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Angel und Stayr

Fantasie ist eine eigene Welt und jeder hat sie, man muss sie nur finden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich verfolgte ihn nun schon seit einer Viertelstunde mit meinen Blicken. Er sah aber auch wirklich gut aus. Er hatte dunkle, kurze Haare und unglaubliche, hellblaue Augen. Aber bisher hatte er nicht ein einziges Mal zu mir rüber geschaut! Entschlossen kippte ich den Rest Barcadi runter, der noch in meinem Glas war, und ging zu ihm hinüber. Ich hatte keine Lust mehr zu warten und wenn er nicht zu mir kommen wollte, würde ich halt zu ihm gehen. Er sah so aus, als würde es sich lohnen. „Hey Xan ich bin mal kurz weg. Hab‘ da was gesehen.“ sagte ich zu ihr und zwinkerte ihr zu. Sie grinste vielversprechend und nickte in die Richtung, wo der Kerl immer noch stand. „Viel Glück. Ich finde alleine nach Hause.“ erwiderte sie und drehte sich um, um sich noch einen Drink zu bestellen. Ich schlängelte mich durch die tanzenden Leute und rempelte auch ein paar an, die mir im Weg standen. Den Kerl immer im Blick, ging ich geradewegs auf ihn zu. Erst als ich direkt vor ihm stand, sah er zu mir und selbst das nicht mit dem Blick, den ich erwartet, erhofft hatte. Idiot. Aber egal. Ich wollte ihn ja nicht heiraten. „Na. Willst du was trinken?“ fragte ich ihn, lächelte leicht und legte den Kopf schief. Das hatte bisher immer geklappt. Sein Blick wanderte einmal über mich und er zog eine Braue hoch. „Neee, danke. Kein Durst.“ Er besaß sogar die Unerhörtheit zu lächeln! Er konnte mir doch nicht einfach so einen Korb geben. Mir! Er nickte mir nochmal zu und rauschte davon. Ich konnte ihm nur verärgert hinterher starren. Langsam ging ich wieder zurück zu Xan. Als ich bei ihr war und sie mich sah, bestellte sie gleich noch einen Drink. Ich guckte sie dankbar an und trank das Getränk - ich hatte echt keine Ahnung was es war, aber es schmeckte. Nicht das ich irgendwie traurig war, frustriert traf es eher, denn der Typ war doch schon ziemlich gutaussehend. Das wäre eine gute Nacht geworden. Tja, aber der Abend war noch nicht vorbei, vielleicht treibt der sich hier noch irgendwo rum. Ich dachte gar nicht daran aufzugeben. Und tatsächlich, er war an der anderen Bar, gegenüber von mir. Er trank gerade etwas und neben ihm stand etwas, was ich nur als Schlampe bezeichnen konnte. Ehrlich, noch knapper konnte man sich nicht anziehen und sich noch offensichtlicher an einen ranmachen auch nicht. Ich stutzte. Warum regte ich mich darüber so auf? Es gab immer Eine, die sich versuchte einen Typen zu angeln, den ich haben wollte. Doch meistens ging sie leer aus und ich hatte den Kerl. Und heute sollte es nicht anders laufen. Ich legte Xan die Hand auf die Schulter und zwinkerte ihr zu. „Alle guten Dinge sind zwei... hoffe ich.“ Xan kicherte. Ich grinste und machte mich wieder auf den Weg. Normalerweise renne ich niemals einem Typen hinterher – und schon gar nicht zweimal! –, aber dieser Typ hatte etwas. Abgesehen von seinem Aussehen. An der Bar bestellte ich mir einen Tequila und stellte mich, rein zufällig natürlich, neben ihn. Die Schlampe neben ihm gurrte ihm irgendetwas ins Ohr und tatschte ihn an. Auf so was konnte er doch nicht ernsthaft stehen. Ich tat so als wäre er mir völlig egal, bis er seinen Blick über die Menge gleiten ließ und dieser schließlich an mir hängen blieb. Endlich. Er drehte sich zu mir um und zog eine Braue hoch. Ich wandte meinen Kopf zu ihm und grinste ihn schief an. „Du lässt nicht locker, was? Na gut, trinken wir was.“ sagte er und bestellte sich auch was. Wir stießen an und ich sah, wie die Schlampe beleidigt abzog. Ha! Ich hatte doch wieder gewonnen. Ich lächelte und freute mich schon auf die Nacht. Er sah wirklich gut aus. Er kippte seinen Drink in einem Schluck und stellte das Glas wieder ab. „So jetzt haben wir was getrunken.“ Er nickte mir zu und ging dann davon. „War schön dich kennenzulernen.“ Und dann verschwand er einfach! Das war doch nicht wahr, oder!? Was für ein Arschloch. Ich seufzte, ignorierte das Feixen der Schlampe und ging wieder zurück zu Xan. Sie stand da und biss sich auf die Unterlippe, um nicht lachen zu müssen. Ich stieß sie mit dem Ellenbogen an und zerrte sie zur Tanzfläche. Das war nicht der Erste, der mich abgewiesen hatte, aber die Kunst lag darin, sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Der Abend wurde dann doch noch ganz gut, ohne irgendwelche Männer, nur ich und Xan. Fi, die Dritte, die sonst auch immer dabei war, war mit irgendeinem Kerl in Italien. Sie hatte uns erst letztens angerufen mit der Aussage ‚Ich will euch alles erzählen.‘ Was wollte sie uns erzählen? Und warum kamen sie und ihre Lover dafür nicht einfach wieder nach hier? Bald würden Zugtickets in unseren Briefkästen liegen, mit denen Xan und ich zu ihr kommen würden. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei und irgendetwas war da faul. Xan glaubte vielleicht daran, aber ich bezweifelte, dass sie in Italien war. Ich weiß nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund konnte ich das nicht wirklich glauben. Gegen vier Uhr morgens, den Typ hatte ich nicht mehr gesehen, verließen Xan und ich langsam den Club. Wir waren mittlerweile müde und ein bisschen mehr als nur angetrunken. Also stieg sie in ihr Auto und ich in meins. Ich hoffte, dass ich keine Schlangenlinien fahren, oder mich die Streife mich anhalten würde. Aber zu meinem Glück hatte ich mich - und das Auto - ganz gut unter Kontrolle. Doch ich spürte, dass mir schlecht wurde. Vielleicht hatte ich doch zu viel getrunken. Es war nicht mehr weit bis zu meiner Wohnung und das kleine Stück würde ich noch schaffen. Zumindest dachte ich das, jedoch wurde das Übelkeitsgefühl immer mehr und schließlich hielt ich doch an, um frische Luft zu schnappen und ein Stück zu gehen. Ich zog den Schlüssel und stieg aus, das Auto schloss ich ab. Heute Nacht konnte man die Sterne sehen und keine Wolke verdeckte den Mond. Es war kalt - mittlerweile war es Dezember - aber ich genoss es. Es half mir dabei, einen einigermaßen freien Kopf zu bekommen und das aufkeimende Übelkeitsgefühl zu bekämpfen. Ich lief langsam und tief einatmend den Weg entlang, bis ich gedämpfte Geräusche hörte. Sie kamen aus einer kleinen Gasse, die vor mir lag. Jedoch sah ich sie erst, als ich um einen Ecke bog. Zwei Männer, der Eine, im Schein einer Straßenlaterne, über den Anderen gebeugt. Gerade sackte der Untere zu Boden und der Obere stieß noch mal mit einem länglichen Gegenstand in seine Brust. Ich unterdrückte einen Schrei und wich langsam zurück. Der Mann richtete sich auf sah sich um, allerdings ohne mich zu entdecken, und wischte die Mordwaffe an der Kleidung des Anderen ab. Dann wollte er gehen. Vielleicht war es der Schock, vielleicht auch einfach nur leichtsinniger Mut, aber ich ging in die Gasse zu dem Mörder. Er bemerkte mich erst gar nicht, doch dann trat ich gegen Etwas und er fuhr zurück. Starrte mich an. Doch ich ignorierte den Blick. Ich war viel zu aufgewühlt und erstaunt über diese Dummheit dieses Kerles. Erst hier einen Mord hinlegen und dann wollte er einfach gehen und die Leiche hier liegen lassen? Hatte er sie noch alle? Dann kann er ja gleich seinen Namen daran schreiben und vor einem Polizeirevier abladen. Wie einfältig kann man nur sein? „Du willst sie hier einfach liegen lassen?!“ Ich sah ihn immer noch nicht an, aber ich spürte, dass er verwirrt war. Und wenn ich klar denken könnte, wäre ich das auch. Hallo?! War ich nicht völlig bescheuert?! Ich stand hier völlig breit in einer Gasse mit einem Mörder, der soeben einen Mann umgebracht hatte. Das gehörte definitiv zu den Dingen, die man vermeiden sollte. „Ähh... ja?!“ sagte er. Ich kannte diese Stimme. Endlich blickte ich ihn an und sah ihn. Wunderschöne helle Augen, unter kurzem, dunklen Haar. Der Typen aus dem Club. Also war er doch nicht mit der Schlampe abgehauen! Meine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. Ich sollte wegrennen, schreien oder mich den normalen Reaktionen meines Körpers auf solch einer Situation hingeben – zusammenbrechen, schreien, panisch weglaufen – und mich nicht darüber freuen, dass er doch nicht mit der Fremden mitgegangen war. „Geht es dir nicht gut?“ fragte der Typ. „Hä?“ Warum sollte es mir nicht gut gehen? Jetzt war ich verwirrt, was jedoch in meinem Zustand nicht gerade schwer war. Mein Gehirn arbeitete spürbar langsam. Aber das Gute war, wie ich jetzt feststellte, dass die Übelkeit weg war. „Du stehst hier alleine und wie ich sehe vollkommen betrunken. Du hast gesehen, wie ich gerade jemanden abgemurkst habe, dann regst du dich darüber auf, dass ich die Leiche hier liegen lassen wollte und fängst an zu lächeln.“ Er ließ ein abgehaktes, ungläubiges Lachen ertönen. „Das ist doch krank!“ Tja, da hatte er doch irgendwie Recht. Aber er konnte doch nicht wirklich so inkompetent sein und die Leiche hier liegen lassen wollen. Ich fing an leicht zu nicken und zeigte auf die Leiche „Schaff sie weg, okay.“ sagte ich müde und drehte mich um. Ich konnte ihn noch ein ‚Du hast doch einen Knall‘ murmeln hören und ein leises Kichern. Auf dem Weg zurück zu meinem Auto stolperte ich über einen herumliegenden Karton und wäre fast gegen einen der Müllcontainer gelaufen, die an der Wand standen. Beim Auto heile angekommen, stieg ich ein und startete den Motor. Morgen würde das hier alles aussehen wie ein Traum und alles würde unwirklich erscheinen. Bestimmt. Ich lächelte wieder leicht und fuhr nach Hause.

Am übernächsten Tag hatten Xan und ich jeweils ein Ticket im Briefkasten. Ich hatte ihn gar nicht geöffnet, nur gesehen, dass ihr Name hinten auf dem Umschlag prangte und war sofort zu Xan gefahren. Als ich bei ihr war, stellte ich fest, dass sie ihren schon geöffnet hatte, denn sie kicherte, als sie mir die Tür aufmachte. „Was ist denn?“ fragte ich sie. Sie zeigte auf den Umschlag. „Öffne ihn.“ sagte sie, als sie sich beruhigt hatte. Ich riss den Brief auf, zog das Ticket raus und sah es mir an. Zugfahrt, zweite Klasse, Doppelabteil. Hä? Was sollte da jetzt...? Ich las weiter und konnte meinen Augen nicht trauen. „Sibirien?“ stieß ich aus. Sibirien?! Sie war in Sibirien?! Was zur Hölle machte sie da? „Ja, sie ist in Sibirien. Bei meinem Ticket war noch eine kleine Notiz dabei:  ‚Ich würde mich freuen wenn ihr kommen würdet. Ich weiß es ist nicht Italien, versucht bitte mir zu vertrauen. Denn Rest werdet ihr erfahren, wenn ihr hier seid. Ich vermisse euch, Fianna. P.S.: Denkt daran anzurufen ;)‘ Xan sah mich an. „Fahren wir trotzdem?" Sie sah mich ein wenig bittend, aber auch skeptisch an. Ich seufzte, verrückte Fi. Die würde sich was von mir anhören müssen. „Ja, klar.“ Ich lächelte leicht. „Gut. Morgen können wir sofort losfahren.“ Sie drehte sich um und zog einen Koffer unterm Bett hervor. „Ich muss nur meine Sachen packen und bei meiner Arbeit anrufen, die wissen schon, dass ich mir Urlaub nehmen wollte.“ erzählte sie, während sie schon hektisch ihre Sachen hervorkramte und in den riesigen Koffer warf. „Ich muss eigentlich auch nur noch anrufen und Sachen packen. Hmm… morgen um elf Uhr? Ich komm dann zu dir und wir können uns dann ein Taxi zum Bahnhof nehmen?“ fragte ich sie und schnappte meine Sachen. Ein klein wenig aufgeregt war ich doch schon darauf, was denn so wichtig war, dass sie deswegen nicht zurückkommt, sondern wir zu ihr mussten. „Okay, ich warte dann auf dich.“ Sie küsste mich auf die Wange und ich ging wieder durch die Tür zu meinem Auto. Das würden ein paar spannende nächste Tage werden. Auf der Rückfahrt war ich vollkommen in Gedanken, bis ich an der Stelle vorbeifuhr, an der ich mitangesehen hatte, wie ein Mann umgebracht wurde – und wie eine betrunkene Irre verdammt viel Glück gehabt hatte, dass sie nicht ebenfalls so endete. Im Nachhinein schauerte es mir bei dem Gedanken, dabei gestanden zu haben und nichts gemacht zu haben, außer den Mörder anzuschreien, dass er die Leiche beseitigen soll. Dennoch wollte ich wissen, ob er es gemacht hatte. Ich hielt am Straßenrand und stieg aus. Kurz holte ich tief Luft und betrat die Gasse. Nirgends war eine Leiche. Um ganz sicher zu gehen, dass der kaltblütige Kerl von gestern Nacht wirklich das getan hatte, was ich ihm gesagt hatte, lief ich noch weiter hinein, bis zu der Stelle, an der das Opfer zusammengesunken war. Ich stieß die Luft wieder aus. Nichts. Auf dem Weg zurück zu meinem Auto fiel mir der Müllcontainer ins Auge, gegen den ich fast gerannt wäre. Der Deckel war leicht geöffnet. Er hatte doch nicht… Ich öffnete den Deckel ganz und schaute hinein. Er hatte. Die Augen des toten Mannes starrten mich an. Doch viel mehr, als dieser verstörende Blick, störte mich die Dummheit des Anderen. Das verstand er also unter ‚wegschaffen‘?! Die Leiche einfach ein paar Meter entfernt von dem Tatort in einen Müllcontainer werfen?! Ich ließ den Deckel wieder zufallen und schüttelte den Kopf. Also waren Männer noch immer Idioten. Auch wenn sie gut aussahen. Den ganzen Weg zurück kreisten meine Gedanken ihn, den Mörder. Der war doch echt unglaublich arrogant zu glauben, dass niemand die Leiche in einem Müllcontainer finden würde. Als ich endlich zuhause hielt, zwang ich mich ihn zu vergessen. Vorerst. Immerhin hatte ich morgen besseres zu tun, als über einen dummen, arroganten, gutaussehenden Mörder nachzudenken. Ich fing an, meine Sachen zu packen und mich zu entscheiden, welche ich mitnehmen konnte und welche ich hierlassen würde. Es war ja keine ganze Weltreise, nur eine halbe, dachte ich zähneknirschend. Und ich würde ja irgendwann wiederkommen. Dann konnte ich mich wieder mit dem Kerl beschäftigen. Ich legte mich hin, nachdem ich meine Sachen gepackt hatte und diese fertig neben der Tür standen. Mein Handy schloss ich an, damit wir Fi morgen anrufen konnten. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um den Mörder, aber schließlich siegte dann doch die Neugier auf Sibirien, Fi und das was uns dort erwarten wird. Aufgeregt auf den morgigen Tag und auf alles, was sie uns sagen würde, schlief ich ein.

Wie sich herausstellte, kamen wir am nächsten Tag noch nicht an. Aber ich muss schon sagen, die Zugfahrt war eigentlich ganz angenehm. Wir hatten einen Zug um ein Uhr genommen und gegen Mitternacht die russische Grenze überschritten. Das Essen war gut und die Gesellschaft auch. Xan und ich saßen abends noch an einer kleinen Bar und unterhielten uns gut mit anderen Zuggästen. Als wir müde wurden, ungefähr gegen zwei, gingen wir dann aber auch schlafen. Am nächsten Tag wurde uns mitgeteilt, dass wir gegen Abend unser Ziel erreichen würden. Xan und ich hatten die ganze Zeit schon wild darüber spektakuliert, was uns wohl dort erwarten würde. Ein russisches Staatsgefängnis? Eine riesige Villa, weil sie einen Russen kennengelernt hatte? Die neue Spektakulation übertraf die vorherige. Nach dem Mittag erfuhren wir, dass wir zwischen sechs und sieben Uhr ankommen würden. Wir gingen auf unser Zimmer und ich holte mein Handy, auf der ich die Nummer von Fi eingespeichert hatte. Es klingelte ein paar Mal, bis eine männlich klingende Stimme ranging. „Wer ist da?“ fragte die. Ich stockte kurz, da ich dachte das Fi persönlich rangehen würde. „Eine Freundin von Fi. Ist sie zu sprechen?“ fragte ich. Wer war das? Ich hörte, wie an der anderen Seite der Leitung Fis Namen gerufen wurde und dann ihre Stimme. „Danke. Hey Angel!“ rief sie in den Hörer. Sie freute sich hörbar und ich musste lächeln. „Hey. Einer der Leute hier meinte, dass wir zwischen sechs und sieben Uhr ankommen werden.“ sagte ich und sah, wie Xan einen Blick auf die Uhr warf. Es war erst kurz nach drei. „Okay. Wir werden da sein. Ich freue mich schon so.“ „Wir uns auch. Bis dann.“ erwiderte ich und legte auf. ‚Wir werden da sein‘? Das würde interessant werden. Xan und ich verbrachten den Rest der Zugfahrt damit, zu versuchen uns realere Vorstellungen von dem zu machen, was und erwartete. Gar nicht so einfach. Ein Hauch Horror oder Wahnsinn kam immer drin vor. Außerdem machte es sonst doch keinen Spaß. Als es draußen schon eine ganze Weile stockduster war und uns mittlerweile echt die Ideen ausgegangen waren, wurde der Zug langsamer. Ich sah auf meine Uhr. Kurz nach sechs. Hoffentlich standen die schon da und wir müssten uns nicht den Arsch abfrieren. Im Zug war es schön warm, aber draußen würde es bestimmt eisig kalt sein. Wir drängten uns mit den Anderen zusammen hinaus in die todbringende Kälte, die Jacken, die wir uns übergezogen hatten, hielten uns nicht wirklich warm. Es war scheißekalt. Xan und ich zogen zitternd unsere Koffer aus dem Zug und standen leicht verunsichert auf dem Bahnsteig. Es waren so viele Menschen. Ich beschloss ein wenig aus der Menge herauszugehen, es würde weder uns, noch Fi helfen, wenn wir mit so vielen Menschen auf einem Fleck standen. Also zog ich Xan an der Hand zu einem kleinen Unterstand hinüber, von der man das Geschehen gut betrachten konnte. Ich versuchte die vertraute Gestalt in der Menschenmasse auszumachen, aber ich konnte sie nirgend sehen. Plötzlich umarmte mich etwas. Ich hörte ein leichtes Quietschen und drehte mich um. Fi! Ich lachte und umarmte sie. Als sie sich von mir lösen konnte, fiel sie auch in Xan wartende Arme. „Ihr seid endlich da! Ich kann es gar nicht glauben. Danke!“ Sie ging einen Schritt zurück und sah uns freudestrahlend an. Sie hatte einen langen schwarzen Pullover und eine Jeans an. Nur das! Keine Jacke, Mütze, Handschuhe, Schal oder was weiß ich! Die muss doch schon längst erfroren sein. Mir hingegen schlotterten die Knie und meine Zähne schlugen unregelmäßig aufeinander und Xan erging es ebenso. „Oh, tschuldigung. Ihr müsst ja fast erfrieren. Kommt mit.“ sagte sie und schnappte sich unsere Koffer. Sie führte uns durch eine Halle, auf der anderen Seite wieder hinaus und auf ein schwarzes Auto zu. Sie ging um das Auto herum und verstaute unser Gepäck im Kofferraum. Dann bedeutete sie uns, dass wir uns auf die Rückbank setzten sollten. Ich setzte mich ganz nach rechts, Xan in die Mitte und Fi nach links. Erst als ich saß, die Tür geschlossen war und mich wohlige Wärme umfing, bemerkte ich, dass die vorderen beiden Sitze ebenfalls besetzt waren. Mit zwei Männern. Ich warf Xan einen Blick zu und sah, dass sie mich ebenfalls ansah und die Brauen hochzog. Das wird ja spannend. Als ich mich anschnallte, sah ich wie Fi dem Fahrer zuzwinkerte. Was lief hier? Wir fuhren etwa eine halbe Stunde, bis wir vor einem riesigen Haus ankamen und während der Fahrt sprachen wir kein Wort. Als wir hielten wollte ich noch nicht aussteigen, ich hatte mich gerade wieder aufgewärmt und draußen war es bestimmt unerträglich kalt. Aber es half nichts, ich konnte ja nicht einfach für den Rest meines Lebens in diesem Auto sitzen bleiben, selbst wenn es noch so verlockend war. Ich seufzte und öffnete die Tür. Wie um mich zu ärgern, fegte sofort die kalte Luft in das Auto. Ich zitterte, wiederstand dem starken Drang, die Tür zuzuschlagen und die Arme um mich zu schlingen und stieg aus. Fi hatte schon unsere Koffer geholt und war schon auf dem Weg zur Tür. Ich sah gerade noch, wie der Beifahrer an mir vorbeirauschte und durch die Tür ging. Ich kannte ihn doch, oder? „Das ist mal ein großes Haus, findest du nicht?“ fragte Xan, die plötzlich neben mir stand und mich von meinen Gedanken ablenkte. „Oh ja.“ murmelte ich und folgte Fi durch die Tür. In einem großen Saal direkt hinter der Tür stellte sie unsere Sachen ab. Dann drehte sie sich zu uns herum und machte eine umfassende Geste. „Tja, hier wohne ich.“ sagte sie, während ich mich umsah. Der Fahrer war noch da, aber der Andere war verschwunden. Seltsam, aber ich beschloss nicht weiter darüber nachzudenken. Wenn er ebenfalls hier bleiben würde, würden wir uns früher oder später noch mal über den Weg laufen. Der Fahrer stellte sich neben Fi und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie grinste uns an. Xan grinste auch. "Gibt es da etwas, was wir wissen sollten?“ fragte sie und schmunzelte. Ich schmunzelte. „Das ist Cannes. Ihm gehört dieses Haus und er ist... mein Freund, kann man so sagen.“ Fi grinste uns an und gab diesem Cannes dann einen Kuss. Okay. Das hätten wir dann geklärt. Xan trat einen Schritt vor und reichte Cannes die Hand. „Hey. Ich bin Xanna. Du kannst mich Xan nennen.“ stellte sie sich höflich vor. „Hallo Xan.“ erwiderte Cannes. Dann ging ich einen Schritt auf ihn zu und reicht ihm ebenfalls meine Hand. „Angelina. Oder einfach Angel. Freut mich dich kennenzulernen.“ stellte ich mich ebenso höflich vor wie zuvor Xan. Er schüttelte mir auch die Hand. „Freut mich auch Angel. Bestimmt seit ihr müde und wollt ein paar Minuten für euch. Fi kann euch ja eure Zimmer zeigen.“ sagte er und schaute zu Fi hinunter, die uns immer noch anstrahlte, anscheinend vollkommen glücklich darüber, dass alles bisher so reibungslos und harmonisch – mal ganz abgesehen von der Kälte (wie hielten die das aus?!) – ablief. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und ging dann in einen großen Raum links von uns. „Na dann wollen wir mal.“ Fi schnappte sich wieder unsere Koffer und steuerte auf die Treppe zu. Sie war ganz schön stark geworden. Allgemein hat sie sich seit jenem mysteriösen Abend sehr verändert. Wir folgten ihr die Treppe hinauf. Sie nahm eine elegante Kurve und führte in die erste Etage. Oben angekommen fanden wir einen langen Flur vor, von dem mehrere Türen abgingen. Fi zeigte auf die erste rechts und auf die daneben. „Die Beiden könnt ihr haben. Das…“ – sie zeigte auf die erste Tür – „…hatte ich, als ich hier neu war. Abgesehen von uns, also euch beiden, Cannes und mir, wohnt hier noch Stayr. Er ist ein Freund von Cannes und hat zwar ein eigenes Haus, hält sich aber auch öfters hier auf.“ Den letzten Teil sagte sie etwas lauter. Aus einem der Zimmer ertönte eine Stimme, etwas gedämpft durch die geschlossene Tür. „Irgendjemand muss hier ja den Aufpasser spielen.“ Als ich die tiefe Stimme durch die Tür dröhnen hörte, zuckte ich kurz zusammen. Mir kam sie sehr bekannt vor, aber ich wusste nicht woher. War ich ihm schon mal in einem Club begegnet? Aber dann würde ich mich doch an solch eine wunderschöne Stimme erinnern. Muss wohl eine Täuschung sein. Wenn kannte ich hier denn schon, außer Fi? Das hier war Sibirien! Egal, wie gesagt, wenn dieser Stayr hier auch war, würde ich ihm ja mal wohl oder übel über den Weg laufen. Xan sah mich an und ich deutete ihr, dass sie sich ein Zimmer aussuchen sollte. Sie grinste und nahm das Erste. Ich schleppte meinen Koffer in das Zweite und ließ ihn neben der Tür stehen. „Ich rufe dich wenn es Essen gibt, sollte aber nicht mehr lange dauern.“ sagte Fi leise und verließ dann das Zimmer. Ich stellte schnell fest, dass es wundervoll war. Das Bett war riesig, genauso wie der Schrank. Ansonsten war da noch eine Kommode, auf dem ein Fernseher stand, ein kleines Nachtschränkchen und ein Sessel in der Ecke neben dem Fenster. Außerdem war links eine Tür. Als ich sie öffnete, stellte ich fest, dass das Bad ebenso bescheiden wie schön eingerichtet war. Obwohl das Haus so groß war, schien es einem nicht so... unberührt zu sein, wie manch andere dieser Größe. Die Einrichtung war in warmen, einladenden Tönen gehalten und wirkte nicht so immens teuer. Mein Magen meldete sich mit einem leisen Knurren, ich bekam Hunger. Sie hatte gesagt, dass es bis zum Essen nicht mehr lange dauern würde, aber duschen konnte ich doch noch, oder? Ich zuckte die Schultern und schloss hinter mir ab. Dann würde ich mich halt beeilen. Das Duschzeug roch wunderbar und das Wasser war schnell warm. Und obwohl ich mich ja eigentlich beeilen wollte, blieb ich doch noch ein wenig länger unter der Dusche stehen. Die Zugdusche hatte alles gehabt, was man brauchte, aber sie war so verdammt klein gewesen! Diese Dusche hier war fast genauso groß wie das gesamte Badezimmer im Zug! Durch meine Trödelei unter der Dusche zog ich mich schnell mit Sachen die ich auf die Schnelle aus meinem Koffer fischen konnte und die annehmlich aussahen an. Dann kämmte ich meine Haare nur eben dürftig mit den Fingern durch. Ich wollte hier ja keinen beeindrucken, sondern nur etwas mit meinen Freunden essen. Und mit diesem Cannes. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie jetzt einen Freund hat! Wo sie doch nie etwas Festes wollte. Na ja, wie sich alles so schnell ändern kann. Aber sie scheint glücklich und er nett zu sein. Als ich mich ein wenig ratlos in dem Zimmer umsah, beschloss ich zu Xan rüberzugehen. Leise öffnete ich die Tür und huschte das kleine Stück über den Gang zu ihrer Tür. Vorsichtig klopfte ich. „Jaaa?“ hörte ich ihre helle Stimme fröhlich dahinflötend. Sie schien sich schon sehr wohl zu fühlen. „Ich bins, kann ich reinkommen?“ fragte ich und im selben Moment wurde die Tür aufgemacht. Sie hatte auch geduscht, allerdings waren ihre Haare ordentlich gekämmt und hinter ein Ohr gestrichen. Bevor ich etwas sagen konnte, fiel sie mir ins Wort. „Die Duschen sind wundervoll, nicht?“ schwärmte sie. Ich lächelte. „Ja, das sind sie.“ Ich ging an ihr vorbei in ihr Zimmer und sah mich um. Ich bemerkte, dass sie gleich waren, nur spiegelverkehrt. Sie hatte dasselbe Bett, denselben Schrank und so weiter. Aber trotzdem wirkte es anders. Doch bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, wieso das Zimmer trotz des fast gleichen Aussehens anders wirkte, klopfte es. „Kann ich reinkommen?“ fragte Fi vorsichtig. Ich drehte mich zu immer noch offenen Tür um, in der nun Fi unsicher stand und uns ansah. „Klar.“ sagte Xan. „Das Essen ist gleich fertig.“ Ich nickte. Xan starrte erst mich und dann Fi an. „Was ist?“ fragte sie schließlich. Fi sah uns beide an und wirkte ein wenig betreten. „Ich möchte mich entschuldigen. Dafür, dass ich einfach so abgehauen bin, dass ich euch es erst so spät gesagt habe, dass ich euch nach Sibirien verschleppt habe. Ich weiß wie sich das anfühlt.“ Sie grinste. „Ist kein schönes Gefühl. Aber dennoch bin ich euch dankbar, dass ihr hergekommen seid und mir die Chance gebt, es euch zu erklären. Nach dem Essen kann ich euch alles erzählen.“ Ich nickte zuversichtlich. Ich wollte endlich wissen, was zum Teufel hier vor sich ging. Je eher desto besser, aber trotz meiner Neugier wollte ich erst mal was zu essen. Fi lächelte ein wenig erleichtert und deutete zur Treppe. „Da gehts lang zum Essen. Kommt ihr?“ sie lächelte und wir beide folgten ihr die Treppe runter, durch den Eingangsbereich in den großen Saal. Dort roch es schon nach leckerem Essen und ich stellte fest, dass ich seit dem Mittagessen im Zug nicht mehr zu mir genommen und Hunger hatte. Der Freund von Fi - Cannes - saß schon am Tisch und Fi setzte sich neben ihn. Ich ging um den Tisch herum und setzte mich gegenüber von ihnen, Xan ließ sich zu meiner Linken nieder. „Stayr lässt sich entschuldigen. Er kommt gleich.“ sagte Cannes. Ein Mann kam aus einer Tür und brachte silberne Teller, für jeden einen. Ich konnte es gar nicht abwarten und fing gleich an zu essen. Etwas was so gut riecht, konnte nicht schlecht schmecken und mehr brauchte ich im Moment nicht. Und tatsächlich schmeckte es wirklich gut. Dieser Stayr kam erst, als ich schon fast alles aufgegessen hatte. Ich bemerkte ihn erst nicht, bis er sich neben Cannes setzte und auch einen Teller bekam. Unbeeindruckt blickte ich von meiner Gabel hoch und sah ihn an. Das Essen blieb mir im Hals stecken. Krampfhaft schluckte ich es runter und konnte gerade noch einen peinlichen Hustanfall vermeiden. Denn schräg gegenüber von mir saß er. Der Mörder von vor knapp einer Woche! Stayr. So hieß er also. Das war doch nicht zu fassen. Er schien bemerkt zu haben, dass ich ihn angestarrt hatte und hob den Kopf. Er kniff die Augen zusammen, doch dann breitete sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht aus und er zog eine Augenbraue hoch. Ich schaute schnell wieder auf meinen Teller. Was machte der hier? Das konnte doch unmöglich Cannes Freund sein! Dann war er wohl auch der von vorhin aus dem Auto. Er war mit demselben Zug hierhergekommen wie wir! Verfolgte er mich etwa? Meine Gedanken rasten. Was war, wenn er mir jetzt auch etwas antun wollte, weil ich Zeugin eines Mordes geworden war? „Kennt ihr euch?“ fragte Fi plötzlich und riss mich aus meinen schaurigen Gedanken. Ich schaute sie an. Doch bevor ich etwas sagen konnte kam Stayr mir zuvor. „Kennen kann man nicht so sagen. Eher flüchtige Bekanntschaft.“ sagte er. Aber er hatte Recht. Ich hatte ihn nur einmal angefahren, weil er seine Leiche nicht richtig entsorgt hatte, viel mehr war zwischen uns ja nicht gewesen. Fi sah mich an und ich nickte. Sie schüttelte den Kopf. „Das müsst ihr mir schon genauer erklären. Wenn Stayr von einer ‚flüchtigen Bekanntschaft‘ spricht, meint er damit eine kleine Vögelei. Aber ich wage zu bezweifeln, dass das hier der Fall ist.“ Sie schmunzelte. Ich lächelte zurück und ließ Stayr diesmal nicht die Chance etwas zu sagen. „Xan und ich waren tanzen und da hatte ich ihn gesehen. Ich wollte mit ihm was trinken, aber er hat mir zu verstehen gegeben, dass er nicht wollte. Später, auf dem Weg nach Hause, habe ich gesehen wie er einen Mann umgebracht hat und die Leiche einfach liegengelassen hat. Tja, ich hatte ihn darauf angesprochen. Und am übernächsten Tag, ich kam gerade von Xan wieder, sah ich, dass die Leiche in dem Müllcontainer, direkt neben dem Tatort lag.“ Ich sah zu Stayr und zog missbilligend eine Braue hoch. „Ich meine wie doof kann man sein? Da kannst du doch gleich deine Handschrift hinterlassen. Irgendwas werden sie doch von dir finden!" Ich fixierte ihn mit meinem Blick. Er sah doch schon ein wenig wütend aus. „Erstens: Ich habe mit dir was getrunken, erinnerst du dich? Zweitens: Ich hab die Leiche entsorgt, wie du es wolltest. Du hast nicht gesagt, dass ich sie Kilometer von der Stelle entfernen soll. Und Drittens: Spionierst du mir hinterher? Dafür kann ich dich nämlich anzeigen. Wegen Stalking.“ Er grinste mir an. Ich zog eine Braue hoch und streckte ihm die Zunge heraus, aber das brachte ihn natürlich nur noch mehr zum Lachen. Ich wandte wütend den Blick ab. Da bemerkte ich, wie die Blicke von Fi, Cannes und Xan auf uns lagen. Ich lächelte ihnen zu und senkte meinen Blick dann wieder auf mein Essen. In meinen Gedanken spielten sich gerade hunderte von Szenarien ab, was ich ihm alles an den Kopf knallen könnte, in den meisten waren es nur Wörter, doch manchmal auch mein Teller, aber ich verhielt mich ruhig. Was sollte dieser Cannes nur von mir denken? Dass ich eine durchgeknallte Irre war?! Reicht schon, dass Fi und Xan das wussten. Nach dem kleinen Zwischenfall verlief das Essen eigentlich recht ruhig und war schnell vorbei. Xan und ich bedankten uns bei Cannes und machten uns dann auf den Weg nach oben. Ich ging gleich mit zu Xan ins Zimmer. Ich konnte kaum noch rechtzeitig die Tür schließen, da fiel Xan auch schon über mich her. „Du kennst ihn? Warum hast du nichts gesagt? Und du hast zu gesehen, wie einen Menschen umgebracht hat? Warum sagst du mir so was nicht?!“ Xan tigerte im Raum auf und ab. „Ich ähh.. dachte ich hätte mir das nur eingebildet.“ wich ich aus. War ja auch so. Zumindest am Anfang. „Mhh-hmm. Aber nachdem du die Leiche im Müll gefunden hast? Im Zug hatten wir ausreichend Gelegenheit darüber zu sprechen. Und da wusstest du, das du dir es nicht eingebildet hast.“ Sie funkelte mich an. „Jaaa, ich weiß. Tut mir leid.“ sagte ich. Xan blieb stehen und sah mich an. Dann lächelte sie und schüttelte den Kopf. „Du bist bescheuert.“ flüsterte sie und umarmte mich. „Aber das nächste Mal sagst du mir Bescheid, wenn du siehst wie ein gutaussehender Kerl einen anderen kaltmacht, okay?!“ Ich nickte ihr lachend zu und dann klopfte es an der Tür. „Ja?“ riefen wir gleichzeitig. Fi kam langsam herein. „Ich dachte mir, wir könnten jetzt reden? Die Jungs sind nicht da.“ sagte sie leise. „Okay, komm rein.“ sagte ich und Xan nickte. Fi schloss leise die Tür hinter sich und setzte sich zu uns auf das Bett. „Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll.“ Sagte sie überlegend. „Am Anfang.“ riet ich ihr mit einem Grinsen. Sie sah uns an und nickte dann langsam. „Also gut. An jenem Abend, in dem Club, tatschte mich ein Typ an. Ich schickte ihn weg, nach dem er hartnäckig versucht hatte mich mit zu zerren. Danach wollte ich einen Drink. Cannes hatte sich neben mich gestellt und als ich mich das nächste Mal umdrehte, stand da so ein pelziges Ding - Cannes erklärte mir später, dass es sich um ein Werwesen handle. Es griff uns an und riss mir die Brust und den Bauch auf. Ich wurde in einem schäbigen Motel wach, mit heilem Bauch. Cannes schleppte mich weiter zu einem Bahnhof. Ich versuchte zu fliehen, aber ich schaffte es nicht. Am nächsten Bahnhof holten wir mir ein neues Shirt und setzten uns in den nächsten Zug, hierher. Nur das wusste ich noch nicht. In der Nacht im Zug erfuhr ich wo wir hinfahren und was er war. Aber dazu komm ich noch.“ Ich sah sie ein wenig misstrauisch an, doch sie fuhr unbeirrt fort. „Als wir hier ankamen lernte ich Stayr kennen. Und nach ein paar Tagen verschwand Cannes und ließ mich hier alleine mit Stayr. Ich wurde von dem Bruder des toten Werwesens entführt, der wollte, dass Cannes für seinen Mord stirbt. Jedoch konnte Cannes mich retten und wieder hierher zurückbringen. Seitdem wohne ich hier mit ihm.“ Ich starrte sie an. Werwesen? Ein großes pelziges Ding? Aber wie konnte Cannes... Was um alles in der Welt ging hier vor?! „Und was ist Cannes?“ fragte Xan. Fi atmete tief ein. „Cannes ist ein Vampir. Genauso wie Stayr.“ Sie sah uns an. Ein Vampir? „Und ich.“ Wir starrten sie an. Hatte ich das richtig verstanden? Sie war ein Vampir? Die Dinger mit den langen Zähnen und der kranken Blutsache? Ein Teil von mir sträubte sich gegen diese Geschichte, doch der andere Teil wusste, dass Fi uns nicht anlügen würde. Na ganz toll. „Du bist ein Vampir? Die Monster aus den Horrorfilmen?“ fragte Xan vorsichtig. Fi nickte. „Beweis es.“ sagte Xan energisch. „Beweis es mir, oder ich kann es nicht glauben.“ Fi guckte uns an. Dann öffnete sie den Mund und es erschienen zwei Reißzähne. „Fuck.“ flüsterte ich. Sie schloss den Mund wieder. „Die Vampire unterscheiden sich von denen aus den Filmen. Dieser ganze kirchliche Quatsch kann uns nichts anhaben, genauso wie Sonnenlicht, Holz oder Knoblauch. Silber ist das einzige, was uns wirklich töten kann und glühendes Silber hinterlässt neben einer Verletzung durch eine Werwesen als einziges Narben.“ Sie strich sich nachdenklich über den Oberschenkel. Danach war es still. Eine ganze Zeit lang. „Du bist also ein Vampir.“ sagte ich schließlich. „Jap.“ Fi schaute mir in die Augen. Ich schüttelte den Kopf und beugte mich vor um sie zu umarmen. „Du bist absolut verrückt.“ Fi lachte erleichtert und umarmte mich auch. „Aber was mich interessiert, was lief da sonst noch zwischen dir und Stayr?“ fragte sie. Sonst noch? „Was sollte da sonst noch gelaufen sein? Nur das was ich erzählt habe. Ehrlich. Wieso?“ Ich war verwirrt. Wie kam sie auf den Gedanken, dass da noch mehr gelaufen war? „Na ja. Stayr regt sich nie so auf. Er hätte höchstens eine lustige Bemerkung gemacht. Deswegen dachte ich, dass da vielleicht noch etwas passiert ist, was ihm den Grund dazu gibt, sich so aufzuregen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ist ja auch egal. Ihr solltet schlafen gehen. Ihr seid bestimmt müde. Und ich kann euch sagen…“ Sie beugte sich näher zu uns „…die Betten sind um einiges bequemer als die im Zug. Die waren grauenhaft, findet ihr nicht auch?“ Sie lachte leise und stand auf. „Gute Nacht ihr beiden. Bis morgen.“ sagte sie und verließ das Zimmer. Ich stand auch langsam auf und machte mich auf den Weg zur Tür. Die Hand an der Klinke, drehte ich mich nochmal um. „Die nächste Tage werden interessant.“ Ich lächelte Xan an und ließ sie allein. In meinem Zimmer zog ich mir meine Schlafsachen aus meinem Koffer und machte mich bettfertig. Mit einem Seufzen sank ich in das Bett. Es war wirklich bequemer als das im Zug. Ich legte mich auf den Rücken und ließ meinen Blick sich an die Dunkelheit gewöhnen. Vampire. Es gab sie also. Und ich schlief gerade mit drei von ihnen unter einem Dach. Ich schüttelte leicht den Kopf und strich mir mit einer Hand durch die Haare. Sachen gibs. Ich hörte, wie leise eine Tür auf dem Flur aufging. Wahrscheinlich war Cannes zurück und ging jetzt zu Fi. Er scheint sie sehr zu mögen und sie ihn. Das war schön für die Beiden und es freute mich. Durch das Fenster schien der Mond und beleuchtete das Zimmer ein wenig. Wäre er nicht dagewesen, hätte ich den Schatten vielleicht gar nicht bemerkt, der an meinem Fußende stand. Zu meiner Erleichterung zuckte ich nicht zusammen, sondern erhob mich auf meine Ellenbogen. Was sollte das denn? Gruseleinlage von Dracula persönlich? Ich seufzte. Natürlich wusste ich wer das war. „Was ist?“ fragte ich ihn. „Was machst du hier?“ ertönte die Gegenfrage. Es hörte sich an wie ein Zischen, aber ich war mir nicht ganz sicher. „Ich besuche meine Freundin. Und ich könnte dich genauso gut fragen. Oder ich könnte dich danach fragen, wieso du einfach Leute umbringst.“ Ich konnte sehen, wie er eine Augenbraue hochzog. „Ich bin ein Vampir.“ Ich schnaubte. Ja, dessen war ich mir durchaus bewusst. „Ich weiß, aber du hast ihn umgebracht. Nicht von ihm getrunken. Also?“ Er setzte sich an die Bettkante, so weit weg von mir wie möglich. „Es war ein Vampir und er hatte es verdient.“ Ich wollte gerade Luft holen um ihn zu fragen wieso, aber er kam mir zuvor. Man, ich hasste das echt! „Es ist egal wieso. Okay?! Es ist passiert, du hast es leider gesehen und mittlerweile ist die Leiche bestimmt schon in irgendeiner Müllpresse. Kein Grund zur Sorge.“ Ich schüttelte den Kopf. Er war immer noch ein Idiot. Ich legte mich wieder hin. „Na gut. Dann lass mich jetzt schlafen. Ich bin müde.“ Ich schloss die Augen, um ihm zu signalisieren, dass er unerwünscht war. „Das ist aber nicht der Grund wieso ich hier bin.“ Ich seufzte. Ließ er denn niemals locker? Ich setzte mich wieder auf und lehnte mich an das Kopfende. „Sondern?“ fragte ich ihn müde. „Ich... wollte mich entschuldigen. Dafür, dass ich dich in der Bar so angeschnauzt habe. Ich war an dem Abend hinter dem Typen her und konnte es mir nicht leisten, ihn aus den Augen zu verlieren.“ Ich erinnerte mich an die blonde Tussi, die sich an ihn gedrängt hatte. „Und was ist mit der Frau, die an dir hing, als ich mich zum zweiten Mal zu dir stellte? Das sah nicht so aus wie eine Abweisung.“ Hoffentlich war dieses Gespräch bald vorbei. Ich wollte endlich schlafen und nicht mit einem arroganten und idiotischen Vampir reden. „Ich hab sie gar nicht beachtet, und auch gar nicht bemerkt, bis du rüberkamst.“ Er neigte sich ein wenig weiter zu mir und grinste, was seine leuchtend weißen und normalen Zähne zum Vorschein brachte. „Aber höre ich da ein wenig Eifersucht?“ „Tzz. Klar doch. Auf so was bin ich natürlich eifersüchtig. Wer ist das nicht?!“ Meine Worte troffen vor Sarkasmus. „Na na na. Nicht so unverschämt.“ Stayr schmunzelte und stand auf. „Schlaf gut Angel.“ sagte er und ging zur Tür. „Jaja.“ Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen, in der Hoffnung endlich schlafen zu können. „Aber ich muss schon sagen, du nimmst die Vampirsache wirklich gut auf. Besser als ich dachte.“ Und damit verließ er mein Zimmer. Warum, verdammt noch mal, konnte er mich nicht in einfach Ruhe lassen? Immer, wenn ich ihn gerade aus meinen Gedanken streichen konnte, kam er wieder. Idiot. Ich kuschelte mich tiefer in das Bett und versuchte ihn wenigstens jetzt zu vergessen.

