Greller Mondschein erfüllte meinen Raum mit einer mystischen Atmosphäre. Hatte ich dort eben ein Geräusch vernommen? Warum war ich sonst aus meinem Schlaf gerissen worden? Mit verklebten Augen ließ ich meinen Blick gemächlich umherwandern und krallte mich dabei fest an meine Bettdecke. Wie spät war es? Blitzartig drehte ich mich nach rechts zu meiner alten Digitaluhr, die wie immer auf meinem beschaulichen, runden Nachttisch residierte, und kniff mein rechtes Auge mit aller Kraft zu, um für das linke genügend Sehschärfe hinzuzugewinnen. Es war kurz nach Mitternacht, die Geisterstunde hatte soeben begonnen.
Eine zornige Brise preschte mit einem Mal gegen mein durch den starken Nachtfrost beschlagenes Fenster, woraufhin ich mir die Decke schreckhaft über das Gesicht zog. Doch war es wirklich nur der Wind? Gab es vielleicht tatsächlich so etwas wie Geister? Waren alle diese Gruselgeschichten in ihrem Kern eventuell wahr?
Nur selten war ich zu jener Stunde wach gewesen, ehrlich gesagt konnte ich mich in diesem Moment an keinen weiteren Fall erinnern. Meine Mutter hatte immer darauf bestanden, mich um spätestens neun Uhr ins Bett zu schicken. Seit ein paar Monaten aber war es öfters vorgekommen, dass es ihr nichts ausgemacht hatte, wenn ich erst um zehn in meinen Schlafanzug geschlüpft war. Ich wurde eben älter, war auf dem Weg, ein großer Junge zu werden. Zehn Jahre war ich nun schon alt, und zwar seit genau einem Monat und elf Tagen. Oder waren es zwölf? Verträumt begann ich zu zählen, doch mein Kopf schien gerade nicht so wirklich zu funktionieren.
Plötzlich schreckte ich erneut auf. Schnelle Schritte im knisternden Schnee. Die Person war ganz nah, wahrscheinlich sogar in unserem Vorgarten. Panisch warf ich mich auf den Bauch und drückte mein Gesicht in das weiche Laken. Wer konnte das sein? War es vielleicht schon meine Mutter? Sie hatte doch eigentlich gesagt, sie würde die ganze Nacht arbeiten gehen, um uns ordentlich für den Winter versorgen zu können. Ich wusste, sie tat ihr Bestes für uns. Sie hatte es wahrscheinlich auch leid, sich fast ausschließlich von vertrocknetem Brot, abgelaufener Wurst und schlecht gereiften, mehligen Kartoffeln zu ernähren. Bestimmt hatte sie auch mal wieder das Verlangen nach Schokolade, genau wie ich. Ich hatte bestimmt schon zwei Monate keine mehr gegessen. Meine Mutter hatte mir früher öfters Riegel mitgebracht, um mich glücklich zu machen oder mich für irgendetwas zu belohnen, doch nun war das Geld zu knapp. Jedenfalls hatte mir meine Mutter das so erklärt.
Vorsichtig entfernte ich die Decke von meinen Ohren und lauschte erneut nach draußen. Das Versteckspiel hatte anscheinend etwas bewirkt, die Schritte waren nicht mehr zu hören. Erleichtert atmete ich auf und wagte einen kurzen Blick zum Fenster. Es hatte soeben angefangen zu schneien, mehrere feinste Schneeflocken hefteten sich wie Magnete an das kühle Fenster. Es schien eine friedliche Nacht zu sein, so friedlich wie schon seit Wochen nicht mehr. Endlich gab es mal keine Pistolenschüsse, keine Hilfeschreie und keine wilden Krawallhymnen hier in diesem Scheißloch von Schneverdingen.
Warum konnten wir nicht einfach von hier weg? Meine Mutter hatte mir doch schon so oft versprochen, dass sie uns eines Tages hier rausbringen würde. Warum ging das denn nicht? Ich war mir sicher, dass sie alles daran tat, aber warum wollten diese Soldaten uns nicht herauslassen? Was hatten wir denn verbrochen? Wir waren keine bösen Menschen, so wie dieser Kasimir oder wen auch immer die hier festhalten wollten. Ich konnte es nicht mehr ertragen, meine Mutter deswegen trauern zu sehen. Sie bereute es, damals, als wir noch Krieg gehabt hatten, nicht nach Hamburg gegangen zu sein, zusammen mit meinem Vater. Aber er hatte sie auch einfach im Stich gelassen, hatte nichts mehr von ihr gewollt. Warum hatte er das getan? Hatte es an mir gelegen? War ich ihm ein Dorn im Auge gewesen? Hatte er mich etwa nicht haben wollen? Aber nichtsdestotrotz hatte sich meine Mutter dagegen gewehrt, nach Hamburg zu gehen, obwohl es hier so gefährlich gewesen war. Das war es, was sie nun bereute, dachte ich. Doch hätte mein Vater sie geliebt, dann hätte er sie um jeden Preis mitgenommen. Dieser Kasimir hatte in Hamburg ein paar Häuser in die Luft gesprengt und viele Menschen getötet, doch das war nichts im Vergleich zu hier gewesen. Zu lange hatte meine Mutter gezweifelt, und als dann schließlich der Zaun errichtet worden war, hatte sich mein Vater wenige Tage später alleine freigekauft, ohne uns auch nur irgendetwas zu hinterlassen. So hatte es mir zumindest meine Mutter erzählt, denn ich war damals erst drei Monate alt gewesen. Ich hatte das alles noch überhaupt nicht erfassen können, erst Jahre später hatte ich die Situation unserer Stadt zum ersten Mal einzuschätzen gelernt.
Doch all die Unruhen, all das Chaos und all das Leid, die dieser Krieg über uns gebracht hatte, schienen heute stumm unter dem finsteren Schleier der Nacht verborgen zu sein. Die einzige Gewalt, die Schneverdingen nun etwas abzuverlangen schien, waren die eisigen Böen, die wie tobende Kinder draußen umher wüteten. Noch immer starrte ich nach draußen und versuchte aus irgendeinem idiotischen Grund, über den ich nicht weiter nachzudenken vermochte, die Schneeflocken zu zählen, die hinter der beschlagenen Scheibe zu Boden gingen. Auf irgendeine besondere Art wirkte alles so friedlich, so harmonisch. Bald würde ich wieder einnicken können, das Gezähle machte mich schon ganz schläfrig.
Doch plötzlich ein lauter Knall. Eine Gestalt erschien vor dem Fenster. Das Geräusch einer hämmernden Faust auf das stabile Glas. Ich zuckte zusammen und mein Atem blieb aus. Ein erneuter Schlag gegen das Fenster. Ich wollte schreien, jedoch hielt ich mir im letzten Moment die Hand vor den Mund.
"Hilfe!", hörte ich die finstere Gestalt von draußen rufen.
Mein Herz stand still und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
"Freddi, du musst mir helfen!"
Wer war das? Ich konnte nichts erkennen. Kannte diese Person mich etwa? Anscheinend schon. Mit bis zur Überreizung angespannten Gliedern klammerte ich mich an meine Decke und schaute mit weit aufgerissenen Augen weiterhin gen Fenster.
"Wer ist da?", rief ich mit zittriger Stimme.
Ich brauchte keine Sekunde zu warten, da erwiderte die Gestalt von draußen durch das abdämpfende Glas: "Ich bin's, Egon! Bitte, du musst mir helfen! Sie werden mich sonst finden!"
Was zur Hölle? Was ging hier vor sich? Wer war denn bitteschön hinter Egon her? Ruckartig sprang ich von meinem Bett und stolperte überhastet in Richtung Fenster. Eine unangenehm frostige Brise schoss mir augenblicklich ins Gesicht, als ich es rasch öffnete. Ich konnte gerade die unvorstellbare Angst in Egons Augen erfassen, da schwang er sich hektisch atmend auf die Fensterbank und hinein in mein kleines Kinderzimmer. Fast hätte er mich dabei umgestoßen, doch ich hatte gerade noch rechtzeitig ausweichen können. Mit hämmerndem Puls knallte ich das Fenster zu und verschloss es so schnell wie möglich.
"Vorsicht!", krächzte Egon daraufhin unterdrückt und packte mich fest am Oberarm. "Du musst leise sein, Freddi! Sie dürfen uns nicht hören!"
"Wer?", fragte ich völlig verwirrt und wandte mich mit zittrigen Gliedern und einem unheilvoll flackernden Augenlicht Egon zu.
Dessen schütteres, blasses braunes Haar war völlig zerzaust und ausgefranst und seine hellblauen Augen waren weit aufgerissen vor Schrecken, während sein gesamter Körper oberhalb der Taille durch die ungeheure Angst förmlich durchgeschüttelt wurde. Fast schon haltlos warf sich Egon mit dem Rücken gegen die Wand und sackte unkontrolliert herab, während eine glänzende Träne seine erblasste rechte Wange herunterglitt.
"Ein paar böse Männer", begann Egon nun zu erklären und seine zittrigen Fäuste waren fest geballt. "Sie wollen mir wehtun, Freddi. Ich habe etwas wirklich sehr Dummes getan und jetzt wollen sie mich dafür bestrafen."
"Was hast du getan?", hakte ich vorsichtig nach und mich durchfuhr ein heftiger Schauer bei dieser Frage.
"Ist doch ganz egal", winselte Egon und seine Visage wurde immer weinerlicher, während er immer wieder panisch in Richtung Fenster zu lauschen schien. "Es tut mir so leid, dass ich mich in den letzten Monaten nicht habe blicken lassen, mein Junge. Es sind ein paar sehr schlimme Dinge passiert, ich hoffe, du verstehst das. Diese verfluchten Skinheads, sie haben meinen Sohn getötet!"
Auf einmal fing Egon bitterlich zu weinen an und der Schmerz in seinen feuchten Augen entzog mir jegliche Fähigkeit zu atmen.
"Die ganze Zeit über habe ich mich versteckt, zusammen mit meiner Tochter", fuhr er fort und schluckte fortlaufend Tränenflüssigkeit hinunter. "Ihr geht es immer schlechter, sie wird den Winter niemals überleben, wenn ich keine Lösung finde. Freddi, ich habe sogar eine Waffe gestohlen. Ich wollte nie etwas Schlimmes tun, doch ich war so verzweifelt. Dann habe ich neulich Nacht diese Typen gefunden, in Richtung Zahrensen in einem kleinen Hinterhof. Ich hätte schwören können, dass zwei von ihnen auch zu diesen Skinheads gehörten. Auf einmal kannte ich keine Skrupel mehr, schließlich waren das böse Menschen, ich wusste das."
War Egon jetzt doch dabei, mir den Grund seiner panischen Flucht zu nennen? Was hatte er denn nun getan? Hatte er tatsächlich...?
"Ich habe sie erschossen!", schluchzte er wie aus der Pistole geschossen, meinen Gedanken zuvorkommend. "Alle fünf, ich habe sie einfach abgeknallt! Dann habe ich alles gestohlen, was sie hatten. Ich wollte mich auf keinen Fall mit irgendwelchen Gangs anlegen, doch sie haben es herausgefunden. Sie wissen verdammt nochmal, was ich getan habe!"
Egon wirkte fast schon wie ein hilfloses Kleinkind, als er sich kläglich wimmernd die Hände vors Gesicht schlug und noch weiter in sich zusammensackte. Nur die Front seiner etwas kartoffelartigen Nase war von seinem Gesicht jetzt noch zu sehen, sowie seine länglichen, abstehenden Ohren. Vom bereits fortschreitend zurückgetretenen Haaransatz perlte der Schweiß unaufhörlich herab und suchte sich seinen Weg nach unten.
Behutsam näherte ich mich Egon auf weniger als zwei Schritte und fragte mit nervöser Stimme: "Verfolgen diese Männer dich gerade?"
Egon jedoch legte lediglich sein rechtes Auge für einen kurzen Moment frei und ließ mich dessen Fassungslosigkeit und Verzweiflung ausstrahlende Kälte spüren. Eine Antwort war wohl überflüssig. Panisch rang ich nach Worten, wusste nicht, wie ich mit dieser ungewohnten Situation umgehen sollte. Damals hatte ich Egon kennengelernt, es war noch nicht einmal ein Jahr her, und dann war er eines Tages einfach verschwunden, nur, um jetzt, in dieser unfreundlichen Winternacht, vor meinem Fenster aufzukreuzen?
Mit fassungslosen Augen musterte ich ihn, wie er dort weiterhin in der Ecke verweilte, leise in sich hinein wimmernd. Seine hellblaue Jeans war nass und schmutzig und sein hellbrauner Wintermantel löchrig und modrig. Doch was war das? Aus einer geräumigen Seitentasche dieses abgenutzten Dings schaute etwas hervor, etwas Gelbes. Es sah in etwa so aus wie ein Kopf, versehen mit kleinen schwarzen Augen und einem breiten Maul, gefüllt mit abgestumpften, halbkreisförmigen Zähnen. War es ein Kuscheltier? Irgendetwas an diesem Ding kam mir bekannt vor. Vielleicht war jetzt der richtige Augenblick, um irgendwie abzulenken, die Gefahr vergessen zu machen. Eventuell waren diese bösen Männer ja schon längst über alle Berge. Sollte ich Egon also einfach mal auf dieses Kuscheltier ansprechen? Warum denn nicht?
Entschlossen trat ich noch einen Schritt vor und krächzte mit mäuseartiger Piepsstimme: "Was hast du da in der Tasche, Egon?"
Jener nahm augenblicklich die Hände vom Gesicht und schaute mich mit verwundertem Blick an.
"Nur ein dämliches Kuscheltier", entgegnete er mir mit zerbrechlicher Stimme und richtete seinen Blick herab auf das gelbe Ding, worauf er es mit der einen Hand ein Stück hervorholte. "Meine Tochter ist zwar schon etwas zu alt für sowas, doch es würde ihr mit Sicherheit trotzdem eine Freude machen. Ein Bekannter hat es mir geschenkt. Schmu heißt dieses Ding, glaube ich. Im Prinzip nur ein Merchandise-Artikel von irgendeiner dämlichen Fernsehsendung, aber mir hat er sofort gefallen. Vielleicht wird meine Tochter in ihm ja so etwas wie einen Ersatz für ihren Bruder finden. Sie hatte es echt nicht leicht die letzten Monate. Wahrscheinlich wird es noch sehr lange dauern, bis sie darüber hinweg ist."
"Sie wird sich bestimmt freuen", erwiderte ich mit einem leicht gezwungenen Lächeln und fixierte meinen Blick weiterhin auf Schmu.
Daraufhin schienen sich mit einem Mal sogar Egons Mundwinkel ein wenig anzuheben und mit einem Hauch von Stimme sagte er: "Ich würde in diesem Moment so viel für ein Lächeln in ihrem Gesicht geben. Es gibt einfach keinen schöneren Anblick für mich auf dieser Welt. Würde sie doch bloß wieder gesund werden."
"Ich hoffe es", flüsterte ich mit auf seltsame Weise unterdrückter Stimme und schaute nachdenklich zu Boden.
Doch plötzlich fuhr ich panisch hoch. Schnelle Schritte im Schnee. Ein ohrenbetäubendes Scheppern. Scherben flogen in meine Richtung und ich hielt mir schützend den Arm vors Gesicht, während ich haltlos zu Boden ging. Egon brachte einen gepressten Schrei heraus und aus den Augenwinkeln konnte ich ihn unkontrolliert zappeln sehen, als ich direkt darauf mit dem Kopf auf das harte Parkett aufschlug.
Was geschah hier? Wie hatte das passieren können? Mit ausuferndem Puls haftete ich meine Handflächen auf das glatte Holz und zog mich nach vorn, weg vom Fenster. Wie ein verwundeter Soldat kroch ich rasch und überhetzt über den Boden und die spitzen Krallen atemloser Panik bohrten sich in meinen Hinterkopf.
Jemand stieg durchs Fenster. Ich hörte einen überspitzten Jubelschrei. Plötzlich ein weiterer Knall. Die Haustür. Bitte nicht! Es waren noch mehr. Bald würden sie auch hier durch die Tür kommen.
Ich wollte mich nicht umdrehen, konnte es nicht. Ich vernahm, wie Egon beim Versuch, sich aufzurichten, mit dem Rücken gegen die Wand knallte und ins Straucheln geriet.
"Du bleibst hier, Freundchen!", knurrte eine finstere Stimme und schockartig kniff ich meine Augen zu bei dem Geräusch der auftreffenden Faust.
Egon schrie laut auf, ging hörbar zu Boden und ächzte gequält. Noch ein Schlag. Das Geräusch zerschmetterter Knochen. Ich versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, sondern Halt zu finden und mich aufzurichten.
