf dem Rücken trägt er die Gasflasche für den Brenner. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Da kein weitere Kunde wartet, unterhalte ich mich ein wenig mit dem Mann. Möchte wissen, was sein Weg ist. Er ist sichtlich erfreut darüber, dass sich jemand mal ein bisschen Zeit für ihn nimmt.
Er erzählt mir von sich, während ich die von ihm zubereitete Wurst esse und ihm zu verstehen gebe, wie lecker sie mir schmeckt. Er freut sich und sieht sich wahrscheinlich darin bestätigt, dass sein Weg doch so falsch nicht sein kann.
Ein junges Mädchen fällt mir auf. Sie deutet auf die Kronen der Linden und lächelt dabei. „Schau!“ Ruft sie, obwohl keiner bei ihr ist, mit dem sie sich unterhalten könnte. Sie lacht und wankt, dass ich befürchte ,sie könnte jederzeit umkippen.
Und dann passiert es. Sie kippt tatsächlich um. Wie in Zeitlupe knallt sie auf das harte Pflaster. Ein Mann, ebenfalls in Zeitlupe und in Anzug und Krawatte, hastet heran, um ihr zu helfen. Auch ich gehe auf sie zu, nicht wissend ,was ich eigentlich machen soll.
Der Mann weist mich an, mit ihr zu reden. Er sei Arzt und holt Hilfe.
„ Siehst Du die Elfen da oben, die in den Bäumen gefangen sind?“ Sagt sie zu mir, in meinen Armen liegend, mit verdrehten Augen.
Ich schaue nach oben und sehe die Lichter der Linden.
„ Ja.“ Antworte ich.
Dann zerfetz das Blitzen des Blaulichtes und der schrille Ton des Martinshorn, des Notarztwagens, die schon fast entstandene Idylle.
Ich werde gefragt, ob ich sie kenne, muss es verneinen.
Niemand hier kennt sie, vermisst sie.
Bei 3 Millionen Wegen kann man sich schon mal verirren.
Sie wird abtransportiert. Mit Blaulicht und Sirene, ab ins finstere Berlin. Niemand kannte sie, Niemand vermisste sie. Wahrscheinlich ist sie nicht einmal einen Satz in der morgigen Ausgabe der Zeitung wert.
Ich Schaue ihr noch nach, bis die blitzenden Blaulichter verschwunden sind . Dann mache ich mich auf den Weg. Zurück ins Hotel.
Ich habe genug gesehen von Berlin.
„ Eigene Wege sind schwer zu beschreiten. Sie entstehen ja erst beim gehn.“
Eigene Wege sind ja O.K. Aber jeder Weg braucht auch Wegweiser, damit man sich entscheiden kann, wohin man gehen will.
Und wer, wenn nicht wir , soll denn der Jugend sagen, welche Wege sie gehen können und welche sie besser meiden sollen.
Texte: Roland Schilling
Bildmaterialien: Roland Schilling
Cover: Roland Schilling
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011
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