Das Sonnenlicht fiel hell in mein Zimmer und sorgte schließlich dafür, dass ich aufstehen musste. Ich schleppte mich zu meinem Koffer um mir etwas zum Anziehen zu suchen. Danach schlurfte ich ins Bad zur Dusche, welche mich erst richtig wachmachte. Als ich, um einiges fitter, wieder in den Hauptraum kam, merkte ich, dass ich ziemlichen Hunger hatte. Ich warf noch mal einen Blick in den Spiegel und ging dann auf den Flur. Ein Blick in Xans Zimmer zeigte, dass sie noch schlief. Ich wusste nicht, welches das Zimmer von Fi und Cannes war und bevor ich da in irgendwas reinplatzte, ließ ich das lieber. Ich tappte die Treppe hinunter, in den großen Saal, wo wir auch gestern gegessen hatten. Vielleicht fand ich ja hier was zu essen. Ich setzte mich in die Nähe von dem Platz, an dem ich gestern gesessen hatte. Kaum hatte ich mich hingesetzt, kam der nette Mann von gestern aus der kleinen Tür auf mich zu. „Wollen sie etwas essen?“ fragte er höflich. „Ja, gerne.“ sagte ich und drehte mich wieder um. In stiller Hoffnung auf ein leckeres Frühstück. Und wieder erschreckte ich mich zutiefst. Dieser verdammte Kerl war immer da wo ich bin! Wenn er mich das nächste Mal so erschreckte würde ich ihn ausversehen mal schlagen. Das hatte er dann davon, immer dann aufzutauchen, wenn ich nicht damit rechnete. Ich drehte mich auf meinem Stuhl herum und sah ihn an. „Bist du überall wo ich bin? Kann ich nicht mal eine Minute alleine haben? Ist das echt zu viel verlangt?“ entnervt blickte ich ihn an. Er legte sein Buch beiseite und schaute mich an. „Ich kann nichts dafür, dass du dich dafür entschieden hast, nicht einfach aus der Gasse zu fliehen. Genauso wenig dafür, dass du hier bist. Und wenn du dann in einen Raum gehst, in dem ich schon vorher war, kann ich da doch nichts für. Ich hab dich doch auch nicht angebrüllt. Und wenn du eine Minute alleine haben willst, dann geh raus oder bleib auf deinem Zimmer, was weiß ich. Aber mach mich nicht dafür verantwortlich, dass ich existiere.“ Und was wenn ich ihn doch dafür verantwortlich machte? Könnte vielleicht daran liegen, dass ich ihn im Moment für alles verantwortlich machte, was schieflief, ihn eingeschlossen. Der nette Mann kam mit meinem Essen und ich verdrängte den großen, lesenden Idioten neben mir. Bei dem Essen war das auch gar nicht so schwer. Es schmeckte himmlisch. Als ich fast fertig war, kam Fi mit verschlafenem Gesicht und zerzausten Haaren rein. Auch ihre Klamotten zeugten davon, dass sie direkt aus dem Bett kam. Sie grinste mich an und setzte sich neben mich. „Na, gut geschlafen?“ fragte sie. „Ja, sehr gut. Aber die Türen sollte man abschließen können, um nächtliche Besucher zu vermeiden.“ Fi warf einen Blick hinter mich, auf Stayr. Dann schüttelte sie den Kopf. „Dieser Ansicht war ich auch. Aber manchmal kann es auch ganz lustig sein, dass kommt auf den Besuch an.“ sagt sie und zwinkerte mir zu. „Worüber redest du denn da, Süße?“ Cannes betrat den Raum und grinste Fi an. Fi stand auf und ging zu ihm und küsste ihn. Cannes lachte und umarmte sie. Dann sah er mich. „Morgen Angel. Hab gehört du hattest... nächtliche Besucher?“ Er warf Stayr einen Blick zu. Dämliches Vampirgehör. Der Mann kam wieder und räumte meinen Geschirr ab. Ich stand auf und ließ das Paar und den Idioten allein. Er hatte was von Rausgehen gesagt, vielleicht konnte ich das ja tun, um mich ein wenig abzulenken. Ich ging in mein Zimmer und suchte mir einen dicken Pullover und meine dickste Jacke raus. Das würde hoffentlich warm halten. Als ich wieder unten war, war keiner mehr im Saal. Ich seufzte. Irgendwie würden sie schon wissen, wo ich war. Dachte ich. Die große Eingangstür, die gestern von Cannes aufgemacht wurde, war gar nicht so schwer, wie sie aussah. Ich konnte sie schnell aufziehen und die kalte Luft wehte in den Eingangsbereich. Ich zog sie schnell wieder hinter mir zu und schaute mich um. Vor mir lag die lange Auffahrt, in der noch das schwarze Auto stand. Rechts von mir lag ein dichter Wald. Er sah ganz einladend aus und ich ging auf ihn zu. Ein Weg führte schnurgerade hindurch. Das war besser als einfach quer. Der Weg war durch die Bäume vor dem Schnee geschützt. Nach fünf Minuten hatte der Wald mich vollkommen verschluckt und zum Glück führte der Weg zurück zum Haus, sonst hätte ich mich garantiert verlaufen. Die Bäume sahen aber auch ziemlich gleich aus. Neugierig sah ich mich um. Die Atmosphäre war ruhig und entspannt, der Wind pfiff leise durch die Baumkonen und wiegte die Äste. Vollkommen von der Schönheit und Ruhe eingenommen, lief ich immer weiter und dachte gar nicht daran, dass ich mich mittlerweile bestimmt ziemlich weit vom Haus entfernt hatte. „Was machst du hier?“ Nein, nein, nein! Eine männliche Stimme durchbrach meine und die Ruhe des Waldes. Ich blieb seufzend stehen. „Du hast gesagt, wenn ich mal eine freie Minute haben will, soll ich raus gehen. Und wenn du dich mal ein wenig umschaust, siehst du das ich draußen bin. Also, was machst du hier?“ So langsam wurde ich echt wütend. Wenn er etwas wollte, dann sollte er es sagen und sich mit der Antwort abfinden. Aber mir nicht die ganze Zeit hinterher rennen. „Da ist wohl jemand sauer.“ Plötzlich stand er direkt vor mir. Ich beugte mich näher zu ihm „Meiner Meinung nach verständlich.“ Sein Gesicht war meinem ganz nah und es fehlten keine zehn Zentimeter und unsere Gesichte hätten sich berührt. Ich schüttelte den Kopf und zog mich zurück. „Ich wollte dich nicht verärgern. Du bist einfach aus dem Haus gegangen, ohne jemandem etwas zu sagen und da dachte ich mir, dass ich dich frage, wohin du gedenkst zu gehen. Immerhin sind hier nicht viele Möglichkeiten, wo man hingehen könnte.“ Nicht verärgern? „Lass mich einfach mal einen Moment in Ruhe, okay. Ist das denn echt zu viel verlangt? Warum hasst du mich so sehr, dass du mich nicht alleine lässt?“ Ich schüttelte wieder den Kopf und drehte mich um, um zu dem Haus zurückzugehen. Vielleicht kann ich mich für den Rest des Tages im Bad einsperren, um ihm zu entgehen. Ich konnte ein paar Schritte gehen, bis er wieder vor mir stand. Ich wollte an ihm vorbeigehen, aber er ergriff meinen Arm und hielt mich zurück. „Ich hasse dich nicht. Ich wollte nur sichergehen, dass du dich nicht verläufst. Wenn es hier dunkel wird, kann es ziemlich ungemütlich werden. Aber ich lass dich jetzt alleine. Versprochen.“ sagte er und ließ mich los. Als er sich umgedreht hatte murmelte ich noch „Klar.“, dann war er weg. Einfach weg. Dämlicher Vampir. Er tauchte auf und verschwand wieder. Das war echt nervig. Vor allen Dingen, wenn man ihn so oder so nicht aus den Gedanken bekam. Wenn er einem Tag und Nacht im Verstand herumgeistert. Wer war er? Und warum wusste er immer wo ich war? Hatte er mir einen Peilsender oder so eingepflanzt? Grummelnd machte ich mich auf den Weg zurück zum Haus. In der Eingangshalle war, wie vorhin auch, niemand. Ich beschloss nach oben zu gehen und nach Xan zu sehen. Ich hatte sie seit gestern, um genau zu sein nach der Enthüllung von Fi, nicht mehr gesehen. Kam sie damit gut zurecht? Oder hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, die Arme um die Knie geschlungen und wiegte sich vor und zurück? Oh Götter Vielleicht erlitt sie da oben gerade ein Trauma und ich machte mir lästige Gedanken um den großen Idioten. Ich stürzte die Treppe hoch und klopfte an ihrer Tür. Keine Antwort. Verdammt! Ich riss die Tür auf, die zum Glück nicht abgeschlossen war, und suchte den Raum hektisch mit meinen Augen ab. Da! Sie saß in dem Sessel, der neben dem Fenster saß. „Xan! Alles in Ordnung? Tut mir leid, dass ich erst jetzt hier bin. Da war er und er hatte mich doch so genervt und dann bin ich rausgegangen und aaaach, ich rede zu viel.“ Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und ging durch den Raum Xan zu. Sie schaute erschrocken auf. „Warum bist du denn so aufgeregt? Ist was passiert? Und vom wem redest du und wer ist er?“Bei dem letzten Satz wackelte sie mit den Brauen. „Das ist jetzt uninteressant. Der Grund weshalb ich durch das Haus gehetzt und so rüde in dein Zimmer eingefallen bin, ist ein Anderer. Heute Morgen hast du noch geschlafen und danach hatte ich dich nicht mehr gesehen. Ich wollte dich fragen was du von der ganzen Sache hältst. Ob du damit überhaupt klarkommst. Und wie du darüber denkst. Immerhin ist das eine ziemlich große Sache.“ Xan schüttelte langsam den Kopf und blickte nach draußen auf die schon dunkle, verschneite Landschaft. „Es ist eine große Sache, ja. Aber nichts, womit man nicht fertig werden würde. Ich glaube, dass Fi wusste was sie tat, als sie es tat und wir haben nicht die Befugnis darüber zu urteilen. Obwohl ich finde es steht ihr.“ Sie blickte wieder zu mir zurück. „Du... du hast keine Probleme damit, was sie jetzt ist?“ „Nein, solange sie mir nicht mit gezückten Zähne zu Leibe rückt, ist sie immer noch Fi. Und Fi ist meine Freundin.“ Das machte Sinn. Sie hatte bisher nicht den kleinsten Versuch gemacht, mir zu nahe zu kommen. Oder mir Blut abzuzapfen. Nein, sie war bisher fast genauso wie sie vor über einem Monat war. Nur das sie jetzt Cannes hatte und ich hatte dadurch den lästigen Mörder wieder gesehen. Stayr. Eigentlich war der Name gar nicht so schlecht. Und schlecht aussehen tat er auch nicht. Im Gegenteil. „Wie lange werden wir noch hierbleiben?“ Ich blinzelte und starrte Xan an. „Wie bitte?“ Ich war in Gedanken vollkommen woanders gewesen. Xan grinste mich an. „Wie lange wir noch hier bleiben. Im Gegensatz zu Fi habe ich keinen reichen Vampirlover, ich muss bald wieder arbeiten. Ich kann mir eine längere Auszeit leider nicht leisten.“ Sie hatte Recht. Wir konnten nicht ewig hierbleiben und obwohl wir erst den zweiten Tag hier waren, waren es mit der Zugfahrt schon drei. Das heiß, wir müssten maximal zwei Tage für die Abreise einplanen. „Ich weiß nicht genau. Aber du hast Recht. Wir müssen bald wieder zurück, sonst kann ich mir einen neuen Job suchen. Aber ich glaube, bis zum Ende der Woche können wir noch bleiben.“ Obwohl eine Woche mit diesem aufdringlichen Mitbewohner schon extrem nervtötend sein konnten. Aber ich tue es ja für Fi, sagte ich mir. Das werde ich schon schaffen. Es war doch nur eine Woche oder?! Das konnte doch nicht so schlimm sein. Hoffte ich. „Na gut. Wir bleiben die Woche hier. Find ich gut. Aber jetzt erzähl. Wieso nervt er dich so? Was hat er denn gemacht, dass du dich so aufregst? Und wie wir von Fi wissen, benimmt Stayr sich auch ein wenig anders als sonst. Also, was läuft da?“ Xan warf mir einen Blick aus zusammen gekniffenen Augen zu. Es war einer dieser Erzähl-mir-alles-und-lass-nichts-aus-Blicke. „Du willst alles wissen? So viel ist das eigentlich gar nicht. Wie gesagt, der dunkle Abend in der Gasse und dann…“ Ich stockte, sollte ich ihr von gestern Nacht erzählen? Als er in meinem Zimmer war? Hmm... wieso eigentlich nicht? „…dann kam er gestern in mein Zimmer, als ich mich gerade schlafen gelegt hatte. Er wollte sich für die Abfuhr im Club entschuldigen und hat gesagt, dass er findet, dass ich mit der ganzen Vampir-sache ganz gut klarkomme. Heute Morgen, als ich frühstücken wollte, saß er schon da, auf einem Stuhl. Er meinte, wenn ich mal eine freie Minute haben wollte, sollte ich doch rausgehen. Also habe ich das getan und natürlich tauchte er auch da wieder auf. Wollte sichergehen, dass ich mich nicht verirre und auch wieder heimfinde und so was.“ Ich sah sie leicht wütend an. „Also wirklich, sehe ich aus wie ein kleines Kind? Verdammt, der regt mich echt auf. Taucht immer da auf, wo ich bin!“ Xan grinste. „Was?“ fragte ich sie. Was grinste sie denn jetzt so? Ich hatte doch nichts Lustiges gesagt, oder? Ich meinte das alles ernst. „Ich wette damit, dass du ihn jedes Mal, wenn du ihn gesehen hast oder er dir über den Weg gelaufen ist, eine Szene gemacht hast. Richtig?“ lachte sie. Sie hatte Recht und ich musste grinsen. Aus meinem Lächeln schloss sie, dass sie richtig lag. „Was findest du an ihm so? Du machst dir doch sonst auch nicht die Mühe, einen Typen, der dich nervt, mehrmals anzusprechen. Klar, er sieht gut aus, aber das hat dich noch nie interessiert, wenn er dich nervt.“ Xan wirkte sogar ein klein wenig verwirrt. Ich stand auf und seufzte. „Wenn ich das nur wüsste. Na ja, weißt du wann es Essen gibt?“ Ich hatte mittlerweile wieder Hunger. Bei dem Essen hier wünschte man sich manchmal echt, dass man öfter Hunger hatte. „Nein, aber ich hoffe bald, ich bekomme auch langsam Hunger. Wir können ja gleich mal runter gehen und fragen.“ Ich nickte und verließ dann ihr Zimmer. Ich fragte mich, ob Stayr auch bei dem Essen sein würde. Moment mal, was? Halt! Ich mochte ihn doch gar nicht. Ich schüttelte den Kopf und überlegte. War Fi vielleicht hier irgendwo in der Nähe? Oder war sie draußen um sich ihr Essen zu beschaffen? Das würde auch erklären, wo die andern Beiden waren. Die holten sich dann wahrscheinlich auch gerade ihr Essen. Na toll. Das hieß, wir waren ganz alleine in diesem riesen Haus. Ich seufzte und ging in mein Zimmer. Was kann ich denn jetzt tun? Rumsitzen und die Wand anstarren? Ich glaubte nämlich, dass wir das Abendessen wie gestern zusammen essen werden. Auch wenn das komisch für die drei sein müsste, da sie doch schon gegessen hatten. Wieso aßen sie eigentlich? Brauchten sie noch menschliches Essen oder taten sie es einfach nur so? Schmeckten sie genauso wie wir? Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb sechs. Draußen war es schon dunkel, die Sterne leuchteten nicht so wie gestern und auch vor den Mond hatten sich ein paar Wolken geschoben. Ich ließ das Licht aus und stellte mich an das Fenster. Es ging, genau wie Xans, auf eine riesige Wiese hinaus. Trotz der Dunkelheit der Nacht, hob sie sich durch die weiche, dicke Schneedecke hervor. Sie lag so ruhig, so gleichgültig da. Es interessierte sie nicht, was hier drin oder sonst wo auf dieser Welt geschah. Ob jemand sie störte oder nicht. Sie blieb einfach reglos, bis der Störenfried verschwand. Genauso wie ich sonst. Warum konnte ich bei Stayr nicht auch so ruhig bleiben? Warum sorgte er dafür, dass ich mich immer wieder so aufregte? Was machte der Kerl anders als die anderen? Ich schüttelte wieder den Kopf, ging vom Fenster weg und legte mich quer über das Bett. Es war so weich. Ich zog die Beine an und beschloss, für einen Moment die Augen zu schließen. Nur für einen ganz kleinen, dann würde ich nach unten gehen und fragen, wie lange die anderen noch wegbleiben würden. Doch ehe ich mich versah, war ich eingeschlafen.