"Freddi!", hörte ich Egon hinter mir röcheln, doch ein dritter Schlag, vermutlich in die Bauchgegend, unterdrückte seine Stimme.
"Du bist verdammt nochmal fällig, du jämmerliche Ratte!", brüllte der Eindringling mit solch einer bebenden Stimme, dass mein gesamter Körper zu gefrieren schien und ich mich mit einem Mal nicht mehr vom Fleck bewegen konnte.
Doch wie viele Füße traten da wirklich gerade auf das Parkett? Waren sie bereits jetzt zu zweit?
"Nicht so schnell, Kleiner!", rief plötzlich eine zweite Stimme, hörbar jünger, doch mindestens genauso bedrohlich und einschüchternd.
Mein Herz stand still, jetzt war es gelaufen. Kräftige Hände packten meine Fußgelenke und zerrten mich zurück in Richtung Fenster. Ich schrie laut auf und Tränen schossen aus meinen Augen. In letzter Not versuchte ich mich im Parkett festzukrallen, doch sofort bohrten sich Splitter in meine Nagelbetten und ein stechender Schmerz schoss in Windeseile hoch in meinen Kopf. Ich zappelte wie verrückt, trat aus, schlug um mich. Sporadisch erblickte ich Egon, wie er dort am Boden lag. Aus Mund und Nase trat Blut aus und sein linkes Auge war stark gerötet und angeschwollen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.
Ich wollte mich umdrehen, meinem Angreifer Paroli bieten. Allerdings war dies alles andere als einfach. Hilflos ächzend schwang ich mich hin und her und versuchte mich weiterhin mit allen Kräften zu wehren.
Trotzdem konnte ich bereits einen kurzen Blick auf den Mann werfen, der seine Hände um meine Fußgelenke geschlossen hatte. Ich erkannte einen schwarzen Mantel, fast trocken und äußerst gepflegt, aus welchem ein kantig geschnittener Kopf ragte, die untere Gesichtshälfte ausgefüllt von einem dichten schwarzen Stoppelbart, ein starker Kontrast zur eher blassen Gesichtshaut. Der Mann hatte fast schulterlanges, leicht gelocktes und ebenfalls schwarzes Haar und seine Nase hatte eine äußerst markante Form. Doch was mir als Allererstes aufgefallen war, war die große, dunkle Augenklappe, die einen erheblichen Anteil der bedrohlichen Aura dieses Mannes ausmachte. Er wirkte fast schon wie eine Art Bösewicht aus der kriminellen Unterwelt, wie sie in den Geschichten immer beschrieben wurden. Nur schien er noch gar nicht so alt zu sein, höchstens Mitte zwanzig.
"Lass mich los!", fauchte ich ihn an und streckte mich bis zum Anschlag, um mit den Fäusten auf die Hände dieses Widerlings schlagen zu können.
Eine schaffte ich zu treffen. Doch dann der Schlag mit der flachen Hand. Ein Klatschen hallte von den Wänden wider. Ein betäubender Schmerz fraß sich in meine linke Wange und in mein Ohr drang nichts als grässliches Piepen.
Mit einem Ruck zog mich der Einbrecher das letzte Stück zu sich heran, packte mich so grob unter den Achseln, dass er mir gefühlt mehrere Rippen brach, was mich wie am Spieß schreien ließ, und richtete mich schließlich auf, wobei er weiterhin nicht lockerließ und mir keinerlei Bewegungsfreiheit gewährte.
Mein Blick war nun geradewegs auf Egon und den zweiten Einbrecher gerichtet, doch der Schock ließ meine Sicht verschwimmen. Mir war unfassbar schwindelig und Übelkeit breitete sich in meinem Magen aus. Ein schleichendes Schwarz drang in mein Blickfeld und nahm es von den Rändern aus langsam ein. Ich konnte meinen Tränenfluss nicht kontrollieren, unaufhörlich strömten sie meine glühenden Wangen hinunter und versorgten diese mit noch mehr unbekömmlicher Wärme.
"Wag es ja nicht, dich zu wehren, du kleiner Scheißer!", giftete der Mann mit der Augenklappe mich an, sodass sein Speichel in meinen Nacken spritzte, und packte noch fester zu, sodass sich mein Gesicht vor Schmerz krampfhaft verzog.
Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper, fühlte, wie ich schwächer und schwächer wurde. Nichtsdestotrotz aber klarte mein Blickfeld mit einem Mal wieder auf und endlich konnte ich den Mann erkennen, der Egon dort drüben in seiner Mangel hatte. Seine kräftigen, haarigen Unterarme, die unterhalb der hochgezogenen Ärmel des dünnen schwarzen Pullovers zu sehen waren und nun Egons hocherröteten, blutüberströmten Kopf fest umschlungen hatten, waren von mehreren seltsamen, angsteinflößenden Tattoo bedeckt, darunter etwas, das aussah wie ein Totenkopf mit Ziegenhörnern. Mit seinen leeren Augenhöhlen starrte mich dieses Viech an und es wirkte fast, als würde es mich hämisch angrinsen. Den Torso des Mannes bedeckte zusätzlich noch eine ausgesprochen hässliche dunkelblaue Winterweste, die farblich fast genau mit der dunklen, zerschlissenen Jeans übereinstimmte, die er oberhalb seiner ausgelatschten grauen Wanderstiefel trug. Zu Schlitzen geformte, bedrohlich finster leuchtende Augen dunkelbrauner Farbe wanderten zwischen Egon und mir hin und her und darunter befanden sich eine reichlich platte, vermutlich schon mehrfach kaputtgeschlagene Nase und zu einem widerlichen Lächeln geformte, aufgeraute Lippen. Sowohl das zerzauste dunkelbraune Haar als auch der dichte Schnurrbart des Mannes hatten bereits leichte Graustiche, was auf ein Alter in der Nähe der Fünfzig deutete.
Langsam stellte ich das Gezappel ein, es hatte doch sowieso keinen Zweck. Flüssiger Rotz lief mir aus der Nase und glitt stürmisch in meinen Mund, wo er auf meiner Zunge einen salzigen Geschmack hinterließ.
Ich sah, wie Egons Gesicht innerhalb des festen Klammergriffs unaufhörlich zitterte, und merkte, dass er eigentlich etwas sagen wollte, es scheinbar aber nicht konnte. Wahrscheinlich bekam er nicht einmal richtig Luft. Waren das wirklich die Männer, die er beklaut hatte? Wenn ja, dann gab es keine Hoffnung mehr für ihn. Die dunkle Erkenntnis biss sich sofort in meinem Kopf fest, nahm mir erneut den Atem und bereitete mir Schwindel.
Doch trotzdem versuchte ich, irgendwie meinen gesamten Mut zusammenzunehmen, und krächzte verzweifelt: "Lass sofort Egon los, du mieses Arschloch! Du sollst sofort aufhören, ihm wehzutun!"
Es dauerte keine Sekunde, da bohrten sich die finsteren Augen des tätowierten Mannes in meine, was mich tief erschaudern ließ, und mit eiskalter Stimme brummte er: "Was denkst du eigentlich, wer du bist, du kleiner Hosenscheißer? Hat dich etwa irgendwer ums Wort gebeten? Aber gut, irgendwann muss der arme Kerl ja schließlich wieder etwas Luft kriegen."
Mit einem heftigen Ruck beförderte der Mann, nachdem er seinen Griff gelöst hatte, Egons Kopf gen Boden und dieser schlug mit einem grässlichen Knall auf, welcher mich schockartig zusammenzucken ließ. Egon schrie kurz auf und schnappte daraufhin krampfhaft nach Luft, während er gleichzeitig große Mengen an Blut auf das Parkett spuckte.
Plötzlich knurrte der Mann mit der Augenklappe boshaft, sodass ich deutlich seinen Atem auf meinem Hinterkopf verspüren konnte: "Ich würde lieber nichts mehr sagen, Junge. Scheinbar hast du keine Ahnung, wer wir sind. Ganz besonders, wer dieser Mann gegenüber von dir ist."
"Ganz genau", entgegnete dieser mit einem zufriedenen, sadistischen Lächeln, richtete sich stramm auf und spannte energisch seine Gliedmaßen. "Ich bin Christopher Riemann, vielleicht hast du ja schon von mir gehört. Und glaub mir, mein Junge, mit mir legt sich keiner so schnell an. Ich bin das Herzstück der Schneverdinger Unterwelt, der leibgewordene Antichrist und seit neuestem Egons schlimmster Albtraum. Keine Sorge, Freundchen, falls dir mein Name doch nichts sagt, wirst du mich jetzt kennenlernen. Du wirst bestimmt Augen machen, wenn du erfährst, wie ich meine Feinde am liebsten ausschalte."
Mein Herz stand still und ich wollte schreien, konnte es jedoch nicht. Die reine Furcht lähmte mich, ließ mich nicht einmal zucken.
Plötzlich sprang links von mir die Tür auf. Unter krampfhaften Schmerzen gelang es mir, meinen Hals ein kleines Stück zu drehen, und ich sah zwei weitere Gestalten im Türrahmen stehen. Sie waren allerdings durch die Schatten stark verdunkelt, weshalb ich nicht besonders viel erkennen konnte.
Der Linke aber schien kurze, gestylte schwarze Haare zu haben und war von dezent stämmiger Statur. Er war augenscheinlich Südländer und geschätzt erst um die Anfang zwanzig. Der Rechte allerdings sah von hier ein kleines Stück älter aus und hatte etwas längere, zerzauste dunkelblonde Haare und ein recht spitz zulaufendes Gesicht. Sie beide trugen dunkelgraue Winterjacken, dunkle Jeans und klotzartige Winterstiefel.
"Vince, gib mir den Säurebehälter!", wies Riemann den Rechten an und dieser holte augenblicklich eine Art großes Glas hinter seinem Rücken hervor.
Mir gefror augenblicklich der Atem und meine Tränen schienen sich in scharfe Eiszapfen zu verwandeln.
"Bitte nicht!", flehte ich diesen elendigen Schweinehund an. "Bitte töten Sie ihn nicht!"
Eiligen Schrittes trat der Dunkelblonde - Vince war offenbar sein Name - zu Riemann heran und legte den Behälter behutsam neben ihm ab.
Daraufhin bohrten sich erneut dessen beißende, dunkle Augen in meine und mit einem psychopathischen, vorfreudigen Lächeln erklärte er: "Keine Sorge, Jungchen, das werde ich auch nicht. Du wirst den Job für mich erledigen."
"Was?", ächzte ich und ein brennendes Stechen jagte mir in Lichtgeschwindigkeit durch alle Körperregionen.
Mein Schädel schien gewaltsam zu implodieren und kochende Lava brodelte in meinem Magen.
"Du hast mich schon richtig verstanden", drängte Riemann und sein Tonfall wurde um einiges energischer. "Also nimm dir gefälligst diesen scheiß Säurebehälter und kipp ihn über diesem Bastard aus!"
"Aber...", stotterte ich unter Tränen, doch sofort wurde meine Klage abgeblockt und Riemann brüllte:
"Kein Aber, du wertloser Haufen Dreck! Ich bring’ dich verdammt nochmal um, wenn du mir nicht gehorchst!"
Auf mich war eine Pistole gerichtet. Mit eiserner Hand richtete er sie auf meinen Kopf. Ich weinte bitterlich, konnte kaum meine Körperfunktionen kontrollieren. War das alles vielleicht nur ein böser Traum? Wann würde ich endlich aufwachen?
Mit der anderen Hand griff Riemann auf umständliche Weise den recht voluminösen Glasbehälter, welcher eine bedrohlich zischende lilafarbene Substanz enthielt, und hievte ihn mit viel Geschick über Egons am Boden liegenden Körper. Dieser schaute mich mit entsetztem, ungläubigem Blick an, doch herausbringen konnte er nichts. Aber die aufschimmernden Tränen in seinen geschwollenen Augen verrieten mir genug.
"Das ist doch krank, Christopher!", meinte auf einmal der Südländer in der Tür und trat mehrere Schritte näher, wie ich aus dem Augenwinkel heraus erkennen konnte. "Das ist ein kleiner Junge, verdammt! Du kannst ihn doch nicht zu so etwas zwingen! Das ist unmenschlich!"
"Lass dir verdammt nochmal Eier wachsen, Rafet!", erwiderte Riemann mit enttäuscht wirkender Visage und anklagender Stimme und ließ seinen Blick schnurstracks zu dem Schwarzhaarigen wandern. "Man, das Leben ist hart, da kann es jeden treffen. Find’ dich damit ab, Kamerad! Wie alt war denn dein Cousin, als Holm ihn zusammen mit all dem Desiderium abgefackelt hat?"
"Elf", antwortete Rafet ein wenig eingeschüchtert und schaute nachdenklich zu Boden.
"Siehst du?", prustete Riemann daraufhin los, unterstützt durch wilde, überzogene Gesten. "Wahrscheinlich kaum älter als dieser Knirps hier. Verfluchte Scheiße, du hast ja auch nicht mal den Mumm, ihn zu rächen! Wer bist du eigentlich? Ich dachte, du wärst ein knallharter Bursche. Fast fünf Monate ist es jetzt her und du hast nichts unternommen."
"Mein Vater hat es mir verboten, Christopher", versuchte sich Rafet notgedrungen zu rechtfertigen. "Die Diagnose hat ihm einen plötzlichen Sinneswandel verpasst. Er glaubt nicht mehr an Vergeltung und sieht Rachedurst mittlerweile als Schwäche an. Er sagt, Holm wird früher oder später seine gerechte Strafe erhalten. Und weißt du was? Ich bin fest davon überzeugt."
"Idiot", murmelte Riemann nur abfällig und schüttelte den Kopf. "Hör mal auf, dich von deinem scheiß Vater abhängig zu machen! Vor einem Jahr noch hätte er diesem Bastard eigenhändig das Herz rausgerissen! Mittlerweile aber ist er zu senil und benebelt, um richtig handeln zu können. Sehr lange wird er’s bestimmt nicht mehr machen. Tja, anscheinend stand er bei Allah doch nicht so hoch im Kurs."
"Wag es ja nicht...", begann Rafet verbissen, doch sofort hielt er inne, da scheinbar auch er nun die Sinnlosigkeit dieser Debatte erkannte.
Meiner Meinung nach hätte sie aber endlos weitergehen können. Noch immer liefen die Tränen unaufhörlich aus meinen Augen. Ich hoffte innig auf eine weitere Ablenkung, doch nichts kam.
"Treib es nicht zu weit, man!", hörte ich Vince noch vorsichtig beklagen, doch es folgte keine Reaktion Riemanns.
Dieser wandte sich nun nämlich wieder mir zu mit seinem perversen Grinsen und sprach: "Tritt näher, kleiner Mann! Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Betrachte es einfach als Spiel. Ganz genau, es ist einfach nur ein Spiel. Also mach schon!"
Endlich ließ mich der Mann mit der Augenklappe los und meine Lungenflügel konnten sich wieder gesund ausweiten. Ich nahm einen tiefen Atemzug und trat vorsichtig näher. Rotierende Kreissägenblätter schienen meinen Magen von innen zu zerfleischen und jeden Moment konnten mir die letzten zwei Mahlzeiten hochkommen.
Auf einmal sah ich, wie Riemanns Blick auf etwas in Richtung Egons unterer Körperhälfte gelenkt wurde, und mit einem stillen Lachen griff er danach. Es war Schmu, dieses gelbe Wesen. Was zum Teufel hatte er damit vor?
"Mein armer Junge", begann Riemann nun mit gespielt fürsorglicher Stimme. "Mache ich dir vielleicht zu viel Angst? Findest du mich etwa gruselig? Naja, daran lässt sich dann wohl nichts ändern. Aber sag mal: Was hältst du davon, wenn dieses hässliche gelbe Ding stattdessen zu dir spricht?"
Mit viel Kraft presste Riemann seine Finger in Schmus kleinen Körper und streckte seine Hand in meine Richtung aus. Was zur Hölle sollte das jetzt werden? Mein gesamter Körper bebte vor Furcht und Verunsicherung und ich konnte kein einziges Wort herausbringen.
Doch dann öffnete dieser Mistkerl wieder seinen Mund und sagte mit schrill verstellter Stimme: "Hallo, mein Junge, ich bin dein kleiner Monsterfreund. Vielleicht findest du den Mann hinter mir ja ein bisschen blöd, aber er hat etwas Wichtiges zu erledigen. Deswegen bitte ich dich darum, mir einen klitzekleinen Gefallen zu tun. Dieser Mann, der da liegt, ist ganz böse und ich will, dass du ihm eine kleine Dusche verpasst."
Ich konnte meine Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren und alles wurde von Sekunde zu Sekunde schwärzer um mich herum. Ich schluchzte wie ein Baby, kriegte mich einfach nicht wieder ein.