Es war dunkel und still, als ich aufwachte. Alles war ruhig, doch ich wusste, irgendetwas hatte mich aufgeweckt. Ich lag immer noch vollkommen angezogen auf dem Bett. Vielleicht war ich nur kurz eingenickt. Wahrscheinlich würden gleich Fi, Cannes und Stayr wiederkommen, damit wir essen konnten. Doch als ich mich aufrichtete um auf den Wecker zu schauen, spürte ich es wieder. Irgendwas war da. Nur was? Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Da war nichts. Oder?! Ich machte mich daran, einen Schalter oder so etwas zu finden, um auf den Wecker sehen zu können. Da hörte ich Schritte. Schritte, die auf mein Bett zugingen. Erschrocken, und ja, auch ein wenig verängstigt, immerhin war das ein Haus voller Vampire, drehte ich mich um. Doch ich konnte nichts sehen. „Warum bist du so anders als die Anderen.“ flüsterte eine Stimme. Seine Stimme. Ich stöhnte. Was wollte er denn jetzt schon wieder. „Hast du kein eigenes Leben?“ Ich drehte mich in die Richtung, in der ich ihn vermutete. „Du hast gesagt das du mich in Ruhe lässt, also tu das auch bitte. Ich hab gerade nämlich echt keine Lust auf einen Streit.“ Ich machte mit der Hand eine scheuchende Geste und drehte mich wieder zu dem Nachtschränkchen um, um einen Schalter zu finden. Ich hörte wie seine Schritte näher kamen. Verzweifelt ließ ich meine Finger das kleine Nachtschränkchen schneller absuchen. Ich wollte nicht mit einem nachdenklichen Stayr in einem finsteren Zimmer sein. Doch bevor ich überhaupt etwas finden konnte, griff seine Hand meine und hob sie von dem kleinen Tischchen. „Was soll das?“ zischte ich. Ich versuchte ihm meine Hand zu entreißen, aber das klappte natürlich nicht. Dämlicher Vampir. „Na gut. Reden wir. Was willst du?“ Ich setzte mich auf mein Bett und schaute dorthin, wo ich sein Gesicht vermutete. „Ich will wissen, wieso du so... anders bist. Bisher hat keine mich so aufgeregt wie du. Oder so genervt.“ „Das Gleiche kann ich von dir sagen. Warum regst du mich so auf? Ich bin doch sonst auch nicht so, wenn irgend ein Typ mich nervt.“ Plötzlich war seine Stimme direkt vor mir. Doch ich dachte gar nicht daran zurückzuweichen. Als ob ich jemals vor einem Typen zurückweichen würde, egal wie gutaussehend er war. „‘Irgendein Typ‘? Das bin ich also?“ Ich tat so als müsste ich überlegen. Dann nickte ich. „Ja. Ja, das bist du. Und könnte ich jetzt vielleicht meine Hand wiederhaben, damit ich das Licht anschalten kann, um zu wissen wie spät es ist?“ Ich merkte das Hungergefühl in mir und ich sah in Richtung Tür. „Und damit ich nach unten zu Essen gehen kann. Ich hab nämlich Hunger, weißt du.“ Er lachte leise. „Zum Essen? Das Essen war vor knapp sieben Stunden. Wir haben es jetzt gleich zwei. Du hast wohl ein wenig länger geschlafen.“ Ich konnte fast sein Schmunzeln sehen. Scheiße, ich hatte mich doch so darauf gefreut. „Na toll.“ murrte ich. „Nicht traurig sein. Morgen gibt es wieder etwas, denn ich glaube, die Küche hat geschlossen. Jeder geht mal schlafen. Die einen später…“ er machte eine kleine Pause. „…die anderen früher.“ Ich zog ein wenig an meiner Hand. „Ach, halt die Klappe Vampir.“ Warum konnte er sie nicht einfach loslassen? „Ich hab es dir schon mal gesagt, du sollst nicht so unhöflich sein. Was ist, wenn du mal einen Vampir triffst, der nicht so geduldig und sanftmütig ist wie ich?“ Sanftmütig? Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Und hielt mir meine freie Hand vor den Mund. „Guck, genau das meinte ich. Kein Respekt.“ sagte er leise. Doch bevor ich reagieren konnte, schnappte er sich auch meine zweite Hand und drückte sie beide auf das Bett. Dann drückte er mich auch nieder, bis ich lag. „Das sollten wir ändern.“ flüsterte er nahe an meinem Mund. Die Zeit schien langsamer zu laufen und unzählige Gedanken gingen mir durch den Kopf. Die einen waren solche wie ‚Lass deine verdammten Finger von mir Vampir‘. Die meisten hingegen waren eher ‚Ja! Endlich!‘. Doch bevor ich mich entscheiden konnte, was besser war und was nicht, lag sein Mund auf meinem und ich wollte gar nicht mehr denken. Ich keuchte und öffnete meinen Mund um seine Zunge an meiner zu spüren. Er lachte leise, doch zog sich nicht zurück. Stattdessen ließ er - endlich! - meine Hände los und vergrub sie in meinen Haaren. Ich ließ meine über seinen Rücken hinweg nach oben ebenfalls in seine kurzen dunklen Haare gleiten. Der Kuss war sogar noch besser, als ich erwartet hatte. Als wir uns schließlich lösten, war ich nicht die Einzige, die nach Atem rang. Stayr, der immer noch über mir lag, keuchte auch ein- oder zweimal. Ich grinste. „War klar, dass das irgendwann passieren würde.“ Sagte ich leise. Stayr lachte erneut leise. „Du hast Recht.“ Er löste sich von mir und stand auf. Dann war es kurz still. Ich richtete mich langsam auf und sah zu der dunklen Silhouette hinauf, dessen Beine meine immer noch berührten. Ich spürte seinen Blick ebenfalls auf mir. Schließlich durchbrach er als Erster die nächtliche Stille. „Gute Nacht, Angel. Bis morgen.“ Was? Wie jetzt? „Ähh... ja. Gute Nacht.“ erwiderte ich. Ich erwartete zu sehen, wie er die Tür öffnete und verschwand, doch die blieb geschlossen. Stattdessen ging das Fenster auf. Er hatte doch nicht vor sich in die Tiefe zu stürzen, oder?! Doch bevor ich auch nur weiter denken konnte, aufspringen oder etwas sagen konnte, war er schon weg. „Dämlicher Vampir.“ sagte ich, was ich schon den ganzen Tag dachte und schloss das Fenster. Danach legte ich mich wieder in mein Bett und dachte nach. Vielleicht war er doch nicht so ein Idiot, für den ich ihn hielt. Möglicherweise war er doch ganz... okay. Ich lächelte. Dann fiel mir auf, dass ich immer noch keine Schlafsachen anhatte. Ich huschte im Dunkeln zu der Stelle, an der ich meinen Koffer hingestellt hatte und suchte blind etwas für die restliche Nacht. Nach ein paar Minuten fand ich etwas und zog mich hastig um. Immer noch blind tapste ich zu dem Bett, stieß mir das Schienbein und legte mich dann fluchend in das Bett. Morgen würde die Welt schon ganz anders aussehen. Bestimmt.

Als ich das nächste Mal aufwachte war es hell. Hoffentlich würde es jetzt etwas zu Essen geben. Ich ließ die Dusche erst mal aus und schlüpfte schnell so in meine Klamotten. Auf dem Weg nach unten fiel mir ein, dass ich vielleicht ein Blick in den Spiegel mir hätte gönnen müssen, da man mir bestimmt den Schlaf und die Flucht aus dem Bett ansah. Scheiße. Aber egal. Ich wollte hier keinen beeindrucken, sondern einfach nur endlich etwas zu Essen haben. Der Saal, in dem wir bisher immer gegessen hatten, war leer. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Endlich mal eine Minute ohne diesen doofen Vampir. Ich schnappte mir einen der Stühle und fast zeitgleich kamen Fi und Xan in den Raum und der nette Mann, der immer das Essen brachte. „Morgen Angel.“ sagte Fi und schaute mich an. „Wo warst du denn gestern? Wir haben dich beim Abendessen vermisst.“ Sie wackelte mit den Brauen. Hä? Was sollte das denn schon wieder heißen? Stayr war doch beim Essen dabei gewesen, oder? Oder hatte er mich die ganze Zeit angestarrt, als ich geschlafen hatte? Das konnte gut sein, denn ich erinnerte mich daran, dass mich etwas aufgeweckt hatte. Wenn ja, dann hätte er ein Problem. Nicht genug, dass er mir hinterherrennt, nein er bricht auch noch mehrmals in mein Zimmer an. „Ich wollte mich nur ein wenig hinlegen und bin dann wohl eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht bin ich dann aufgewacht, hab festgestellt, dass es nichts mehr zu essen gibt, mich umgezogen und dann wieder hingelegt. Aber dafür habe ich jetzt mörderischen Hunger.“ Fi lachte. „Es gab nichts mehr zu essen? Es gibt immer was zu essen. Stefan der nette Mann, der immer das Essen bringt, schläft zwar Nachts - unglaublich, aber wahr, weißt du - aber er stellt immer etwas für den nächtlichen Hunger hin. Im Kühlschrank der Küche.“ Ich erinnerte mich an Stayrs Worte ‚Die Küche ist geschlossen‘. Scheiß Vampir! Ich schüttelte den Kopf. Verdammt! Ich hätte gestern Nacht noch etwas essen können. Dann hätte ich jetzt nicht so einen Hunger gehabt. Was hat er sich denn dabei gedacht?! Das würde er zurückbekommen. Ich weiß zwar nicht wie, wo und wann, aber irgendwie musste ich ja was machen. Ständig lauert er mir auf und sorgte dafür, dass ich weder eine frei Minute, noch etwas zu essen hatte. Fi und Xan setzten sich neben mich und Stefan brachte uns das Frühstück. Ich war die ganze Zeit während des Essen in Gedanken bei Stayr und wie ich es ihm heimzahlen konnte. Deswegen bemerkte ich auch gar nicht, dass er und Cannes nicht zum Frühstück kamen. Erst als Xan fragte wo sie denn seien, fiel es mir auf. „Die sind in der Stadt. Besorgungen machen. Ich dachte mir, dass hierbleibe und euch nicht alleine lasse. Ihr wart gestern zwar nicht ganz alleine, aber bisher haben wir wenig zusammen gemacht. Deshalb wollte ich euch fragen, worauf ihr Lust habt. Cannes hat das Auto hiergelassen, das heißt, dass wir auch wohin fahren können. Ich weiß nicht, auch in die Stadt oder so.“ In die Stadt klang nicht schlecht, aber ich hoffte, dass sie wenigstens groß genug war, damit ich den großen, dunkelhaarigen Vampir nicht sehen musste. Xan nickte schon und ich lächelte. Endlich mal wieder ein Shoppingtag unter Freundinnen. „Ja. Lass und in die Stadt fahren. Ich muss nur noch duschen.“ Ich grinste und stand auf. Fi und Xan grinsten auch und warfen einen Blick auf meine Haare. Ich ging nach oben, duschte mich schnell und suchte mir eine Tasche aus meinem Koffer. In die stopfte ich mein Portmonee und allerlei Kleinkram, den eine Frau so brauchte. Oder einfach nur so mit sich herumschleppte. Außerdem schnappte ich mir meine dickste Jacke. Danach stieg ich wieder die Treppe hinab und sah, dass Fi schon im Eingangsbereich wartete. Sie hatte keine dicke Jacke, aber auch eine kleine Tasche. Xan polterte gleich nach mir Treppe hinunter. „Können wir?“ fragte sie aufgeregt. Fi schaute mich an und als ich nickte, nickte sie auch. „Auf gehts.“ Fi öffnete die Tür und ging voran. Sie steuerte geradewegs auf das Auto zu, was mich ein wenig stutzig machte. Wollte sie denn nicht abschließen? Unsicher blickte ich zu dem Haus zurück, während Xan schon einstieg. „Ich brauche nicht abschließen. Im Umkreis von zehn Kilometern wohnt hier keiner und wenn tatsächlich jemand hierherkommt, weiß er wessen Haus das ist. Und, dass er es lieber in Ruhe lässt.“ Natürlich. Wer würde schon gerne in Haus einbrechen, in dem Vampire wohnen? Der wäre ja lebensmüde. Ich stieg in das Auto ein. Xan hatte sich neben Fi auf den Beifahrersitz gepflanzt, also setzte ich mich nach hinten. Die Fahrt über unterhielten sich die beiden darüber, was es alles für Läden gab, was sie kaufen wollten und wo wir unbedingt hin mussten. Es war wieder wie damals, wenn wir zusammen shoppen gingen. Das Problem bei uns war, dass es immer Eine gab, die etwas anderes wollte, als die andern Beiden. Dann gab es eine kleine Zankerei, bis eine der beiden Parteien nachgab, aber danach war eigentlich alles wieder gut. Ich hielt mich aus dem Gespräch der Beiden raus und schaute auf die weiße Landschaft, die an dem Fenster vorbeiraste. Der Schnee lag dunkel und matschig am Straßenrand, doch dahinter erstreckte er sich zwischen den Bäumen hindurch, bis aus meiner Sichtweite. Es war wunderschön und ich hätte wirklich agetan sein sollen von diesem Anblick, doch nach wenigen Minuten merkte ich, dass meine Gedanken immer wieder zu Stayr und seinem nächtlichen Besuch abdrifteten. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. War er der nervige, aufdringliche Idiot, der skrupellose Mörder oder der unglaublich gutaussehende Kerl von gestern Nacht? Wie konnte eine Mensch, oder Vampir, so facettenreich sein? Ich fragte mich, ob ich in der Woche, in der wir hier bei Fi in Sibirien sind, mehr Seiten von ihn kennenlernen würde. Und ich fragte mich, ob ich das überhaupt wollte. Klar, der Kuss war zwar überraschend, aber nicht unangenehm gewesen. Überhaupt nicht unangenehm. Aber er war ein Vampir! Und wäre er kein Freund von Cannes und würde nicht bei ihm wohnen, hätte ich ihn nie wiedergesehen. Würde vielleicht gar nicht mehr an ihn denken. Und wenn ich wieder zuhause war, in Deutschland, werde ich ihn wahrscheinlich nie wiedersehen. Wenn ich Fi ab und zu besuchen würde, dann vielleicht, aber sonst? Ich konnte es mir also nicht leisten, mehr als Lust für diesen Mann zu empfinden. Er passte nicht in mein Leben. Schluss. So einfach war das. Eine kleine nervige Stimme in meinem Kopf murmelte jedoch etwas Anderes. Oder? Konnte ich ihn denn ‚einfach so‘ aus meinen Gedanken und meinem Leben streichen? Ja, dachte ich, doch ich wusste, dass das mindestens eine kleine Lüge war. Verdammter Vampir. Erst brachte er mich dazu, ihn anzusprechen, sogar zweimal. Dann das ich wegen ihm ausraste und mich völlig anders benahm als sonst. Und dann, dass ich mich selbst anlog, was das Vergessen ihn bezüglich anging. Ich schüttelte den Kopf und pustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Aber der Kuss war schon gut gewesen. Das war auch der Grund, warum ich ihn nicht mehr vergessen konnte. Zumindest redete ich mir das ein und verdrängte die Tatsache, dass der Kerl, der ihn mir gegeben hatte, vielleicht der hauptsächliche Grund sein könnte. Nein. Es war eindeutig der gute Kuss. Fi wurde langsamer, denn die Straßen wurde belebter. Man konnte schon ein paar Läden und Schaufenster sehen, die Angebote anboten. Natürlich auf Russisch. Aber egal, ich sah jede Menge Shoppingmöglichkeiten und das reichte mir fürs Erste. Xan rutschte schon unruhig auf ihrem Sitz herum. Fi fuhr in irgendein Parkhaus und wenn wir es uns nicht merken würden, welches es war, hatten wir ein Problem, denn die sahen alle so ziemlich gleich aus. Wir stiegen aus und ich fing sofort an zu zittern, da ich von der warmen Autoluft in die fast arktische Luft Russlands hinausging. Ich wusste aus der Schule, als ich doch mal aufgepasst hatte, das Sibirien das Land mit den niedrigsten Temperaturen in Russland war. Ich zog meinen Mantel enger um mich, um sie nicht an mich heran zulassen. Vergeblich. Auch Xan zitterte, Fi hingegen schien die Kälte gar nichts auszumachen. Sie schloss das Auto ab und ging zu dem Treppenhaus der Parketage. Wir folgten ihr und versuchten uns aufzuwärmen. Wir mussten nur ein kleines Stück laufen, um in eine Art Fußgängerzone zu kommen, wo so ziemlich alle Läden waren. Alles in allem waren die Sachen und die Geschäfte so wie in Deutschland. Und die Währung war anders. Nachdem wir nach einigem Suchen tatsächlich eine Geld-tausch-stelle - oder so - fanden, fingen wir auch gleich an. Wir wühlten uns langsam durch die Geschäfte, auf der Suche nach dem richtigen Teil. Man sah mal hier was, mal da was und hoffte immer, das es die richtige Größe war und nicht allzu teuer. Nach zwei Stunden, jeder von uns hatte mindestens schon drei Tüten, wurden wir dann doch ein wenig müde und beschlossen, uns in ein Café zu setzten. Wir suchten uns einen Tisch in der Ecke, bestellten uns drei Kaffees und luden die Tüten neben unseren Stühlen ab. Wie wir so dasaßen, über unseren neuesten Besitz redeten und Kaffee tranken, fühlte es sich fast so an, als wäre nie etwas passiert. Wenn man von den Russischen Gesprächen und den ebenfalls anderssprachigen Speisekarten absah. Und trotzdem ertappte ich mich dabei, wie meine Gedanken wieder zu Stayr zurückkehrten. Warum kam er gestern eigentlich in mein Zimmer? Hatte er mich von Anfang an nur küssen wollen? War er nur deswegen zu mir gekommen? Er hatte gefragt, warum ich anders sei. Bevor ich wusste, dass er da war. Wollte er einfach nur wissen warum ich anders sei und hatte mich nur deshalb geküsst, um zu wissen das ich es nicht war? Hatte ihm der Kuss überhaupt etwas bedeutet? Wollte ich, dass ihm der Kuss etwas bedeutete? Unterbewusst merkte ich wie der bestellte Kaffee vor mir abgestellt wurde. Mechanisch kippte ich Zucker und Milch hinein und hob ihn an meinen Mund. Natürlich verbrannte ich mich und meine Gedanken waren mit einem Schlag wieder in dem kleinen Café bei Xan und Fi. Ich stellte den Kaffee, möglichst ohne etwas auf meine Hose zu verschütten, wo bereits schon ein riesiger, warmer Kaffeefleck prangte, zurück auf den Tisch und suchte nach einer Serviette. Doch das brachte nichts, die Hose war bis zur nächsten Wäsche, wo der Fleck hoffentlich wieder rausging, hoffnungslos versaut. Scheiße! Ich fluchte auch laut. Jetzt musste ich wohl oder übel die restliche Zeit in der Stadt mit der versauten Hose rumlaufen. Ich seufzte. Fi grinste mich an. „Also ich weiß nicht, aber ich hab irgendwie gar keine Lust mehr auf Shoppen. Ich würde viel lieber nach Hause fahren und mir gemütlichere Sachen anziehen, ihr nicht auch?“ Ich lächelte ihr dankbar zu, während Xan nickte und ihren Kaffee an den Mund hob. Natürlich ohne etwas zu verschütten. Ich nahm den Kaffee auch wieder hoch und schaffte es, den Rest auch ohne weitere Komplikationen zu trinken. Danach bezahlten wir, schnappten unsere Tüten wieder - die ich so trug, dass man mein Missgeschick nicht sehen konnte - und machten uns auf dem Weg zu dem Auto. Fi hatte sich zum Glück den Platz des Autos gemerkt und wir fanden es schnell wieder. Sie schloss auf und ich setzte mich sofort rein. Es war immer noch bitterkalt. Wie hielten die es hier nur so aus, wenn man die Mittel hat, in wärmere Regionen zu ziehen? Musste ich nicht verstehen. Xan setzte sich auch nach vorne, doch Fi kam nicht. Ich lugte durch ein Fenster und sah sie und Cannes. Sie schlang ihm gerade die Arme um den Hals und küsste ihn kurz. Wo kam er denn her? Was machte er hier? Nicht das ich etwas gegen Cannes hatte, ich fand ihn mittlerweile sogar ganz sympathisch, aber er war doch eigentlich mit Stayr unterwegs. Und wenn Cannes hier war, wo war dann er? Ich zog mir die Tüten wieder über die Beine, die beim Einsteigen verrutscht waren. Fehlte mir gerade noch, dass dieser aufgeblasene Macho sah, dass ich noch nicht mal einen Kaffee trinken konnte. Das würde er mich die gesamte Woche lang nicht vergessen lassen. Und der bisherige nervige Stayr reicht mir vollkommen. Hektisch sah ich mich um. Vielleicht würde er ja laufen oder irgendein anders Auto nehmen, dann würden uns vielleicht gar nicht sehen und ich konnte mein Missgeschick vor ihm verbergen. Götter, jetzt drehten meine Gedanken auch schon durch, als ob er mit einem fremden Auto wieder zurückfährt, wenn hier doch eines steht, in das er noch mit reinpasst. Ich sah mich weiter um und als mein Blick über die Treppe huschte, setzte mein Herz kurz aus. Ich sah, wie er das Treppenhaus des Parkhauses hinaufstieg und erstarrte kurz. Er konnte mit seiner Anwesenheit selbst dieses graue, schäbige Gebäude zu einem wundervollen Ort machen. Anmutig schritt er die letzte Stufe hinauf und kam auf das Auto zu. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden und starrte ihn wie eine Gestörte an, bis sein Blick auf mich fiel. Plötzlich wurde ich mir meiner unbequemen Pose bewusst, quer über zwei Rücksitze gebeugt. Er lächelte mich an und in seinen Augen lag der Schalk. Er schien belustigt zu sein, aber worüber? Darüber, dass ich ihn nicht mehr vergessen konnte, mir die ganze Zeit Gedanken über den Kuss machte und mir dadurch Kaffee auf die Hose geschüttet hatte? Ich zog eine Braue hoch und schüttelte leicht den Kopf. Ich hörte ein kleines Hüsteln. Ich schaute zu Xan, die den Blickkontakt zwischen mir und Stayr anscheinend mitgekriegt hatte. Doch sie war klug genug, es – zumindest erst mal - auf sich beruhen zu lassen, denn Stayr konnte alles mitanhören, dank seines dämlichen Vampirgehörs. Sie schaute neugierig und ein wenig ungläubig zu mir. Ich würde ihr später so einiges erzählen müssen. Fi und Cannes hatten in der Zwischenzeit fertig geturtelt und stiegen in das Auto. Xan ging freiwillig nach hinten und setzte sich – den Götter sei Dank - in die Mitte. Cannes setzte sich hinter das Steuer und Stayr nach hinten zu uns. Fi erzählte Cannes von unseren Einkäufen und wir anderen schwiegen. Den ganzen Rückweg über hielt ich meine Taschen und Tüten fest. Xan bemerkte es und schien zu wissen warum ich es tat, denn sie legte ihre ein Stück mit auf meine, damit sie nicht so sehr rutschten. Ich hoffte nur, dass er es nicht sehen würde, wenn ich ausstieg. Cannes fuhr das Auto auf die Auffahrt und bremste vor der Tür. Ich packte meine Taschen fester und machte die Tür auf. Dann mal los. Ich stieg vorsichtig aus und machte mich auf den Weg zur Tür. Dabei versuchte ich die Tüten so zu drapieren, dass es nicht so aussah, als ob ich die sie wie ein Schild vor mir hertrug. Fi zog schnell die Tür auf und lächelte mich mitfühlend an. Ich rannte fast die Treppe hoch und ich machte mir keine Gedanken mehr um die Tüten, da die anderen - und hauptsächlich Stayr - hinter mir an der Tür waren. Hastig lief ich den Flur entlang und öffnete die Tür. Ich lief in das Zimmer und warf unachtsam die Tür hinter mir zu. Deswegen sah ich auch nicht, dass sich ein Fuß dazwischen schob und sie dadurch offen hielt. Ich warf die Tüten auf das Bett, schnappte mir eine Hose aus dem Schrank und ging in das kleine Badezimmer, ohne etwas zu bemerken. Dennoch schloss ich die Tür ab, als ich mich umzog. Zum Glück. Nachdem ich mich mir die Saubere angezogen hatte, schnappte ich mir die fleckige Hose und ging zurück in das andere Zimmer. Doch bevor ich auch nur ein paar Schritte tun konnte, wurde mir das Kleidungsstück aus der Hand gerissen. Ich blickte mich um und sah ihn. War ja klar gewesen. Er hielt die Hose eine Armeslänge von sich entfernt und begutachtete sie. Verdammt. Ich hatte sie doch bisher so gut vor ihm versteckt. War alles umsonst gewesen. Er ließ sie sinken und grinste mich an. „Wusste ich doch, dass es im Auto nach Kaffee gerochen hat. Ein kleines Missgeschick?“ Er fing an zu lachen. Ich versuchte ihm die Hose wegzunehmen, doch er hielt sie außer meiner Reichweite. Dämlicher Vampir. „Kann ich bitte meine Hose wiederhaben?“ fragte ich ihn genervt. Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Da fiel mir auf, dass wir uns das letzte Mal gestern Nacht gesehen hatten. Nach dem Kuss, wo er dann einfach so abgerauscht ist. Und das ich mir gedacht hatte, dass er doch ganz ‚okay‘ sei. Tja, dieser Ansicht war ich nicht mehr, als ich in seine grinsende Visage starrte. Er war jetzt seit gestern fast durchgängig in meinen Gedanken und beherrschte sie so ziemlich, aber musste er dann auch noch in meinem Zimmer sein? „Du hast dich also… bekleckert. Wie das? Ich war der Meinung, dass du wenigstens einen Becher Kaffee an deinen Mund führen kannst, ohne zu sabbern wie ein kleines Kind.“ Er kicherte wieder und ich fragte mich, wer hier das kleine Kind von uns Beiden war. Aber jetzt hatte ich endgültig genug. Ich ging auf ihn zu und schubste ihn in Richtung Tür. Meine Hose hielt er zwar noch in der Hand, aber das war mir egal. Ich schubste ihn mit ein paar weiteren Stößen durch den Raum und ich war überrascht, dass er das mit sich machen ließ. Er war ein Vampir und mindestens zehnmal stärker als ich. Doch ich nutzte es aus. Als wir neben der Tür standen, zischte ich ihn an. „Und jetzt…“ ich öffnete die Tür „…raus.“ Ich funkelte ihn an und deutete auf den Gang. Stayr hatte aufgehört zu lachen und starrte mich an. „Was denn? Bist du jetzt beleidigt?“ Er schüttelte leicht den Kopf und schien entrüstet. „Das macht doch keinen Spaß. Es ist viel lustiger, wenn du mich ankeifst, damit ich zurückkeifen kann.“ Ich sah ihn fassungslos an. „Du willst das ich mit dir streite?!“ Hatte ich ihn wirklich richtig verstanden? „Weißt du was, vergiss es. Ich hab da echt kein Bock mehr drauf. Seit meiner Ankunft hier, oder eher seit jener Nacht in der Gasse, gehst du mir auf die Nerven. Ständig schwirrst du mir im Kopf herum und lässt mir auch so kaum eine Minute ohne dein nerviges Gerede und Gequatsche. Hast du niemanden Anderen den du belästigen kannst? Weißt du, bisher ist mir noch nie ein Typ so auf die Nerven gegangen wie du. Weil ich ihnen keine Chance dazu gegeben habe. Ich hab sie einen Abend, höchstens eine Nacht gesehen und danach nie wieder. Aber du scheinst mich irgendwie zu verfolgen. Was findest du an mir?“ Ich holte kurz Luft. „Warum bist du so verdammt anders als die anderen?“ schloss ich mit seinen Worten von letzter Nacht. Das brachte ihn zum Lächeln, aber keines von diesen spöttischen, bisherigen Lächeln. Nein, es war etwas anderes, etwas was mir warm ums Herz werden ließ. Etwas, dass mich zu dem Gedanken brachte, dass er doch ganz okay sein könnte. Dämlicher Vampir. Schaffte es mit einem Lächeln meines gesamte Rede über einen Haufen zu werfen. „Diese Frage hatte ich auch schon dich bezüglich.“ sagte er leise und schloss die Tür wieder. Ich ging einen Schritt in den Raum zurück und schaute ihn abwartend an. Dann zog er die Brauen hoch, aber sein Lächeln blieb. „Ich ‚schwirre dir also ständig im Kopf herum‘?“ fragte er. Ups, dass hatte ich wohl gesagt. Doch anstatt mir etwas anmerken zu lassen, nickte ich ihm einfach nur zu und tat so, als ob es mir völlig egal sei. „Interessant.“ murmelte er. Er fand das interessant? Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. Dann drehte ich mich um, um zum Bett zu gehen, zum Fenster oder irgendwohin, hauptsache weg von ihm. Ich wollte diesen starrenden Augen entgehen. Doch bevor ich mehr als drei Schritte gehen konnte, spürte ich wie seine Hand auf meinem Arm mich zurückhielt. Diesmal sagte ich es leise. „Dämlicher Vampir.“ Er lachte leise und drehte mich zu sich. Ich löste seine Hand von meinem Arm und sah ihn finster an. „Was soll das. Lass mich in Ruhe.“ Er hörte auf zu lachen. Dann schien er nachzudenken. „Ist nicht so leicht.“ murmelte er. Ich starrte ihn wieder an. „Nicht so leicht?“ Meine Stimme stieg eine Oktave höher. „Du musst einfach nur normal mit mir reden, nicht Nachts in meinem Zimmer stehen und mir nicht immer hinterherrennen. Was ist daran bitteschön nicht leicht?!“ Er beugte sich hinunter, sodass unsere Gesichter auf selber Höhe waren. „So ziemlich alles.“ Dann überbrückte er auch noch das letzte Stück zwischen uns und küsste mich. Eigentlich will ich das doch gar nicht. Und solange ich wenigstens noch ein bisschen Willenskraft hatte, versuchte ich, ihn von mir wegzuschieben. Doch anstatt zurückzuweichen, schlang er seine Arme um mich und zog mich noch enger an sich heran. Ich zappelte und versuchte mich zu lösen, doch das sorgte nur dafür, dass er mich enger an sich zog. Da kam mir eine Idee, die hoffentlich klappen würde. Ich ließ locker. Ließ ihn mich an sich ziehen und mich küssen. Ich strich mit meinen Händen über seinen Rücken, um ihn abzulenken. Dann wanderten sie nach vorne, auf seine Brust. Ich erlaubte mir, ihn kurz zurück zu küssen, nur ganz kurz. Dadurch bemerkte er nicht, wie ich meine Hände gegen seine Brust stemmte. Mit voller Kraft stieß ich ihn von mir. Er taumelte sichtlich überrascht ein paar Schritte zurück. Ich drehte mich um und huschte in das geeignetste Zimmer, was mir im Moment zur Verfügung stand, da Stayr die Tür blockierte. Das Bad. Schnell machte ich die Tür zu und schloss ab. Und hoffte, dass diese Tür ihn draußen halten würde. Nachdem ich mich auf den Wannenrand gesetzt hatte und mich gezwungen hatte, tief einzuatmen, lauschte ich. Es war völlig still hinter der Tür. War er gegangen? Oder wollte er, dass ich das dachte und wartete auf der anderen Seite darauf, dass ich heraus kam? Ich überlegte was ich tun sollte, als ich ein Geräusch hörte. Von der Tür. Dann klackte das Schloss und die Klinke wurde runter gedrückt. Er hatte das Schloss geknackt! Er stieß die Tür auf und sah mich schmunzelnd an. Dann kam er langsam auf mich zu. Nun sah er wirklich aus wie ein Monster aus einem Horrorfilm, aber ich fühlte im Moment alles, aber keine Angst. Die nun wirklich nicht. Ich schnappte mir schnell die Handtücher, die auf der Borte lagen und warf sie auf ihn. Dann rannte ich an ihm vorbei aus dem Bad, zur Tür. Ich hatte es fast geschafft. Noch fünf Meter, vier, drei... da spürte ich, wie etwas gegen mich flog und ich stolperte und fiel. Am Boden blinzelte ich ein paar Mal, rappelte mich auf und versuchte meinen Fluchtversuch fortzusetzten, doch es klappte nicht. Stayr stand vor der Tür und grinste mich an. Verdammt! Eine Armeslänge von ihm entfernt blieb ich stehen. Ich kniff die Augen zusammen und wich langsam zurück. Der letzte Versuch wäre das Fenster. Allerdings waren wir im ersten Stock und obwohl unten Schnee lag, war die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir etwas breche, doch ziemlich hoch. Also war der einzige Weg an dem Vampir vorbei. Na toll. Ich blieb stehen, es hatte keinen Sinn mehr zu fliehen. Er war schneller als ich und würde mich so oder so wieder einfangen. Ich seufzte. „Also schön. Ich gebe auf.“ murmelte ich. Stayr grinste. Dann zog er eine Braue hoch und kam einen Schritt auf mich zu. „Ich meinte damit meine kläglich gescheiterten Fluchtversuche. Nichts anderes. Du kannst mich zu nichts zwingen, glaub mir.“ Er lachte wieder leise. „Dich zwingen? Das habe ich nicht nötig.“ Dann war er bei mir und schlang mir wieder einen Arm um die Taille. Die andere ließ er in mein Haar wandern und wickelte sich eine Haarsträhne um seine Finger. Und wenn ich mal seine nervige Seite vergaß, fühlte sich das sogar ganz gut an. „Ach nein?“ fragte ich ihn leise und sah zu ihm auf. Er beugte sich wie gerade eben ein kleines Stück zu mir hinunter. „Heute Nacht hast du mich auch geküsst, schon vergessen?“ sagte er. Er hatte Recht. Gestern hatte ich ihn geküsst. Und es hatte mir gefallen. Sehr sogar. Ihm anscheinend auch, sonst würde er jetzt nicht hier stehen und wäre schon längst rausgegangen. Ich schaute ihm in die Augen. Sie waren von einem der schönsten Blautöne, die ich je gesehen hatte und sie hatten fast eine hypnotisierende Wirkung auf mich. Warum war er anders? Warum konnte ich ihn nicht einfach in Ruhe lassen und er mich? Was war das zwischen uns? Ich legte ihm meine Arme um den Hals und verdrängte meine Gedanken für den Moment, darüber konnte ich auch noch später nachdenken. Ich lächelte ihn leicht an und zog ihn noch enger zu mir. „Siehst du, ich brauche dich gar nicht zwingen.“ murmelte er und strich mit seinem Mund über meinen. „Halt die Klappe, Vampir.“ Dann küsste ich ihn. Er löste seine Finger von meiner Haarsträhne und umfasste meinen Hinterkopf. Als ob ich zurückweichen würde. Er küsste mich zurück und ich grub meine Hände in seine Haare, wie heute Nacht. Ja, da war definitiv etwas zwischen uns. Nur was, das wussten wir beide nicht. Ich strich von seinen Haaren über seinen Rücken und drückte mich noch enger an ihn. Er lachte leise und strich mit der Hand aus meinen Haaren an mein Gesicht. Ich hätte ewig so weitermachen können, wenn nicht es nicht genau in diesem Moment an der Tür geklopft hätte. Stayr hörte auf mich zu küssen und zog sich leicht zurück. Jedoch standen wir immer noch eng umschlungen da und bevor ich antworten konnte – oder mich bewegen konnte –, wurde die Tür schon von einer aufgelösten Xan aufgerissen. „Angel, ich hab schlechte Neuigkeiten, ich…“ sie verstummte. Dann erfasste sie die Situation und bekam große Augen. „Äh, tschuldigung.“ murmelte sie, wurde rot und ging schnell wieder raus. Leicht verärgert löste ich mich von Stayr und funkelte ihn an. „Musste das jetzt wirklich sein? Sie wird mir damit so auf die Nerven gehen, für das nächste halbe Jahr und wenn ich Pech hab für immer.“ Ich drehte mich um und nahm meine Hose, die er im Eifer des Gefechts auf mein Bett geworfen hatte. Ich hatte wieder klare Gedanken und wusste wieder, dass das mit uns und dem Kuss keine so gute Idee war. Ich wollte an ihm vorbei zur Tür gehen, um Fi zu fragen wo es hier eine Waschmaschine gab. Vielleicht war die Hose ja noch zu retten. Doch Stayr griff meinen Arm und zog mich wieder an sich. Er drückte seinen Mund wieder auf meinen und küsste mich. Bevor ich mich jedoch erneut von ihm losreißen konnte, ließ er mich schon los und ging ein paar Schritte zurück. „Wir sehen uns beim Abendessen.“ sagte er und verließ den Raum mit langen, bestimmten Schritten. Ich sah ihm widerwillig hinterher und stand immer noch da, als er schon längst den Raum verlassen hatte. Um meine Art Trance zu beseitigen schüttelte ich leicht den Kopf und ging auch aus dem Zimmer. Ich traf Fi auf der Treppe und sie sagte mir, ich sollte die Hose Stefan geben, der würde sich darum kümmern. Danach hielt ich mich noch im Saal ein wenig auf, doch irgendwann konnte ich es nicht mehr aufschieben und machte mich auf den Weg nach oben zu Xans Zimmer. Ich blieb kurz vor ihrer Tür stehen und klopfte dann an. Die Tür wurde ein Spalt geöffnet und sie blinzelte mich skeptisch an. Sie machte die Tür ein Stück weiter auf, deutete mir hineinzugehen. Alles ohne die misstrauische Miene zu verziehen. Ich folgte ihr in das Zimmer und blieb unschlüssig mitten im Raum stehen. Schließlich drehte sie sich zu mir um und... grinste mich an. Sie grinste! War ich hier im falschen Film? Sie war doch gerade in mein Zimmer geplatzt, in dem ich mit unserem männlichen Mitbewohner rumgeknutscht hatte und mich gerade ziemlich misstrauisch angeschaut. Außerdem hatte sie mich dabei erwischt, wie ich ihn heute wie eine Irre angestarrt hatte. Im Parkhaus. „Uuuund? Wie lange läuft das schon?“ fragte sie und setzte sich auf ihr Bett und klopfte neben sich, damit ich mich zu ihr setzte. Ich ließ mich neben sie fallen und überlegte, was ich ihr erzählen konnte. Und ob ich ihr überhaupt etwas erzählen wollte, wenn Stayr vielleicht noch im Nebenzimmer saß und alles mitanhören kann. Und das Letzte was ich will war, dass er weiß was ich denke und fühle. Ne, also legte ich mir einen Finger an den Mund, um ihr zu zeigen, dass sie still sein sollte. Dann deutete ich mit dem Daumen zur Tür und tippte mir mit einem Finger an mein Ohr. Sie nickte und schien zu verstehen. „Ist doch egal.“ flunkerte ich und zwinkerte ihr zu. „Aber warst du schon draußen? Der Wald ist fantastisch.“ Okay, das war ziemlich offensichtlich, aber hoffentlich würde er nichts merken und uns nicht folgen. Ich huschte schnell in mein Zimmer und zog mir meine Jacke an. Als ich wieder auf den Flur kam, sah ich gerade, wie Xan ebenfalls die Tür schloss. Wir gingen zusammen die Treppe hinunter und weil wir Fi oder Cannes nicht fanden, suchten wir Stefan in der Küche auf und sagten ihm, dass wir vor dem Essen noch einen Spaziergang unternehmen würden. „Ist gut. Ich werde den anderen Bescheid geben.“ Wir verließen das Haus schnell und schlugen den Weg in den Wald ein. Als ich fand, dass wir ausreichend Abstand zu dem Haus hatten, atmete ich tief ein. „Also, du hast gesehen wie ich und Stayr uns geküsst haben, richtig? Und du willst wissen wie lange das schon so geht? Hmm...“ Wie lange ging das denn schon mit uns? Keine Ahnung. „Das weiß ich selber gar nicht so genau. Ich kann dir noch nicht mal sagen, ob ich ihn mag!“ Ich schüttelte den Kopf und sah, dass sie die Brauen hochzog. „Er ist anders als alle die ich bisher getroffen habe. Und er ist so... so... vielseitig. Ich frage mich immer wieder, ob er der Mörder von der Clubnacht, der dumme und dämliche Vampir wie fast immer oder der gutaussehende und hinreißende Kerl von vorhin ist. Und ob ich in dieser Woche noch mehr Seiten von ihm kennenlernen werde. Ob ich das überhaupt will. Und dann als ich die Treppe hochgestürmt bin, um ihm mein Missgeschick zu verheimlichen, was natürlich schiefging, war er plötzlich da. Na ja, plötzlich ist gut - er ist immer da, wo ich bin. Das fängt echt an zu nerven. Aber vorhin hat er mir meine Hose weggenommen, sodass ich sie nicht runterbringen konnte. Er hat mich bedrängt und ich bin vor ihm geflohen. Hat nichts gebracht, immerhin ist er ein Vampir. Er schnappte mich und… nun ja den Rest kennst du ja.“ Ich ging ein paar Schritte weiter und blieb dann vor einem Baum stehen. Xan stellte sich neben mich und schaute mich an. Ich sah zu ihr und versuchte zu erraten, was sie dachte. „Nun ja, ich kenne ihn nicht wirklich gut, aber er scheint mir nicht den schlechtesten Eindruck zu machen. Es hat mich nur ein wenig überrascht euch knutschend zu erwischen. Du hast immerhin immer gesagt - und tust du immer noch -, dass er dich nervt und du dich nicht entscheiden kannst für wen du ihn halten willst, geschweige denn, ob du ihn überhaupt magst. Aber, was sich neckt das liebt sich, nicht?“ Sie kicherte. Ich fiel mit ein und wir beide standen so eine ganze Weile unter dem Baum. Da fiel mir wieder ein, warum sie uns so aufgelöst unterbrochen hatte. „Xan, du sagtest etwas von schlechten Neuigkeiten?“ Ich schaute sie an. „Ja. Ich habe schon mit Fi darüber gesprochen. Mein Chef hat mich angerufen und gesagt, dass ich mich in den nächsten Zug setzen und sofort zurück kommen soll, wenn ich meinen Job behalten will. Er könne mich nicht länger entbehren und bräuchte mich.“ Ich sah sie leicht verwirrt an. „Und wann kommt der nächste Zug?“ fragte ich sie. Ihr, und mir, war klar, dass wir zusammen wieder aus Sibirien abfahren würden. „Morgen. Um vierzehn Uhr.“ Ich nickte ihr ernst zu. Dann war morgen also unser kleiner Ausflug in dieses kalte Land vorbei. Fi würde hierbleiben und wir würden sie erst mal nicht wieder sehen. Und was wäre mit Stayr? Würde ich ihn wiedersehen? Nein. Ich mag ihn nicht!, beschloss ich kurzerhand und verbannte ihn und dieses komische Gefühl was ich bekam, als ich daran dachte ihn nicht mehr zu sehen und sah zurück zum Haus. „Komm, das Essen ist wohl bald fertig.“ Sie wusste, dass ich vom Thema ablenken wollte und ging darauf ein. „Du hast Recht. Ich bekomme auch langsam Hunger. Außerdem bin ich auf die nächste Begegnung von dir und ihm gespannt.“ Sie zwinkerte mir zu. Ich nickte leicht und schmunzelte. Ich war auch gespannt. Wir liefen zurück zum Haus und unterhielten uns über sinnloses Zeug. Als wir wieder im Haus waren, zog ich schnell meine kalte Jacke aus und stieg danach die Treppe zum Essenssaal hinab. Fi und Cannes saßen schon am Tisch. Sie sahen auf als wir reinkamen und grinsten uns an. Wir grinsten zurück und setzten uns gegenüber von den beiden. Nichts zeugte von der drückenden Stimmung wegen der bevorstehenden Abreise. Stayr kam gleichzeitig mit Stefan in den Saal. Und während Stefan mein Essen vor mir abstellte, zwinkerte Stayr mir zu. Er sah schon wirklich gut aus. Das graue Shirt was er trug, schmiegte sich an seinen Oberkörper und zeigte, dass dieser von Muskeln durchzogen war. Ich musste mich zwingen den Blick abzuwenden, denn mir war bewusst, dass nicht nur Xans Blick auf mir lag, sondern auch Fis und Cannes. Ich senkte meinen Blick auf mein Essen und fing an zu essen. Das Essen verlief still und ich verbot mir jeglichen Gedanken an Stayr, der mir gegenüber saß. Nachdem ich alles verspeist hatte, saß ich ruhig da und wartete, dass alle fertig gegessen hatten. Ich wollte diesen peinlichen Moment einfach nur vergessen, nach oben in mein Zimmer gehen, mich in das Bett kuscheln und an gar nichts mehr denken. Ich schaute nur kurz auf und sah, dass alle ihr Essen aufgegessen hatten, stand auf und stürmte fast aus dem Raum. Oben in meinem Zimmer schnappte ich mir meine Schlafsachen und schloss mich im Bad ein um zu duschen. Als ich sauber und abgeschrubbt war, zog ich mir meine Sachen an und ging zurück in das dunkle Zimmer. Ich schmiss meine Sachen zu meinem Koffer und setzte mich auf das Bett - die Decke bis zu den Schultern hochgezogen. Und wartete. Ich war nicht so beschränkt zu glauben, dass er mir eine freie Nacht lassen würde und lieber erwartete ich ihn, als das er mich wieder erschreckt. Und tatsächlich ging nach einer viertel Stunde meine Tür ein Stück auf und eine dunkle Gestalt huschte hinein. Sie wurde leise wieder geschlossen und der Raum wurde wieder ins Dunkle getaucht. Ich starrte angestrengt durch das Zimmer und versuchte etwas zu erkennen, doch vergebens. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und verdeckte somit das weißliche Licht, sodass ich nichts sehen konnte. Also wartete ich einfach wieder, bis ich spürte, dass sich die Matratze bei meinen Füßen absenkte, als er sich hinsetzte. Ich seufzte. „Willst du mir wieder gute Nacht sagen?“ fragte ich müde. „Oder willst du mir einfach nur so auf die Nerven gehen?“ Ich hatte längst bemerkt, dass es nichts brachte ihm zu sagen, dass in Ruhe gelassen werden wollte. Aber es bestand die Hoffnung, dass er redete und ich unbemerkt nebenbei einschlafen könnte. Dann wäre ich seinem Gequatsche entgangen. „Dir auf die Nerven gehen war nie meine Absicht gewesen. Ehrlich. Und ist es immer noch nicht.“ Ja klar. „Mhh-hmm.“ murmelte ich, rutschte tiefer und legte mich hin. Ich würde ohnehin bald einschlafen und im Sitzen war es mir zu unbequem. „Was hast du Xan erzählt, nachdem sie hier rein geplatzt ist?“ Ich öffnete die Augen und starrte in seine Richtung. „Das interessiert dich?“ fragte ich. Interessierte er sich wirklich dafür, wie ich von ihm vor meinen Freunden sprach, was ich von ihm hielt? „Warum nicht?“ murmelte er und stand auf. Doch gerade, als ich Hoffnung schöpfte, dass er vielleicht gegangen sei, senkte sich das Bett direkt neben mir und ich spürte, dass Stayr sich neben mich setzte. Ich hörte, wie er seine Beine ausstreckte und es sich bequem machte. Mir kam der Gedanke, dass ich ihm vielleicht von Xans und meiner morgigen Abreise erzählen sollte. Verdient hatte er es ja irgendwie schon und dann lieber von mir, als von jemandem anderen. „Stayr?“ fragte ich leise. „Ja?“ flüsterte er und ich bekam dabei eine Gänsehaut. „Du weißt, dass Xan und ich irgendwann wieder gehen werden?“ „Was ist das für eine Frage? Natürlich weiß ich das, aber darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist.“ murmelte er und ich konnte hören und spüren, wie er sich hinlegte. „Dann mach dir Gedanken. Wir werden nämlich morgen um vierzehn Uhr einen Zug zurück nach Deutschland nehmen.“ brachte ich heraus. Ich blieb still liegen und lauschte. Stayr sog scharf die Luft ein. „Morgen?“ flüsterte er schließlich. „Ja.“ Ich schloss die Augen und atmete ein. Ich konnte seinen Geruch riechen und prägte ihn mir ein. Wer weiß, ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Wieder war da dieses komische Gefühl. Wie lagen eine Weile still da, ohne etwas zusagen oder uns zu bewegen. Nichts warnte mich vor, als er sich als Erster doch bewegte und an mich ran rückte. „Was wird das?“ wollte ich wissen, doch ich bekam keine Antwort. Er rutschte weiter und lag schließlich neben mir. Die Wolke hatte sich verzogen und ich wagte einen Blick in sein Gesicht. Es war nur Zentimeter von meinem entfernt und wurde von dem Mondlicht erhellt. Ich konnte nicht wiederstehen, hob eine Hand unter der Decke hervor und strich ihm über das Gesicht. Über seine kantigen Wangenknochen, seine geschwungene Nase und seine weichen Lippen. Die ganze Zeit über sahen seine hellen, blauen Augen in meine. Die hellen Augen, die mir von Anfang an aufgefallen waren und immer alles zu sehen schienen. Ich ließ die Hand wieder sinken und legte sie an seine Brust. Dann war ich es, die an ihn rückte und mich an ihn kuschelte. Ich legte meinen Kopf unter sein Kinn und breitete die Decke über ihn aus. Dann schlang ich ihm meine Arme um die Taille und drückte ihn enger an mich. Er half mir, indem er mich auch umarmte und mich zu sich zog. „Du weißt, dass wir uns, nachdem ich mit in den Zug gesetzt habe, nie wieder sehen werden.“ sagte ich leise und hob meinen Kopf um ihm wieder in die Augen zu schauen. Er blickte auf mich hinab. Dann senkte er seine Lippen auf meine und küsste mich sanft. Ich küsste ihn zurück und als er sich löste, kuschelte ich mich wieder an ihn. „Ich weiß, Angel. Ich weiß.“ antwortete er und ich erkannte endlich das Gefühl, was ich die ganze Zeit schon hatte. Es war Trauer. Trauer darüber, ihn für immer zu verlieren.

Der nächste Morgen kam für meinen Geschmack viel zu schnell. Stayr war immer noch bei mir und umarmte mich. Allerdings schien er noch zu schlafen. Ich lugte über seine Schulter auf den Wecker. Es war schon viertel vor elf. Ich musste langsam meine Sachen packen. Ich seufzte und wollte mich von ihm lösen, um aufzustehen. Doch er zog mich nur noch enger an sich und schlief weiter. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Verdammt, ich hatte ihn wirklich gern. Ich küsste ihn auf die Wange und griff gleichzeitig nach seinen Armen und schob sie von mir weg. Dann rutschte ich von ihm weg und unter der warmen Decke hervor. Die Kälte umschlang mich jetzt anstatt seiner starken Arme. Aber es nutzte nichts und ich stand auf. Leise, um ihn nicht aufzuwecken, ging ich zu meinem Koffer hinüber und stopfte meine Sachen von gestern Abend hinein. Ich hatte während des kurzen Aufenthalts aus dem Koffer gelebt und musste jetzt nicht groß alles wieder einpacken. Ein paar Sachen schnappte ich mir und ging ins Bad. Ich schloss wieder hinter mir ab und duschte mich schnell, zog mich um und putzte mir hastig die Zähne. Als ich mich im Spiegel betrachtete, um mir die Haare zu kämmen, sah ich jemanden den ich fast nicht kannte. Klar, sie sah genauso aus wie ich, aber die im Spiegel war jemand anderes geworden. Jemand, der von der Existenz der Werwesen und Vampiren wusste, die eine Freundin als Vampir hatte. Und die einen Vampir verlassen musste, den sie mittlerweile sehr gerne hatte. Ich lächelte. Ja ich hatte ihn gerne. Ich mochte ihn. Doch das Lächeln verschwand schnell wieder, im Angesicht der Situation. Ich stopfte meine Sachen aus dem Bad in meine Kulturtasche, schnappte mir meine Schlafsachen und schloss leise wieder auf. Dann huschte ich auf Zehenspitzen zu meinem Koffer und stopfte die Sachen auch noch irgendwie darein. Dann stellte ich ihn an die Tür und drehte mich zu Stayr um. Er war wach und saß am Bettrand. Er hatte immer noch das graue Shirt an und eine schwarze Sporthose. Er sah zum Anbeißen aus. Ich lächelte ihn traurig an. „Du willst gehen, ohne dich zu verabschieden?“ fragte er und sah mich mit einer hochgezogenen Braue an. Kein Lächeln zierte sein Gesicht. Ich schaute kurz auf den Boden, dann wieder zu ihm. „Wir haben es doch gleich erst zwölf. Ich wollte nur meinen Koffer runterbringen und gucken ob ich meine Hose von gestern finde.“ „Gleich erst zwölf?“ Er stand auf. „Wir brauchen zirka eine halbe Stunde zum Bahnhof und der Zug fährt gegen zwei, also müsst ihr schon früher da sein. Das bedeutet, dass wir um eins losmüssen. Und wenn du noch deine Hose suchst, den Koffer runterschleppst und dich von Fi und Cannes verabschiedest haben wir es halb eins. Wir haben nur noch eine halbe Stunde.“ Er hatte Recht, daran habe ich nicht gedacht. Ich nickte leicht und sah ihn an. Ich würde ihn vermissen. Und wahrscheinlich nie vergessen können. Verdammt, wie hatte er es nur geschafft mir so unter die Haut zu gehen? Er blieb stehen und schien zu warten. Er ließ mir zum ersten Mal die Wahl. Ob ich zu ihm gehe und ihm zeige, dass er mir etwas bedeutet oder ob ich meinen Koffer schnappte und ihn mit einem gemurmelten ‚Tschüss‘ für immer aus meinem Leben verbannte. Die logische Möglichkeit wäre Nummer zwei. Ich würde ihn vielleicht schneller vergessen können, wenn ich ihn stehen lassen könnte. Aber das wollte ich nicht. Ich seufzte und ging auf ihn zu. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ob er gewusst hätte, dass ich mich so entscheiden würde. Ich ließ mich von ihm umarmen und schlang ihm auch meine Arme um die Taille. Dämlicher Vampir. Was hatte ich mir nur da eingehandelt? Ich sah zu ihm hoch. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte hierbleiben. Das ließ mich zurückschrecken. Wie lange würde das denn noch zwischen uns so gehen? Klar, im Moment war es der Reiz des Neuen, der Jagd, aber wenn wir beide das hatten was wir wollten, würde es dann immer noch so sein? Ich glaubte nicht. Ich würde mich anderen Dingen zuwenden und er auch. Also beendeten wir es lieber jetzt, oder? Und lieber behalte ich ihn so in Erinnerung, als einen von vielen. Ich schüttelte den Kopf. Es war schon ganz gut, dass ich ging. Ich lächelte wieder leicht. Er lächelte zurück. Doch eines wollte ich noch. „Küss mich noch einmal Stayr.“ flüsterte ich. Er sah mir in die Augen, dann senkte er seinen Kopf und küsste mich. Ich versuchte mir alles einzuprägen. Seinen Geruch, das Gefühl von seinem Körper an meinem, seinem Mund auf meinem und seinen Händen auf meinem Rücken. Als wir uns voneinander lösten, drückte er mich noch einen kurzen Kuss auf die Stirn und ließ mich dann los. „Ich werde dich nie vergessen, Angel.“ murmelte er. ‚Sag niemals nie‘, dachte ich und kräuselte meine Lippen zu einem abstraktem Lächeln. „Ich dich auch nicht, Stayr.“ Ich lächelte ihn wieder an und drehte mich zu meinem Koffer um. Öffnete die Tür, schleppte ihn hinaus und ließ den Vampir alleine im Raum zurück. Als ich es endlich geschafft hatte, meinen schweren Koffer die Treppe hinunter zu hieven, stellte ich ihn neben der riesigen Eingangstür ab. Dann machte ich mich auf die Suche nach Stefan, dem ich gestern meine Hose gegeben hatte. Er hatte sie schon gewaschen und getrocknet und gab sie mir ordentlich zusammengelegt zurück. „Danke Stefan. Sie sind ein netter Mann. Ich werde sie und ihr Essen sehr vermissen.“ sagte ich, grinste ihn an und reichte ihm die Hand. „Dankeschön. Ich weiß das sehr zu schätzen und würde es begrüßen, sie bald wieder hier zu empfangen.“ Er schüttelte meine Hand. Danach verließ ich den Saal und machte mich auf die Suche nach Xan. Ich fand sie in ihrem Zimmer, die restlichen Klamotten zusammenpackend. Ich blieb an der Tür stehen und klopfte. „Kann ich reinkommen?“ fragte ich sie und grinste sie an, als sie aufsah. „Klar.“ Ich setzte mich auf das Bett und sah zu, wie sie versuchte ihren ebenso vollen Koffer zu zuzerren. Nach ungefähr fünf Minuten Ziehen und Zerren schaffte sie es. Dann sah sie mich leicht fragend an. Ich wusste worauf sie hinauswollte und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht. Wir konnten später reden und ich wollte nicht, dass sie sich zu viele Gedanken macht. Sie nickte und schob ihren Koffer aus der Tür. Ich folgte ihr und half ihr an der Treppe. Schließlich schafften wir es und sie stellte ihn neben meinen. Als wir uns umdrehten, sah ich Fi und Cannes, die gerade aus dem Saal kamen. Fi machte ein bedrücktes Gesicht. Sie wollte ebenfalls nicht, dass wir schon gingen. Cannes sah auf seine Uhr. „Fertig?“ fragte er in leisem Tonfall. Ich nickte. Wir schnappten unsere Koffer und Fi öffnete uns die Tür. Ich warf noch einen letzten Blick zur Treppe, in der Hoffnung Stayr dort zu sehen, doch sie war leer. Er war nicht mehr gekommen, um uns zu verabschieden. Ich senkte den Blick und folgte Xan aus der Tür. Wir verstauten unsere Koffer im Auto und setzten uns nach hinten. Die Fahrt über schwiegen wir. Ich dachte daran, wie wir vor drei Tagen dieselbe Strecke gefahren waren. Als ich noch nichts wusste und immer noch an den leichtsinnigen Mörder dachte. Als ich noch nichts über ihn wusste und mich einfach nur auf eine Woche mit meinen Freundinnen freute. Wie sich doch alles innerhalb von ein paar Tagen verändern konnte. Und Zuhause wartete mein normales Leben darauf, dass ich zurückkam und alles wieder so ist wie vorher. Nur, konnte ich das? Mir war klar, dass ich ihn am Anfang bestimmt vermissen würde, aber würde sich das irgendwann legen? Ich hoffte es, denn was bringt es mir, auf jemanden zu warten, denn ich nie wieder sehen würde? Nein, ich würde mich halt anstrengen müssen. Was bisher ja auch super geklappt hatte. Wir fuhren auf den Parkplatz des Bahnhofes und stiegen aus. Xan und ich zogen unsere Koffer aus dem Gepäckraum und schleiften ihn in das große Gebäude. Eine große Uhr zeigte, dass es gleich zwanzig vor zwei war. Der Zug war offen und man konnte schon hinein gehen. Unschlüssig blieb ich stehen und drehte mich zu meiner Freundin und ihrem Freund um. Xan tat dasselbe und ging auf Fi zu, um sie zu umarmen. Sie murmelten Abschiedsworte. Ich ging derweil auf Cannes zu und reicht ihm meine Hand. „Es war schön, dich kennenzulernen und ich bedanke mich für die nette Unterkunft. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder.“ sagte ich. „Es war mir eine Ehre, Angel. Und ich hoffe auch, dass ihr uns mal wieder besuchen kommt.“ Er drückte meine Hand. Dann wandte er sich an Xan und ich ging um sie herum zu Fi. Sie schaute mich an. Ich lächelte sie an. „Es ist ja kein Abschied für immer.“ sagte ich leise und schloss sie in meine Arme. „Ja. Aber trotzdem muss ich mich erst mal daran gewöhnen, dass ich nicht eine viertel Stunde von euch entfernt wohne, sondern eine halbe Weltreise zwischen uns liegt.“ Ich nickte, daran musste ich mich doch auch gewöhnen. „Ich hab dich lieb du kleine, verrückte Vampirin.“ murmelte ich in ihr Haar. Sie löste sich aus der Umarmung und hatte auch ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Ich dich auch. Und jetzt husch, ihr müsst in den Zug.“ sagte sie und scheuchte mich. Xan hatte sich schon ihren Koffer geschnappt und wartete auf mich. Ich schaute noch einmal zu den beiden zurück und ging dann auch. Wir schleppten unsere Koffer in den Zug. Dann suchten wir uns ein Abteil. Als wir eines fanden, was exakt wie das von der Anreise aus sah, packten wir unsere Koffer wieder in die Ecke. Wir stellten uns an ein Fenster, die sich über die gesamte eine Seite des Zuges zogen und winkten Fi und Cannes. So standen wir, bis der Zug sich langsam in Gang setzte und sie aus unserem Blickfeld verschwanden. Ich seufzte. Wir gingen in schweigend in unser Abteil zurück und setzten uns auf das untere Bett. „Wir werden so schnell nicht wieder kommen.“ sagte Xan. Ich sah auf meine Hände hinunter und nickte. „Ich weiß.“ Sie schaute zu mir rüber. „Tut mir leid, mit der vorgezogenen Abreise.“ murmelte sie. „Ach, passt schon, wir hätten so oder so irgendwann wieder abreisen müssen.“ Ich holte Luft und verdrängte sie Gedanken an Stayr, die bei der Erwähnung der vorzeitigen Abreise hochkamen. Das konnte ich jetzt echt nicht gebrauchen. Er hat mir gezeigt, dass er damit abschließen konnte, indem er gar nicht mehr runtergekommen war, also konnte ich das doch auch! „Warum gehen wir nicht etwas essen?“ fragte Xan, als ob sie wüsste, woran ich dachte. Oder woran ich nicht denken wollte. „Ja, klar.“ Eine willkommene Ablenkung von dem Vampir, den ich gerade hinter mir lassen wollte und zwar mit möglichst vielen Kilometern. Hoffentlich konnte ich meine Gedanken und Gefühle auch hier lassen, dachte ich und schloss die Tür des Abteils.