"Christopher, Alter, jetzt drehst du ja völlig ab!", lachte der Mann mit der Augenklappe hinter mir und schubste mich ein weiteres Stück nach vorn, sodass ich unsanft direkt vor Egons Körper zu Boden ging.
"Bitte, tu's für mich!", flehte Riemann mit noch immer verstellter Stimme und hielt mir weiterhin dieses gelbe Monster ins Gesicht. "Ich bin doch dein Freund, mein Junge. Und du willst doch auch nicht, dass der Mann hinter mir sauer wird, oder?"
"Nein", wimmerte ich und klatschte mir die Hände vors Gesicht, als ich mich wieder zur Hälfte aufgerichtet hatte. "Aber ich werde Egon nichts tun."
"Jetzt tu's endlich!", brüllte Riemann mit donnernder Stimme, sodass es von den Wänden widerhallte.
Mein Herz hatte sich dabei angefühlt, als würde es in tausend Stücke explodieren, und mein Blutkreislauf schien zum völligen Erliegen gekommen zu sein. Auch sah ich wieder die Pistole, die noch immer erbarmungslos auf meinen Kopf gerichtet war.
"Ich hab’ dich auch ganz doll lieb, wenn du es machst", fuhr Riemann dann fort, diesmal wieder mit grotesk erhöhter Stimme. "Siehst du denn nicht, dass der Mann da unten böse ist? Er hat ganz viele Menschen umgebracht. Das findest du doch nicht etwa gut, oder?"
"Nein", antwortete ich unter heftigen Tränen und schüttelte meinen Kopf. "Nein, nein, nein."
"Dann sei bitte ein guter Knuddelfreund", krächzte schließlich die hohe Stimme und Riemann ließ das gelbe Monster in seiner Hand fröhlich hin und her schaukeln. "Wir sind auch alle stolz auf dich, wenn du es machst. Aber wenn nicht, dann wird der Mann hinter mir ganz böse und knallt dich ab. Ich weiß, das ist echt gemein, aber ich kann nichts dafür."
"Hör lieber auf den kleinen gelben Scheißer, Junge!", fügte der Mann mit der Augenklappe schließlich noch hinzu und aufgrund seines Tonfalls konnte ich auf ein hämisches Grinsen deuten.
Ich zitterte am ganzen Körper, wurde kreidebleich, erstickte beinahe an meinen eigenen Tränen. Trotz erheblich gefrorener Gelenke schaute ich herab und sah Egons angsterfüllten Blick, irgendwo zwischen all dem Blut herausstechend.
"Christopher, bist du dir bei dem Scheiß echt sicher?", hörte ich Vince zweifeln und auch Rafet klagte, einen äußerst skeptischen Blick aufsetzend:
"Das ist nicht menschlich, man! Mach es lieber selbst!"
Doch Riemann antwortete nicht. Er blieb vollkommen still, das Gesicht zu einer finsteren Miene erstarrt. Die Pistole zeigte noch immer auf mich. Niemals würde dieses Schwein seine Meinung ändern. Mein Verstand wehrte sich mit aller Kraft, doch nichtsdestotrotz wanderten meine Hände langsam, aber sicher in Richtung Behälter. Ich schluchzte ungehemmt, versuchte diese innere Blockade aufzurüsten, doch es musste irgendeine Art von Instinkt sein, der mich die Säure nun aufnehmen ließ.
Ich durfte es nicht tun, auf gar keinen Fall. Doch warum schien ich nun doch einzuknicken? Was war ich nur für ein Mensch? Aber ich hatte keine andere Wahl, sterben musste Egon sowieso. Immer wieder redete ich mir das ein und gnadenlos fraß es sich als unerträgliches Echo in meinen Kopf. Doch würde ich damit leben können, ein Mörder zu sein? Wäre es vielleicht nicht sogar besser, an Egons Seite zu sterben? Den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, doch dann schoss es mir durch den Kopf wie ein spitzes Projektil. Konnte ich den Tod wirklich auf mich nehmen? Was, wenn es so etwas wie einen Himmel nicht gab? Ich würde einfach verpuffen, vom Angesicht dieser Erde verschwinden. Mein Bewusstsein würde komplett aufhören zu existieren, ich wäre einfach nicht mehr da. Nein, das konnte ich nicht zulassen, ich war noch nicht bereit dafür. Egon würde sowieso sterben, wieder und wieder ging mir das durch den Kopf. Ich musste es tun, musste es jetzt hinter mich bringen. Die Zeit war gekommen, ich durfte nicht länger warten.
Mit zitternden Händen hob ich den Behälter in die Höhe, direkt über Egons Brust. Ich wagte es nicht, ihm noch einmal in die Augen zu schauen, wollte den dort festsitzenden Schmerz mich nicht noch einmal quälen lassen.
"Freddi", hörte ich ihn noch gequält röcheln und ich musste kurz zusammenzucken, als seine Hand meinen Oberschenkel griff. "Freddi, du bist ein guter Junge. Bitte..."
Ich konnte ihn nicht fertig sprechen lassen, die Last des Behälters war einfach zu groß. Beinahe entglitt er meinen verschwitzten Fingern und kippte über. Die Säure ergoss sich in Windeseile über Egons Körper. Meine Augen weiteten sich vor Schreck. Ein lautes Zischen. Ein schriller, ohrenbetäubender Schrei. Ich hielt es nicht aus, es war unerträglich. Mit einem Klirren ging der Behälter zu Boden. Sofort fiel ich zurück, robbte mich rückwärts von Egon weg. Aus dem Augenwinkel sah ich seine Brust verätzen. Es blubberte und schäumte und sein Fleisch wurde zu Matsch und sackte in Richtung Boden herab. Das Schreien wurde lauter. Auch ich schrie. Panisch hielt ich mir die Hände vors Gesicht. Riemann lachte. Ich hielt es nicht aus. Dieses Zischen, das Auflösen von Knochen und Fleisch. Wie eine Kugel kauerte ich mich auf das Parkett. Ich wollte es verdrängen, wollte ganz woanders sein. Hemmungslos brüllte ich mir die Seele aus dem Leib. Alle meine Körperfunktionen schienen in einem Inferno auszusetzen.
Plötzlich überkam mich Dunkelheit. Alles war schwarz.
Das Erste, was ich verspürte, als ich wieder zu mir kam, waren die unerträglichen Kopfschmerzen. Was zur Hölle war geschehen? Warum lag ich auf dem Boden? Ich war ratlos, und noch dazu unfähig, über auch nur irgendetwas nachzudenken. Dieses penetrante Stechen in meinem Schädel raubte mir einfach jegliche Denkfähigkeit.
Vorsichtig drückte ich mich vom Boden ab und richtete mich in die Hocke auf. War ich etwa geschlafwandelt? So etwas hatte ich doch vorher noch nie getan. Es dröhnte und fiepte in meinem Kopf, es war einfach nicht auszuhalten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste ich die Hände gegen meine Ohren und kniff die Augen unter einem gequälten Stöhnen zu.
War irgendetwas geschehen letzte Nacht? Ich konnte mich einfach nicht erinnern. Doch irgendein unbehagliches Gefühl in meinem Bauch sagte mir, dass irgendetwas nicht stimmte. Es musste etwas geschehen sein, irgendwie wusste ich das in meinem Inneren. Aber was? Ein finsterer Schleier schien sich davorgelegt zu haben, eine undurchdringliche Mauer des Verdrängens. Erinnerungsfetzen schossen wiederholt durch meinen Kopf, doch sie waren abstrakt, wie bei einem fast vergessenen Traum.
Was hatte ich denn überhaupt letzte Nacht geträumt? Verzweifelt versuchte ich mich zu entsinnen, doch ich drang nicht weiter als das verschwommene Bild mehrerer dunkler Gestalten vor. Ganz behutsam nahm ich die Hände wieder von meinen Ohren und begann, meinen Kopf in die andere Richtung zu drehen.
Plötzlich erschrak ich und der Schock beförderte mich ruckartig nach hinten. Wo kam dieses Loch im Boden her? Und war das etwa Blut an den Rändern? Ein erbarmungsloses Gefühl von herannahender Übelkeit wütete in meinem Magen, als ich mich vorsichtig näherte. Es wirkte fast, als hätte sich etwas in das hölzerne Parkett gefressen, die vielen glatten Rundungen an den Kanten widerlegten prinzipiell ein stumpfes Herausreißen. Sogar das Betonfundament unterhalb schien beschädigt worden zu sein, denn auch dort hatte sich eine nicht gerade kleine Wanne gebildet mit fast ebenem Untergrund.
Ängstlich zitternd musterte ich diese mysteriöse rote Flüssigkeit, die, wie sich nun herausstellte, nicht nur am Rand des Parketts vorzufinden war, sondern auch im Loch selbst nicht wenige Spuren hinterlassen hatte. Zweifellos war es Blut. Mein Atem stockte und ich erbleichte sofort.
Nun stand es fest: Gestern Nacht war tatsächlich etwas Schlimmes geschehen. Wieder versuchte ich verzweifelt, mich zu erinnern, doch wollte ich das wirklich? Wo war meine Mutter? War sie noch immer nicht zurückgekehrt?
"Mama!", rief ich in einem hysterischen Ton. "Mama, bist du schon da?"
Doch es kam keine Antwort. Nur das ständige Rauschen des unfreundlichen Dezemberwinds drang in meine Ohren und aus weiter Ferne das Geschnatter der Menschenmassen.
Ich wollte gerade aufstehen und in ein anderes Zimmer flüchten, da sah ich in der Nähe des Fensters plötzlich irgendetwas Gelbes auf dem Boden liegen. War es etwa ein Kuscheltier? Es sah ganz danach aus. Irgendein Monsterviech aus irgendeiner alten Fernsehsendung, wenn ich mich nicht vollständig irrte. Doch was machte dieses Ding hier? Zuvor hatte ich es mit Sicherheit noch nicht besessen, es musste einfach aufgetaucht sein. War meine Mutter vielleicht doch schon da und hatte mir das Kuscheltier mitgebracht?
Nein. Plötzlich die schaurige Erkenntnis. Egon. Egon war hier gewesen. Etwas Furchtbares war geschehen. Männer, da waren Männer gewesen. Doch was hatten sie getan? Woher kamen das Loch und das viele Blut? Dieses gelbe Ungeheuer, irgendetwas hatte es damit zu tun. Es zehrte aus unerklärlichen Gründen an mir, wie es seelenruhig dalag, das breite Maul zu einem leichten Lächeln geformt.
"Was bist du?", murmelte ich starr vor mich hin, richtete mich vollständig auf und ging langsam darauf zu. "Was bist du und was hast du mir zu sagen? Du weißt mit Sicherheit mehr als ich."
Benommen trottete ich bis zu meinem Ziel, bückte mich und nahm das gelbe Ungeheuer in meine Hände. Es sah ja so freundlich aus, so kindlich und unschuldig. Hatte Egon es bei sich gehabt? War es vielleicht für seine Tochter bestimmt gewesen? Eine nebelartige Finsternis schien sich immer mehr in meinem Körper auszubreiten und mein Augenlicht trübte sich. Etwas Furchtbares war geschehen, daran bestand kein Zweifel. Doch wieso war es mir entfallen?
Mein Atem wurde schwer und mein Puls begann zu rasen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Würde diese Erinnerung irgendwann zurückkehren? Ratlos musterte ich das gelbe Monster und taumelte benommen und mit gedämpftem Augenlicht aufgrund des wiedereinsetzenden Blutkreislaufs nach links, wo in der Ecke mein beschauliches Holzregal stand, wo sich allerlei Bücher und hin und wieder auch etwas Spielzeug tummelten.
Was war nur mit mir los? Warum hatte ich vergessen, was letzte Nacht geschehen war? Dieses gelbe Ungeheuer, es musste Zeuge gewesen sein, es kannte mit Sicherheit die Antwort. Doch leider war es nichts als ein Kuscheltier, da konnte ich nun wirklich nichts erwarten.
Aus einem Hauch Neugierde drückte ich auf dessen Bauch, worunter ein kleiner Knopf eingebaut war, und das Monster sprach in schlechter Tonqualität: "Ich bin Schmu, dein kleines Kuschelmonster."
Schmu also, das war sein Name. Egon hatte ihn sicher letzte Nacht erwähnt. Sofort dachte ich wieder an das gewaltige Loch im Boden und das viele Blut, und der Gedanke allein bereitete mir höllische Schmerzen im Schädel. Ich hatte einen gewissen Drang, mich nochmals umzudrehen und diesen Schauplatz erneut zu begutachten, doch ich wehrte mich innerlich so lange, bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.
Behutsam setzte ich Schmu auf das zweitoberste Regalbrett und schaute ihn einen Moment, der mir vorkam wie eine Ewigkeit, an. Diese gelbe Fratze, warum sah sie so heiter aus? Dieses Monster war an einem schrecklichen Verbrechen beteiligt gewesen, doch es versteckte dies ganz tief in sich.
Sachte verschränkte ich die Arme und sprach mit zittriger Stimme: "Schmu, ich weiß, dass du gesehen hast, was gestern Nacht geschehen ist. Bitte hilf mir, mich zu erinnern! Es muss nicht jetzt sofort sein, doch eines Tages möchte ich wissen, was es war. Und wenn jener Tag gekommen ist, Schmu, dann werde ich dich verbrennen."
Eine seltsame Leere fraß sich in meinen Körper beim Aussprechen dieser Worte. Es war wie ein Geschwür, das sich unaufhörlich ausbreitete. Zusätzlich drückte mich diese dunkle Last der Ungewissheit nach unten und ließ mir keine Chance auf Bewegungsfreiheit. Ich war nun fortan gefangen in einem Käfig aus Unwissenheit. Die Hoffnung auf eine baldige Erlösung war gering, das musste ich mir eingestehen. Würde ich dieses Ereignis je verkraften können? Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da, bewegungslos. Die ersten Tränen kamen bereits hervorgekrochen und mein Blut gefror zu Eis.
Plötzlich hörte ich, wie die Tür knallte. Panisch zuckte ich auf und drehte mich um. Es musste wohl meine Mutter sein, die eben gerade nach Hause gekommen war. Was würde sie wohl sagen bei diesem Anblick? Ich würde es ihr niemals erklären können.
Wie ich diese wöchentlichen Ausflüge nach Hamburg hasste. Hier eine Pressekonferenz, dort eine Sitzung mit einem Haufen schleimiger Pharmaunternehmer und Politiker, jedes Mal schien dieser groteske Schwachsinn kein Ende zu nehmen. Am liebsten hätte ich diesem Posten als Medienrepräsentant für Sanicorps schon längst den Rücken gekehrt, wieder einmal aber hatte mich der großzügige Zuschuss in die Falle gelockt. Doch zusätzlich zur Position des obersten Laborleiters für die Entwicklung von Pharmazeutika bedeutete das natürlich einen rigorosen Zeitplan, der einem nicht selten den Verstand raubte. Allein fünfzig Stunden in der Woche fielen auf eben dieses Gebiet in der Forschung und fast jegliche mir bleibende freie Zeit musste nun für diesen Medienmist aufgegeben werden. Was nützte mir dann überhaupt noch der achtzigprozentige Gehaltsaufschlag? Meine Familie mit teuren materiellen Gütern zu beschmeißen, um von meiner Abstinenz abzulenken? Ich wusste genau, dass mein Fernbleiben ihnen überhaupt nicht in den Kram passte. Besonders meine beiden Töchter mussten dringend mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen, schließlich hatte ich ihnen noch einiges beizubringen. Und dann war da ja noch Nele, meine geliebte Ehefrau. Die letzten Monate war ich - falls ich überhaupt daheim gewesen war - nicht vor Mitternacht nach Hause gekommen und hatte mich lediglich todmüde ins Bett plumpsen lassen, nur, um am nächsten Morgen um sieben Uhr wieder zu verschwinden.
Verdammter Mist, gleich würde sie mich bestimmt wieder anrufen. Ich konnte nicht schon wieder auflegen. Schon zweimal hatte ich den Anruf abgelehnt, so wie ich es leider viel zu oft tat. Ich wusste, dass sie mich dringend brauchte, die Nähe zu mir, die leidenschaftliche Liebe, die schon seit Jahren höchstens auf Sparflamme kochte. Ich wollte gar nicht erst über ihren unvermeidlichen sexuellen Frust nachdenken, der sie wahrscheinlich schon oft genug in Versuchung gebracht hatte. Zum Glück konnte ich diesen Gedanken immer schnell verdrängen, bevor ich mir genau ausmalte, wie jemand anders es ihr besorgte.