Ich konnte ihn einfach nicht vergessen! Es ging einfach nicht! Wir waren jetzt schon knapp über eine Woche wieder in Deutschland und so gerne ich ihn endlich aus meinen Gedanken verbannen würde, es klappte einfach nicht! Ständig machte ich mich darauf gefasst, dass er auftauchte, wie er es in Sibirien getan hatte. Doch er war nicht da. Ich versuchte ehrlich nicht mehr so oft an ihn zu denken, wie ich es vorgehabt hatte, aber ich schaffte es einfach nicht! Das war doch unglaublich. Xan wusste nichts davon, sie dachte, er wäre nur eine kurze Sache gewesen, wie die Anderen vor ihm. Wenn es doch nur so wäre! Ich klickte mich gerade durch die Lieferservices, um etwas zu Essen zu finden. Ich konnte echt nicht kochen und wenn es einem geliefert wird, war diese Möglichkeit doch viel einfacher. Als ich endlich einen Vielversprechenden gefunden hatte, bestellte ich mir eine Margherita mit extra viel Käse. Während ich auf mein Abendessen wartete, suchte ich in meinem Regal beim Fernseher nach einem Film, den ich mir heute Abend reinziehen konnte. Schlussendlich entschied ich mich für einen Actionfilm. Ich brauchte jetzt nichts Kitschiges und Gruselfilme mochte ich schon gar nicht. Pünktlich zwanzig Minuten später klingelte es und ich bezahlte meine Pizza. Sie roch himmlisch. Ich zog mir schnell meine unbequemen Jeans aus und eine Jogginghose an. Auch meine Socken zog ich aus und warf sie in die Waschmaschine. Ich liebte es Barfuß zu laufen. Dann schnappte ich mir meine Pizza und setzte mich in meinen alten Sessel und schaltete den Film ein. Ehrlich gesagt bekam ich nicht viel mit, da mich der Arbeitstag heute doch schon geschafft hatte. Ich schlang mein Essen hinunter und schmiss den Karton weg. Eine Weile setzte ich mich noch vor den Film, aber schließlich machte ich ihn dann doch früher aus. Ich zog mich um, stellte den Wecker aus - morgen war endlich Samstag - und legte mich in mein Bett. Die Momente, wenn ich alleine war und nichts zu tun hatte, waren besonders schlimm. Denn nichts lenkte mich dann noch von Stayr ab. Ich dachte wieder an jene Nächte in Russland zurück. In denen er immer zu mir gekommen war und an die letzte Nacht, die wir zusammen verbracht hatten. Und immer wenn ich daran dachte, dachte ich auch an unseren letzten Kuss, das letzte Mal das ich ihn gesehen hatte. Wie enttäuscht und traurig ich war, dass er nicht mehr runtergekommen war um mir Auf Wiedersehen zu sagen. Andererseits war das auch eine kluge Tat seinerseits gewesen, denn wenn er uns doch verabschiedet hätte, hätten die Anderen etwas gemerkt. Ich hätte es nicht verhindern können und ihm zumindest einen Blick zugeworfen, der mich verraten hätte. Doch alle Logik konnte trotzdem das Gefühl des Verlusts nicht verdrängen. Das konnte ich echt nicht gebrauchen. Ich musste mich irgendwie ablenken und ich hatte da auch schon eine Idee. Im Dunkeln tastete ich auf meinem Nachttisch herum, um mein Telefon zu finden. Ich fühlte Tasten und ein Display unter meinen Fingern und begann Xans Nummer zu wählen. „Hey Angel. Was ist? Warum rufst so spät an?“ fragte sie. „Wie wäre es, wenn wir morgen mal wieder feiern gehen? Ich muss mal wieder raus.“ Ja, ich glaube es war die richtige Entscheidung. Ich hoffte es. „Klar. Treffen wir uns wie üblich? Selbe Zeit, selber Ort?“ „Ja. Ich freu mich. Bis dann und schlaf gut.“ Ich lächelte. „Du auch. Bis morgen.“ antwortete sie und legte auf. Und wie jeden Abend, seit meiner Ankunft, drehte ich mich auf die Seite, schloss die Augen und redete mir ein, dass Stayr nicht in mein Zimmer kommen würde, er nicht hier war und mich nicht nerven würde. Wobei ich mich nicht entscheiden konnte, ob das Letztere so schlecht war, wie ich es immer gesagt hatte. Ich wäre es gerne eingegangen, wenn sich dafür die anderen beiden Punkte auch bewahrheiten würden. Ich begann in Gedanken zu zählen und mich vollkommen darauf zu konzentrieren, um mich von ihm abzulenken. Und tatsächlich schaffte ich es nach einiger Zeit einzuschlafen.

Es war alles genau wie letztes Mal, nur das dieses Mal kein gutaussehender Vampir da war, den ich ansprechen konnte. Aber trotzdem versuchte ich mich zu amüsieren. Ich trank, tanzte und hatte dennoch einen schönen Abend mit Xan. Als wir schließlich gegen fünf Uhr morgens den Club todmüde und fast schon wieder ausgenüchtert den Weg nach Hause antraten, merkte ich, dass ich endlich mal mindestens sieben Stunden am Stück glücklich gewesen war. Ohne irgendwelche depressiven Gedanken an Stayr. Wir stiegen beide in unsere Autos. Xan hupte mir noch einmal zu, bevor sie nach links abbog und ich geradeaus weiterfuhr. Ich hatte immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht. Das würde ich mir auch nicht nehmen lassen, bis mein betrunkener und benebelter Verstand wieder anfing mich zu foltern. Ich schaltete das Radio an und sang das Lied mit, um mich bei Laune zu halten. Und wach. Meine Lider wurden immer schwerer und wollten immer öfter runterfallen. Doch plötzlich riss ich sie auf und das Lenkrad herum. Auf der Straße war ein Schatten und obwohl ich wusste, dass es dumm und tödlich leichtsinnig ist, dass Lenkrad völlig unkoordiniert herumzureißen, tat ich es aus einem Reflex. Im nächsten Moment wurde ich aus meinem Sitz katapultiert und in meinen Airbag geschleudert. Das tat ganz schön weh, war aber immer noch die bessere Option. Ich hätte auch durch das Fenster fliegen, mir alles an den Glasscherben auffetzen und schließlich mir alle Knochen brechen können. Wenn ich es überhaupt überlebt hätte. Dagegen klang der Airbag ganz verlockend. Ich wollte mich aufrappeln, doch da wurde meine Tür aufgerissen. Ein netter Helfer? Unsanft wurde ich am Arm gefasst, aus dem Autowrack gezogen und über die Straße geschleift. Was ging hier vor? Ich öffnete ein geschwollenes Auge und sah mein Auto mit Totalschaden. Es war frontal gegen die Leitplanke gefahren und hatte eine schöne und große Delle hinterlassen. Mein zweiter Blick galt mir und meinem Körper. Es schien mir soweit ganz gut zu gehen, keine unnatürlich verdrehten Glieder, keine sich langsam ausbreitende Blutlache, nur den Geschmack von Blut hatte ich ihm Mund. Wahrscheinlich von meinem Knutscher mit dem weißen Ballon. Erleichtert schloss ich die Augen. Mir ging es gut, der Rest ließ sich einrenken. Ich musste jetzt nur noch nach Hause kommen. Irgendwie. Meine Gedanken wurden von einem Schnüffeln unterbrochen, dass von direkt über mir herkam. Der Schatten! Bestimmt nur ein Tier. Ein Reh oder so. Wenn ich jetzt ganz ruhig liegen bleibe und es nicht erschrecke wird es gleich wieder gehen. Das Schnüffeln kam näher und ich spürte es direkt neben meinem Gesicht. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich ein Tier war. Kein Tier, dass hier in unseren Wäldern lebte, war so groß, dass es so tief atmete. Verdammt, was war das? Mit einiger Überwindung machte ich meine Augen wieder ein Spalt breit auf. Vor meinem Gesicht beugte sich ein riesiges Wesen, kein Tier. Erschrocken riss ich meine Augen ganz auf, als mein Blick auf die vielen Reißzähne fiel. Ich drückte meine Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Das hätte ich nicht tun sollen. Das Wesen knurrte und zwei krallenbesetzte Pranken erschienen in meinem Blickfeld. Oh Scheiße. Ich fühlte, wie die sich um meinen Körper schoben und mich hochhoben. Ich versuchte mich loszureißen, auf die Gefahr hin auf den Boden zu fallen, aber stattdessen bohrten sich diese heimtückischen Krallen in meinen Rücken und rissen ihn bei jeder meiner Bewegungen ein Stück weiter auf. Dennoch versuchte ich es weiter, bis ich dann doch mit einem Keuchen aufgab. Nachdem wir uns ein Stück von dem Unfallort entfernt hatten, drückte es mich an sich. Und während ich versuchte dieses ekelhafte Fell zu vergessen, spürte ich das die Ohnmacht nahte. Ich wusste nicht, ob es die bloße Angst vor dem Monster oder ob ich mir bei dem Unfall doch schlimmere Verletzungen zugezogen hatte. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Die dunkle Umgebung verschwand und flog an uns vorbei. Rannte es etwa? Wie konnte es so schnell sein? Und was war es? Doch dann fiel mir die Unterhaltung mit Fi ein, am ersten Abend in Sibirien: Stand da so ein pelziges Ding ... Cannes erklärte mir später, dass es sich um ein Werwesen handle. Götter, das war wirklich ein Werwesen. Und Fi hatte nicht gerade in den höchsten Tönen von ihnen geprahlt. Mit ein wenig Pech würde ich mein Auto, meine Wohnung, Xan und alle anderen nie wiedersehen. Und Stayr. Allerdings hatte ich mich nun schon so oft damit abgefunden, ihn nie mehr wieder zu sehen, dass es jetzt nicht mehr so schlimm war, wie ich angenommen hatte. Er würde es vielleicht irgendwann erfahren, wenn Xan es Fi erzählte, die es Cannes sagte und wenn Stayr dann mal zu Besuch kommen würde, würde es vielleicht zur Sprache kommen, da alle bestimmt immer noch glaubten wir hätten nur eine kleine, unbedeutende Affäre gehabt. Ich wusste ja noch nicht mal selber was wir hatten und was nicht. Und dann wäre es schon zu spät und ich wäre schon lange kalt und tot. Ich merkte, dass ich die Augen zugekniffen hatte und öffnete sie. Wir rasten jetzt durch einen Wald und die Bäume rauschten erschreckend nah an uns vorbei. Das war zu viel. Ich war ohnehin todmüde, betrunken, fast ausgeblutet und hatte einen Unfall hinter mir. Das forderte nun ihren Tribut und ich ließ mich von der schmerzfreien und beruhigenden Dunkelheit der Ohnmacht umfangen.

Ich wachte von dem unbequemen Gefühl auf schon eine längere Zeit im Sitzen zu schlafen. Mein Hals und mein Rücken taten weh und mein Arsch schlief auch schon fast. Bestimmt war ich mal wieder nach der Arbeit auf meinem Küchenstuhl eingeschlafen. Wenn ich die Augen öffne, sehe ich wahrscheinlich meinen Teller, den ich nach meinem Abendessen abwaschen musste, die Uhr, die anzeigte, dass es viel zu spät war und das helle Licht würde mir in den Augen brennen. Doch da war kein Licht, was durch meine Lider schien. Es war dunkel. Hatte ich das Licht ausgelassen? Ich öffnete die Augen und stellte fest, dass ich nicht auf einem Stuhl saß und keinen Teller vor mir hatte. Und ich war auch nicht in meiner Küche. Nein, der Raum in dem ich saß ähnelte eher einem Keller. Es war dunkel, kalt und die Luft roch ein wenig modrig. Mit einem Mal fiel mir ein, was passiert war. Der Unfall, das Werwesen. Ich fluchte und versuchte mich auszusetzen. Ein Schmerz fuhr durch meinen Rücken und mit einem schmerzerfüllten Aufstöhnen sackte ich wieder gegen die kalte Wand. Scheiße. Ich erinnerte mich wieder daran, dass das Werwesen bei der Flucht die Krallen in den Rücken geschlagen hatte. Ich schloss die Augen und verdrängte den Schmerz. Dann stemmte ich mich ganz langsam auf die Hände und drückte mich sacht vom Boden hoch. Meine Beine drohten unter mir nachzugeben und ich stütze mich an dem kalten, nassen Beton der glatten Wand ab. dann ging ich einen Schritt nach dem anderen, um mich wenigstens ein wenig zu orientieren. Ich tastete mich die gesamte Wand schmerzhaft langsam entlang, da mir mein Rücken echt Probleme machte. Als ich nach gefühlten Stunden glaubte wieder am Anfang zu sein, hatte ich am oberen Ende eine robuste Holztür und ein zugenageltes Fenster gefunden. Das erklärte, warum hier kein Licht gab. Ich ließ mich wieder gegen die Wand sinken, auf den Boden. Ebenfalls ganz vorsichtig. Meine Gedanken kehrten wieder zu dem Wesen zurück was mich hier offensichtlich gefangen hielt. Was wollte es von mir? Ich hatte nie einem der ihren Leid zugefügt. Mir fiel wieder mein kurzer Aufenthalt in Sibirien ein. War es, weil ich mit Vampiren in Berührung gekommen bin? Glaubte er, dass er so an sie herankommen kann? Oder hat mich einfach nur entführt, weil ich eine leichte Beute war? Schließlich war ich alleine im Dunkeln unterwegs gewesen. Betrunken. Sehr leichtsinnig. Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass mir spät nachts, oder früh morgens, je nachdem wie man es sah, ein Monster auflauert. Aber was wäre, wenn er mich als Geisel hier festhielt, um eine Versicherung zu haben, dass Fi, Cannes oder Stayr kamen, um mich zu holen? Damit er sie dann hier unten einsperren konnte, wenn er sie nicht gleich umbrachte? Wenn ich dafür freikommen würde, würde ich dafür meine Freunde verraten? Sie hier zurücklassen? Nein, würde ich nicht. Adrenalin fuhr durch meinen Körper. Ich würde dem Ding nicht sagen, wo sie waren. Zumindest nicht freiwillig, denn wenn dieses Ding den Strahle-blick auch draufhatte, konnte ich nichts machen. Ein wenig gestärkt durch mein waghalsiges Vorhaben huschte ein kleines Lächeln über mein Gesicht. Und wenn es das Letzte sein würde, was ich tun würde, ich würde meine Freunde beschützen. Erschöpft ließ ich mich wieder gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Die Wunde an meinem Rücken war nicht tief - sonst hätte ich nicht laufen können und wäre vielleicht gar nicht mehr aufgewacht -, aber dennoch hat sie Blut gefordert, jenes Blut, dass jetzt dafür sorgte, dass mir mein Bewusstsein wieder zu entgleiten drohte. Ich versuchte hartnäckig wach zu bleiben um nicht auch noch die letzte Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Aber es wurde immer schwerer. Warum konnte ich denn nicht schlafen? Dort würde es keinen Schmerz geben, kein gruseliges, pelziges und krallenbesetztes Monster und keine dunklen Kellerräume. Aber wer weiß, was es mit mir machen würde, wenn ich schlafe? Dieser Gedanken sorgte dafür, dass ich meine Augen wieder aufriss. Genau in dem Moment wurde ein Schlüssel in der Tür herumgedreht und ein Spalt aufgeschoben. Es war nur ein kleiner Streifen, aber meine Augen hatten sich schon so an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich sie zusammenkniff. Deswegen sah ich auch nur einen Schatten, der auf mich zukam und mich dann am Arm hochzerrte. Der Schmerz der dieses Mal durch meinen Rücken zuckte, war fast zu viel. Ich schrie kurz auf und sackte an dem Schatten zusammen. Keuchend holte ich Luft und versuchte wieder den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen. Doch der Schatten, der übrigens nicht mit diesem ekelhaften Pelz überzogen war und dessen Hände auch keine Krallen hatten, riss mich unsanft von sich und murmelte etwas. Dann zog er mich durch den Raum, durch die Tür und einen Gang entlang, der nur von ein paar Neonleuchtröhren alle paar Meter erhellt wurde. Nach ungefähr fünf Minuten schweiglosem Laufens, dass nur von meinem schmerzvollem Keuchen unterbrochen wurde, konnte ich endlich wieder richtig gucken, ohne die Augen zuzukneifen. Die Wände waren grau und hatten teilweise Risse. Ebenso der Boden. Anscheinend waren wir wirklich irgendwo unter der Erde, wie ich schon von dem dunklen Raum vermutet hatte. Die ganze Zeit über zog der Unbekannte, der tatsächlich menschlich war, mich durch die Gänge und achtete nicht auf mich oder wie ich mich bei fast jedem zweiten Schritt vor Schmerz qualvoll wand. Lange würde ich das nicht mehr aushalten und dann würde er mich wohl tragen müssen. Oder hinter sich her schleifen. Ich konnte einfach nur hoffen, dass er jetzt keine Wanderungen mit mir machen wollte, sondern das wir bald unser Ziel erreicht hatten. Die ganze Zeit waren dieselben robusten Holztüren von dem Gang abgegangen, doch wir waren durch keine von ihnen gegangen. Ich fragte mich, was dahinter lag. Noch mehr Gefangene? Oder war das so was wir ihr Hauptquartier und waren dahinter die Räume der anderen Monster? Oder waren es gar keine Gruppen, sondern einzelne Werwesen? Mist, ich hätte Fi danach fragen sollen, als sich die Gelegenheit bot. Denn vielleicht konnte ich mit ganz viel Glück mit einem fertig werden, wenn dann aber weitere zehn Wesen auf mich losgingen, hatte der eine nicht viel gebracht, außer ihren Zorn noch zu steigern. Wenn es allerdings nur Einer war, musste ich ihn und den Menschen neben mir nur irgendwie tot kriegen und dann noch einen Weg aus diesem Labyrinth finden. Völlig in Gedanken versunken bemerkte ich gar nicht, dass wir mittlerweile vor einer Tür angehalten hatten und der Mensch neben mir an seinem Schlüsselbund kramte. Ich warf einen Blick auf ihn. Er war ein Mann, mit kurzen blonden Haaren, die vereinzelt strähnig von seinem Kopf abstanden. Er hatte einen Drei-Tage-Bart, der an ihm eher verwahrlost als sexy aussah und seine kleinen Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Alles in allem war er einer, dem ich nie meine Aufmerksamkeit geschenkt hätte und vollkommen ignoriert hätte. Wenn er mich nicht soeben gefühlte Stunden durch ein vermutlich unterirdisches Labyrinth gezerrt hätte. Er fand den passenden Schlüssel und schloss auf. Dahinter kam ein riesiger - und heller - Raum zum Vorschein. Er war mit Sesseln, Tischen und allen anderen Dingen ausgestattet, die ich hier unten niemals erwartet hätte. Der Mann führte mich an all den Annehmlichkeiten vorbei, durch den Raum und auf eine Tür zu. Die Andere hinter uns war zugefallen und obwohl sie nicht abgeschlossen war, veranschaulichte sie meine niedrigen Fluchtchancen. Die Tür vor uns war aus feiner geschliffenem Holz. Diese war jedoch nicht verschlossen und wir konnte so hindurch gehen. Der Raum dahinter sah eher so aus wie einer, den ich hier unten erwartet hätte. Mir lief es kalt den Rücken hinunter und ich musste schaudern. Rechts von mir stand ein Stuhl, an deren Armlehnen und Beine Stahlseile waren, wahrscheinlich um jemanden zu fesseln. Ach halt, nicht jemanden. Mich. Auf der anderen Seite war eine Art Regal, vollgestopft mit allen möglichen Messern, spitzen Gegenständen und anderen Dingen, die ich nicht kannte, aber eindeutig als Folterinstrumente einordnete. Na ganz toll. „Du kannst wieder gehen.“ ertönte eine unangenehm tiefe und kratzige Stimme. Der Mann verließ den Raum wieder und ließ uns alleine. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Da ich dem Mann hinterher geguckte hatte, war mir nicht aufgefallen, wie das Monster - Werwesen - aus dem Schatten getreten ist. Ich wollte mich aufrichten, um ihm wenigstens einigermaßen in die Augen sehen zu können, fuhr aber sofort zurück, weil mein Rücken schmerzhaft aufbegehrte. „Schmerzen?“ fragte es und kam weiter auf mich zu. Ich biss die Zähne zusammen, um ihm nicht zu antworten und nickte einfach nur. Trotziges Verhalten brachte mich jetzt auch nicht weiter. Ich warf einen Blick auf das Gesicht des Werwesen und sah ein Lächeln. Wenn man es als solches bezeichnen kann. Dann stand es direkt neben mir und bevor ich zusammenzucken oder sonst wie reagieren konnte, packte es mich am Arm und beugte sich zu meinem Ohr hinunter. „Das ist noch gar nichts.“ flüsterte es. Dann zerrte es mich zu dem gruseligen Stuhl, schmiss mich fast darauf und während ich noch keuchte, schnallte es mich schon fest. Ich bemerkte es zu spät und all meine Reißen und Zerren brachte nichts mehr. Ich saß in der Falle. Als meine beiden Arme und Beine festwaren, schritt es einen Schritt zurück und betrachtete mich und mein hilfloses Winden. „Oh ja, das wird einen Spaß machen.“ murmelte es und lachte. Rau, kratzig und es ähnelte eher einem Bellen. Dann drehte es sich um, zu dem Regal und betrachtete es nachdenklich. Schließlich entschied es sich für eines der längeren Messer und drehte sich wieder zu mir um. Ein schauriges Grinsen ließ ihn noch gruseliger wirken und mein Herz schlug mir in heller Panik gegen die Brust. Langsam kam es auf mich zu und beugte sich ein wenig über mich. Dann setzte es das Messer an mein Dekolleté, zog es hinunter und hinterließ einen Pfad aus Blut. Ich ächzte, doch mein Rücken machte mir im Moment schlimmere Probleme. Das Blut perlte auf mein Oberteil und das Kleidungsstück sog sich voll. Ich sah zu, wie der dunkelrote Fleck immer größer wurde. Na toll, das würde ich nie wieder rauskriegen. Meine sinnlosen und vollkommen bescheuerten Gedanken überraschten mich so sehr, dass ich für einen Moment den Augenblick vergaß. Deshalb bemerkte ich auch nicht, dass das Werwesen das Messer nun an mein Bein hielt und es langsam durch die Haut in meinen Oberschenkel stieß. Ich wand mich und zerrte unbewusst wieder an den Fesseln, doch die gaben nicht nach. Als das Messer ungefähr zwei Zentimeter in meinem Bein steckte und ich es ängstlich beäugte, zog es es nach unten. Ich konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und stöhnte, als es es bis knapp übers Knie zog. Dann drückte er nochmal kurz zu und zog es dann wieder hinaus. Er schaute auf mich hinunter, als wäre ich ein Kleidungsstück, bei dem er sich nicht entscheiden konnte, ob er es jetzt anziehen oder liegenlassen sollte. „Ich glaube das reicht jetzt erst mal, ich will ja nicht, dass du mir verblutest, nicht? Dann wäre der ganze Spaß doch schon vorbei.“ sagte es, bellte wieder und verließ den Raum, aber nicht ohne das Messer an meinen Klamotten sauber zu wischen und es dann wieder zurückzulegen. Ich sackte in mich zusammen und schnaufte. Die Wunde in meinem Bein blutete stärker als die auf meiner Brust und kostete mich noch mehr Kraft, die ich eigentlich gut gebrauchen konnte. Erschöpft und todmüde schloss ich die Augen. Meine Gedanken kehrten zu Stayr und meinen Besuch in Sibirien zurück, ich brauchte jetzt ein wenig Ablenkung und er kam mir jetzt wie gerufen. Ich dachte daran, wie er sich am ersten Abend bei mir entschuldigt hatte, wie er dann am nächsten Tag im Saal saß und gelesen hatte und ich ihn angeschrien hatte, warum er immer da war wo ich bin. Im Wald, wo er dann auch aufgetaucht war, um sich zu vergewissern, dass ich mich nicht verlaufen hatte. Er war immer da wo ich war. Wahrscheinlich wusste er auch, dass ich in der Stadt war. Ich hatte ihm zumindest so viel bedeutet, dass er sich diese Mühe gemacht hatte. Er war jede Nacht zu mir gekommen. Er wollte mich nie ärgern oder mir auf die Nerven gehen, hatte er gesagt. Er hatte nur in meiner Nähe sein wollen. Und trotz der aussichtslosen Lage schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Wenn ich dadurch ihn retten oder zumindest einen kleinen Teil Leid von ihm abwenden konnte, war ich bereit es durchzustehen. Für ihn. Entschlossen öffnete ich wieder die Augen. Die Wunde auf meinem Bein blutete nicht mehr so stark und die auf meiner Brust hatte ganz aufgehört. Und wenn ich still saß, sank der Schmerz in meinem Rücken zu einem dumpfen Pochen ab. Das war doch schon mal etwas. Aber trotzdem. Er hatte gesagt, er wollte länger etwas von mir haben. Ich hoffte ich würde es durchstehen, ich hatte eher damit gerechnet, dass ich irgendwann einfach sterben würde und somit erlöst wäre. Tja, anscheinend falsch gehofft. Die Tür ging auf warf einen Lichtstrahl in den Raum. Dahinter konnte ich den prunkvollen Raum wiedererkennen, der im grotesken Gegensatz zu diesem hier stand. Der Mann von vorhin kam herein und schloss die Tür leise wieder hinter sich. Was tat er hier? Hatte er den Auftrag, weiterzuführen, was sein Meister begonnen hatte? Er kam auf mich zu und ich wappnete mich innerlich auf die neue Schmerzwelle. Doch er holte sich kein Messer oder so, sondern kam auf mich zu. Da sah ich, dass er etwas in der Hand hatte, was aussah wie ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit. Als er bei mir war, drückte er es mir an den Mund und zwang mich somit, es zu trinken. Dabei hielt er meinen Kopf fest und sorgte dafür, dass ich ihn nicht wegdrehen konnte. Die Flüssigkeit rann mir übers Kinn und Wange. „Trink schon.“ murmelte der Mann. Ich wollte meinen Kopf schütteln, doch er drückte einfach meine Lippen auseinander und die Flüssigkeit floss mir in den Mund. Um nicht zu ersticken, schluckte ich. Und als ich erst mal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören, bis er es wegnahm. Mein Kopf sackte nach vorne und ich hustete. „Na geht doch.“ sagte er und verließ den Raum wieder. Was um alles in der Welt war das gewesen? Ich hatte einen dunklen, schweren Geschmack im Mund. So etwas hatte ich noch nie getrunken. Beim Trinken hatte ich mich bewegt und meine Wunden an Bein und Brust hatten wieder angefangen zu bluten. Auch mein Rücken schmerzte wieder unsäglich. Ich sackte wieder zusammen und blieb wieder still. Nach ein paar Minuten warten, keuchen und hoffen ebbte der Schmerz einigermaßen ab und ich konnte aufatmen. Dann schloss ich wieder die Augen. Ich war so müde. Die Wunden hatten mit ihrem Blutverlust an meinen Kräften gezerrt. Und vielleicht würde ich ja nicht mehr aufwachen? Eine verlockende Aussicht, im Angesicht der Situation. Ich ließ mich von der Schwärze umhüllen und trieb davon.

Etwas klatschte mir ins Gesicht und riss dabei meine Wange auf. Erschrocken zuckte ich zusammen und riss die Augen auf. Direkt vor meinem Gesicht leuchteten ein Paar Augen. Aus Reflex zog ich an meinen Fesseln, bis ich mir ins Gedächtnis rief, warum ich überhaupt gefesselt war. Und wer - oder eher was - das vor mir war. Ich stöhnte auf. Das war doch echt zum Heulen. Meine Schultern sackte wieder nach unten. Da fiel mir etwas auf. Probeweise zog ich meine Schultern wieder hoch. Kein Schmerz schoss mein Rückgrat hinauf. Meine Wunde am Rücken war weg! Erstaunt warf ich einen Blick auf meine Brust und mein Bein. Bis auf die blutigen und zerfetzten Klamotten zeugte nichts mehr von meiner Folter. Die Haut war wieder glatt und heile. Wie war das möglich? Ich schaute wieder in die Augen des Wesen, frisch gestärkt durch das plötzliche Wunder. „Ja, du bist geheilt. Ist das nicht toll? Dann können wir wieder von vorne anfangen.“ Er beugte sich näher zu mir und senkte seine kratzige Stimme „Immer und immer wieder.“ Bellend zog es sich wieder zurück und holte sich nur etwas aus dem Regal, dass aussah wie ein Schürhaken. „Wie...?" fing ich an doch dann drehte es sich schnell wieder zu mir um und hielt mir den metallenen, kalten Gegenstand an die Kehle. „Vampirblut, meine Süße. Es hat heilende Kräfte und wenn ich dir nach jeder ‚Behandlung‘ etwas gebe, bist du wieder wie neu.“ sagte er. Vampirblut? Das würde dann ja bedeuten, dass sie nicht nur mich, sondern auch einen Vampir hier oder anderswo gefangen hielten. Ich glaubte nicht, dass ein Vampir freiwillig etwas von seinem Blut abgibt, um einem Werwesen zu helfen. Also war ich nicht ganz alleine in diesem unterirdischen und kalten Gemäuer. Das gab mir ein klein wenig Kraft. Der Schürhaken wanderte nun tiefer. Mein Schlüsselbein entlang, über meiner Arm, zu meiner Hand. Dort verweilte er ein kleines bisschen. „Wieso tust du das?“ brachte ich hervor. Vielleicht konnte ich es ja irgendwie ablenken. Ich musste ihn ablenken. Der Schürhaken hörte auf, Kreise auf meiner Hand zu drehen und ich sah dem Monster ins Gesicht. „Ich kann sie an dir riechen. Vampire. Die Mörder. Sie haben zwei aus meinen Reihen getötet und das kann nicht ungestraft bleiben. Ich weiß zwar nicht, wo diese Monster sind, aber ich habe dich. Wenn ich dich hier behalte, ist zumindest einer schon gerächt.“ Er ließ die lange Zunge aus dem Mund hängen und zeigte seine Reißzähne. Ein Lächeln. Dann stieß er den Schürhaken durch meinen Handrücken. Ich schrie. Mit einem Ruck zog er ihn wieder hinaus und hielt ihn über die andere Hand. Dort wiederholte er das grausige Schauspiel, nur viel langsamer. Ich schrie, zappelte und wand mich vor Schmerzen, doch es interessierte ihn nicht. Als meine andere Hand auch durchbohrt war, drehte er den Haken noch einmal bevor er ihn hinauszog. Dann ging er zwei Schritte zurück. Dann sah er auf meine Füße. Nein. Oh bitte, nein. Doch er hob den Haken schon an, bis hinter seinen Rücken und ließ ihn nach vorne fallen. Wie ein Holzfäller seine Axt schwingt, schwang er denn Schürhaken durch meinen Fuß und nagelte ihn am Boden fest. Wieder schrie ich und riss an den Fesseln. Und wieder zog er ihn hinaus, holte aus, schwang den Haken und jagte ihn in meinen anderen Fuß. Er bekam sich fast gar nicht mehr ein vor Lachen. Ich versuchte meine Schreie zu stoppen und sie ebbten tatsächlich zu einem Keuchen ab, die ich ausstieß. „Das sollte für heute reichen.“ sagte er und verließ den Raum. Doch an der Tür blieb er stehen und drehte sich nochmal zu mir um. „Keine Angst, morgen komme ich wieder.“ Die Aussage bewirkte eher das Gegenteil. Ich hatte Angst. Denn morgen würde er das Spiel wiederholen. Vielleicht mit anderen Sachen, aber Schmerzen würde es mir doch bereiten. Eine Träne rann mir über die Wange. Es gab kein Entrinnen. Die nächsten Jahre würde ich hier gefangen sein, jeden Tag gefoltert werden und immer wieder geheilt werden, damit ich nicht an Blutverlust sterben würde. Schmerz durchzuckte mich. Meine Arme und Beine hinauf. Ich warf einen Blick auf meine Hände. Sie waren blutig und die Knochen durch den Durchstoß zertrümmert. Vorsichtig beugte ich mir vor, um auch einen Blick auf meine Füße zu werfen. Auch sie waren blutig und Knochensplitter ragten aus der Wunde und der Haut hervor. Ich erinnerte mich an ihn, wie er den Haken geschwungen und durch meinen Fuß getrieben hatte. Ich schauderte und weinte nun richtig. So etwas würde ich ab sofort jeden Tag erleben. Schmerzen, Leid, grausige Erinnerungen, heilen und dann wieder Schmerz. Die Tür ging ein Stück auf und wie erwartet kam der Mann herein. Wieder zwang er mich das Blut zu trinken. Als ich es hinuntergewürgt hatte, stellte er es auf dem Boden ab und holte etwas aus seiner Hosentasche. Zwei kleine Tabletten. Bekomme ich jetzt auch noch Drogen? Doch bevor ich reagieren konnte, stopfte er sie mir in den Mund und ich musste schlucken. Stumm und ohne ein Wort ging er wieder und nahm das Glas mit. Müdigkeit breitete sich in mir aus und glücklich schloss ich die Augen. Wenigstens im Schlaf konnte ich dem Alptraum für kurze Zeit entrinnen.