Doch was sollte man schon unternehmen, wenn der eigene Pharmakonzern - gerade einmal der fünftgrößte in Deutschland - kurz davor war, endlich das langersehnte Heilmittel für Krebs zu finden? Und das war nur der Anfang. Ein halbes Dutzend anderer für unheilbar erklärter Krankheiten sollte dieses Wundermittel erfolgreich bekämpfen können, so sagte es zumindest die Theorie. Allerdings hatte es bereits die ersten erfolgreichen Versuche an Ratten und Schweinen gegeben, die zuvor mit den neuartigen Viren Abyss und Calamitas versetzt worden waren. Als Grundlage für dieses Medikament hatte zudem nichts Geringeres als die Säure LH-15 gedient, eines der ätzendsten Erzeugnisse auf diesem Planeten. Mithilfe komplizierter chemischer Vorgänge war es uns allerdings gelungen, das Angriffsspektrum dieser Säure so zu fixieren und die Stärke so zu minimieren, dass sie nur noch spezielle schädliche Fremdkörper wie Tumore oder infizierte Zellen zerstörte.
Meine Güte, wer hätte denn jemals gedacht, dass die wahrscheinlich bedeutendste Entdeckung in der Geschichte der Medizin in so einem Loch wie Bremen stattfinden würde? Dieser Ort war wirklich einer der dunkelsten Flecke innerhalb der deutschen Großstadtlandschaft. Als die Wirtschaft damals zusammengebrochen war, hatte es Bremen mit am schlimmsten getroffen, ganz zu schweigen von dem Krieg, dessen westliche Front nur wenige Kilometer entfernt gelegen hatte. Durch eine Aufstockung des Landesbudgets durch die Regierung war vor etwa acht Jahren die Innenstadt etwas verschönert und modernisiert worden und auch wirtschaftlich hatte man sich etwas mehr ins Zeug gelegt, doch der Großteil der Stadt war ein hoffnungsloser Schandfleck geblieben. Armut und Kriminalität hatten schon längst überhandgenommen und das machte sich auch an der grauen und heruntergekommenen Fassade Bremens bemerkbar.
Rablinghausen, der kleine Stadtteil westlich der Weser, in welchem ich mein einigermaßen vernünftiges Heim besaß, war vergleichsweise aber noch ganz erträglich, auch wenn es mit Sicherheit schönere Ecken auf dieser Welt gab. Doch ich besaß ein nicht unbedingt kleines Einfamilienhaus in einer der stabilsten Gegenden der Stadt, was konnte ich also mehr verlangen?
Das einzig Nervtötende, wie ich jetzt wieder feststellen durfte, war leider, dass ich mich jedes Mal noch durch den dichten Stadtverkehr Bremens kämpfen durfte, wenn ich aus Richtung Hamburg kam, und zu bestimmten Tageszeiten war das nicht gerade witzig. Bis ich zur Weser vorgedrungen war, kam es nicht selten vor, dass ich mal durch Stau, Straßenschäden, Unfälle oder irgendwelche Ausschreitungen mehr als eine Stunde für etwa fünf Kilometer Strecke benötigte.
Heute, an jenem Sonntag, den 15. Juni 2036, fiel die Verkehrslage zum Glück nicht ganz so drastisch aus, was aber noch lange nicht bedeutete, dass es wie geschmiert voranging. Stocksteif saß ich in meinem brandneuen Audi Scavenger, die Hände nervös auf den Lenkhebel tippend, obwohl der Autopilot angeschaltet war. Ach ja, wie viele Nerven mir diese Funktion schon gerettet hatte. Jedoch ließ es meine geringe Vertrauensbereitschaft nicht zu, mich entspannt zurückzulehnen und gegebenenfalls ein Nickerchen zu halten oder so etwas in der Art. Nein, dafür hatte ich einfach viel zu viele Bedenken, denn ich glaubte nicht an so etwas wie das perfekte System. Irgendetwas konnte immer passieren und deshalb war ich aus meinem Inneren heraus dazu gezwungen, stets wachsam zu bleiben. Deshalb fragte ich mich auch wieder und wieder, warum ich überhaupt Gebrauch vom Autopilot machte. War es einfach nur Konformität, da eigentlich so gut wie jeder es nutzte und ich dieses einheitliche und harmonische System nicht durch manuelle Unprofessionalität stören wollte, oder einfach das mangelnde Vertrauen mir selbst gegenüber aufgrund meines nicht selten desaströsen Zustands?
So fertig und übermüdet wie heute war ich selten gewesen, doch trotzdem zwang ich weiterhin meine bereits schmerzenden Augen zum aufmerksamen Blick durch die blankpolierten, aufgrund ihrer stumpfen Pfeilform und ihres umgreifenden Panoramas an das Cockpit eines modernen Kampfjets erinnernden Scheibe auf die Straße. Ein wahres Meisterstück der Aerodynamik und die PS eines schwachen bis mittelstarken Sportwagens. Die genaue Zahl hatte ich vergessen, doch sie lag wohl irgendwo knapp unter dem vierstelligen Bereich. Relativ gesehen war es ein wahres Schlachtschiff von Auto, die Protzkarre der gehobenen Mittelschicht, wenn es so etwas überhaupt noch gab. Im näheren Bereich unter mir gab es kaum etwas, bloß vielleicht den einen oder anderen Kleinunternehmer und vielleicht noch gewisse Beamte. Darauf, irgendwo ganz unten, folgten dann die Armen, etwa achtzig Prozent der Bevölkerung, gedrängt an das Existenzminimum. In was für verkehren Zeiten wir doch lebten.
Nachdenklich wanderte ich mit meinem Blick über die hochmoderne, blitzblankpolierte Inneneinrichtung zwischen den beiden vorderen Sitzen, in dessen Mitte ein ovaler Holo-Bildschirm thronte. Der nächste Anruf würde mit Sicherheit bald kommen.
Ich hatte es nicht mehr weit, würde bald endlich nach Hause kommen. Es war schon wieder fast Mitternacht, höchste Zeit also. Draußen war es bereits dunkel und milder Frühsommerregen prasselte gemächlich auf die gewundene Scheibe herab. Hinzu kamen all die grellen Straßenlichter, die dem Ganzen eine hypnotisierende, metallene Atmosphäre verpassten.
Im schnellstmöglichen Tempo fuhr der Wagen die Bürgermeister-Smidt-Straße entlang, direkt hinein in Bremens Zentrum. Langsam wurden die verfallenen Bauten der letzten beiden Jahrhunderte durch pompös schimmernde Glasfassaden und in einem futuristischen Weiß erstrahlende Monumente der staatlichen Extravaganz abgelöst, und dieser abrupte Bruch machte sich auch auf den Bürgersteigen bemerkbar. Wo sich eben noch hauptsächlich die verlorenen Seelen der Stadt herumgetrieben hatten, Betrunkene, Junkies, Obdachlose und was es noch so gab, traf man hier eher auf geschniegelte und gestriegelte Anzugträger, die sich nun, in den letzten Augenblicken dieses angenehmen Junisonntags, in ihren Firmenwagen oder Taxen breitmachten, um sich vom Stress des verlängerten Arbeitstags zu verabschieden. Die Innenstadt Bremens, es war wie ein Portal zwischen zwei Welten.
Doch dabei blieb es nicht. In wenigen Augenblicken würde ich die Weser überqueren, wo eine dritte Welt auf mich wartete: Bremens neues Vergnügungsviertel. Bunte Hologramme tanzten in der Luft, meist irgendeine Reklame. Nachtclub grenzte an Nachtclub und auch nach den Bordellen musste man nicht lange suchen. In diesem Bezirk trafen beide Welten aufeinander, was nicht selten viele Probleme mit sich brachte. Raubüberfälle und Schlägereien bis hin zu Tötungsdelikten geschahen jede Woche. Selbst in den zahlreichen Einkaufsläden und Malls in diesem Bezirk, wo sich tagsüber das Leben abspielte, war man oft nicht sicher vor sozialem Unmut. Das Einschlagen von Glasfassaden in der protzigen, vor fünf Jahren fast vollständig sanierten Westerstraße war da noch das Harmloseste.
Schon von hier aus konnte ich jenseits des Flusses das bläulich angefärbte Hologramm einer halbnackten Frau, die sich lasziv um eine Stange bewegte, erkennen, darüber der Schriftzug Zulu Cave. Dieser Club gehörte zur größten Kette Deutschlands, zudem eine der größten Europas. Und obwohl deren Besitzer, ein türkischer Multimillionär namens Tayfun Aydin, bereits letztes Jahr einer langjährigen Krankheit erlegen war, machte die Zulu-Kette Umsatz wie nie, und zwar einen fast neunstelligen Betrag jährlich, wenn ich mich nicht irrte. Aydins Sohn hatte wohl nach dessen Tod die Kette übernommen, hatte ich im Netz gelesen, auch wenn dieser erst Mitte zwanzig war. Doch scheinbar hatte er von seinem Vater viel über das Geschäft gelernt, sonst hätte er die Zulu-Clubs schon längst in den Ruin getrieben.
Ich merkte, wie ich schon wieder in Gedanken abschweifte. Verdrängte ich nur die bevorstehende Konfrontation mit meiner zweifellos erzürnten Ehefrau und die Rechtfertigung vor meinen Kindern? Schließlich hatte ich doch versprochen, zumindest dieses Wochenende mal etwas früher da zu sein. Aber was brachte das schon? Meine Töchter waren mit Sicherheit schon im Bett und Nele hatte wahrscheinlich gar keine Lust mehr, sich mit mir zu streiten. Doch irgendwann musste ich endlich mal aufhören, mich wie ein feiger Waschlappen zu verhalten, das war mir leider bewusst.
Zum Glück hatte sich der Verkehr bereits verdünnt und ich konnte ungestört die Brücke überqueren. Keine lästigen Staus mehr oder sonstige Unannehmlichkeiten, einfach nur durchfahren und sich zuhause aufs Ohr hauen.
Plötzlich ertönte die schrille Melodie des Videotelefons und riss mich komplett aus meinem fast schon meditativen Zustand. Ich hätte diesen verdammten Klingelton schon längst ändern sollen, er war einfach nicht mehr auszuhalten.
"Annehmen", sprach ich zum System und den Bruchteil einer Sekunde später ertönte ein sanftes Piepen.
"Tut mir leid, dass ich nicht rangegangen bin, Schatz", prustete ich sofort los, den Blick noch immer auf die verregnete Straße gerichtet, nur halb im Fokus der gegenüber von mir angebrachten Kamera, die mir als winziger schwarzer Punkt auf einer kleinen Rampe hinter dem Lenkhebel entgegen schimmerte. "Ich hatte leider noch eine Menge Scheiße zu klären, du weißt schon, wegen dem Heilmittel und so weiter. Die Vorgesetzten in Hamburg wollten mich einfach nicht gehen lassen. Ich habe wirklich alles getan, um früher nach Hause zu kommen, doch es ging einfach nicht. Aber ich verspreche, dass ich mir sehr bald Urlaub nehmen werde, dann, wenn sich dieser ganze Trubel ein wenig gelegt hat. Sag das bitte auch den Kleinen! Ich will nicht, dass sie denken, ihr Vater wäre nicht für sie da. Schatz, bitte raste nicht aus, ich bin in ein paar Minuten da!"
Mein Atemrhythmus stolperte beinahe beim Abrattern dieser Worte und ich musste mich kurz fangen.
Doch auf einmal antwortete eine aufgebrachte Stimme: "Johannes, verdammt! Bist du etwa blind? Ich bin nicht deine Frau!"
"Hä?", krächzte ich verwirrt und schoss mit meinem Blick sofort in Richtung Bildschirm.
Tatsächlich, es war keineswegs meine Frau, die mich von dort aus anstarrte. Stattdessen erkannte ich meinen Freund und Kollegen Leo Schmelzer, wie er erschöpft in Richtung Kamera keuchte. Sein rundes, von einem üppigen Doppelkinn unterstrichenes Gesicht war noch verschwitzter als sonst, was wohl auf überdurchschnittlichen Stress hindeutete, und seine sonst schon so ausgeprägten Glubschaugen traten ihm beinahe aus dem Kopf. Nervös vor- und zurückwippend fasste er sich an das, was von seiner dunklen Haarpracht noch übrig war, und ich meinte fast zu erkennen, wie seine Hände auf dem Schweiß seiner Halbglatze wegrutschten. Die breiten Nasenlöcher seiner gnubbelartigen Nase blähten sich immer wieder auf, sodass Leos lautes Schnauben deutlich zu mir herüberdrang.
"Johannes, du musst dich jetzt konzentrieren!", wies er mich hektisch an und dem Glänzen in seinen Augen konnte ich etwas Unheilvolles entnehmen.
"Was zur Hölle ist denn los?", wollte ich also wissen und konnte einen leicht genervten Unterton nicht unterdrücken.
"Etwas ist schiefgelaufen", begann Leo also zu erklären. "Niemand hätte es vorausahnen können. Johannes, du musst sofort zu Sanicorps kommen!"
Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Warum musste immer mir so etwas passieren?
Fast schon zitternd vor aufkochender Wut warf ich Leo einen stechenden Blick zu und keifte: "Leck mich am Arsch, Leonard, das meinst du nicht ernst! Weißt du etwa nicht, was ich die ganze Woche schon alles um die Ohren hatte? Ich brauche Schlaf, verdammt, und meine Familie braucht mich! Was ist denn jetzt so wichtig?"
In meinem Inneren wusste ich, dass es höchstwahrscheinlich äußerst unangebracht gewesen war, so mit Leo zu sprechen. Mir war schon klar, dass sein Anruf nicht ohne Grund sein konnte. Also wartete ich voll Anspannung auf seine Antwort, die auch nicht lange auf sich warten ließ.
"Die Probanden", keuchte er atemlos, als würde er gleich einen Herzanfall erleiden. "Sie sind fast alle gestorben. Niemand weiß, wieso. Wir waren uns doch so sicher!"
"Du verarschst mich!", krächzte ich reflexartig. "Das ist völlig unmöglich! Wir haben das Mittel mehrfach auf seine Unbedenklichkeit überprüfen lassen!"
Alle meine Gliedmaßen spannten sich an vor Zorn. Ich wollte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Erst recht nicht wollte ich über die Konsequenzen nachdenken, die dieser Vorfall mit sich ziehen konnte.
"Ich verstehe es ja auch nicht!", schnaufte Leo niedergeschlagen. "Keiner hier tut es. Es ist wirklich ein Rätsel. Doch wir haben noch ein Problem. Es gibt einen einzigen Überlebenden, der es irgendwie geschafft hat, aus seiner Zelle auszubrechen, und jetzt im Labortrakt Amok läuft. Vier Menschen hat er schon umgebracht. Johannes, du musst sofort kommen und uns helfen, ihn in den Zaum zu kriegen! Ist das möglich für dich?"
Ich war fassungslos vor Unglaube. Wie konnte das sein? Wie konnte schon wieder so eine Scheiße passieren? Mir blieb fast die Sprache weg, so sehr bebte ich innerlich.
Doch schließlich konnte ich mich zusammenreißen und antwortete in einem erniedrigten Ton: "Ja, ich kann nochmal umdrehen. Bin gerade erst über die Bürgermeister-Smidt-Brücke rüber, sollte also nicht allzu lange dauern."
Ich hörte, wie Leo erleichtert aufatmete, und mit versucht gefasster Stimme sagte er: "Sehr gut. Ich erwarte dich."
"Bis gleich", erwiderte ich und gab der Spracherkennung anschließend den Befehl zum Auflegen.
Es würde wohl keine zwei Minuten dauern, um zu Sanicorps zu gelangen. Nur war ich leider gerade in die völlig falsche Richtung unterwegs.
Deshalb räusperte ich mich kurz und brummte energisch: "Ziel zurücksetzen. Neues Ziel: Sanicorps Zentrale, Bremen."
"Zielführung aktualisiert", antwortete der Bordcomputer in einem mechanischen Ton.
Ich wusste, dass er nun wahrscheinlich unnötig lange für die Suche nach einer legalen Wendemöglichkeit aufbringen würde, also erspähte ich kurzerhand eine Lücke im Verkehr, riss den Lenkhebel mit aller Kraft herum und beförderte das Auto so schnurstracks auf die Gegenfahrbahn. Wieder sollte ich nun also die Weser überqueren, gerade, wo ich diese letzte Hürde in Richtung Zuhause hinter mir gelassen hatte. Doch was brachte das ganze Klagen? Es gab jetzt nun mal eine Pflicht, die ausgeführt werden musste, ob ich es wollte oder nicht. Ausnahmsweise erklärte ich mich dazu bereit, für diese kurze Strecke uneingeschränkt auf den Autopilot zu vertrauen, nur, um vor lauter Frust die Hände vors Gesicht zu schlagen.
"Warum?", quiekte ich in mich selbst hinein. "Warum ausgerechnet jetzt? Ich hab genug von diesem Scheiß, ich will einfach nur nach Hause!"
Tatsächlich ging die Fahrt noch schneller vorüber als gedacht. Der Wagen war hinter der Brücke nur noch einmal nach rechts und dann nach links abgebogen und schon waren wir angekommen.
Ein letztes Mal rieb ich mir frustriert die Augen, bevor ich den Motor abschaltete, mich mühsam stöhnend von meinem Sitz erhob und nach Einfahren des Daches unbeholfen ausstieg. Als meine Füße den glattgeschliffenen Asphalt trafen, lenkte ich meinen Blick sofort auf das protzige Gebäude vor mir. Auf architektonischer Ebene eher langweilig, strahlte das Sanicorps-Hauptgebäude nichtsdestotrotz eine unglaubliche Macht aus. Es wirkte wie ein riesiger, fünfzig Stockwerke hoher Bauklotz, dessen spiegelähnliche Glasfassade problemlos die Lichter der Nacht reflektierte. Auf der linken Seite zog sich längs, von oben nach unten, und in strahlend weißen Buchstaben der Schriftzug Sanicorps, wobei jeder der neun Buchstaben sich durchschnittlich über drei Stockwerke erstreckte mit jeweils einem Stockwerk Abstand. So begann das vordere S irgendwo beim achtundvierzigsten Stock, während das hintere sich irgendwo im Bereich des dreizehnten tummelte. Der pompöse, rechteckige Eingang, ebenfalls aus feinstem Glas gewerkelt, führte zunächst in eine prachtvolle, fast schon verschwenderisch ausgestattete Lobby und umfasste gut zwei Etagen.
Mit einem leisen Zischen aktivierte sich mit einem Mal die Automatik der Eingangstür und heraus stürmten drei Männer. Die beiden äußeren waren recht stämmig und trugen Anzug und Sonnenbrille, gehörten also eindeutig zu unserer Security. Und der in der Mitte, das war Leo, gekleidet in seinen typischen abgewetzten Laborkittel, den sein fassartiger Bauch fast schon zu überspannen schien. Sein Gesicht stieß pausenlos Schweiß aus und glänzte dadurch ungemein im Wirrwarr der nächtlichen Lichter. Leos Poren waren schon immer etwas überproduktiv gewesen, nicht einmal der Weg vom Parkplatz bis ins Labor ließ ihn für gewöhnlich trocken, doch das hier sprengte jeglichen Rahmen. Es wirkte beinahe, als würde sein Gesicht bald zu einer weichen, buttrigen Masse zerlaufen.
"Johannes!", rief er, noch während er auf mich zueilte, und schnappte immer wieder verzweifelt nach Luft.
"Was zur Hölle ist hier passiert?", entgegnete ich verbissen und marschierte energisch Leo entgegen.
Dieser bremste abrupt ab, als wir uns auf halbem Weg trafen, drehte sich zurück in Richtung Eingang und krächzte, während er mich mit seinen großen braunen Glubschaugen anstarrte: "Komm mit, wir müssen aufs Dach! Dieser Mistkerl hat sich Lewandowski geschnappt und hält ihn dort oben nun als Geisel. Er ist komplett verrückt geworden. Ich weiß wirklich nicht, wie man mit ihm verhandeln könnte, er macht ja nicht einmal deutlich, was er überhaupt will."
"Du meine Güte", stammelte ich angespannt und spürte, wie mein Herz wie wild ausschlug. "Was ist das denn für ein Kerl? Konntest du noch irgendetwas Näheres über ihn in Erfahrung bringen?"
"Ein wenig schon", antwortete Leo, deutlich bemüht, sich wieder einigermaßen zu fassen, und mit einem Mal begann er, hektisch in seiner Brusttasche herumzuwühlen.
Mit eisernem Tempo passierten wir beide und die zwei Sicherheitsleute die Eingangstür und drangen in die Lobby ein. Jetzt gerade hatte ich allerdings nichts für die stylischen Wasserfälle vor Milchglas oder die exotischen Pflanzen in grellweißen, würfelförmigen Töpfen übrig, mein Fokus lag ganz woanders. Ungeduldig schaute ich Leos unbeholfenen Handbewegungen zu, während wir im Eilschritt geradewegs auf die Fahrstühle zumarschierten.
Gerade, als wir diese dann erreicht hatten und der Sicherheitsmann rechts von Leo die Tür des mittleren der drei Fahrstühle per Knopfdruck geöffnet hatte, gelang es meinem ungeschickten und aufgebrachten Freund endlich, einen kleinen, ovalen Holo-Projektor aus seiner Tasche zu ziehen.
"So", begann er, als wir in der kleinen Kabine zum Stehen gekommen waren und uns der automatischen Tür zugewandt hatten. "Zuerst sollst du sehen, was dort im Versuchstrakt vorgefallen ist."
Ein greller, in einem leichten Blaustich gehaltener Bildschirm wurde von dem dünnen, ovalen Chip in Leos Hand auf die Innenseite der Tür projiziert, welchen ich nun gebannt betrachtete. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, da erschien plötzlich ein Film innerhalb des abbildenden Rechtecks, verwackelt und mit unterirdischem Ton für heutige Verhältnisse.
"Ich hoffe, du glaubst mir jetzt", sprach Leo in einem unheilvollen Flüsterton und schaute mich mit ernster Miene an.
Ich jedoch hatte meinen Blick fest auf den Bildschirm fixiert. Da war er, der Versuchstrakt. Rotes Licht blinkte unaufhörlich in einem sterilen weißgrauen Gang auf. Am hinteren Ende meinte ich zwei Leichen und die dazugehörigen Blutlachen zu erkennen, doch eine genauere Identifizierung ließ das mangelhafte Bild nicht zu. Auf der rechten Seite reihte sich Glasfront an Glasfront. Es waren die Zellen der Testsubjekte. Hastig schwenkte die Kamera im Vorbeigehen dorthin. Was würde man wohl darin vorfinden?
Plötzlich blieb mir der Atem weg und das Blut gefror mir in den Adern. Überall lagen sie, die Leichen der Versuchspersonen, meist kümmerlich zusammengekauert auf dem Boden, die Haut verschrumpelt und von innen ausgebrannt, so wie es aussah. Nicht selten erblickte ich auch kleine Blutlachen und dickflüssige Eiterpfützen, die jeweils in der gesamten Zelle verteilt waren. Ein Schriftzug jagte den nächsten. Zelle 021, Zelle 022, Zelle 023. Alle waren sie tot, zugrundegerichtet von dem, was sie eigentlich hätte retten sollen. Wie war das nur möglich gewesen?
Entsetzt blickte ich rüber zu Leo, während der endlos ratternde Fahrstuhl meine Klaustrophobie schürte, doch sofort fuhr ich wieder zurück, als ich plötzlich deutlich hören konnte, wie sich der Kameramann erschrak. Die Zelle, vor der er sich nun befand, stand offen und innen drin überkam mich der Anblick einer übel zugerichteten Leiche. Das komplette Gesicht war eingeschlagen und mit Blut bedeckt, sodass kaum noch menschliche Züge zum Vorschein kamen. Eine riesige Lache der roten Flüssigkeit breitete sich von unterhalb des Schädels auf dem Boden aus, während außerdem wirre, großflächige Blutspuren die Wände zierten. Der weiße, ebenfalls mit Blut besprenkelte Kittel ließ mich wissen, dass dieser Mann einer von uns gewesen war, jemand, den ich höchstwahrscheinlich gut gekannt hatte.
Als ich gerade noch mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen diesen Anblick zu verarbeiteten versuchte, pausierte Leo auf einmal und seufzte niedergeschlagen.
"Patient 029 hat Robert Hansen in der Zelle überwältigt und auf brutalste Weise erschlagen", erklärte er und verhaspelte sich beinahe vor Nervosität. "Später hat er es auch noch irgendwie fertiggebracht, einen Wachmann auszuschalten und ihm seine Waffe abzunehmen."
Ich jedoch war noch gar nicht soweit, mich mit den weiteren Fakten auseinanderzusetzen. Bei Robert Hansen hatte ich bereits ausgesetzt. Robert Hansen, einer meiner wichtigsten Kollegen. Er war immer ein netter Kerl gewesen, höflich und zurückhaltend. Warum hatte Patient 029 ihm das angetan? Zugleich niedergeschlagen und wütend blickte ich gen Boden und ballte die Fäuste.
Daraufhin fuhr Leo fort: "Dieser Mistkerl ist wahrscheinlich durchgedreht, als er die ganzen Anderen hat sterben sehen, was ja eigentlich nicht unbedingt unverständlich ist. Wie die meisten Testsubjekte hatten wir auch ihn aus einem Heim für Kriegsgeschädigte rekrutiert. Viele dort kannten ihn wohl unter dem Namen Zippo. Hier ist ein Bild von ihm, vielleicht erinnerst du dich dann ja."
Leo drückte einen der winzigen Knöpfe auf dem Holo-Projektor und es erschein ein Bild, das irgendwie sehr einem Fahndungsfoto glich. Ich zuckte zusammen bei dem Anblick, doch gleichzeitig schossen mir wieder die richtigen Erinnerungen durch den Kopf. Natürlich konnte ich mich an dieses Gesicht erinnern, falls man es noch als solches bezeichnen konnte. Zippos Kopf war furchtbar entstellt. Es war ein regelrechtes Meer aus Beulen, Schwellungen und Narben, versehen mit den abstoßendsten Blutergüssen und verkrusteten Eitergeschwüren, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er sah fast ein wenig aus wie der Elefantenmensch, getaucht in das dunkle Lila gedehnter Haut und zerstörter Blutgefäße und das Grün eitriger Ablagerungen.
"Das war Zippo vor der Behandlung", führte Leo weiter aus, während an der roten LED-Anzeige oberhalb der Fahrstuhltür die baldige Ankunft auf dem Dach signalisiert wurde. "Aber wundere dich nicht, denn du wirst den Jungen nicht wiedererkennen. All die Entstellungen, die ihm sein Kontakt mit Savage Gold während des Krieges eingebracht hatte, sind durch die LH-15-Spritze verschwunden. Im Prinzip wurde er komplett geheilt, wenn nicht sogar mehr als das. Doch trotzdem hat er komplett den Verstand verloren. Einige unserer Experten haben sogar schon behauptet, sie hätten Symptome von Baryssauer Schizophrenie entdeckt, wie auch immer sie das hatten bestimmen können. Eigentlich sehr unwahrscheinlich, schließlich gibt es bis heute lediglich etwa ein Dutzend bekannter Fälle, die meisten davon in Osteuropa. Doch ein paar unserer Kollegen haben vorhin im Labor bereits einige Genabgleiche durchgeführt und durch Untersuchen der Erbanlagen konnten wir Rückschlüsse auf einen früheren Fall schließen, und zwar auf den bis jetzt einzigen hier in Deutschland. Zippos Geburtsjahr konnte ebenfalls ziemlich genau auf den Zeitraum zwischen 2011 und 2013 bestimmt werden, was uns zu dem Schluss bringt, dass sein wirklicher Name Joshua Zellmer ist, geboren am 31. Januar 2012 und Sohn eines ehemaligen Richters in Soltau. Scheinbar hatte er vor der Abriegelung fliehen können, bevor er in der Nähe von Nienburg in einen Gasangriff geraten war. Joshuas Großvater Wolfgang Zellmer war dieser besagte Fall hier in Deutschland. Vor neun Jahren hatte man bei ihm diese seltene Krankheit feststellen können, nachdem er in einem Kaufhaus nahe seiner Rostocker Eigentumswohnung randaliert hatte. Leider ist er kurze Zeit später verstorben, der alte Mann. Sein Herz ist förmlich explodiert."
Entsprach das alles der Wahrheit? Irgendwie ergab all das Sinn, jedoch hatte ich selten so sehr an meinem Urteilsvermögen gezweifelt.
"Wie kann man denn so schnell auf eine so seltene Krankheit spekulieren?", hakte ich also verwirrt nach. "Soweit ich das verstanden habe, ist der Typ einfach nur durchgedreht."
Leo zeigte sich allerdings unwissend und zuckte bloß mit den Schultern.
"Frag mich nicht, das ist nicht mein Fachgebiet", nuschelte er etwas unverständlich und starrte gebannt auf die LED-Anzeige, woraufhin er den Projektor rasch wieder ausschaltete und in seiner Tasche versenkte.
Mit einem groben Ruck kamen wir zum Stehen und die automatische Tür öffnete sich mit einer sanften Gleitbewegung. Sofort preschte mir eine harte Brise ins Gesicht, die zusätzlich noch etwas Regen in unsere Richtung blies. Bevor ich überhaupt meinen Fuß angesetzt hatte, waren die beiden Sicherheitsleute neben uns bereits vor uns aufs Dach marschiert und bewegten sich nun auf die Schwelle auf der anderen Seite zu.
Schnell bemerkte ich, dass wir ganz und gar nicht allein hier waren. Es herrschte ein furchtbarer Lärm, ein gutes Dutzend Menschen schrien wild durcheinander irgendeinen unverständlichen Brei in die Luft. Ich erkannte zwei Männer in Kitteln, drei oder vier in Anzügen sowie ein paar Vertreter des Sondereinsatzkommandos, die mit gehobenen Gewehren auf etwas zielten, das für mich noch verdeckt blieb.
Also sprang ich förmlich, zusammen mit Leo, aus dem Fahrstuhl und eilte auf die andere Seite zu. Hektisch trat ich über den durch ein großes gelbes H gekennzeichneten Hubschrauberlandeplatz, direkt zwischen zwei je etwa dreißig Meter hohen Funkmasten hindurch, die wie stattliche Zwillinge in die Luft ragten. Ich rannte schon fast, so sehr brannte ich auf den Anblick des entflohenen Patienten.
Es war erst, als ich die beiden aufgebrachten Laborassistenten passiert hatte, dass mein Blickfeld frei wurde und ich mir ein volles Bild von der Lage machen konnte. Langsam, aber sicher kam ich zum Stehen und musterte das verrücktgewordene Testsubjekt.
Joshua Zellmer sah aus wie ein ganz gewöhnlicher junger Mann, hatte eine normale, einigermaßen schlanke Figur, war durchschnittlich groß und trug relativ kurzes, aber zerzaustes blondes Haar. Von irgendwelchen Entstellungen war nichts zu sehen, sein Körper war vollkommen unversehrt, ja sogar recht gefällig waren seine Gesichtszüge mit seinem sanft abgerundeten Kinn, den leicht hervorstehenden Wangenknochen, der beschaulichen, kerzengeraden Nase und den sanften, vermutlich hellbraunen Augen. Jedoch war in Joshuas Gesicht die Angst geschrieben, vermischt mit unbändiger Wut. Er schien gleichzeitig zu explodieren und in sich zusammenzufallen. Verzweiflung, das war es, was ihn antreiben musste.
Gespannt wie ein Bogen stand er da, direkt an der Schwelle zum hundertfünfzig Meter tiefen Abgrund, gekleidet in seinen zerfetzten hellblauen Patientenkittel, die Pistole mit zitterndem Arm auf den Mann gerichtet, den er mit dem linken Arm fest gepackt hielt. Es war Finn Lewandowski, einer unserer Forschungskoordinatoren. Schweiß triefte nur so von seiner dichten schwarzen Haarpracht auf das dürre Gesicht und auf seinem furchtbar ausgeleierten weißen Hemd hatten sich bereits riesige Flecken derselben Flüssigkeit gebildet. Den Kopf hatte er nach oben gerichtet, die Augen allerdings verschlossen. Lewandowski zitterte noch viel mehr als Joshua und ich meinte ihn von hier aus sogar verzweifelt winseln zu hören.
"Es hat keinen Zweck, Joshua!", rief der Leiter des Sicherheitskommandos ein Stück links von mir und entsicherte seine G45 mit einem bedrohlichen Klicken. "Lass den Mann frei oder wir sind gezwungen, dich auszuschalten! Also sei verdammt nochmal vernünftig, mein Junge!"
Unter Strom, das Blut unendlich in Wallung, wandte ich mich dem gepanzerten Waffenträger zu und meinte mit heiserer Stimme: "Scheinbar wurde nach mir verlangt. Am besten versuche ich, die Verhandlungen fortzuführen."
"Johannes Verbeek?", fragte jener und ich antwortete:
"Ja genau, das bin ich."
"Dann tun Sie, was Sie können, Herr Verbeek."
"Werde ich. Allerdings habe ich keine Idee für eine passende Herangehensweise."
"Die haben wir auch noch nicht gefunden."