„Wach auf. Mir ist langweilig.“ hörte ich wieder diese kratzige Stimme und kniff die Augen zusammen. Ich wollte noch nicht wach werden. Er war wieder hier und würde mich wieder foltern. „Ich weiß das du wach bist.“ sagte es und ich spürte, wie sich etwas schmerzhaft über meinen Unterarm zog. Erschrocken riss ich die Augen auf und sah hin. Er zog mir seine Kralle über den Arm und hinterließ dabei eine breite Blutspur. Natürlich. „Geht doch.“ sagte es und bellte. Dann drehte es sich wieder zu dem Regal und zog etwas hervor. Bei einem genauerem Blick erkannte ich es. Es war ein Nussknacker. Nicht die runden, sondern einen länglichen. Scheiße. Visionen, wie er mir die Finger mit dem Ding brach und zermalmte huschten mir durch den Kopf. Das würde schmerzhaft werden. Ich holte tief Luft. Aber ich würde es schaffen. Einfach nur daran denken, dass ich nachher wieder schlafen kann. Es kam auf mich zu und genau wie ich mir gedacht hatte, nahm es meinen Zeigefinger und legte ihn zwischen die beiden Seiten. Langsam drückte er zu. Langsam brach er meine Knochen. Ich schrie und übertönte damit sogar das Knirschen der Knochen. Als er den Ersten vollkommen deformiert und zerstört hatte, widmete er sich noch zwei an derselben und vier an der anderen Hand. Er ergötzte sich sichtlich an meinen Schreien. Schließlich hörte er auf und beobachtete mich mit einem zufriedenem Ausdruck, während ich mich wand und schrie. Dann warf er den Knacker unachtsam wieder in das Regal und verließ den Raum schweigend. Ich wand mich immer noch und versuchte wie bei meinem Rücken die Schmerzen zu verdrängen. Vergeblich. Ich schrie, keuchte und hoffte, dass der Mann mit meiner täglichen Dosis Vampirblut hereinkam. Und den zwei Pillen. Ich würde alles mit Freunden schlucken und mir den Schlaf herbei wünschen. Doch er kam einfach nicht. Wo war der denn? Jetzt, wo ich ihn am meisten brauchte. Ich warf einen Blick auf meine Finger und schaute sofort wieder weg. Mir wurde übel. Sie waren verbogen, gekrümmt, zersplittert und noch viel Schlimmeres. Weiße Knochensplitter ragten aus ihnen und das Blut floss an dem Stuhl hinab. Ich atmete tief ein, um dem Würgereiz zu entkommen. Wo blieb der denn? War das nochmal eine Art Folter? Dann hörte ich ein Poltern, als ob einer der Sessel umgekippt oder umgeschmissen wurde. Was war da los? Ich warf einen Blick zu der Tür und vergaß unglaublicher Weise für kurze Zeit meine Finger. Etwas flog gegen sie und ich zuckte zusammen, was mit einem qualvollen Schmerz aus meinem Fingern quittiert wurde. Ich keuchte wieder und hielt mich ruhig. Was gar nicht so leicht war, angesichts der Geräusche im Nebenraum. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ich musste die Augen zusammenkneifen, weil ich nicht an die hereinbrechende Helligkeit gewöhnt war. Dennoch konnte ich durch einen kleinen Spalt eine große und haarige Gestalt erkennen. Das Werwesen. Es warf einen kurzen Blick auf mich und drehte sich um. Widmete seine Aufmerksamkeit mal nicht auf mich. Es bellte. „Du könntest gehen! Warum tust du es nicht?“ fragte es. Wer konnte gehen? Mit wem sprach er? Er wich in den Raum zurück, kam rückwärts auf mich zu. Kurz bevor er vor mir stand sah ich den anderen. Da meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnte ich ihn erkennen. Er - es war ein Mann - war kein Werwesen. Doch seine leuchtenden Augen zeigte mir, dass er auch kein Mensch war. Er war ein Vampir. „Angst ich könnte dir was tun?“ entgegnete er und sah das Monster vor mir an. Dann erst sah er mich und musterte mich. Ich starrte ihn einfach nur an, bis sein Blick auf meine Hände oder vielmehr meine Finger fiel. Er fletschte die Zähne und sah wieder zu dem Monster. „Du willst sie mitnehmen, habe ich Recht?“ fragte es und sah mich an. Es hatte gesehen, wie der Vampir auf meine Verletzungen reagiert hat. Jetzt lächelte es wieder. „Du wirst sie nicht bekommen.“ flüsterte es und ging hinter meinen Stuhl und legte mir die Klauen um den Hals. Ich versuchte mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, sie hätte mir doch nichts gebracht. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass mit heiß und kalt wurde. Gleichzeitig. „Nimm deine Hände von ihr.“ Hände?! Nichts gegen eine Rettung, aber das waren keine Hände. Das waren abscheulichen Klauen. Mein Blick huschte zu dem Mann, der sich langsam näherte. Er musste nur einen falschen Schritt machen und schon wäre ich tot. Das Monster musste nur kurz seine Klauen bewegen und es würde mir den Hals zerfetzen. Aber das war doch eigentlich gar nicht so schlimm. So entging ich weiteren Schmerzen, wenn sich der Rettungsversuch als erfolglos herausstellen würde. Das beruhigte mich ein wenig. Ich heftete meinen abgeschweiften Blick wieder auf meinen mutmaßlichen Retter. Er kam immer noch näher. Ich spürte, wie die pelzige Schlinge um meinem Hals sich enger zuzog. Lange halte ich das nicht mehr aus, ich bekam ja jetzt schon nicht mehr richtig Luft. De Vampir vor mir knurrte. Dann ging alles ganz schnell. Ich spürte plötzlich einen schmerzhaften Ruck am Hals und dachte jetzt war alles vorbei. Doch gleichzeitig war der Typ vor mir auf uns zu gestürmt und rang jetzt mit dem Wesen, was inzwischen seine Klauen von mir genommen hatte. Sie waren irgendwo hinter mir und ich konnte sie nicht sehen. Doch jetzt war meine Gelegenheit. Ich zerrte zuerst vorsichtig an den Fußfesseln. Riss und zog an ihnen, doch sie gaben nicht nach. Verdammt! Ich sah auf meine Finger. Sie waren verstümmelt, aber vielleicht würden sie durch die Schlinge passen. Ich atmete tief ein und ließ meine Hand ganz langsam nach hinten gleiten. Als das Metall meine Finger berührte, sah ich schwarze Punkte und schrie auf, doch keiner achtete auf mich. Nach etwas Zerren, Ziehen und unermesslichen Schmerzen schaffte ich es sie herauszuziehen. Ich hatte es geschafft! Jetzt fehlten nur noch meine andere und die beiden Füße. Bei meiner anderen schaffte ich es ebenfalls mit viel Gefluche, Geschreie und Gezerre. Doch auch sie hatte ich nach ein paar Minuten befreit und ich sackte kurz schweißüberströmt in den Stuhl zurück. Doch eine längere Pause konnte ich mir nicht leisten, nicht wenn hinter mir zwei Monster um mich kämpften. Ich beugte mich so weit vor, dass ich einen Blick auf meine Füße werfen konnte. Ich war barfuß gewesen und die Haut war noch von dem Durchstoß blutig. Aber ansonsten waren sie heile. Ich überlegte, wie ich sie darausschaffen sollte. Ich konnte sie mir nicht einfach brechen. Doch die Schlinge war nicht wie die an der Armlehne festgeschweist, sondern war einfach nur festgesurrt. Wenn ich sie nur ein wenig lösen könnte, könnte ich sie so vom Stuhl und meinen Füßen abstreifen. Also stemmte ich mich mit all meiner übriggebliebenen Kraft gegen den Stuhl und drückte meine Beine gegen die Fesseln. Ich konnte das schaffen. Ich war der Freiheit so nah. Nur noch ein kleines, klitze-kleines Stücken. Und tatsächlich, ich fasste es kaum, die Fesseln gaben ein wenig nach. Nicht viel, aber gerade genug um sie abzustreifen. Ich zog meine Füße aus den Schlingen und streckte sie. Es war ein absolut tolles Gefühl, wieder einen Ausblick auf die Freiheit zu haben. Adrenalin fuhr durch meinen Körper und sorgte trotz meiner immensen Erschöpfung dafür, dass ich mich aufsetzen konnte. Ich setzte meine Füße auf und probierte, ob ich sie mit meinem Gewicht belasten konnte. Es war schwer und ich zitterte, aber es ging. Vorsichtig stand ich auf und wankte zu dem Regal. Dort stütze ich mich ab, mit der Schulter dagegen gelehnt. Der Anblick der Gegenstände, die darin lagen, war grausig. Ich fragte mich wie viele wohl hier in diesem Raum auch schon auf dem Stuhl gesessen hatte, auch die Sachen zu spüren bekommen hatten. Ich schüttelte den Kopf. Daran konnte ich jetzt nicht denken. Ich griff mit dem Zeigefinger meiner linken Hand nach einem Messer. Es war der einzige Finger, der nur vom Blut der Anderen bedeckt, aber ansonsten noch heile war. Ich klemmte es zwischen den Kaputten ein, um einen möglichst festen Griff zu haben und ignorierte hartnäckig den Schmerz. Dann stolperte ich auf die beiden verbissen kämpfenden Gestalten zu. Als Außenstehender konnte man wenig erkennen, nur die Leuchtaugen blitzten manchmal auf. Doch wer als Erster nachgeben oder aufgeben würde, war schwer zu entziffern. Kurz sah ich die Klaue und wie sie sich in den Vampir bohrte. Er stöhnte auf, kämpfte aber weiter. Er war für mich zurückgekommen, um mich zu holen. Weshalb sonst war er dieses Risiko eingegangen? Es war zwar leichtsinnig von mir, aber ich würde ihn hier nicht alleine seinem Schicksal überlassen. Also stakste ich weiter vorsichtig und unsicher auf den Beinen auf die beiden zu. Ich versuchte sie auseinander zu halten, denn ich wollte nicht versehentlich auf den Falschen einstechen. Das würde sowohl für den Vampir, als auch für mich keine guten Folgen haben. Doch dann standen die beiden still. Was war passiert? War es vorbei? Doch ein genauerer Blick sagte mir, dass zwar beide verletzt waren, aber nicht dem Tode nahe. Wenigstens konnte ich sie jetzt unterscheiden. Das Monster stand gebeugt links, weiter im Schatten. Sie achteten immer noch nicht auf mich, obwohl ich äußerst geräuschvoll über den Betonboden schlurfte. Das Messer klemmte zwischen meinen Fingern und verursachte immer noch unglaublichen Schmerz. Aber statt es zwischen meine Finger zu quetschen, drehte ich es jetzt mit dem Finger und presste es gegen die Handfläche, um einen festeren Griff zu haben. Und gerade als sie wieder aufeinander losstürzen wollten, schrie ich, um mir Aufmerksamkeit zu verschaffen. Beide schauten zu mir. Der Vampir hatte eine blutige Nase, die langsam aufhörte zu bluten und heilte. Er schüttelte leicht den Kopf, als ob er mir sagen wollte, dass ich es lassen sollte. Das Monster hingegen fletschte die Zähne und schien sich zu freuen, dass ich mich einmischte. Ich lächelte ihn an. Jetzt waren wir am Zug. Durch das Messer in meiner Hand und dem Vampir, der mich böse anfunkelte, weil er wahrscheinlich wollte, dass ich abhaute und ihm den Rest überließ fühlte ich mich sicherer. Ha! Als ob ich ihm den Rest überlassen würde. Also torkelte weiter auf die beiden zu. Dann brach das Chaos aus. Das Werwesen ging einen Schritt auf mich zu, der Vampir reagierte schnell und wollte sich auf das Monster stürzen, doch das hatte sich bereits auf mich geschmissen, mit drohenden Zähnen und Krallen. Es riss mir die Brust auf und als es von mir abließ, spürte ich das warme Blut an mir hinablaufen. Dann verbiss es sich in meine Arme, die ich schützend um mich geschlungen hatte. Der Vampir rammte es von der Seite und schubste es ein klein wenig weg. Während ich zusammenbrach und gar nicht erst versuchte, den Blutstrom zu unterdrücken, sah den Beiden zu. Doch ich war so müde und erschöpft. Wenn ich jetzt einschlafen würde, wäre der ganze Schmerz weg und ich würde niemals wieder so leiden müssen. Ich dachte an meine Freunde. Wie würden sie reagieren, wenn sie mich irgendwann tot auffinden würden? Neben einem Vampir oder Werwesen. Oder beides. Wer weiß, ob Xan mich überhaupt je wiedersieht. Fi vielleicht - sie war ein Vampir und lebt ewig -, aber wer weiß ob jemals die Kunde bis nach Sibirien kommt. Fi wird es höchstwahrscheinlich nie erfahren. Oder Cannes. Oder Stayr. Ich würde ihn nie wieder sehen. Nie wieder seine wundervolle und zugleich nervige Stimme hören. Nie mehr nachts im Bett sitzen und auf ihn warten, weil er mir keine ruhige Minute lässt. Ich erinnerte mich an unsere letzte Begegnung. Die, wo wir in meinem Zimmer gestanden hatten. Als er mir die Wahl gelassen hatte, ob ich zu ihm gehen wollte oder ihn verlassen wollte. Er hat gesagt, dass er mich niemals vergessen würde. Und das ich ihn nicht vergessen würde. Niemals. Ich zwang mich, die Augen aufzumachen. Ich würde nicht aufgeben. Denn ich hatte soeben einen Entschluss gefasst. Ich werde ihn wiedersehen. Und wenn ich das nicht schaffe, sterbe ich lieber. Mein Blick ging suchend über den blutbeschmierten Boden und fand die Beiden ein Stück von mir entfernt. Sie lagen, ebenfalls wie ich. Doch im Gegensatz zu dem Vampir gab das Werwesen noch merkliche Lebenszeichen von sich. Jedenfalls kroch es gerade auf mich zu. Ich bekam Panik und versuchte wegzurutschen, aber es klappte nicht. Ich hatte etwas in der Hand und mein Instinkt sagte mir, dass ich es nicht loslassen sollte. Das Messer! Das Monster war jetzt nur noch eine Armeslänge von mir entfernt und ich hinderte es nicht daran, sich noch näher an mich heran und schließlich halb auf mich drauf zu ziehen. Entschlossen packte ich das Messer fester. Dann lächelte es. „Wir werden gemeinsam in den Tod gehen.“ murmelte es. Doch ich hatte schon meinen Arm hochgezogen und rammte es ihm in die Brust, direkt ins Herz. Mit letzter Kraft drehte ich es herum und sah zufrieden, wie es noch ein leises Röcheln ausstieß und das Lächeln sich zu einer ungläubigen Grimasse verzog. Dann kehrte die Erschöpfung mit aller Macht zurück und alles Adrenalin verflüchtigte sich. Ich war so müde wie noch nie. Wenn das sterben war, war es anders, als ich dachte. Ich spürte den Schmerz nicht mehr, das Gewicht des Monsters, dass Blut was über das Messer auf meine Hand lief und allgemein an jedem Zentimeter meines Körpers klebte. Alles war so leicht. Und wenn ich die Augen schloss, war sogar die schaurige Kulisse weg, mit all den Folterinstrumenten und dem blutigen, metallenen Stuhl. Ziellos wanderte mein Blick noch einmal durch den Raum, als eine Silhouette in der Tür erschien. Mit raschen, bestimmten Schritten kam sie auf mich zu und rollte den leblosen Monsterkörper von mir. Dann hob sie mich an, in eine sitzende Position. Mit aller Macht kam der Schmerz zurück, fuhr mir durch die zertrümmerten Finger, meinen aufgerissenen Oberkörper, zerfetzten Armen und auch sonst durch meinen gesamten Körper. Was sollte das? Ich hatte das Monster getötet. Jetzt hatte ich es verdient zu sterben, dem Leid zu entkommen. Der Schatten, der mich im Arm und aufrecht hielt, fluchte und warf einen Blick auf mich. Die Stimme klang männlich. Der eine Teil von mir - der weibliche, verrückte Teil - fragte sich, wie viele Männer noch kommen würden, um mich zu retten. Doch dem größeren Teil war es egal, solange ich nur endlich keine Schmerzen mehr spürte. Etwas presste sich an meinen Mund. Noch härter, als der Mann mir das Glas an die Lippen gedrückt hatte. Eine warme Flüssigkeit lief mir den Hals hinunter. Mit letzter Kraft öffnete ich den Mund und schluckte. Es war Vampirblut so ähnlich wie das was ich vorher bekommen hatte, aber ein kleiner Unterschied bestand. Dieses hier schmeckte viel besser. Gierig trank ich und spürte, wie es seine Wirkung entfaltete. Die Schmerzen wurden weniger, meine Finger kribbelten, als sie sich wieder gerade bogen und die Knochen wieder zusammenwuchsen. Alles schien zu kribbeln. Langsam löste sich der Druck auf meinem Mund und ich trank auch nicht mehr ganz so schnell. Als ich spürte, dass mein ganzer Körper wieder heile war, und einige Minuten vergangen waren, entnahm mir der Fremde sein Handgelenk, welches ich erkannt hatte, als ich kurz die Augen geöffnet hatte, um einen Blick auf meine Finger zu werfen. Doch ich war immer noch müde. Wie lange war ich hier unten eingesperrt gewesen? Drei, vier Tage? Und in der Zeit hatte ich nicht geschlafen, sondern eher eine Art Ohnmacht oder Ko-Koma gehabt. Ich wollte nicht mehr die Augen öffnen, doch ich musste aus diesem Keller hier raus. Was wenn die restlichen Wesen kamen? Dann war alles umsonst gewesen. Vorsichtig stemmte ich eine Hand auf den Boden und probierte, ob ich mich alleine aufsetzen konnte. Ich zitterte extrem, aber es klappte. Doch gerade als ich mich hochdrücken wollte, drückte mich der fremde Vampir wieder runter. „Bist du verrückt? Du schläfst jetzt. Und zwar sehr lange, hast du gehört?“ Ich kannte diese Stimme doch! Ich zwang mich die Augen zu öffnen und sah ihn an. Zuerst war alles nur verschwommen, doch als sich mein Blick klarte, erstarrte ich. Er... Er war es! Stayr! Was machte er hier? Er konnte doch gar nicht wissen, dass ich entführt worden war, oder? So schnell konnte eine Nachricht doch nicht nach Sibirien kommen? Und er wusste doch auch nicht wo ich hingebracht wurde! Das war doch vollkommen unmöglich. Da dämmerte es mir. Ich lächelte leicht. Die Tatsache, dass Stayr wirklich hier ist, war einfach unmöglich. Aber ich spürte keinen Schmerz mehr und ich war bei ihm. Das konnte nur eines bedeuten. Ich war tot. Verblutet. Stayr war nicht wirklich hier und eigentlich lag ich noch mit zertrümmerten Knochen und zerfetztem Körper auf dem kalten Beton. Doch jetzt war mir das egal. Wenn ich noch diese paar Minuten hatte und sie mit Stayr genießen konnte, scherte es mich nicht, das ich tot war. Ich hob eine Hand und legte sie ihm in den Nacken. Er sah genauso aus wie in Sibirien. Ich lächelte ihn an. „Du musst jetzt schlafen, Angel.“ flüsterte er und sah auf mich hinunter. Ja, jetzt konnte ich schlafen.

Mein Kopf lag auf etwas Weichem und mein Körper unter einer schweren Decke. Wo war ich? Erschrocken schlug ich die Augen auf und sah mich verwirrt um. Dort, in der Ecke stand ein alter Kleiderschrank, mit einem Spiegel. Auf der anderen Seite, noch ein Spiegel mit einer Borte, voll mit Kosmetika. Alles war so merkwürdig vertraut. Das war mein Zimmer! Ich lag in meinem Bett! Was machte ich hier? Ich müsste doch eigentlich tot sein und in dem Keller verrotten. War das irgend eine kranke Art von Nachleben? Und dann hatte ich nur meine kleine Wohnung gekriegt? Verwirrt stand ich auf. Ein kalter Luftzug traf auf meine Arme und Beine. Ich sah an mir herunter. Na toll. Erst bin ich tot, dann wach ich in meinem Zimmer auf und stelle schließlich fest, dass ich halbnackt war. Bis auf Unterwäsche und ein Top. Was übrigens immer noch mit Blut vollgesogen war. Angewidert zog ich es aus und auch alles andere, warf es gar nicht erst in die Wäschetruhe und zog mich um. Was ging hier vor sich, verdammt noch mal? Ich zog mir dicke Plüschsocken über meine nackten Füße und tappte in meine kleine Küche. Die Klamotten schmiss ich so in den Mülleimer und stellte fest, dass ich ziemlichen Hunger hatte - warum konnte eine Tote Hunger haben? Ich ging zu meinem Gefrierfach und holte mir eine Tiefkühlpizza raus - der Hauptbestandteil meines Speiseplans. Ich konnte einfach nicht kochen. Ich legte sie in den Ofen und beobachtete sie ein Weile, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Doch das wurde nach fünf Minuten langweilig, also drehte ich mich um und wollte mir einen Stuhl holen und was lesen. Als ich mich jedoch umdrehte und sah wer an meinem Küchentisch saß und tief und fest schlief, zuckte ich zusammen, vor Schreck. Ich ging um den Tisch herum um ihn mir genauer anzusehen. Was machte er hier? War er auch tot? Der Mann, der mich retten wollte, regte sich und wachte auf. Ich kniff die Augen zusammen und wartete, dass er mich bemerkte. Das machte er dann auch und nahm die Füße von meinem Tisch und sah mich an. „Bin ich eingeschlafen? Oh, ups.“ Er lächelte leicht. Ich schüttelte den Kopf. „Was machst du hier?“ wollte ich wissen. „Ich bin hier aufgewacht, nach dem das Werwesen uns beide ziemlich übel zugerichtet hatte. Aber dir scheint es ja wieder besser zu gehen, als ich dich das letzte Mal gesehen hatte, sahst du... nun ja, nicht so gut aus.“ sagte er, schauderte und warf einen Blick auf meine wieder heilen Finger. Ich zuckte zusammen bei der Erwähnung meiner Folter. „Du hast mich gerettet?“ fragte ich ihn. Er schaute mir wieder ins Gesicht. „Ja. Und ich muss dir auch wohl etwas von meinem Blut gegeben und uns hierher gebracht haben.“ Er sah sich kurz um. „Wer sollte es sonst gewesen sein?“ fügte er hinzu. Ich war gar nicht tot? Na gut, dass erklärte so einiges und die Sache mit dem Vampirblut machte es glaubhafter, dass ich nicht eine zerstückelte und zerrissene Leiche war. Ich erinnerte mich daran, dass mir etwas gegen den Mund gepresst wurde und ich Vampirblut geschluckt hatte. Und dann war da Stayr gewesen. Ich war vielleicht nicht tot gewesen, zu dem Zeitpunkt, aber bewusstlos bestimmt. Er war nicht dagewesen! Das war der Mann hier vor mir. Stayr sitzt bestimmt gerade in Sibirien und denkt wahrscheinlich noch nicht mal an mich. Denn nur weil er mich nicht vergessen wollte, hieß das nicht, dass er auch öfters an mich denkt. Ich seufzte und drehte mich zu meiner Pizza um. Mittlerweile war der Käse geschmolzen und lange Zeit brauchte sie nicht mehr. „Wie heißt du eigentlich?“ ertönte seine Stimme hinter mir. Ich drehte mich wieder zu ihm um. „Angel. Und du?“ „Ein schöner Name. Ich heiße Raphael.“ sagte er. Ich nickte und gab ihm meine Hand. „Schön deine Bekanntschaft zu machen. Offiziell.“ Er grinste und schüttelte meine. „Die Freude ist ganz meinerseits.“ erwiderte er. Ich sah ihm in die Augen und grinste zurück. Er war wirklich nicht hässlich. Eher sehr gutaussehend. Er hatte kurze, dunkle Haare, sogar ein wenig kürzer als Stayr, und dunkle Augen. Hohe Wangenknochen und geschwungene Lippen. Sein schwarzes Shirt war teilweise zerrissen und gab Blicke auf seinen Oberkörper frei. Er hatte sich seit dem Kampf mit dem Werwesen nicht umziehen können. Vielleicht wäre es besser wenn er ging? Dann könnte er sich ein Oberteil anziehen und richtig schlafen. „Nicht das ich dich rausschmeißen will, aber möchtest du nicht lieber nach Hause gehen? Um dich umzuziehen und in einem Bett zu schlafen?“ fragte ich ihn. Er lachte, dann stand er auf. „Angel, ich bin die letzten fünf Jahre gefangen gehalten worden. Ich habe keine Zuhause mehr.“ sagte er. Kein Zuhause? Fünf Jahre?! Aber wieso war er gerade dann ausgebrochen, als ich gekommen war? Das ergab doch keinen Sinn, er hatte doch nicht auf mich gewartet. „Wieso bist du erst jetzt ausgebrochen? Warum nicht schon früher?“ Er lehnte sich an die Tischkante und verschränkte die Arme. „Weil ich dafür keine Möglichkeit hatte. Sie haben sehr genau darauf geachtet, dass ich wenig Kraft habe und nicht entkommen konnte. Doch als du kamst, brauchten sie mein Blut und der Kerl, der es mir abzapfte und es dir brachte, war unvorsichtig. Ich hab ihn umgebracht und bin dann dir helfen gegangen.“ Ich schaute ihn seine dunklen Augen. Sie waren schön, ja, aber nicht im Vergleich zu Stayr. „Wieso?“ „Jeden Tag war Stille. Nur hin und wieder ein paar hallende Schritte auf dem Gang. Die ganzen Jahre über. Doch vor ungefähr vier Tagen war da ein Schlurfen und Seufzen. Ich wurde neugierig. Ich konnte hören, wie man dich in die Kammer hinter das Schlafgemach des Anführers brachte. Du keuchtest die ganze Zeit vor Schmerz. Doch als du festgeschnallt warst und dich nicht wehren konntest, hast du richtig geschrien. Und am Tag danach und danach. Ich hab das nicht mehr ausgehalten, mitanzuhören, wie du gefoltert wurdest. Und das will schon was heißen, denn ich bin unsterblich und hab schon einiges gesehen. Also beschloss ich meine - unsere - Chance zu ergreifen und uns da raus zu holen. Hat doch auch ganz gut geklappt, oder?“ Er grinste mich wieder schief an. „Ja, hat es. Danke. Ohne dich wäre ich immer noch da drin. Danke.“ wiederholte ich und drehte mich zu meiner Pizza um. Ich holte mir einen Teller und Besteck und zog sie aus dem Ofen. Voller Vorfreude setzte ich mich an den Tisch und fiel über meine Pizza her. Als ich mir gerade das zweite Stück in den Mund geschoben hatte, fiel mein Blick wieder auf Raphael. 2Willst du die ganze Zeit sitzen und mir dabei zusehen, wie ich eine Pizza verschlinge? Du hast doch bestimmt selber Hunger. Du kannst von mir aus gehen und die etwas.:. zu Essen besorgen.“ Ich schmunzelte und steckte mir das nächste Stück in den Mund. „Na gut. Darf ich wiederkommen?“ fragte er und sah mich von der Küchentür aus an. Durfte er wiederkommen? Eigentlich würde es ja ganz gut sein, dann würde ich zumindest nicht mehr immer alleine sein und an Stayr denken müssen. Vielleicht konnte Raphael mich ja von ihm ablenken? „Klar.“ sagte ich und schob mir die Pizza wieder in den Mund. Er lächelte und verschwand. Dämliche Vampirgeschwindigkeit. Ich aß meine Pizza weiter und als ich den Teller in die Spüle stellte, klingelte es. Ich schleifte zur Tür und sah durch den Spion. Vor der Tür stand eine aufgeregte und wütende Xan. „Angel? Angel, wenn du da bist, mach die verdammte Tür auf.“ Ich lächelte. Es war schön sie wiederzusehen, wo ich doch geglaubt hatte, es nie wieder zu tun. Ich öffnete die Tür, doch bevor ich sie weiter als einen Spalt öffnen konnte, stieß Xan dagegen und die Tür krachte gegen die Wand. Ich verstand, dass sie sauer auf mich war. Sie schmiss die Tür hinter sich wieder zu. „Wo warst du die letzten vier Tage?“ fragte sie. „Ich habe bei dir angerufen, dich angesimst und stand mindestens fünfzigmal vor deiner Tür! Wo warst du?“ „Das ist eine lange Geschichte, Xan. Aber ich freue mich wahnsinnig dich wiederzusehen.“ Ich umarmte sie fest und sie legte mir auch die Hände auf den Rücken. Sie seufzte. „Angel, du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt. Aber ich möchte alles wissen.“ sagte sie, neugierig wie eh und je und ging schon in Richtung Küche und setzte sich auf einen Stuhl. Ich setzte mich auf neben sie. „Alles?“ fragte ich sie noch mal zur Sicherheit, immerhin gab es auch ein paar unschöne Details. „Alles.“ erwiderte sie und ich erzählte ihr alles. Die Entführung, das Kellerlabyrinth, das Monster, die Folter und so weiter. Bei den Folterdingen zuckte sie zusammen, hielt aber tapfer durch. Ich erzählte ihr auch, dass es der Geruch von Fi und den anderen Grund war, warum er mich genommen hatte. Als ich fertig war, herrschte Stille. Als sie mich ansah, war sie traurig. „Götter, Angel. Das tut mir so leid. Da sind meine schlechten Neuigkeiten ja gar nichts gegen.“ Sie richtete sich wieder auf und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich habe aber auch eine gute Nachricht.“ sagte sie und grinste mich an. „Die Schlechte zuerst.“ entschied ich. „Na gut. Die Schlechte ist: Ich bin gekündigt worden. Sie haben viele gefeuert und ich war darunter. Und jetzt die Gute, sie wird dir gefallen.“ Sie grinste immer noch so übertrieben und ich wurde langsam echt neugierig. „Ich habe mit Fi telefoniert. Und da ich jetzt keinen Job mehr habe... könnten wir wieder zu ihr fahren, nur dieses Mal länger. Viel länger.“ erzählte sie freudestrahlend. Mein Herz machte einen Satz - ich würde Stayr wiedersehen! Aber, wollte ich das denn? Zwischen Bewusstlosigkeit und Realität war doch schon ein großer Unterschied. Außerdem will er mich bestimmt gar nicht wiedersehen, oder? Er hat bestimmt schon längst mit uns abgeschlossen oder als kurze, unsinnige Affäre abgetan und sich die Nächste angelacht. Ein Stich durchfuhr mich. Doch da hatte ich eine Idee. „Darf ich auch einen Freund mitbringen?“ fragte ich. Xan sah mich verwundert an. Ach ja, das hatte ich in meiner Erzählung ausgelassen. „Der Vampir, der auch gefangen halten wurde und mich gerettet hat, müsste jeden Moment durch die Tür kommen und ich würde ihn gerne mitnehmen. Er heißt Raphael.“ „Na, petzt du?“ fragte eine Stimme und Raphael kam und die Ecke. Xan zuckte zusammen und ich sah ihn böse an. „Mach so was nicht wieder okay? Ich hab Xan gerade von dir erzählt. Xan, das ist Raphael. Raphael, Xan.“ stellte ich vor und die beiden nickten sich zu. „Wohin würdest du mich gerne mitnehmen?“ fragte er und zwinkerte mir zu. Ich grinste. Er war so viel einfacher als Stayr. Keine nervigen Aussagen. „Eine Freundin von mir wohnt mit ihrem Freund in Sibirien. Wir würden sie gerne wieder besuchen gehen und ich kann dich hier nicht alleine lassen.“ Jetzt zwinkerte ich ihm zu. Xan schaute verwirrt von mir zu Raphael und zurück. Sie schien nicht ganz zu verstehen, was hier lief. Oder was ich wollte, was hier lief. „Klar, das müsste eigentlich klappen, aber ich würde Fi trotzdem noch mal anrufen wollen, um Missverständnissen vorzubeugen.“ Raphael setzte sich zu uns an den Tisch. „Ich hab noch gar nicht zugesagt. Was ist, wenn ich gar nicht will, das ich mich, während ihr euch schon vergnügt, ständig verstecken muss und mich immer rausschleichen muss, wenn ich Hunger bekomme?“ fragte er. Doch bevor ich etwas sagen konnte, fing Xan an zu reden. „Das sollte kein Problem sein, Fi, Cannes und Stayr sind auch Vampire und vor denen brauchst du dich nicht verstecken.“ Raphael sah sie an. „Du weißt also Bescheid. Dann ist ja gut. Weiß sie alles?“ fragte er mich und ich nickte. „Dann ist ja gut. Okay, ich komme mit, wenn ich darf.“ sagte er und grinste wieder. Xan ging in mein Schlafzimmer um zu telefonieren. Und während wir so dasaßen, sah ich, wie sich sein Lächeln verzog und er nachdachte. Dann bekam er einen finsteren Blick und sah mich an. „Du hast also Freunde, die Vampire sind?“ Ich nickte. „Und du warst erst bei ihnen?“ Ich nickte wieder und wusste nicht worauf er hinaus wollte. „Bist du wegen ihnen gefoltert worden? Weil du ihren Geruch an dir hattest?“ Er sah mich immer noch an und ich nickte nochmal. „Wenn du wusstest, wo sie waren, warum hast du nichts gesagt? „Götter, er hat dir fast alle Finger einzeln gebrochen und dir einen Stab durch Hände und Füße getrieben!“ Er wurde richtig sauer und stand auf. „Und zu denen soll ich jetzt gehen? Wegen ihnen wärest du fast für den Rest deines Lebens in einem Keller eingeschlossen gewesen und würdest immer noch jeden Tag gefoltert werden! Verdammt, das kannst du doch nicht wollen!“ Wutschnaubend stand er neben mir und ich stand auch auf. „Es sind meine Freunde und außerdem hast du ja gehört weshalb er es gemacht hatte. Weil sie zwei seiner... was-weiß-ich umgebracht haben. Und das war beides aus Notwehr! Deshalb liefere ich doch nicht meine Freunde aus. Du hast Recht, wegen ihnen saß ich da drin, aber wegen ihnen habe ich auch nichts gesagt und hätte alles ausgehalten.“ entgegnete und sah ihm in die Augen. Er war nur ein bisschen größer als ich und wir standen Angesicht-zu-Angesicht. „Sie bedeuten dir so viel?“ fragte er. Fi, ja. Cannes hatte ich nicht wirklich kennengelernt, aber ich mochte ihn eigentlich auch. Und Stayr? Bedeutete er mir wirklich so viel? Ich kannte die Wahrheit, wollte sie mir jedoch nicht eingestehen. „Ja, das tun sie. Es sind meine Freunde.“ Und Stayr halt, was auch er immer er für mich war. „Na gut, ich werde mitkommen. Sollten sie jedoch auch nur den kleinsten Fehler machen, haben sie ein Problem.“ sagte er. Ich nickte. Es war gut, dass er mitkam, so konnte ich Stayr zeigen, dass ich über ihn hinweg war. Was natürlich nicht im Geringsten stimmte. Raphael sah mir immer noch in die Augen. Ich starrte zurück. Er hatte wirklich schöne Augen. Dann kam sein Gesicht näher und sein Mund senkte sich auf Meinen. Ich hatte nichts dagegen, also küsste ich ihn zurück. Es war angenehm, ja, aber das Verlangen, was mich überkam, wenn Stayr mich küsste - oder nur berührte - kam nicht. Ich löste mich dennoch erst, als ich hörte wie Xan sich räusperte. Ich drehte mich zu ihr um und grinste sie an. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Er kann mitkommen, sie haben nichts dagegen. Und ich hab schon nachgeguckt, morgen kommt ein Zug, der uns wieder bis zu genau dem Bahnhof fahren würde. Nehmen wir den?“ Ich sah zu Raphael, der grimmig dreinschaute, als sie den Zug erwähnte, aber er nickte. Ich nickte auch. „Na gut. dann geh ich mal packen. Wollen wir uns morgen hier treffen? Dann nehmen wir uns wieder ein Taxi. Der Zug fährt gegen zwei.“ „Okay“ erwiderte ich und begleitete sie noch zur Tür. Als sie gegangen war und mich mit diesem du-musst-mir-noch-alles-erzählen-Blick angesehen hatte, den sie wirklich gut draufhatte, ging ich zurück in die Küche. Raphael stand immer noch da. Der Überraschungsbesuch, die neuen Nachrichten und alles andere hatten mich müde gemacht. Ich lächelte ihn an. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin unglaublich müde und würde gerne wieder in mein Bett verschwinden. Ich kann dir vorher aber noch zeigen wo du schlafen kannst.“ Ich ging durch meine Wohnung, und zog ein Feldbett hinter meinem Regal hervor und stellte es in mein Wohnzimmer. „Ist zwar nicht gerade das Kingsize, aber es sollte hoffentlich für eine Nacht reichen. Morgen schlafen wir im Zug und die Betten bei Fi sind unglaublich.“ Ich zwinkerte ihm zu und schloss mich mit meinen Schlafsachen im Bad ein. Ich duschte mich schnell, es war ein unglaublich schönes Gefühl sich das Blut und die Zeit im Keller von der Haut zu waschen, und machte mich bettfertig. Danach huschte ich in mein Schlafzimmer und legte mich zum Schlafen hin. Ich war ehrlich müde und freute mich auch schon ein wenig darauf, Stayr zu vergessen. Mit Raphael und der sah noch nicht mal schlecht aus. Und vielleicht würde er mich dann nicht mehr so nerven oder mich nachts belästigen. Meine Augenlider wurden immer schwerer und ich bemerkte, wie ich langsam wegdriftete. Und bevor ich einschlief kam mir der altvertraute Gedanke, den ich seit meiner Ankunft hier vor ungefähr zwei Wochen hatte, ob Stayr, der sich in mein Schlafzimmer schlich, um sich neben mich zu legen und mich zu küssen, wirklich so schlimm war.

Die nächsten beiden Tage verliefen schnell, wir packten, fuhren zum Bahnhof und nahmen unseren Zug. Xan und ich bezogen ein Abteil und Raphael nahm ein anderes, direkt neben uns. Wir kamen am nächsten Tag spätabends an und Fi holte uns ab. Wieder mit dem schwarzen Auto. Die Luft war immer noch kalt und ich zitterte wie letztes Mal. Fi bombardierte Raphael gleich mit Fragen wieso er denn mitgekommen war. Er entwand sich jeder Frage und gab undeutliche Antworten. Wenn man nicht Bescheid wusste, warum er sich so benahm, konnte man annehmen, dass er einfach nur müde war. Und schließlich ließ Fi ihn in Ruhe und wir fuhren den Rest des Weges schweigsam. Vor der großen, inzwischen vertrauten Eingangstür begann ein Herz dann doch ein wenig zu flattern. Ich würde ihn wiedersehen! Ich schleppte meinen Koffer auf die Treppe und mein Herz schien nun zu rasen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Raphael. „Alles in Ordnung?“ fragte er leise. Ich nickte. Er hatte mein Herzrasen völlig falsch gedeutet und glaubte wahrscheinlich, dass ich wegen Fi und Cannes aufgeregt war. Wir gingen nach oben und Fi zeigte ihm das Zimmer neben meinem und Xan und ich bezogen unsere ehemaligen. Ich schleppte meinen Koffer wieder an dieselbe Stelle. Und da es spät am Abend war, ging ich trotz meiner Erschöpfung runter zur Küche. Wenn ich eines vermisst hatte, dann war das das Essen hier. Ich wiederholte mich zwar, aber es schmeckte wirklich immer wieder himmlisch. Ich klopfte unten im Saal an die Tür zur Küche und wartete. Stefan kam heraus. Ich grinste. „Hallo. Ich bin wiedergekommen und würde mich freuen, etwas zu essen.“ „Es ist schön, sie wiederzusehen. Und ich werde ihnen sofort etwas bringen.“ Und schon war er wieder hinter der Tür verschwunden. Ich setzte mich an den langen Tisch und wartete. Raphael kam die Tür rein und schaute sich suchend um. Als sein Blick auf mich fiel, lächelte er erleichtert und kam auf mich zu. Das erinnerte mich an das letzte Abendessen hier, als Stayr in dem grauen Shirt reingekommen war und ich meinen Blick nicht von ihm losreißen konnte. Doch dieses Mal war dieses Kribbeln nicht da, als Raphael auf mich zukam. Er setzte sich neben mich und Stefan stellte das Essen vor mir ab. „Guten Appetit.“ sagte er und fragte Raphael auch, ob er etwas wollte. Ich nickte ihm zu und er lächelte. „Ich nehme auch gerne was.“ Stefan verschwand und brachte kurze Zeit später sein Essen. Danach grinste er mich an. „Eines muss man denen hier lassen, sie haben gutes Essen.“ Ich freute mich, dass er an unserem Ausflug Gefallen fand. Fi betrat den Raum und Cannes war hinter ihr. Er versteifte sich kurz und auch Raphael spannte sich an. Doch Cannes lächelte schnell und entschärfte die Situation. „Du musst Raphael sein. Ich bin Cannes.“ sagte er und nickte ihm über den Tisch hinweg zu. Raphael nickte leicht zurück, aber seine Miene blieb regungslos und undurchdringlich. Besser, als eine wütende und misstrauische Miene. Fi setzte sich gegenüber von mir hin und ihr Gesicht wurde auch ernst. „Xan meinte, du solltest uns etwas erzählen?“ fragte sie und schaute mich immer noch ernst an. Raphael verkrampfte sich wieder und um ihn zu beruhigen legte ich meine Hand auf seine, die auf seinem Oberschenkel lag und drückte sie kurz. „Ja, das sollte ich vielleicht. Die letzte Woche war so ziemlich die Schlimmste, die ich je erlebt habe.“ Fi Miene änderte sich. Der Ernst verschwand und stattdessen kamen Neugier und auch ein wenig Mitleid. „Was ist passiert?“ fragte sie leise. „Ich und Xan sind feiern gegangen und auf dem Rückweg wurde ich entführt. Das Werwesen verschleppte mich in eine Art unterirdisches Kellersystem und hielt mich ungefähr vier Tage dort gefangen. Es kam jeden Tag um mich zu foltern und danach gab man mir Vampirblut, damit ich nicht verblutete und er seine Spielchen weiter spielen konnte.“ Jetzt konnte man bei Fi auch Wut erkennen und selbst Cannes sah ein wenig wütend aus. „Wieso hat es das getan? Ich meine du bist ein Mensch und so haben sie eigentlich nichts gegen Menschen.“ Er sah mich an. „Am zweiten Tag fragte ich ihn. Er meinte das Vampire zwei der ihren ermordet hatten und ich nach ihnen rieche. Nach euch rieche. Er wusste nicht wo ihr wart, aber er wollte sich an euch durch mich rächen. Als am letzten Tag dann aber nicht der Mann mit dem…“ „Du wurdest wegen uns gefoltert? Weil du unseren Geruch an dir hattest? Oh Angel.“ unterbrach mich Fi. Ihr lief eine Träne über die Wange. Ich lächelte leicht. „Ist schon gut. Ist ja alles gut ausgegangen.“ Raphael schnaubte entrüstet auf und wollte gerade etwas sagen, doch Cannes kam ihm zuvor. „Ja, das ist es, aber das können wir nicht ungestraft lassen. Einer der Unseren wurde angegriffen und verletzt. Sie sollte sich an uns wenden und nicht an einen - entschuldige bitte - schwachen und wehrlosen Menschen. Ich werde gleich veranlassen, dass man nach dem Werwesen sucht. Kannst du es beschreiben“ Ich schüttelte den Kopf. „Lasst mich doch erst mal ausreden. Also, am letzten Tag kam der Mann mit dem Vampirblut nicht. Dann hörte ich Geräusche und die Tür wurde aufgerissen. Raphael und das Werwesen kämpften. Schließlich hatten wir es geschafft es umzubringen. Raphael hat mir etwas von seinem Blut gegeben und mich nach Hause gebracht. Dort bin am nächsten Tag aufgewacht und dann stand auch schon Xan vor der Tür.“ Fis Blick ging zu Raphael. „Ich danke dir, dass du meine Freundin gerettet hast. Aber wieso bist du dort gewesen? Woher wusstest du, dass sie da war?“ Zum ersten Mal sagte Raphael etwas. „Ich war selber fünf Jahre dort gefangen. Als Angel… da war…“ - er vermied das Wort ‚gefoltert‘ – „…wurde mir jeden Tag etwas von meinem Blut genommen und ihr gegeben. Doch der Mann war unvorsichtig und ich konnte ihn überwältigen.“ Ich sah in die Runde. Fi hatte Trauer und Dankbarkeit in ihrer Miene. Cannes sah wütend und auch ein wenig dankbar drein und Raphael beäugte alles mit einem wachsamen Blick. Sollten sie jedoch auch nur den kleinsten Fehler machen, haben sie ein Problem, erinnerte ich mich. Aber bisher lief doch alles ganz gut, oder? Doch ich hatte keine Lust mehr hier unten rumzusitzen und in Gedanken war ich schon oben in dem himmlischen Bett. Die viel bequemer waren, als die im Zug. Ich dachte an den Abend zurück, als ich mich das erste Mal hineingelegt hatte. Unweigerlich kamen mir auch wieder die Gedanken mit Stayr im Vordergrund in den Kopf. Wie er sich immer nachts in mein Zimmer geschlichen hatte. Sich auf mein Bett gesetzt hatte oder davor gestanden hatte und sich mit mir gestritten hatte. Unser erster Kuss. Ich sah mich um. Ich hatte ihn noch nicht gesehen. Wo war er eigentlich? Ich wollte Fi fragen, aber das wäre dann doch ein wenig auffällig gewesen. Also versuchte ich es anders. Gespielt bedauernd warf ich einen Blick auf meinen leeren Teller. „Tut mir leid, dass wir nicht zusammen essen konnten. Ich hatte so einen Hunger.“ sagte ich. Fi lächelte leicht. „Kein Problem. Cannes und ich waren heute schon Essen, Xan hat gesagt sie will gleich schlafen gehen und Stayr ist verreist.“ Das erklärte, warum ich ihn noch nicht gesehen hatte. Ich spürte einen kleinen Stich, doch ich verdrängte das Gefühl sofort. Das war nicht gut. Ich war mit Raphael hier um ihn zu vergessen zu können. Um ihm zu zeigen, dass es mir nicht viel bedeutet hat. Was es aber getan hat. Und immer noch so ist. Ach, verdammt. „Dann ist ja gut. Ich geh jetzt aber auch schlafen. Ich bin müde von der Fahrt. Und ehrlich gesagt habe ich die Betten hier sehr vermisst.“ Ich zwinkerte Fi zu und nickte Cannes kurz zu. Dann nahm ich meine Hand von Raphaels und stand auf. Mit geraden und schnellen Schritten ging ich aus dem Saal. Der Teppich, der auf der Treppe lag, dämpfte seine Schritte, doch ich konnte ihn hören. Erst vor meiner Tür blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. Ich lächelte ihn an. Dann zog er mich an sich und legte seinen Mund endlich wieder auf meinen. Ich wollte mir sicher sein, was ich für ihn fühlte. Also küsste ich ihn zurück und legte meinen Arme um ihn. Ich schmiegte mich enger an ihn. Doch jederzeit konnte hier jemand langkommen. Also öffnete ich meine Tür und schob uns hinein. Doch auch nach weiteren Küssen und Umarmungen spürte ich nicht wirklich etwas. Da war gar nichts. Irgendwie. Ich löste mich sanft von ihm. Viellicht würde das ja noch kommen. Ich lächelte ihn an. Er grinste zurück. „Ich bin wirklich müde. Gute Nacht Raphael.“ Ich küsste ihn auf die Wange und ging ein paar Schritte zurück, damit er die Tür öffnen und hinausgehen konnte. „Gute Nacht Angel. Bis morgen.“ Er zwinkerte mir zu. Anscheinend hatte er meinen inneren Aufruhr nicht bemerkt. Glück gehabt. Nach dem er rausgegangen war, schloss ich die Tür, fischte meine Schlafsachen aus meinem Koffer und schloss mich dann im Bad ein um zu duschen. Die Dusche war genau wie vorher und wie immer wundervoll. Danach schlüpfte ich in meine Sachen, kämmte meine Haare nur dürftig durch und ging in den Hauptraum zurück. Ich schmiss meine Sachen auf meinen Koffer. Dann huschte ich zu meinem Bett und kuschelte mich unter die schwere Decke. Das hatte ich vermisst. Alles hier. Das Bett, die Dusche, das Essen, die Leute. Stayr. Und wenn ich mir für einen Moment mal nicht vormachte, dass ich ihn nie mochte und es nur eine kurze Sache war, wollte ich, dass er hier war. Dass er mich bei jedem Schritt, den ich tue, verfolgte. Mich mit seinem Gerede und Gestreite nervt. Dass er sich Nachts in mein Zimmer schleicht, um bei mir zu sein. Wie sehr wünsche ich ihn mir doch genau in diesem Moment herbei. Und das war der Grund, warum ich ihn vergessen musste. Es tut nicht gut, wenn ich so an ihm hänge, wenn ich ihn doch nur so wenig sehe. Wenn er für mich wahrscheinlich nicht den leisesten Hauch empfand. Ich schüttelte den Kopf. Es war schon gut, dass er nicht da war, dafür aber Raphael. Es klang mies, aber bei ihm konnte ich sicher sein, dass ich niemals so viel fühlen werde. Das war klar. Irgendwie. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Wenn Stayr morgen oder so wiederkommen würde, dann würde ich jeden Schlaf gebrauchen können. Das würde ein interessanter Urlaub werden. Wenn er wiederkommen würde.

Als ich am nächsten Tag auf die Uhr guckte, bekam ich einen Schreck. Ich hatte siebzehn Stunden geschlafen! Es jetzt kurz nach drei. Nachmittags. Scheiße, hatte ich lange geschlafen! Schnell rutschte ich unter der Bettdecke hervor und schnappte mir Sachen aus meinem Koffer. Im Bad musste ich mir die Haare kämmen, weil die hoffnungslos verheddert waren. Danach ging ich nach unten, um zu gucken ob ich vielleicht noch ein Frühstück bekam. Auf Mittagessen hatte ich jetzt kein Bock. Auf dem Weg nach unten begegnete mir niemand, nur Stefan, der mir freundlicherweise ein Frühstück brachte, aber ansonsten schien das Haus verlassen. Wo waren die denn alle? Hatte ich viel verpasst, als ich geschlafen hatte? Vielleicht sind die ja alle in die Stadt gefahren oder so. Aber ich bezweifelte, dass Raphael da mitgehen würde, wenn ich dann hier alleine in dem Haus voller ‚böser‘ Vampire wäre. Also musste er doch hier irgendwo im Haus oder in der Nähe sein. Ich aß mein Essen und ging dann die anderen suchen. Und wenn sie nicht da waren, würde ich halt ein wenig im Wald spazieren gehen. Ich klopfte oben an alle Türen, doch es war keine da. Auch nicht in anderen Räumen, dich ich vorher noch nicht mal erahnt hatte, war niemand. Also holte ich meine dicke Jacke - dieses Mal hatte ich mir sogar extra eine neue gekauft - und machte mich wieder auf den Weg in den Wald, als ich Stefan Bescheid gesagt hatte. Ich zog meine Jacke eng um mich und trat meinen Spaziergang durch einen Teil der weißen, eisigen Landschaft an. Es war ein tolles Gefühl durch den unberührten Schnee zu laufen. Ich versuchte meinen Kopf klarzubekommen und nicht an Stayr, Raphael, Vampire, Werwesen oder allgemein mein Leben zu denken. Nur an die großen Bäume, die dahinter liegenden Wiesen und der leise rieselnde Schnee. Es war so schön hier, trotz der nervenden Kälte. Und ehrlich gesagt, mehr als einen Urlaub würde ich hier wegen der beschissenen Kälte nicht aushalten. Und tatsächlich schaffte ich es, alles auszublenden und mich nur auf meine Umgebung zu konzentrieren. Doch in diesem weißen Land war es mir wohl verwehrt, mehr als sein paar Minuten alleine zu sein. Ich hörte seine Schritte, bevor er etwas sagen konnte. Ich setzte ein Lächeln auf, dann erschien er vor mir. „Was machst du hier alleine draußen?“ fragte Raphael und sah mich misstrauisch an. Ich lächelte ihn leicht spöttisch an. „Ich wollte ein wenig spazieren gehen und ich hab niemanden im Haus gefunden, deswegen dachte ich, ihr seid in der Stadt oder so. Außerdem…“ - ich beugte mich näher zu ihm hin – „…bin ich erwachsen, weißt du." sagte ich mit einem Zwinkern. Er griff mir unter das Kinn und hielt meinen Blick mit seinem fest. „Ich weiß, aber aus offensichtlichen Gründen hab ich mir Sorgen gemacht.“ Ich wusste, dass er mich küssen würde, doch ich tat nichts dagegen, trotz meiner zweifelnden Gefühle und Gedanken ihm gegenüber. Ich ließ mich küssen und küsste ihn. Ließ mich gegen den Baum hinter mir drängen und seine Hände um meine Taille legen. Doch wie immer fehlte der Funken. Das Verlangen, was ich bei Stayr immer gefühlt hatte. Ich versuchte es anders. Ich ließ meine Hände über seinen Rücken in sein Haar wandern und presste mich an ihn. Seine Hände waren auf meiner Hüfte und hielten mich fest an ihn gedrückt. Aber es brachte nichts. Ich löste mich mit einem leisem Lachen, weil alles so absurd war. Er hob den Kopf und starrte auf mich hinunter. „Lass und wieder zurückgehen, du holst dir noch den Tod bei diesen Temperaturen.“ murmelte er und drückte mir noch einen kleinen Kuss auf den Mund. Dann nahm er meine Hand und zog mich in Richtung des Hauses. „Endlich mal einer, der mich versteht. Es ist wirklich schweinekalt hier.“ sagte ich und grinste ihn an. Die Sonne ging gerade unter und färbte den Horizont orange und rot. Wir gingen den Rest des Weges ohne ein Wort und Hand in Hand. Zusammen gingen wir auch die Treppe hinauf und er machte mir die Tür auf, dafür entnahm er mir seine Hand. „Wenn ich bitte darf.“ sagte er förmlich, verbeugte sich und verkniff sich das Lachen. Ich hingegen kicherte. „Dankeschön.“ erwiderte ich genauso förmlich und kicherte wieder. In der Halle kam er auf mich zu und bot mir seinen Arm an. Ich hakte mich unter und kicherte immer noch. Ich wusste nicht, was es war, aber es fühlte sich steinhart an, als ich hineinrannte. Raphael knurrte sofort und riss mich an sich, drehte uns leicht, damit er vor mir stand und legte seinen Arm um mich. Ich versuchte an ihm vorbeizugucken um einen Blick auf das Hindernis zu erhaschen. Ich erstarrte. Mein Herz setzte aus, nur um dann dreifach so schnell weiterzuschlagen. Ich keuchte. Er sah genauso aus wie vorher. Und wie in dem Keller. Stayr. Er war hier?! War er nicht verreist? Was machte er hier? Bin ich gegen ihn gerannt? Ich spürte ein Kribbeln. Ich sehe ihn tatsächlich wieder, trotz der Hoffnungslosigkeit, der Folter und all dem anderen Scheiß. Und jetzt stand er hier. Vor mir. Und sah Raphael mit einem Blick an, den ich nicht deuten konnte. „Hallo Angel.“ sagte er. Mehr nicht. Nur das. Dann reichte er Raphael die Hand. „Stayr.“ Raphael sah auf die Hand hinunter und nahm sie schließlich und schüttelte sie leicht. „Raphael.“ stellte er sich vor. Sein Arm, der um mich gelegt war, lockerte sich ein wenig. Ich trat soweit es ging einen Schritt vor, um Stayr gegenüber zu stehen. „Hey...“ bekam ich nur heraus. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, dann ging er. Raphael zog mich zur Treppe, als ob nichts geschehen wäre. Doch an der ersten Stufe drehte ich mich nochmal um und sah ihm nach. Er stand an der Tür zum Saal und unsere Blicke begegneten sich. Man könnte fast sagen, er schaute traurig. Ich drehte mich verwirrt wieder um und ließ mich von Raphael die Stufen hochziehen. Er verabschiedete sich von mir vor meiner Zimmertür, küsste mich nochmal kurz und verschwand dann selber. Um sieben würde es Abendessen geben, mit allen zusammen. Fi und Cannes, Xan, Raphael, Stayr und mir. Davor ging ich aber nochmal duschen, um meine Knochen aufzuwärmen und zog mir etwas Anderes an. Pünktlich um sieben ging ich dann nach unten und betrat den Saal. Xan und Fi saßen schon da und tuschelten. Als ich reinkam sahen sie auf und verstummten. Ich setzte mich zu ihnen. „Na, was ist so wichtig, dass ich es nicht wissen darf.“ Ich grinste sie an und zeigte, dass mir nichts entgangen war. „Nichts, wirklich. Und ehrlich gesagt haben wir auch nicht über dich geredet.“ sagte Xan und zwinkerte mir zu. Dann kam Raphael und setzte sich neben mich und auch Cannes und Stayr betraten den Raum für das abendliche Essen. Unsicher sah ich zu Stayr, der meinen Blick aber mied. Er schaute nicht einmal zu mir rüber, außer einmal, da sah er allerdings nur zu Xan, um sie zu begrüßen. Fi ging um den Tisch herum zu Cannes. Xan blieb rechts von mir und Raphael links von mir sitzen. Dadurch fühlte ich mich ein bisschen gewappneter wegen Stayr. Er nahm elegant wie eh und je Platz neben Cannes und sah mich immer noch nicht an. Gut so, dachte ich zähneknirschend. Stefan kam mit dem Essen und nachdem wir alle etwas hatten, fingen wir an zu Essen. Niemand sagte etwas. Bis Stayr plötzlich die Stille durchbrach. „Also, wie habt ihr euch denn kennengelernt?“ fragte er und warf einen Blick auf Raphael, der anscheinend nichts Böses oder Anderes hinter dieser Frage vermutete. „Es waren nicht direkt schöne Umstände und ich weiß nicht, ob du sie schon weißt.“ Stayrs Blick blieb auf Raphael liegen und schaute mich immer noch nicht an. „Ja. Angel wurde von einem Werwesen entführt und gefoltert.“ Er sagte es mit einer Gleichgültigkeit, die mir den Atem verschlug. Fi sog scharf die Luft an und wollte gerade etwas sagen, doch ich unterbrach sie. „Ist schon gut.“ beruhigte ich sie und richtete meinen Blick auf Stayr. Und tatsächlich, sein Blick huschte auch kurz zu mir. Er hob eine Braue und sah mich an. Ich spürte, wie Raphaels Hand sich auf meinen Oberschenkel legte, offenbar hatte er endlich bemerkt, dass zwischen mir und Stayr nicht alles in Ordnung war. „Ja.“ fuhr er mit kalter Stimme fort und Stayrs Blick wechselte wieder zu ihm. „Ich wurde ebenfalls dort gefangen gehalten und habe sie schließlich daraus gebracht.“ Er fasste sich genauso kurz wie Stayr, der nun die Augen zusammenkniff. „Du hast sie also gerettet. Also wusstest du wo sie wohnte?“ Moment mal, was war das denn für eine Frage? Jedoch, selbst wenn sie dumm war, würde mich das aber interessieren. Woher hatte er gewusst, wo ich wohnte? „Ehrlich gesagt kann ich mich auch nicht mehr wirklich an jene Nacht erinnern. Nur noch, dass wir in dem Keller waren und als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war ich in ihrer Küche.“ Na gut, ich wusste ja, dass er nicht wirklich viel von jener Nacht wusste, er hatte es mir ja in der Küche gesagt. Vielleicht hatte er mich unterbewusst daraus geschleppt und instinktiv gehandelt. War doch alles möglich. Irgendwie. Jedoch war da noch etwas Anderes. Als ich dachte, ich würde sterben und fast verblutet da am Boden lag, verlor ich doch das Bewusstsein, oder? Dann war Stayr bei mir. Hatte mich in den Arm genommen und mir gesagt ich solle schlafen. Und Raphael hatte fast tot am anderen Ende des Raumes gelegen. Und der Geschmack des Blutes war auch ein Anderer gewesen. Es hatte nicht nach dem Blut geschmeckt, was ich nach der Folter bekommen hatte, welches doch Raphaels gewesen war. Jemand anderes hatte mir sein Blut gegeben, aber außer Raphael war kein Vampir da in dem Keller gewesen. Außer... Ich keuchte und meine Gabel fiel klirrend auf den Teller. Alle starrten mich an, doch es war mir egal. Raphael hatte das Werwesen fast umgebracht, ja, aber schlussendlich war es nicht er gewesen, der mir sein Blut gegeben hat und mich zu mir gebracht hatte. Stayr war es gewesen. Er hatte mich gerettet. Er war bei mir gewesen. Ich sprang auf, murmelte etwas von wegen mir sei plötzlich schlecht geworden und ich bräuchte frische Luft. Die konnte ich jetzt wirklich gebrauchen um einen klaren Kopf zu bekommen, denn mein Verstand raste. Ich war vier Tage in dem Keller gewesen. Man brauchte ungefähr zwei Tage um von hier nach Deutschland zu kommen. Und selbst dann wusste er nicht wo ich war, das hieß, er musste erst meine Spur finden. Welches wiederum zeigt, dass er wusste wo ich gewesen war, um sie aufzunehmen. Wie lange hatte er es gewusst? Wie lange war er schon in Deutschland gewesen? Und warum hatte er Raphael auch daraus geholt? Verdammt, so viele Fragen, obwohl ich ihn doch aus meinem Leben streichen wollte. Ich setzte mich auf die Treppe. Trotz der eisigen Luft war mir nicht kalt. Mir war sogar ziemlich warm. Stayr hatte mich gerettet. Ich bedeutete ihm etwas. Ein gutes Gefühl strömte durch meinen Körper und ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Aber warum war er nicht bei mir geblieben? Er war ja noch länger in Deutschland geblieben und war erst heute wiedergekommen. Warum awr er nicht mit zu mir gekommen? Er hatte mich ja praktisch Raphael überlassen. Bedeutete ich ihm doch nicht so viel? Oder hatte er mich nur aus Nächstenliebe und Mitleid daraus geholt. Das würde auch Raphael und seine Abwesenheit erklären. Aber nicht sein patziges Verhalten beim Essen oder den wehmütigen Blick an der Treppe. Verdammt, was für ein Spiel spielte er hier? Ich zuckte zusammen, als ich merkte, das mir etwas über den Rücken gelegt wurde. Jemand setzte sich neben mich. Und dieser jemand war ein Vampir. Wahrscheinlich wieder Raphael, der sich um mich sorgte und Angst hatte, dass mir Stayr, Cannes oder gar Fi etwas antun würden. Langsam ging es mir echt auf die Nerven. Das hatte nichts von der Art an sich, wie Stayr mich immer nervt - oder vielmehr genervt hatte -, sondern das war wirklich nervend und ermüdend. Ich sah auf einen Ärmel hinunter, der über meinem Arm lag. „Das ist wirklich lieb von dir, aber mir ist gerade echt warm. Und außerdem hätte ich gerne ein paar Minuten für mich, Raphael.“ Ich wollte mir die Jacke vom Rücken ziehen, doch eine Hand auf ihr, meinem Rücken, hielt sie wo sie war. „Du wirst sonst erfrieren.“ sagte die Stimme. Ich versteifte mich. Das war nicht Raphaels Stimme. Definitiv nicht. Ich drehte mich zu Stayr um. „Was machst du hier?“ fragte ich ihn müde. „Du bist einfach rausgerannt und ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“ sagte er. „Sorgen? Du hast dir Sorgen um mich gemacht?!“ Ich lachte ein bitteres, unechtes Lachen. „Tut mir leid, aber das kann ich dir nicht glauben. Und lass mich jetzt bitte alleine.“ Ich stand auf, klopfte mir den Schnee von der Hose und ging in Richtung Wald. Obwohl ich schnelle und große Schritte machte, bemerkte ich, dass Stayr immer noch hinter mir war. „Nein.“ Das brachte mich dann doch zum Stehen. „Nein?! Stayr, ich weiß deine Geste sehr zu schätzen, dass du mir meine Jacke rausgebracht hast…“ und es war wirklich meine Jacke, was erschreckend war, da sie doch eigentlich in meinem Bad hang, um zu trocknen „…aber ich würde wirklich gerne kurz Zeit für mich haben. Ich habe viel, worüber ich nachdenken und worüber ich mir klar werden muss.“ Ich hätte ihn nur zu gerne gefragt warum er mich gerettet hatte. Warum er mich danach alleine gelassen hatte. Was er wirklich für mich fühlte, aber das hielt ich dann doch zurück. Er musste ja nicht alles wissen. Er sah mir in die Augen. Sie waren vollkommen anders als die von Raphael. Das waren die Augen, die ich vermisst und herbeigesehnt hatte. „Nachdenken? Worüber?“ Ich murmelte ein ‚egal‘ und lief weiter. Doch natürlich folgte mir Stayr. Er hielt mich am Arm fest und zog mich zu sich zurück. Als ich wieder vor ihm stand, sah ich auf seinen Arm hinunter, bis er ihn wegnahm. Dann sah ich wieder hoch in sein Gesicht. Schließlich konnte ich es nicht mehr zurückhalten. „Du hast mich gerettet. Uns gerettet. Mir dein Blut gegeben und uns in meine Wohnung gebracht. Stimmt‘s?“ fragte ich ihn leise. Er sah an mir vorbei, in die dunklen Tiefen des Waldes hinein. Eine Weile standen wir so schweigsam da. Aber dann richtete sich sein Blick auf mich. „Ja. Ich habe euch da rausgeholt und dir mein Blut gegeben.“ Er sagte es in demselben leisen Tonfall wie ich. „Warum? Warum warst du da? Woher wusstest du es? Oder wo ich war? Das ergibt doch alles keinen Sinn. Und warum bist du dann nicht bei mir geblieben?“ Bei dem letzten Satz boxte ich ihm gegen die Brust. Verdammt nochmal, warum war er wieder gegangen? Er blieb ruhig stehen und starrte mich an. „Ich hätte dich schon früher daraus geholt und es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Er sah mich bedauernd an und ich erinnerte mich daran, dass er geflucht hatte, als er im Keller bei mir gewesen war und mich gesehen hatte. „Das erklärt aber noch nicht den Rest.“ Stayr seufzte. „Ich war schon vorher in Deutschland gewesen. Ungefähr drei Tage. Zwei Tage nach eurer Abreise bin ich hinterher gefahren. Ich wollte dich wiedersehen. Ich musste dich suchen und an jenem Abend, als du entführt wurdest, fand ich deine Wohnung. Ich wartete, doch du kamst nicht. Also suchte ich dich und fand dann dein Auto und die Spuren des Werwesens. Es war schwer euch ausfindig zu machen, aber ich schaffte es. Dann musste ich mich noch unbemerkt reinschleichen und dich finden. Ich habe deine Schreie zum ersten Mal gehört, als ich mich gerade versteckt hatte. Ich gab das Verstecken auf und metzelte alles nieder, was mir in die Quere kam. Als ich dann bei dir war, lagt ihr drei auf dem Boden. Der Vampir ohnmächtig, das Werwesen tot und du, völlig blutverschmiert und grausam zugerichtet, halb tot unter ihm. Ich habe dir mein Blut gegeben und als du eingeschlafen bist, habe ich euch beide zu dir nach Hause gebracht. Ihn habe ich in die Küche gesetzt und dich in dein Bett gelegt. Am nächsten Tag wollte ich nach dir sehen, aber du warst weg. Mit ihm. Ab da konnte ich nichts mehr für dich tun, du hattest dich entschieden und ich wollte dich nicht daran hindern. Also habe ich mich in den nächsten Zug gesetzt und bin hierhergekommen. Und war ziemlich überrascht euch hier anzutreffen.“ Mein Kopf schwirrte und versuchte alles zu verarbeiten, was er mir gerade gesagt hat. Aber ich hatte schon am Anfang aufgehört ihm zuzuhören. Um genau zu sein bei dem Satz ‚Ich wollte dich wiedersehen‘. Er war mir hinterhergefahren? Er hat sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt um mich zu befreien? Ich ging einen Schritt zurück, um meine Gedanken zu ordnen. Wie war das möglich? Empfand er doch mehr für mich? Stayr machte einen Schritt auf mich zu und hob mein Kinn an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. Ich versuchte mich abzuwenden, es war mir doch ein wenig unangenehm, nach seinem Geständnis. Wie lange ging das schon so? Und was genau empfand er für mich? Doch schließlich brachte ich nur einen Satz heraus. „Du wolltest mich wiedersehen?“ fragte ich leise. Stayr sah mir in die Augen. „Ja Angel, das wollte ich.“ „Wieso?“ Ich war ehrlich verwirrt. Er lachte leise. „Weil ich dich liebe, Angel.“ flüsterte er. Ich erstarrte. Er... liebte mich? Ich spürte eine warmes Kribbeln und Glücksgefühle aufsteigen. Er liebte mich! Mein Blick fiel auf das Haus ein Stück hinter ihm. Mit einem Schlag dachte ich wieder an Raphael, der noch in dem Haus war. Ich war doch mit ihm hergekommen, um Stayr zu vergessen und nicht um ihm glücklich in seine Arme zu fallen. Erschrocken löste ich mich von Stayr. „Was ist los?“ konnte ich ihn noch sagen hören, dann rannte ich zurück zum Haus. Ich musste unbedingt eine größtmögliche Entfernung zwischen uns beiden bringen. Wenn nötig die gesamte Welt. Ich hechtete die Treppe hinauf und riss die große Eingangstür auf. Erst als ich in der dunklen, kleinen Halle stand, blieb ich stehen. Ich warf einen Blick in den Saal. Er war leer. Gut, so hatte zumindest keiner meine Flucht richtig bemerkt. Fi, Cannes und Raphael hatten mich aber wahrscheinlich dennoch gehört. Ich blieb kurz stehen, um tief Luft zu holen. Doch ich hatte die dämliche Vampirgeschwindigkeit vergessen. Die Tür rauschte auf und Stayr trat ein. Sofort stellte ich mich gerade hin, straffte meine Schultern und wollte mich auf den Weg zur Treppe machen. Aber natürlich klappte das nicht. Stayr schnappte sich wieder meinen Arm, bevor ich überhaupt die erste Stufe erreichen konnte und drehte mich schwungvoll zu ihm herum. Dann drängte er mich gegen die Wand. Ich spürte seinen Körper fast überall an meinem und das im Moment völlig unpassende Verlangen nach ihm überkam mich. Er sah mir in die Augen, wie gerade im Wald. Dann senkte er seine Lippen auf meine und küsste mich. Ich weiß, es verstößt schon wieder gegen meinen Vorsatz, aber wie lange habe ich darauf jetzt gewartet? Viel zu lange, beschloss ich, öffnete meinen Mund und fuhr mit meiner Zunge über seine Lippen. Seine Hände lösten sich von meinen Armen und legten sich um meine Taille. Ich ließ meine in sein Haar wandern. Er öffnete jetzt auch seinen Mund und küsste mich. Ich zog ihn enger an mich. Ich hatte alles vermisst. Seine weichen, kurzen Haare, seinen Geschmack, seinen Geruch. Er hat gesagt, dass er mich liebt! Glücksgefühle überkamen mich wieder. Bei Raphael hatte ich so etwas nie gefühlt. Plötzlich wurde Stayr von mir weggerissen. Was sollte das? Wir waren noch gar nicht fertig! Die dunkle Halle wurde von einem leuchtendem Augenpaar erhellt. Raphaels. Was machte er hier? „Lass deine Finger von ihr.“ knurrte er. Stayr hatte sich schnell wieder gefangen und baute sich bedrohlich vor ihm auf. „Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe. Erst recht nicht, wenn es um Angel geht.“ Stolz überkam mich. Er stand zu mir! Raphael machte einen Schritt auf Stayr zu, doch dieser blieb genauso grimmig dreinblickend stehen und ließ sich nicht einschüchtern. „Sie gehört mir.“ zischte Raphael. Ähh.. Moment mal. Ich hatte nichts dagegen, dass mich gerne nur für sich hat, aber ‚Sie gehört mir‘, war mir dann doch zu besitzergreifend. Wir hatten nur ein paar Mal geknutscht, das hieß aber doch noch lange nicht, dass ich ihm gehörte wie eine Trophäe oder so. Stayr grinste. „Das sieht sie anders.“ sagte er. Ich lächelte leicht und zwinkerte ihm zu. Er hatte Recht. Natürlich. Raphael drehte sich zu mir um und ich ließ das Lächeln erlöschen und guckte ihn an. Ich nickte ihm zu, um ihm zu zeigen, dass es mir nicht gefallen hatte, was er gesagt hatte. Er drehte sich wieder zu Stayr um und ich konnte nicht erkennen, wie er darauf reagierte. Doch dann stürmten die Beiden aufeinander zu und ich konnte so oder so nicht mehr viel erkennen. Sie waren viel zu schnell. Manchmal blitzen die leuchtenden Augen auf, aber ansonsten konnte ich in der Dunkelheit nur umeinander wirbelnde Schatten erkennen. Sie sollten nicht streiten, ganz zu schweigen von todbringenden Kabbeleien. Ich mochte sie doch beide! Konnte man das nicht friedlich klären? Am Ende würden sie sich noch gegenseitig umbringen. Würde Raphael Stayr töten? Ich keuchte. Das durfte er nicht. Ich stolperte auf die Beiden zu, die der Ecke mit der Statue immer mehr kamen. Sie verlangsamten ihr Tempo und ich sah, dass Stayr ihn in die Ecke getrieben hatte. „Bist du dir jetzt sicher, dass ich mir nichts vorschreiben lasse?“ fragte er herablassend und drehte sich um. Doch er sah nicht, wie Raphael sich lautlos die Statue schnappte und nach Stayr ausholte. Zu meinem Glück tat er es in normaler Geschwindigkeit. Ich stellte mich aus Reflex zwischen Stayr und dir herabsausende Statue. Ich wusste, es war dumm, da sie Stayr nicht so viel anhaben konnte wie mir, aber es war wie eine Art Instinkt. Er drehte sich noch herum, aber es war schon zu spät, die Statue schwang auf meinen Kopf zu. Ich spürte den Aufprall und wurde zur Seite geschleudert. Schmerz explodierte in meinem Kopf. Ich sackte zu Boden und drückte meine Hand an die schmerzende Stelle über der Schläfe. Langsam wurde alles schwarz. Das Letzte was ich sah, war das Raphael sich wieder auf Stayr stürzen wollte und gar nicht bemerkt hatte, dass ich die Statue abbekommen hatte und nicht Stayr. Dieser hatte es bemerkt und sah mich bestürzt an. Er brüllte nach Cannes und plötzlich war der da und beschäftigte sich mit Raphael, der immer noch tobte. Stayr kniete über mir und ich schaffte es noch, ihn anzulächeln. Die Wunde war schlimm und am Kopf. Wenn er mir nicht etwas von seinem Blut geben würde, werde ich jetzt das letzte Mal die Augen schließen.