Na, das konnte ja noch heiter werden. Ratlos biss ich mir auf die Unterlippe, verzweifelt nach Worten ringend. Der überlebende Patient stand noch immer dort hinten mit seiner Geisel, eine tickende Zeitbombe auf zwei Beinen. Ich musste irgendetwas tun, irgendeinen Ansatz finden, das Schlimmste verhindern.
"Joshua Zellmer?", rief ich also zu ihm herüber, die Stimme heiser und krächzend. "Das ist doch dein Name, oder?"
Da war sie, die Reaktion. Ein stechender Blick. Zusammengepresste, vor Wut zitternde Lippen.
"Was interessiert Sie das?", keifte Joshua mit schriller, weinerlicher Stimme und fuchtelte so lange mit seiner Waffe herum, bis sie grob in meine Richtung zeigte.
Vorsichtig trat ich ein paar wenige Schritte näher, obwohl ich wusste, dass das wahrscheinlich die dümmstmögliche Idee war, und sprach mit versucht selbstsicherer Stimme: "Ich bin hier, um dir zu helfen, Joshua. Wieso hast du all diese Menschen umgebracht? Wir hatten niemals vor, dir etwas Schlimmes anzutun."
Sachte hob ich den rechten Arm. Eine beruhigende Geste, die hoffentlich Anklang finden würde.
"Sie dreckiger Lügner!", schrie Joshua jedoch und Tränen schossen aus seinen Augen. "Mein Leben interessiert Sie doch einen Scheißdreck! Ich hätte auch sterben können wie all die Anderen! Sie sind ein gewissenloser Mörder! Aufgrund ihrer maßlosen Profitgier haben Sie hilflose Menschen in ihre netten, kleinen Experimente gelockt, Menschen, die keine Familie und nichts zu verlieren hatten, Menschen wie mich! Warum hätte ich nicht einfach auch sterben können? Oh ja, das frage ich mich immer wieder!"
"Das war alles nicht so geplant!", versuchte ich Joshua zu überzeugen und merkte mit Ernüchterung, dass ich kaum eine Idee hatte, ihn weiterhin vom Ablassen seiner Gewalttaten zu überzeugen. "Die anderen Testpersonen hätten niemals sterben dürfen. Uns ist da ein riesiger Fehler unterlaufen, irgendwer hat bei den vorläufigen Tests mächtig geschlampt. Ja, vielleicht bin sogar ich der Schuldige. Aber ich versichere dir, Joshua, sollte das der Fall sein, werde ich mich dafür verantworten!"
"Das können Sie ihrer Großmutter erzählen!", giftete jener mich an und schnürte Lewandowski mit einem gewaltigen Ruck noch mehr die Luft ab, sodass dieser hilflos zu röcheln begann. "Ich werde keine einzige Ihrer stinkenden Lügen glauben! Das hier wird an die Öffentlichkeit gelangen, dafür werde ich sorgen! Die ganze Welt soll erfahren, was hier für ein Spiel getrieben wird. Ich werde nicht zulassen, dass das hier unter den Teppich gekehrt wird. Und sollte auch nur irgendjemand versuchen, mich aufzuhalten, werde ich dieses arme Arschloch hier wegpusten!"
Joshua Zellmer drückte noch fester zu, sodass Lewandowski bereits blau anlief. Mit todängstlichem Blick schaute dieser zu mir herüber und der Schweiß in seinem Gesicht rauschte herunter wie ein Wasserfall. Ich musste irgendetwas tun, doch was nur? Es fiel mir einfach nichts ein. Jede Möglichkeit führte in meinem Kopf nur das Scheitern mit sich, einen heilen Ausweg gab es scheinbar nicht.
"Ich werde mich vor der Presse verantworten, wenn du willst!", krächzte ich hilflos und breitete geschlagen die Hände aus. "Ich werde für den Tod von neununddreißig Menschen geradestehen und jede Konsequenz akzeptieren. Wäre das ein Angebot für dich?"
Joshuas Augen gewannen immer mehr an verzweifeltem Glanz und sein Körper begann vehement zu zittern. Er war kurz vor der Eruption, bereit für das Schlimmste. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm, es schien, als wäre er plötzlich jeglicher Rationalität beraubt worden.
"Mit ein paar Jahren Gefängnis soll ich mich zufriedengeben?", meinte er gehässig und richtete den Lauf seiner Waffe diesmal genau auf mich, den Arm mit einem Mal komplett steifhaltend. "Denken Sie, das wäre eine angebrachte Strafe? Da muss es doch eigentlich etwas Besseres geben."
Würde er dies wirklich tun? Widersprach es nicht völlig seinem Vorhaben? So würde er sein Ziel doch niemals erreichen.
Nichtsdestotrotz erbleichte ich mit einem Mal und mein gesamter Körper fror ein in mahnender Haltung. Kalter Schweiß lief mir von der Stirn. Der schwarze Lauf war auf meinen Kopf gerichtet. Wollte Joshua Zellmer mich tatsächlich erschießen? Hatte ich es vielleicht sogar verdient? Kraftlos sackte ich auf die Knie, den Blick weiterhin fest auf die Pistole fixiert.
"Dann mach schon!", murmelte ich in mich selbst hinein und schielte mit dem rechten Auge zu Lewandowski herüber, welcher noch immer verzweifelt nach Luft rang.
Dann sollte ich doch bezahlen für meine Sünden, ich hatte es verdient. Die ganze Sache war einfach mächtig in die Hose gegangen. Nicht einmal meine Familie würde ich jetzt noch ein letztes Mal sehen. Ach, ich armseliges Stück Scheiße.
"Beende es!", dachte ich zu mir selbst. "Jetzt drück schon den verdammten Abzug!"
Plötzlich aber spürte ich wie durch den Hauch einer Aura den Anschlag eines weiteren Abzugs hinter mir.
Erschrocken fuhr ich nach hinten und brüllte laut: "Wartet! Nein!"
Doch es war zu spät. Die Kugel flog durch die Luft. Ich warf meinen Kopf wieder nach vorn. Joshua hatte es geahnt. Er hatte Lewandowski als Schild vorgeschoben. Die Kugel traf diesen in die Brust. Blut spritzte durch die Luft. Eine zweite und dritte Kugel. Sie drangen in Bauch und Schulter. Sein weißes Hemd war bereits blutdurchtränkt.
Ich sah auf Joshua, wie er mit hochrotem, bis zum Anschlag angespannten Gesicht den Arm hob, die Augen voll brennender Wut. Er zielte nicht mehr auf mich. Wie ein wildes Tier brüllte er, als er abdrückte. Hatte er irgendwen getroffen?
"Alle das Feuer eröffnen!", brüllte der SEK-Kommandant und ein wildes Gewirr an Munition flog mir um die Ohren.
Der Lärm war unerträglich. Ich hörte Schreie hinter mir. Joshua schoss noch immer, während Lewandowskis Körper regelrecht zerfetzt wurde. Unmöglich konnte dieser die Kugeln aufhalten.
Ich schrie ebenfalls und presste meine Hände gegen die Ohren. Ein Desaster. Wann würde es endlich aufhören? Mein Blick war bereits verschwommen, als ich sah, wie die leergeschossene Pistole Joshuas Hand entglitt und mit einem nicht hörbaren Aufprall zu Boden ging. Das Feuer auf ihn jedoch hielt noch für einen quälend langen Augenblick an.
Erst reichlich verspätet brüllte der Kommandant einen schrillen Befehl, welcher die Salven rasch abwürgte. Eine seltsame Stille umfleuchte wieder meine Ohren. War es vielleicht sogar Taubheit? Irgendwo in den Tiefen meiner Gehörgänge bahnte sich ein unangenehmes Piepen an.
Mein Blick klarte unterdessen wieder auf und ich sah, wie Lewandowskis lebloser Körper zu Boden ging. Was ich nun erblickte, raubte mir restlos den Atem. Ich hatte richtig gelegen, das menschliche Schild war problemlos durchschlagen worden. Mehr als ein Dutzend blutrot umrandeter Einschusslöcher fand ich auf Joshuas zerfetztem Patientenkittel und die rote Flüssigkeit breitete sich rasend schnell in alle Richtungen aus. Doch dieser junge Mann, der schon als Einziger der Versuchspersonen überlebt hatte, stand noch immer auf zwei Beinen. Wie zum Teufel konnte es sein, dass er nicht schon längst tot war? Welche Kraft hielt ihn am Leben?
Hastig ließ ich meinen Blick schweifen und vernahm die fassungslosen Gesichter der Spezialeinheit, sowie Leos perplexe Miene. Niemand konnte wohl wirklich realisieren, was hier gerade geschah, nicht einmal Joshua Zellmer selbst.
Mit zitterndem, hochrotem Kopf schaute er auf seine blutenden Schusswunden herab, sah daraufhin wieder nach vorn und brachte gepresst wimmernd hervor: "Was habt ihr mit mir gemacht? Was ist das alles hier?"
Tränen liefen unaufhörlich seine glühenden Wangen hinunter und zähnefletschend trat er einen Schritt näher. War dies vielleicht der Zeitpunkt, um einen zweiten Versuch zu wagen?
Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und ließ in Rekordgeschwindigkeit etliche Ansätze durch meinen Kopf jagen. Irgendwie musste ich diese Situation vor Schlimmerem bewahren. Warum konnte mir nicht einfach irgendetwas Brauchbares einfallen? Egal. Meine letzte Möglichkeit bestand wohl darin, meinen Mund zu öffnen und ihn einfach sein Werk verrichten zu lassen.
"Joshua!", rief ich also ohne einen nennenswerten Plan. "Joshua, das Blutvergießen muss ein Ende haben! Ich habe dir doch schon erklärt, dass es niemals so hätte kommen dürfen. Sieh dich doch mal an! Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist, doch du bist am Leben! Überleg doch mal, wie du zu uns gekommen bist! Komplett entstellt warst du, sahst keinen Sinn mehr in deinem Leben. Doch jetzt erkennt man dich gar nicht wieder. Du bist ein junger, kerngesunder Mann, der gerade einen wahren Kugelhagel weggesteckt hat. Irgendetwas sagt mir, dass du für etwas Höheres bestimmt bist. Bitte, Joshua, das hier darf nicht das Ende sein! Du bist auserwählt, verdammt, mit dir könnte ein komplett neues Zeitalter der Medizin eingeläutet werden, ja sogar viel mehr als das. Kein Mensch hätte so einen Kugelhagel je überlebt. Es ist etwas mit dir geschehen, etwas, das mit unserer Behandlung zu tun hatte, und das müssen wir dringend herausfinden. Und was dich angeht: Du bist ein stärkerer, mächtigerer Mensch als wir alle. Nichts und niemand kann dir etwas anhaben. Bitte, Joshua, die Menschheit braucht dich!"
Mit fast schon flehendem Blick schaute ich den jungen Mann an, wie er noch immer fassungslos dastand, schwer atmend und behutsam seine Wunden betastend.
Schließlich sah er zu mir hinauf und antwortete mit gebrechlicher Stimme, die Last der Einschüsse deutlich bemerkbar: "Ich soll also der Auserwählte sein, Doktor? Wofür? Für Ihre perversen Experimente? Was hier mit mir gemacht wurde, war nicht richtig. Genau, wie es nicht richtig ist, dass ich nach so vielen Schüssen noch stehe. Das ist gegen die Natur! Was habt ihr nun mit mir vor? Wollt ihr mich klonen? Wollt ihr eure eigene unzerstörbare Armee aufbauen, um die Menschen noch mehr zu unterdrücken?"
Was redete Joshua da? Unterdrückung? Niemand wurde hier unterdrückt, jedenfalls nicht von der Regierung. Oder war es etwa eine Anspielung auf die abgeriegelten Städte? Die waren doch eh verloren, da konnte nichts mehr helfen.
"Verdammt, Joshua!", donnerte ich also aufgebracht, einen letzten Hauch von Feinfühligkeit jedoch beibehaltend. "Du bist verdammt nochmal paranoid! Es gibt keine Verschwörungen oder irgendwelche dunklen Intentionen innerhalb der Regierung! Komm auf den Boden der Tatsachen zurück! An deinen Händen klebt nun auch Blut. Ich will doch nur, dass du es wieder gutmachst!"
"Ich bin also abgehoben?", hakte Joshua augenblicklich in einem verächtlichen Ton nach und ich meinte fast schon ein hämisches Grinsen in seinem Gesicht erkennen zu können. "Sie haben mich da auf eine gute Idee gebracht, Doktor. Ein paar Kugeln mag mein Körper vielleicht standhalten, doch wie sieht es mit hundertfünfzig Metern freiem Fall aus? Sie haben recht, ich muss dringend wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren."
Wie bitte? Hatte er das tatsächlich vor? Meine Augen weiteten sich und mein Atem stockte.
"Joshua, was hast du vor?", brachte ich noch krächzend hervor, während ich hoffnungslos den Arm ausstreckte.
Doch da rannte er schon. Blitzschnell hatte er sich umgedreht und sich auf den Weg in Richtung Abgrund gemacht, taumelnd und hechelnd aufgrund der vielen Schussverletzungen.
Ich wollte schreien, doch mir blieb die Luft weg. Dies war mein Todesurteil.
In nicht allzu großer Entfernung hörte ich das Dröhnen von Rotoren. Die Presse? Die Nachrichten? Von irgendwoher drang der Lärm aufgebrachter Menschen. Wie hatten sie es so schnell erfahren können?
Wie gelähmt starrte ich Joshua hinterher, sodass mir bereits die Augen brannten. Und da fiel er. Weg war er aus meinem Blickfeld, verschlungen durch die silbrig glänzende Aluminiumschwelle. Bis auf die Geräusche im Hintergrund herrschte absolute Stille.
Ein bedrängendes Piepen drang in meine Ohren. Der wahrscheinlich größte Fortschritt der Menschheitsgeschichte war gerade eben von Bremens zweithöchstem Gebäude gesprungen. Meine Karriere war zu Ende. Mein Leben war zu Ende. Alles war aufgeflogen, die Öffentlichkeit würde mich in der Luft zerreißen. Was gab es jetzt noch für einen Ausweg?
Paralysiert schaute ich geradeaus, dort, wo eben noch Joshua Zellmer gestanden hatte. Ich horchte paranoid, hörte die Spannung, die um mich herum in der Luft lag. Alle Augen waren nun wohl auf mich gerichtet. Ich war der Verantwortliche, der, den man als Sündenbock hinstellen würde. Es gab keinen Ausweg. Oder doch? Nein, niemals! Ich musste Joshua gleichtun, musste mich ebenfalls von diesem Gebäude stürzen. Das war die einzig vernünftige Möglichkeit. Einfach geradeaus und mich fallen lassen, so schwer konnte das doch nicht sein.
Schweiß perlte aus meinen Poren und kalte Luft stach meine Lunge. Jetzt oder nie. Würde ich es wirklich wagen? Meine Familie. Ich konnte sie nicht im Stich lassen. Doch ich musste handeln, musste irgendetwas tun.
Die andere Richtung? Ruckartig fuhr ich herum. Der Fahrstuhl. Ein Ausweg? Jetzt war es sowieso zu spät, es gab kein Zurück mehr.
Ich stolperte beinahe, als ich mich blitzartig drehte und um mein Leben zu rennen begann. Es waren keine zwanzig Meter von hier. Ich formte einen Tunnelblick, versuchte alles hinter mir auszublenden. Laufen, das war das Einzige, was ich tun musste. Kein Blick zurück, nicht auch nur den Hauch einer Millisekunde. Zum Glück stand die Fahrstuhltür noch offen.
"Johannes, wo willst du hin?", hörte ich Leo hinter mir noch rufen, doch es war zu spät.
Wie ein nasser Sack prallte ich gegen die Innenwand des Fahrstuhls und holte notgedrungen aus, um den richtigen Knopf zu betätigen. Binnen einer Sekunde schloss sich die Tür. Ich hatte es nicht mehr gewagt, nach draußen zu schauen, wo wahrscheinlich unzählige fassungslose Augen auf mich gerichtet waren.
Ein dezenter Rums ertönte und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Durchzogen von falscher Erleichterung, holte ich kräftig Luft und wischte mir die verschwitzte Stirn.
Wie konnte ich mir nur die Illusion erschaffen, dass das alles jetzt vorbei sein würde? Wieso gab mir dieses kurzfristige Refugium so ein durchdringendes Gefühl der Sicherheit? Wahrscheinlich war ich in diesem Moment nicht in der Lage, über die nächsten zwei Minuten hinaus zu planen.