Ich wachte ohne Kopfschmerzen auf. Ich ließ meine Hand zu der Stelle gleiten, wo ich die Statue gegen den Kopf bekommen hatte. Noch nicht mal eine Beule! Stayr hatte mir anscheinend sein Blut gegeben. Erst jetzt spürte ich die schwere Decke auf meinem Körper und das weiche Kissen unter meinem Kopf. Und ein Arm, der um meine Taille geschlungen war. Ich öffnete meine Augen und warf einen Blick neben mich. Stayr lag schlafend neben mir im Bett. Ich lächelte und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er liebte mich! Mich und keine Andere. Aber ich hatte trotz aller Gemütlichkeit hier noch ein Hühnchen mit Raphael zu rupfen. Er hatte nicht mal gemerkt, dass er mich tot geschlagen hatte. Wäre Stayr nicht gewesen, der Cannes gerufen und sich um mich gekümmert hatte, wäre ich jetzt tot. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und wollte mich lösen. Doch er zog mich nur noch enger an sich. Ich griff nach seinem Arm und hob ihn leicht an und mich darunter hervor zu winden. Ich schaffte es tatsächlich und rutschte unter der warmen Decke hervor. Ein großer Blutfleck auf meinem Oberteil erregte meine Aufmerksamkeit. Ich musste mich wahrscheinlich vorher noch mal umziehen und schnappte mir schnell und leise, um Stayr nicht zu wecken, ein paar Sachen und schloss mich im Bad ein. Als ich mich ein wenig frisch gemacht hatte, schloss ich auf und legte meine anderen Sachen zu dem Koffer. Dann ging ich auf Zehenspitzen zur Tür und schaffte es, hinauszugehen, ohne das Stayr aufwachte. Ich huschte über den Flur nach unten in den Saal, in der Hoffnung Fi oder Cannes zu treffen, da sie bestimmt wussten, wo Raphael war. Als ich in den Saal schaute, sah ich zwar nicht Fi, aber Cannes saß auf einem der Stühle und aß etwas. „Hei.“ Ich lächelte ihn matt an. Er lächelte mich auch an. „Guten Morgen Angel. Geht es dir besser?“ fragte er und ich nickte. „Ich hab eine Frage.“ Cannes nickte und ich sah ihn ernst an. „Wo ist er. Wo ist Raphael?“ Cannes sah erschrocken auf, er hatte auf das Essen geschaut, dass vor ihm stand. „Wieso willst du das wissen?“ Aus seiner Stimme konnte ich leichtes Misstrauen heraushören. „Aus offensichtlichen Gründen habe ich etwas mit ihm zu besprechen.“ Cannes schien eine Weile zu überlegen, dann nickte er. „Na gut, ich werde dich zu ihm bringen.“ Er stand auf und deutete mir, ihm zu folgen. Er ging durch den Saal und durch die Halle, dann durch eine unscheinbare Tür, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Dahinter war eine kleine Treppe, die nach unten führte und dann ein steinerner Gang. Es erinnerte mich sehr an meine Zeit in dem unterirdischen Kellersystem. Ich blieb kurz stehen und verdrängte die Gedanken daran. Das konnte ich jetzt nicht gebrachen. Ich richtete mich wieder auf und wir gingen weiter. Am Ende des Ganges war eine Metalltür, mit einem schweren Riegel. Cannes machte ihn auf und ging hinein. Unsicher und auch ein wenig verängstigt folgte ich ihm und fand mehrere Zellen vor. Und in einer von ihnen saß Raphael. Als er mich sah, sprang er von einer kleinen hölzernen Bank auf, die bei ihm in der Zelle stand. „Angel! Du musst ihnen sagen, dass sie mich hier rauslassen müssen.“ Ich zuckte leicht zurück. Das hatte ich nicht erwartet. Kein ‚Es tut mir leid, dass ich die eine Statue gegen den Kopf geknallt habe und dich damit fast umgebracht habe‘. „Ich wollte mit dir reden.“ Ungeduldig sah er mich an, schien mir aber zuzuhören. „Du hättest mich umgebracht, wäre Stayr nicht gewesen!“ Interessierte er sich ehrlich nur für sich? Er hatte mich theoretisch totgeschlagen. „Das tut mir leid. Ich wollte ihn treffen, nicht dich.“ Tolle Entschuldigung. Das war fast genauso schlimm, auch wenn es Stayr deutlich weniger angetan hätte. Dennoch war Stayr mir wichtiger. Wichtiger als mein Leben. Verdammt, jetzt hatte ich nicht die Zeit daran zu denken, es gab dafür bestimmt einen passenderen Moment. Einen, der nicht vor meinem Beinahe-mörder war. „Ja, das habe ich gemerkt.“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Du musst mich verstehen - er hat dich geküsst, obwohl du mit mir da warst. Du gehörst…“ er unterbrach sich und erinnerte sich anscheinend daran, dass ich das nicht so gerne hatte. War auch besser für ihn. „Ja... das sagtest du gestern schon. Aber ich glaube, dass mit uns wird nichts, Raphael. Du bist wirklich nett – bis auf gestern Abend – gutaussehend und so weiter. Aber mehr ist da nicht. Tut mir leid.“ Er sah mich überrascht und ein wenig gekränkt an. Was schon verwunderlich ist. Immerhin war er ein Vampir und ich nur ein Mensch, wenn man anderen seiner Art glauben darf, waren wir nicht mehr wert, als eine blutige Mahlzeit. „Aber ich habe dich gerettet.“ sagte er und der flehende Ton war nicht zu überhören. Ich wollte gerade etwas erwidern, doch eine mir sehr vertraute Stimme unterbrach mich. „Falsch. Ich habe sie gerettet, sie hat mein Blut getrunken und ich hab sie nach Hause gebracht. Und dich übrigens auch.“ Stayr trat neben mich und legte mir einen Arm um die Taille. Er strahlte Wut aus und ich konnte mir auch denken, wieso. Ich war einfach ohne ihn nach hier unten gekommen, ohne ihm etwas davon zusagen. Für ihn ging von Raphael Gefahr aus, da er mich niedergeschlagen hatte und einfach nur ein Mann war, der mir schon mal zu nahe gekommen war. Aber ich wagte zu bezweifeln, dass er mir jetzt gefährlich werden konnte, hinter diesem Gitter. Doch er sagte nichts und sah Raphael an. Dieser warf einen Blick auf den Arm, der um meine Taille geschlungen war und wurde wütend. „Du hast uns gerettet?“ Argwohn war in seiner Stimme und Unglaube. „Und wie willst du da rein gekommen sein? Sag‘s ihm Angel, das ist doch unmöglich. Er wusste doch auch nicht, wo du wohnst. Und…“ Er sah zu Stayr „…lass deine Finger von ihr.“ Ich sollte ihm was sagen? Und schon wieder dieses ‚Sie gehört mir‘ und ‚Lass sie in Ruhe‘. Das regte mich echt auf. Er hatte nicht darüber zu bestimmen ob Stayr mich berühren durfte oder nicht, das war ganz allein meine Entscheidung. „Was soll ich ihm sagen, Raphael? Stayr wusste, wo ich wohnte und es war sein Blut, was ich geschmeckt hatte. Ich wusste doch wie deines schmeckt und dieses war anders. Außerdem hatte ich dich gesehen, du lagst bewusstlos am Boden und das Werwesen kroch auf mich zu. Stayr hat uns gerettet. Und du hast Anderen nicht vorzuschreiben, wie sie sich zu benehmen haben.“ Ein Seitenblick auf Stayr zeigte mir, dass er grinste und mich enger an sich zog. Ich drehte mich zu Cannes um. „Was passiert jetzt mit ihm?“ Cannes zuckten mit den Schultern. „Ich weiß nicht genau.“ Ich überlegte. Er hatte mich ja schon ein wenig mitgerettet, immerhin hat er das Werwesen beschäftigt, als ich mich befreit hatte. Und er hatte ja anfangs nur mit Stayr gestritten, weil ich ihn geküsst hatte. Er war zwar eindeutig zu weit gegangen, aber seine Wut war ansatzweise zu verstehen. Und er war ja auch mit hergekommen und wollte mich beschützen. „Wirst du uns oder einem der ihren Probleme machen?“ fragte ich Raphael. Er schaute von Cannes zu Stayr zu mir. Dann schüttelte er den Kopf. „Nun gut. Wenn du es schwörst, dann kannst du gehen. Und niemals wiederkommen oder dich einem der meinem nähern. Verstanden?“ Cannes Stimme war schneidend. Raphael nickte ernst. Cannes klimperte mit Schlüsseln und schritt vor die Zelle. Stayr zog mich an die Wand, aus dem Weg, damit möglichst viel Platz zwischen mir und dem anderen Mann war. Als die Tür offen war, kam Raphael aus der Zelle. Er stellte sich vor mich und streckte eine Hand nach mir aus. Stayr knurrte und zog mich hinter seinen Rücken. Das ging jetzt auch ein wenig zu weit und ich klopfte ihm auf den Rücken, aber es interessierte ihn nicht. Raphael seufzte. „Ich wollte nur noch ein paar Worte mit Angel wechseln.“ Ich trat einen kleinen Schritt hinter Stayr hervor, sodass er mich ansehen konnte und ich ihn. „Es war schön dich kennenzulernen, Angel. Und du willst wirklich nicht mitkommen?“ Stayrs Knurren wurde kurzzeitig zu einem Fauchen. „Nein. Raphael, ich bleibe hier.“ Raphael nickte und ging dann, begleitet von Cannes, den Gang entlang. Erst, als man kurze Zeit später die Tür ins Schloss fallen hörte, lockerte Stayr seinen Griff. Ich löste mich von ihm und stellte mich neben ihm. Er sah mich nicht an und rauschte aus dem Raum. Ich seufzte. Er war wohl doch noch sauer. Ich ging kurz danach raus und traf in der Halle auf Fi. „Hey, hast du Lust mit in die Stadt zu kommen? Xan braucht noch etwas und Cannes will wissen, ob Raphael auch wirklich verschwindet. Tut mir übrigens sehr leid was passiert ist.“ Sie wies auf meine verheilte Kopfwunde. „Schon gut.“ Ich warf einen Blick zur Treppe, irgendwo musste Stayr stecken und wir hatten noch etwas zu besprechen. Mein Blick wandte sich wieder Fi zu. „Aber ich glaube ich bleibe hier. Mir ist es einfach zu kalt draußen. Aber trotzdem viel Spaß.“ Fi nickte und sah mich ein wenig mitleidig an. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich wegen Raphael nicht mitkomme. Es war doch ziemlich offensichtlich gewesen, dass wir ein bisschen mehr als Freunde gewesen waren. Sie verließ die Halle und hörte das Auto vom Hof fahren. Ich atmete tief ein und erklomm die Treppe. Vielleicht war er ja in meinem Zimmer, sodass ich nicht alle anderen durchkämmen musste. Zaghaft öffnete ich meine Tür, unwissend was sich dahinter verbarg. Immerhin war mit einem ernsthaft wütenden Vampir nicht zu spaßen. Ich schloss die Tür wieder hinter mir und sah mich dann im dem Raum suchend nach Stayr um. Er lehnte an dem Türrahmen zum Bad und schaute mich finster an. Oh ha. „Also… ähm, du scheinst sauer zu sein.“ fing ich an und ging einen zögernden Schritt auf ihn zu. Er schnaubte, stieß sich von dem Holzrahmen ab und kam ein paar Schritte auf mich zu. „Du bist einfach zu ihm gegangen. Nachdem er dich niedergeschlagen hat!“ knurrte er wütend. „Ich wollte nur mit ihm reden!“ erwiderte ich ein wenig bissig. Er zog eine Braue hoch. „Und was wäre, wenn Cannes ihn nicht in eine Zelle, sondern in sein Zimmer zurück gesteckt hätte? Dann wärest du mit diesem Irren alleine gewesen. Wer weiß was der alles mit dir gemacht hätte in seiner Eifersucht und Raserei.“ Hörte ich da ein wenig Eifersucht raus? Ich lächelte leicht. „Cannes war doch dabei.“ sagte ich und ging noch einen Schritt auf ihn zu. „Ich war nicht dabei.“ warf er leise, jedoch mit einer großen Aussagekraft, in den Raum. Jetzt lachte ich leise. Er war doch eifersüchtig. „Du hast geschlafen und ich wollte dich nicht wecken, um einen neuen Streit zu entfachen, der wieder so ausgeht wie gestern.“ Ich erinnerte mich an den Schlag und auch Stayr verzog leicht das Gesicht. „Du hättest mich wecken können und ich hätte schon dafür gesorgt, dass es nicht so ausgeht wie gestern.“ „Das wäre es aber fast.“ Ich konnte fast wieder sein Fauchen und Knurren hören, als Raphael mir zu nahe kommen wollte. Plötzlich stand Stayr vor mir, ergriff meine Arme und starrte mir in die Augen. „Er wollte dich anfassen!“ entfuhr es ihm. „Ja, aber er ist doch gegangen. Er ist weg Stayr, und er wird auch nicht wiederkommen.“ Beruhigte ich jetzt etwa einen Vampir?! Ich schüttelte den Kopf und löste meine Arme aus seinem festen Griff. Dann legte ich sie ihm um den Hals. Er sah immer noch ein wenig missmutig drein. Ich zog ihn zu mir runter und küsste ihn kurz auf den Mund. Dann zog ich mich zurück und schaute ihn wieder an. Seine Gesichtszüge tauten ein wenig auf. Ich beugte mich nochmal vor und küsste ihn wieder kurz. Als ich mich zurückzog, legte er seine Arme um meine Taille und lächelte mich leicht an. „Versprich mir eines.“ flüsterte er. Ich zog meine wartend hoch Brauen hoch. „Und was?“ fragte ich ihn. „Versprich mir, dass dich nie wieder ein Anderer dich anfasst. Nie wieder.“ Darum ging es also. Dieses Versprechen konnte ich ihm leicht geben und nickte lächelnd. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht und er wollte sich zu mir herunterbeugen, wahrscheinlich um mich zu küssen. Es war zwar schwer, aber ich schaffte es, ihn zurückzuhalten. Ich wollte auch mein Versprechen. „Du hast ein Versprechen. Ich will auch eines. Und ich habe eine Bitte, die dir eine Hilfe sein könnte, dein Versprechen zu halten.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Und was wäre das?“ wollte er wissen. „Mein Versprechen ähnelt deinem. Ich will, dass du dich nie wieder einer anderen Frau näherst. Zumindest nicht so wie du dich mir näherst.“ Er schien gar nicht zu überlegen, sondern nickte sofort. Das erfüllte mich wieder mit einem angenehmen Kribbeln. Nie wird eine andere ihn anfassen. Nur ich. Er war der Meine. „Und was ist die Bitte?“ Ich grinste ihn an und löste mich aus seiner Umarmung. Ich stellte mich einen Schritt von ihm entfernt auf und stellte mich so hin, dass ich einen festen Stand hatte. „Ich will…“ fing ich an und überlegte wie ich es ihm sagen würde. Das war gar nicht so leicht, wie ich gedacht hatte. „Ja...?“ fragte er. Ich holte tief Luft „Ich will... dass du mich verwandelst.“ brachte ich heraus. Stayr zog wieder eine Braue hoch. „Du... du willst als wirklich, dass ich dich in einen Vampir verwandle? Du weißt doch schon, dass das ein blutsaugendes Wesen ist?!“ Ich nickte. Das war mir klar. Außerdem waren Fi, Cannes, er und selbst Raphael Vampire und ich hatte sie noch nie Blut trinken sehen oder sie sich jemals anders als Menschen zu benehmen, abgesehen von der Geschwindigkeit und dem Gehör. „Ich glaube, ich weiß was ein Vampir ist. Und ja, das will ich wirklich.“ Ich sah ihm fest in die Augen, um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meinte. Und das tat ich. Dann fing er an zu lachen. Er lachte. „Das ist doch krank.“ sagte ich. Er hörte auf zu lachen und sah mich wieder an. „Den Satz kenne ich. Weißt du noch?“ Ich zuckte die Schultern. Was meinte er? „Das zweite Mal, als wir uns gesehen haben. Als ich den Typen umgelegt hatte. Du standst plötzlich da, hast mir vorgeschrieben, wie ich mit ihr verfahren sollte und hast gelächelt. Da war ich - verständlicherweise - der Meinung, du seist krank.“ Ach ja. Die Leiche, die er dann doch im Müllcontainer daneben entsorgt hatte. „Und trotzdem hast du es nicht getan. Außerdem war ich betrunken.“ Als wäre das eine Entschuldigung. „Aber du lenkst vom Thema ab.“ Ich sah ihn ernst an. „Ich bitte dich, mich in einen Vampir zu verwandeln.“ Er kam auf mich zu und legte mir seine Arme wieder um die Taille. Er sah auf mich hinunter. „Du bist dir wirklich sicher?“ flüsterte er. Ich nickte. Er beugte sich zu mir herunter und ich machte mich auf Schmerz, Schock oder sonst was gefasst. „Halt, warte mal. Ich muss dir noch was sagen.“ Ich hatte das Gefühl, es ihm jetzt sagen zu müssen, jeder andere Moment wäre falsch. „Mhhh?“ fragte er. „Ich... ich liebe dich auch Stayr.“ Er lächelte mich breit an. Dann senkte er sein Gesicht wieder und ich bereitete mich auf den Biss vor. Doch stattdessen küsste er mich. Überrascht wollte ich mich von ihm lösen, um ihm zu sagen, dass er jetzt keine Spielchen mit mir spielen sollte, aber dazu kam ich gar nicht. Ich musste ihn küssen. Ich schlang ihm meine Arme um den Nacken und fuhr mit meinen Händen durch seine kurzen Haare. Ich küsste ihn zurück und spürte, wie er uns herum drehte und mich zurückdrängte, bis etwas gegen meine Kniekehlen stieß. Stayr drängte weiter und ich musste wohl oder übel mich nach hinten beugen, da ich seiner Stärke - noch - nicht gewachsen war. Wie bei unserem ersten Kuss legte Stayr sich auf mich und küsste mich weiter. Seine Hände strichen über meinen Bauch, meine Brust und um meinem Kopf, um sich in meine Haare zu wühlen. Er hielt ihn plötzlich fest, doch bevor ich protestieren konnte - es schränkte mich beim Küssen ein - war sein Mund verschwunden. Stattdessen drückte er ihn gegen meinen Hals und bevor ich zusammenzucken konnte, biss er zu. Anstatt des erwarteten Schmerzes durchliefen mich Schauer der Lust. Er nahm einen Schluck nach dem anderen und ich klammerte mich stärker an ihn. Plötzlich spürte ich, wie ich immer müder wurde und erschöpfter war. Ich schlang meine Arme schlaff um ihn und ließ sie liegen. Stayr lag immer noch auf mir, doch da bemerkte ich, wie sein Mund sich von meinem Hals löste. Was sollte das? Ich wollte nicht, dass das gute Gefühl aufhörte. Seine Arme schoben sich unter mich und hoben mich hoch. Meine Augen waren geschlossen und ich hing schlaff in seinen Armen. Er legte mich so auf das Bett, dass ich ganz darauf liegen konnte. So war es viel bequemer. Die Matratze senkte sich neben mir und Stayr legte sich neben mich. Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. „Du musst jetzt trinken Angel.“ sagte er leise und mir wurde etwas gegen den Mund gepresst. Eine mir wage vertraute Flüssigkeit rann mir in den Mund und ich begann sie zu schlucken. Ich erkannte sie wieder, von jener Nacht, als ich noch zerstümmelt und kaputt war. Doch dieses Mal fühlte ich keinen Schmerz am Körper. Nur brennendes Verlangen nach ihm. Und ich war mir dieses Mal sicher, dass er hier war und keine Halluzination. Ich bemerkte, dass ich wieder ein wenig stärker geworden war, als mir klar wurde, dass ich seinen Arm umklammerte. Ich drückte ihn stärker an meinen Mund und saugte auch stärker. Es schmeckte... gut. Wirklich gut. Jedoch hatte ich nicht lange die Gelegenheit es zu genießen, denn er löste meinen Griff und entzog mir sacht seinen Arm. Ich ließ es widerwillig geschehen und blieb ruhig liegen. Ich wollte mich nicht bewegen, eine bleierne Müdigkeit beschwerte mich. „Du kannst jetzt schlafen.“ Eine Decke wurde über mich gelegt und Stayr schlang mir einen Arm um die Hüfte. Ich kuschelte mich an ihn und legte meinen Kopf auf seinen Arm, den er unter meinen Kopf schob. Dann schloss ich die Augen und ließ mich von der Schläfrigkeit davontragen. Kurz bevor ich wegdriftete, konnte ich noch seine Stimme hören. „Schlaf jetzt. Ich werde bei dir bleiben. Immer.“ Und dann schlief ich ein und freute mich auf mein neues Leben.

The End

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.07.2014

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