Immer weiter ging es nach unten, immer schneller, ungebremst. Was erwartete ich dort unten auf dem tiefsten Grund der Hoffnungslosigkeit? Vielleicht sogar eine Art Komfort? Wem bereits alles genommen worden war, konnte nichts mehr verlieren. Ich würde nicht nur jenen tiefsten Grund erreichen, nein, ich würde ihn problemlos wie eine Nadel durchdringen und ungebremst auf die Hölle zusteuern. Doch hier in diesem Fahrstuhl, wo ich ganz für mich selbst war, schienen auch diese Gedanken in den Hintergrund zu rücken. Ganz egal, was mich dort unten erwartete, jetzt, in diesem einen Augenblick, konnte ich mein Alleinsein für ein paar letzte Sekunden noch in vollen Zügen genießen.
Aber was war das? Plötzlich kam der Fahrstuhl zum Stehen. Erschrocken blickte ich nach oben auf die digitale Anzeige, wo mir eine leuchtende 24 ins Auge stach. Hier waren einmal Büros gewesen, doch seit mehreren Monaten stand diese Etage leer. Wer also konnte hier zusteigen?
Ein schlagartiges Lähmungsgefühl überkam mich und mein Körper zitterte, als würde er regelrecht durchgeschüttelt werden. Kalter Schweiß lief mir von der Stirn.
Mit wachsamen Augen verharrte ich auf der Tür, die sich nun langsam öffnete. Ein enger schwarzer Anzug, das war das Erste, was ich sah. Der Mann schien alleine zu sein. Noch konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, dafür war es im vierundzwanzigsten Stockwerk viel zu düster, doch von irgendwo drang minimal ein grelles Scheinwerferlicht hindurch, vermutlich der Helikopter.
"Wer sind Sie?", stammelte ich verängstigt und mit aller Kraft rücklings gegen die Innenwand gepresst.
Zuerst erkannte ich ein dezent hämisches Grinsen, gefolgt von einem unterdrückten Gelächter. Dann trat der Mann vor, bis über die Schwelle des Fahrstuhls hinaus. Er war von eher durchschnittlicher Statur, doch seine feine Kleidung implizierte eine ungeheure Macht. Feinste Spuren von Schweiß waren auf seinem ansonsten makellos trockenen, relativ schmalen Gesicht noch zu erkennen, doch eine gewisse Eile war viel mehr an seinem kurzen bis mittellangen, offenbar einst nach hinten geklatschten, doch nun zerzausten dunkelblonden Haar zu erkennen. Die durchdringenden dunkelblauen Augen des Mannes, den ich auf etwa Mitte dreißig einschätzte, waren fest auf mich fixiert und mit einem Mal bewegten sich seine schmalen Lippen.
"Guten Abend, Herr Verbeek", sprach er in einem beängstigend höflichen Ton. "Es tut mir sehr leid für Sie, dass das alles so enden musste."
Ich war komplett verwirrt. Was sollte ich sagen? Wer war dieser Kerl überhaupt? Hinter ihm schloss sich gemächlich die Tür und ein kräftiger Ruck signalisierte die Weiterfahrt.
"Was wollen Sie von mir?", stotterte ich unbeholfen und versuchte verzweifelt, mich nicht wie ein komplettes Häufchen Elend zu verhalten.
Also nahm ich all meine Kraft zusammen und richtete mich wieder auf.
Der Mann jedoch gab nur ein flüchtiges, leises Lachen von sich und antwortete mit kühler Stimme: "Immer mit der Ruhe, Herr Verbeek. Ich kann verstehen, dass Sie diese Situation noch nicht ganz verstehen. Allerdings kann ich Ihnen schon einmal versichern, dass Sie nicht die geringste Schuld trifft bei dem, was dort im Versuchstrakt vorgefallen ist. Gewisse Mächte haben das Experiment von Anfang an sabotiert, Mächte, die selbst für eine einflussreiche Person wie Sie in einer meilenweit entfernten Liga spielen. Doch dazu später mehr. Zuerst will ich mich vorstellen, schließlich will ich nicht unhöflich sein. Mein Name ist Vincent Marchetti. Sie haben meinen Namen noch nie gehört, doch wahrscheinlich bin ich Ihre einzige Hoffnung."
"Meine einzige Hoffnung? Wie meinen Sie das?", fragte ich entgeistert und kaum in der Lage, die richtigen Worte zu finden.
Marchetti allerdings schien das wenig amüsant zu finden und mit etwas angespannteren Gesichtszügen brummte er: "Denken Sie doch einmal kurz nach, Verbeek! Sie sind geliefert, verflucht nochmal! Sie werden im Gefängnis landen für dieses Desaster! Niemand dort draußen wird an Ihrer Schuld zweifeln, das können Sie mir glauben. Und es ist Massenmord, wofür man Sie anklagen wird. Die Strafe dafür kennen Sie ja. Es wird niemanden auch nur einen Hauch interessieren, was Sie zu sagen haben, beziehungsweise, wie Sie bei den scheinbar erfüllten Auflagen für die Durchführung dieses Experiments übers Ohr gehauen wurden. Die Presse wird Sie bereits in der Luft zerrissen haben, wenn Sie noch nicht einmal in das Polizeiauto eingestiegen sind."
"Und was haben Sie damit zu tun?", fragte ich stotternd, während Marchettis aufgezeigtes Szenario wie in einem Fleischwolf durch meinen Kopf gejagt wurde.
Ich war noch überhaupt gar nicht im Klaren gewesen, was eigentlich auf mich zukommen würde, dessen war ich mir jetzt bewusst.
Marchetti setzte wieder sein amüsiertes, leicht schmieriges Lächeln auf und erklärte voller Selbstüberzeugung: "Ich bin der Notausgang, Verbeek. Mein Arbeitgeber - Sie kennen seinen Namen, doch ich werde ihn noch nicht verraten - ist ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit und vor nicht allzu langer Zeit hat er ein geheimes Projekt ins Leben gerufen in einem verlassenen, unterirdischen Laborkomplex irgendwo im Wendland. Es war nämlich keineswegs ein Zufall, was mit Joshua Zellmer heute geschehen ist. Damit hat es mehr auf sich, glauben Sie mir. Es ist schon einmal vorgekommen, letztes Jahr in der Slowakei, ein wahres Debakel. Von der betroffenen Person fehlt heute jede Spur. Deshalb waren wir auch aufgrund verdächtiger medizinischer Berichte, in die wir uns gehackt hatten, auf Joshua aufmerksam geworden, doch leider ist auch diese Gelegenheit offensichtlich den Bach runtergegangen. Neue Erkenntnisse bezüglich dieser Anomalität, wie wir sie beobachten konnten, können wir also sehr gut gebrauchen. Es gibt sogar schon die ersten Spuren."
"Und Sie wollen, dass ich bei dieser Sache mitwirke?", hakte ich unsicher nach und versuchte das unkontrollierte Zittern meiner Finger im Zaum zu halten. "Ich weiß wirklich nicht, ob ich dieses Angebot annehmen kann. Was ist mit meiner Familie?"
"Für die können wir sorgen", entgegnete Marchetti. "Das sollte auf jeden Fall Ihre geringste Sorge sein."
Ich war zwiegespalten. Was war wohl die richtige Entscheidung? Ein wahrer Bürgerkrieg brach in meinem Kopf aus. Absolute Stille herrschte nun, bis auf das leise Rattern des hinabschießenden Fahrstuhls. Natürlich war das Angebot verlockend, doch was würde es mich kosten? War es nicht vielleicht sogar richtig, die Verantwortung für den Tod so vieler Menschen zu übernehmen? Aber dann hätte ich endgültig versagt, hätte einen Keil zwischen mich und meine Familie geschlagen.
Auf einmal traf es mich wie ein Schlag und ohne groß weiter nachzudenken, sprach ich mit falscher Selbstsicherheit: "Tut mir leid, Herr Marchetti, aber ich kann das Angebot leider nicht annehmen. Ich werde nicht ein weiteres Mal an unschuldigen Menschen herumexperimentieren und sie eventuell sogar töten. Ich bin nicht wirklich gut darin, Personen einzuschätzen, doch Sie wirken auf mich wie einer, der keine Skrupel kennt. Lieber übernehme ich also Verantwortung für meine Taten, anstatt mich wie ein Feigling aus dem Staub zu machen."
Auf einmal brach Marchetti in ein grässliches, selbstgefälliges Gelächter aus und schaute scheinbar nachdenklich zu Boden.
"Wirklich nicht schlecht, Verbeek", begann er schließlich mit kratziger Stimme und schaute wieder zu mir auf. "Ich weiß Ihre Ehrlichkeit wirklich sehr zu schätzen. Nur gibt es da leider ein klitzekleines Problem."
Mit einem Mal kam der Fahrstuhl zu einem abrupten Halt. Ich schaute zur Anzeige hinauf und sie zeigte den achten Stock an. Schweiß tropfte von meinen Wangen auf den sterilen weißen Aluminiumboden.
"Was für ein Problem?", stammelte ich und schon jetzt wurde mir schwarz vor Augen.
Warum der achte Stock? Warum hielten wir hier? Erwartungsvoll räusperte Marchetti sich und drehte sich elegant nach hinten in Richtung Fahrstuhltür. Diese öffnete sich mit einem leichten Zischen.
"Ganz einfach, Dr. Verbeek", begann er dann und ein finsterer Schatten warf sich auf seine Visage. "Sie wissen einfach schon zu viel."
Mein Atem stockte. Da sah ich sie, die beiden Männer in Schwarz. Gewaltsam stürzten sie in die enge Kabine hinein. Ich war wie gelähmt, konnte keinen Laut von mir geben. Ein schwarzer Sack wurde über meinen Kopf gestülpt. Dunkelheit. Sie packten mich, grob und ungestüm. Stechende Schmerzen in meiner Hüftgegend. Warum taten sie mir das an? Mir wurde schlecht. Wo würden sie mich hinbringen? Rücksichtslos schleiften sie mich über den Boden. Das Dröhnen der Rotoren kam immer näher, immer näher. War es vielleicht doch nicht die Presse? Selbst durch den tieffinsteren Sack konnte ich die letzten Reste des grellen Scheinwerferlichts spüren. Mein Orientierungssinn schwand, ich wusste nicht mehr, wo links und rechts, wo oben und unten war.
Auf einmal packten zwei grobe Hände meinen Leib. Etwas wurde mir umgeschnürt. Ein metallenes Klicken wies auf einen Haken hin. In der Ferne hörte ich den hysterischen Aufruhr einer Menschenmasse. Konnten sie etwa auch nicht glauben, was hier gerade geschah?
Plötzlich verknoteten sich meine Atemwege. Meine Beine, sie waren in der Luft. Irgendetwas zog mich gen Himmel. Hätte ich nicht einfach ja sagen können? Wahrscheinlich würde ich meine Familie nun nie wiedersehen.
Wo war nur das schöne Wetter der letzten Wochen verblieben? Stattdessen bedeckte nun eine graue Wolkendecke den Himmel, die so weit das Auge reichte keine einzige Lücke aufwies. Vielleicht ein böses Omen? Ach, zur Seite mit solch einem Aberglauben. Schließlich schien es, als würde es ein stinknormaler Arbeitstag wie jeder andere werden. Naja, eher ein Tag, wie er etwa alle zwei Wochen vorkam.
Als einer der Hauptermittler der Mordkommission Uelzen war es eigentlich nicht meine Aufgabe, so wie heute in einen einfachen Streifenwagen wie diesen zu hüpfen und übers Land zu fahren, doch leider gab es in einem kleinen Kaff namens Wriedel, etwa 25 Kilometer nordwestlich der Stadt, eine etwas aus dem Ruder gelaufene Persönlichkeit, zu der ich leider Gottes eine gewisse Verbundenheit verspürte. Torben Feldmann, dieses hoffnungslose Stück Scheiße, wie oft hatte ich seit der Schulzeit versucht, ihn wieder auf die richtige Bahn zu bringen? Im Kindergarten waren wir einst unzertrennlich gewesen, beste Freunde für immer. Doch sein Leben war dazu verdammt gewesen, in die Brüche zu gehen. Die Trennung seiner Eltern hatte ihm schwer zu schaffen gemacht und seine alkoholabhängige Mutter war damals völlig überfordert mit der Erziehung gewesen. Im Sommer 2007 dann - es fühlte sich an wie gestern - hatte Torben kotzend in unserem Vorgarten gelegen, die erste von vielen nachfolgenden Alkoholvergiftungen. Zwölf Jahre waren wir beide damals alt gewesen. Schon in der Grundschule waren wir so langsam auseinandergedriftet und ab dann hatten sich unsere Wege völlig getrennt. Wieso also hatte er dann gerade mein Haus aufgesucht, um seinen impliziten Hilfeschrei loszuwerden? Hätte er sich doch bloß woanders hinbegeben, dann hätte ich mich wahrscheinlich auch nie so verantwortlich für ihn gefühlt.
Der Notruf war um elf bei uns eingegangen. Es war seine Frau gewesen, so wie immer. Wie hatte es so früh am Tage schon wieder so heftig eskalieren können? Dieses Schwein sollte sich verdammt nochmal zusammenreißen. Langsam hatte ich genug von diesem Scheiß, schon viel zu viel Zeit hatte ich daran verschwendet, ihm wieder auf die Beine zu helfen.
Beamter Konstantin Rainer hatte mich sofort benachrichtigt und ich war umgehend in seinen Wagen gestiegen. Heute hatte ich eh nichts wirklich Besseres zu tun, der zurzeit überwiegend belanglose Papierkram konnte auch mal ein paar Stündchen auf mich verzichten.
Doch heute war das letzte Mal, dass ich mich zu diesem gewalttätigen Kotzbrocken aufmachen würde, das schwor ich mir innerlich in Dauerschleife. Er hatte mittlerweile genug Schaden angerichtet, selbst seine beiden kleinen Söhne hatte er bereits vor drei Jahren ins Heim geben müssen.
Das Kinderheim Suderburg, jetzt fiel es mir wieder ein. Eine beklemmende Kälte umfasste meine Stirn und wieder wurde das schlechte Gewissen auf den Plan gerufen. Kein Jahr war es her, dass es niedergebrannt worden war, und Torbens Söhne, wie auch die meisten der anderen Kinder, waren dabei umgekommen. Diese perversen Terroristen, warum hatten sie es auf die schutzbedürftigsten und hilflosesten Bürger unseres Landes abgesehen?
Wieder verkrampften sich meine Gliedmaßen beim Gedanken an all den Schrecken, dem die Staatsgewalt schon lange nicht mehr gewachsen war. Hunderte waren in dieser Region bereits ums Leben gekommen als Teil von etwas, das wirkte wie eine Säuberung von nationalsozialistischen Ausmaßen. Die Altenheime in Bad Bevensen und Bad Bodenteich waren erst vor wenigen Monaten in die Luft gesprengt worden und in Ebstorf, ein Ort, den Rainer und ich gerade erst durchfahren hatten, hatten diese Schweine erst vor zwei Wochen ein Behindertenwerk massakriert. Diese verschissene Terrormiliz war in den frühen Morgenstunden mit etwa zehn Mann in das Gebäude eingebrochen, um jeden einzelnen dieser hilflosen Menschen kaltblütig zu erschießen.
Wie lange sollte das noch weitergehen? Überall gab es bereits Militärblockaden, verschärfte Kontrollen und Überwachung von Orwell'schen Ausmaßen, doch bis jetzt hatten noch keinerlei Erfolge erzielt werden können. Wieso taten sich diese inkompetenten Idioten so schwer? Wie konnte dieser ach so unbekannte Feind bei hellem Tageslicht Dutzende von Menschen abschlachten, ohne dass jemand dazwischentrat? Damals war es uns doch auch gelungen, Kasimirs Armee zu zerschlagen nach vielen verbitterten Auseinandersetzungen.
Doch waren die Gerüchte wirklich wahr? Hatte dieser Mistkerl vielleicht tatsächlich überlebt? Und wenn ja, war er verantwortlich für das Grauen, das in den letzten drei Jahren wieder in Deutschland aufgeflammt war? Viele glaubten das und besonders die Medien versuchten es uns immer wieder einzutrichtern. Und vielleicht war es ja auch die Wahrheit, wer wusste das schon? Sicher, die Herangehensweise war eine völlig andere, doch schließlich war es für solche Gruppierungen nicht unüblich, sich bei ausbleibendem Erfolg zu radikalisieren. Doch nichtsdestotrotz häuften sich andererseits auch die Widersprüche. Was zurzeit in diesem Land veranstaltet wurde, war das komplette Gegenteil von dem, wofür Kasimir sich vor gut zwanzig Jahren eingesetzt hatte. Soziale Gerechtigkeit hatte er gefordert, eine Stauchung der Schere zwischen Arm und Reich. Von so etwas wie Euthanasie oder ähnlichem war niemals die Rede gewesen, und dieses grauenhafte Phänomen hatte sich mittlerweile auf das ganze Land ausgeweitet.
Weiter im Osten, sogar bereits im Wendland, welches praktisch direkt vor unserer Haustür lag, waren teilweise komplette Dörfer ausgerottet worden, und zwar solche, die schon immer als besonders strukturschwach gegolten hatten. Das konnte niemals in Kasimirs Verantwortung liegen, es widersprach sich komplett mit seinen Prinzipien. Wer aber steckte dann dahinter? Wer war diese neue Bedrohung? Es zerfraß mich regelrecht, die Antwort nicht zu kennen, und noch viel mehr, dass ich absolut nichts dagegen unternehmen konnte.
Mit nachdenklichem Blick schaute ich hinaus auf die ostniedersächsische Tristesse, die durch das graue Wetter zusätzlich noch unterstrichen wurde. Wenigstens trugen die Bäume zu dieser Jahreszeit noch Blätter, was es zumindest halbwegs erträglich machte. Hanstedt, Arendorf, die Namen fast vergessener Kuhdörfer, die wir durchquerten, heruntergekommen und fast vollständig verlassen. Wer konnte an so einem Ort noch leben? Die Dächer der zahlreichen Höfe waren größtenteils schon eingestürzt und die hölzernen Scheunen waren bereits so morsch, dass sie sich kaum noch aufrecht halten konnten. Auch die konventionellen Wohnhäuser glichen meist Ruinen mit ihren schimmeligen grauen Fassaden und verstaubten, oft eingeschlagenen Fenstern. Es war eine äußerste Seltenheit, dass sich eine Menschenseele auf der Straße zeigte. Man konnte sich fragen, ob diese Dörfer nicht doch komplett verlassen waren, doch bei genauerer Observation taten sich jedes Mal ungeahnte Abgründe auf. Was sich dort in den Ruinen alter Einfamilienhäuser fand, glich nicht selten einer Geisterbahn der schlimmsten Sorte. Drogenverseuchte Messie-Buden machten hier wohl den Großteil der Haushalte aus.
Das kleine Dorf Wriedel stellte dort keine Ausnahme dar, ganz im Gegenteil. Nirgendwo war es so trostlos und verkommen wie hier. Zusammen mit seinem westlich angrenzenden Nachbardorf Schatensen stellte es die letzte Station vor dem Großen Zaun dar, ein Grenzort der übelsten Art. Einen stetigen Gestank von Fäulnis brachte der Westwind mit sich, wodurch auch immer er erzeugt wurde. Doch jener Gestank passte wie die Faust aufs Auge zu diesem verfallenden Dorf.
Endlich hatten wir das rostige, von grünem Pilzbefall bedeckte Ortsschild passiert. Ruine reihte sich an Ruine, es war fast wie im Krieg. Wie konnte man hier noch leben? Da hätte ich doch fast lieber als Obdachloser in der Stadt gehaust. Wriedel, dieser triste, abartige Hort des Gestanks. Genauso gut hätte dieses Kaff hinter dem großen Zaun stehen können.
Ein leichter Hauch von Desiderium-Dämpfen stieg mir über die auf niedrigster Stufe laufende Klimaanlage in die Nase und angewidert rümpfte ich diese. Wenigstens ein Lebenszeichen, ein subtiler Hinweis auf menschliche Aktivität an diesem scheinbar verlassenen Ort.
"Das ist hoffentlich das letzte Mal, dass ich mich in dieses Scheißloch begeben muss, man!", meckerte Konstantin und schaute mit niederträchtigem Blick auf die Straße. "Kannst du heute nicht einmal dafür sorgen, Jan? Du verspürst doch so eine große Verantwortung für diesen Wichser. Mach ihm doch einfach mal ein für alle Mal klar, dass das so nicht weitergeht! Arme Irina, bald geht die noch drauf. Naja, wird sie wahrscheinlich so oder so bald bei ihrem Lebensstil, aber trotzdem."
"Beruhige dich erst einmal, Konstantin!", entgegnete ich locker und konnte mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. "Ich tue ja mein Bestes. Denkst du etwa, ich hätte nicht die Schnauze voll? Ich meine, letztes Mal ist der Mistkerl volltrunken mit einer Machete auf uns losgegangen. Aber sein Pegel hat uns ja zum Glück dann doch das Leben gerettet."
"Ach ja, der gute alte Torben", sinnierte Konstantin daraufhin vor sich hin und schwenkte das Lenkrad leicht nach rechts um, dem gekrümmten Lauf der Straße folgend. "Wie geht's eigentlich Charlotte? Macht sie dir auch schön die Hölle heiß? Hab länger nichts mehr von der Guten gehört."
"Ihr geht's bestens, wie immer", antwortete ich teilnahmslos und Konstantin fragte weiter:
"Und deinem Jungen?"
"Ist manchmal echt harte Arbeit mit ihm."
"Warum? Macht er Ärger?"
"Wie soll ich sagen? Ich weiß irgendwie noch nicht so genau, was aus ihm werden soll."
Konstantin schluckte abrupt, als hätte ihn jemand am Hals gepackt, und johlte: "Das hört sich echt hart von dir an, mein Guter! Ist es so schlimm? Er macht doch nächstes Jahr sein Abitur."
"Ja, die Versetzung war allerdings auch recht knapp", erklärte ich daraufhin mit kühler Stimme. "Ohne meine Hilfe und die meiner Frau hätte Matthias das niemals zustande gebracht. Doch ich glaube, er hat nicht einmal Interesse daran, irgendetwas aus seinem Leben zu machen. Die ganze Zeit hängt er mit irgendwelchen Vollpfosten rum."
"Weißt du eigentlich, dass du dich wie eine möchtegern-elitäre Schwuchtel anhörst? In dem Alter hängt man halt gerne mit seinen Kumpels ab! Erwartest du denn auch jetzt in den Sommerferien etwa Hochleistung von ihm?", lachte Konstantin und ich wusste nicht so genau, ob ich das ernstnehmen sollte.
Wahrscheinlich hatte er sogar auf gewisse Weise recht.
"Das sind aber echt zweifelhafte Typen, mit denen er da abhängt", führte ich also weiter aus, um mich einigermaßen zu rechtfertigen. "Abgefucktes Junkie-Pack, die ziehen meinen Sohn nur runter. Hab letztens sogar eine Bong unter seinem Bett gefunden."
"Meine Güte, Jan!", schmunzelte Konstantin ein wenig abschätzig und schüttelte sachte den Kopf. "Das muss ja nicht gleich heißen, dass er es andauernd macht. Außerdem ist das Zeug schon seit über zehn Jahren legal. Verdammt, bevor ich zur Polizei gegangen bin, habe ich fast jedes Wochenende gekifft, und damals war es noch verboten. Und schau mich an! Bin ich etwa ein Wrack?"
"Ein wenig schon, ja", trotzte ich Konstantin mit einem wiedergewonnen Lächeln und versuchte so, eine Eskalation der Diskussion zu vermeiden.
"Gut, gut, du hast ja recht!", meinte er lachend und hielt mit einem lauten Quietschen den Wagen abrupt am Straßenrand an. "Es kann ja nicht jeder so ein supertoller, drogenfreier Sportlertyp wie du sein."
Schon wieder schien Konstantin damit recht zu haben. Er war nun mal eher ein Durchschnittstyp, Ende vierzig, leicht schütteres hellbraunes Haar, das bald bereits zu einer Halbglatze zu werden drohte, müde blaue Augen, ein leicht rundliches Gesicht, eine an der Spitze etwas nach oben gebogene Nase und kleine, fast schon ein wenig verkümmert wirkende Ohren. So etwas wie dick war Konstantin nicht unbedingt, doch war seine Figur weit entfernt von sportlich.
Allerdings tendierte er immer wieder dazu, zu übertreiben, wenn es um mich ging. Früher war ich vielleicht einmal der gewesen, auf den er eben angespielt hatte, doch auch bei mir zeigte sich nun das Alter. Ich war zwar eine gute Handvoll Jahre jünger als Konstantin, wurde jedoch bereits von den ersten Gelenk- und Rückenbeschwerden heimgesucht. Ja, ich war schlank, doch vielleicht schon etwas zu schlank. Eine sehr hagere Figur hatte ich bekommen über die letzten Jahre, jetzt, wo mir das Training von früher fehlte. Ich hatte mich relativ gesehen also zur Ruhe gesetzt. Nie wieder würde ich mein Leben derartig gefährden, wie ich es damals andauernd getan hatte. Zur Polizei zu gehen war ohne Zweifel die richtige Entscheidung gewesen, vor allem meiner Familie zuliebe.
Geschmeidig fuhr das gläserne, kugelsichere Panoramadach hoch und Konstantin und ich sprangen eilig aus dem Wagen. Verfluchte alte Schrottkiste, fast fünfzehn Jahre hatte sie jetzt schon auf dem Buckel. Damals war ich noch nicht einmal in diesem Beruf tätig gewesen. Wo blieben nur die Subventionen des Staates? War ihm die Sicherheit auf den Straßen etwa vollkommen egal? Der einst verchromte silbrig-blaue Lack blätterte schon seit Ewigkeiten ab und sowohl Stoßstange als auch hier und da die Karosserie waren erheblich eingedellt. Wen wollte man damit denn noch beeindrucken?
Aber vielleicht hatte der Staat Uelzen schon längst vergessen, ja, so war es bestimmt. Die Polizei taugte hier eh zu nichts mehr. Was gebraucht wurde, waren Soldaten, die diese Region vom terroristischen Unrat befreiten, welcher überall Schrecken verbreitete. Wie konnten ich und fast alle anderen Menschen in unserer Stadt überhaupt noch ruhig schlafen, wenn nebenbei nur wenige Kilometer außerhalb ein regelrechter Säuberungsfeldzug vor sich ging? Der Nahe Osten hatte uns nun wahrscheinlich vollends erreicht. Diese Bastarde standen auf einer Stufe mit dem IS von damals, der pakistanischen Lahore-Jihad-Miliz, die in den letzten beiden Jahrzehnten bereits über 100.000 Menschen abgeschlachtet hatte, sowie ganz aktuell der sogenannten Nordafrikanischen Befreiungsoffensive, die ironischerweise ganze Landstriche verwüstete und wie eine Horde wildgewordener Berserker plünderte, schändete und mordete. Wie lange würde es noch dauern, bis die Gewalt auch direkt in mein Umfeld eindrang?
Nachdenklich rieb ich mir die Augen, als ich etwas geistesabwesend aus dem Wagen stolperte und mich daraufhin sofort wieder aufrecht hinstellte. Wir waren angekommen, standen hier vor diesem schäbigen, kleinen Haus am hinteren Ende des Dorfes. Die grauen Ziegel waren bereits brüchig und mit allerlei Unrat und Spinnenweben versehen und die winzigen Fenster waren allesamt notdürftig mit Holzbrettern verbarrikadiert, sodass vermutlich sogar ein Vampir bedenkenlos im Haus umher marschieren konnte. Irgendein wirres schwarzes Graffiti war auf die morsche Eingangstür aus weinrotlackiertem Holz gesprüht, welche beinahe von selbst aus den Angeln zu fallen schien.
"Mal sehen, was dieser Wichser heute schon wieder angestellt hat", brummte Konstantin abwertend und wir beide betraten den schmalen, zugewucherten Pfad aus grobem Steinpflaster.
Noch war von drinnen nichts zu hören, einzig und allein der bedrohlich umher brausende Wind drang in meine Ohren. Das Anklopfen konnten wir uns sparen, das hatte die letzten Male auch herzlich wenig gebracht. Hier half nur die gewaltsame Methode.
Torben war ein lausiger Handwerker, das war mir schon bei den letzten drei Besuchen aufgefallen. Mit lächerlicher Leichtigkeit trat ich die Tür aus den Angeln und wie ein Stück Pappkarton flog sie in den Flur hinein, während eine Vielzahl von Splittern durch die Luft jagten. Wir traten ein. Niemand war zu sehen. Nichtsdestotrotz zückte ich augenblicklich meine Waffe und ließ meinen Blick gewaltsam hin- und herfahren. Ein grausiger Gestank stieg mir in die Nase und meine Augen begannen zu tränen. Bereits hier im Eingangsbereich sammelten sich alle möglichen Abfälle auf dem Boden und der schäbigen Holzkommode in der Ecke, von Essensresten über Plastik, leere Schnapsflaschen, verbrauchte Spritzen und Katzenexkremente. Eine wahrlich tödliche Mischung war das.
"Das wird ja immer schlimmer!", ächzte Konstantin und erblasste zusehends, sodass er sich nach wenigen Sekunden bereits präventiv die Hand vor den Mund hielt, doch zum Glück schien er seinen Magen gerade noch so unter Kontrolle zu haben.
"Reiß dich zusammen!", flüsterte ich ihm dennoch argwöhnisch zu und schlich vorsichtig weiter.
Rechts befand sich die Tür zur Küche, in Torbens Fall ein beliebter Ort für häusliche Gewalt. Schon jetzt überkam mich der abstoßende Hauch von uralten, verbrannten Ravioli und schimmliger Milch. Behutsam griff ich nach der Türklinke und trat ein. Die heruntergekommene Kochleiste war vollgestellt mit dreckigem Geschirr, einiges davon befand sich dort wahrscheinlich schon seit Wochen, und unzähligen geöffneten Verpackungen, um die Horden hungriger Fliegen ihre Kreise zogen.
Ich brauchte meinen Blick nicht weit nach unten zu lenken, da sah ich sie, Irina, Torbens Frau. Sie war eine so kleine, zierliche, wenn auch minimal beleibte Frau, so schutzlos gegenüber ihrem großen, stämmigen Ehemann. Ich wollte sie ansehen, wie sie dort auf dem Boden hockte, den Kopf gegen den versparkten Backofen gelehnt, wollte ihr vertrautes, erschöpftes und von den Drogen gezeichnetes Gesicht begutachten, das ich noch nie ohne das fast schon obligatorische Veilchen gesehen hatte. Plötzlich aber weiteten sich meine Augen vor Schreck. Das leuchtende Rot zog mich an wie ein Magnet. Blut, es war überall. Unaufhörlich quoll es aus Irinas Nase sowie aus mindestens zwei weiteren offenen Wunden, die mitten in ihrem zerbrechlichen Gesicht klafften. Es verklebte sogar an einigen Stellen ihr ausgebleichtes dunkelbraunes Haar, welches sie zuvor zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Hilflos saß Irina da, röchelnd, die Augen geschlossen. Schließlich aber bewegten sich ihre Augenlider und der herbe Kontrast, den das stechende Blau aufwarf, traf mich wie ein Schlag.
Diesmal war er endgültig zu weit gegangen, diesmal musste ich etwas unternehmen. Ein unerträglicher Schmerz machte sich in meiner Brust breit und eine unbändige Wut glühte in mir auf. Mit Entsetzen schaute ich hinunter auf Irinas blutverschmiertes Nachthemd mit all den Löchern, die dort hineingerissen worden waren. Diese glatten, makellosen Risse, so etwas konnte nur eine Klinge verursacht haben. Dieser kranke Bastard, wo steckte er bloß?
"Helft mir!", ächzte Irina unter vermutlich bestialischen Schmerzen und mit aller Kraft versuchte sie ihren rechten Arm zu heben.
Blut tröpfelte von ihrer Hand auf die verdreckten Kacheln und unter grausigen Würgegeräuschen drückte sie eine Ladung Blut aus ihrer Kehle nach oben.
"Konstantin, ruf sofort einen Notarzt und kümmere dich um Irina!", wies ich jenen in einem energischen Ton an. "Ich werde in der Zeit dieses kranke Arschloch aufspüren."
Mein Puls war auf 180, sodass meine Arterien beinahe zu platzen drohten. Eine aggressive Schwärze dämpfte mein Augenlicht ab, in etwa wie ein dunkles Feuer, das sich in Sekundenschnelle über meinen gesamten Körper ausbreitete. Sicher hielt ich sie in der Hand, meine Pistole, dieses einzigartige Machtwerkzeug. Würde ich dazu in der Lage sein, würde ich es ein für alle Mal beenden können? Was, wenn er mich attackierte, wenn mir keine andere Möglichkeit blieb? Warum sollte ich dann nicht abdrücken? Oh ja, allein der Gedanke daran brachte mich in diesem Moment in Wallung.
Angespannt drehte ich mich um und passierte den Türrahmen, sodass ich mich nun wieder im Flur befand. Ich versuchte, aufmerksam zu horchen, doch es war mucksmäuschenstill. War es nicht vielleicht auch lediglich diese innere Unruhe, dieses wahre Feuerwerk der Emotionen, das mich für alles Andere scheinbar taub machte?
"Zeig dich, du Schwein!", flüsterte ich verbissen in mich selbst hinein und der erste Schweiß drang aus meinen Poren.
Wahrscheinlich versteckte er sich, wahrscheinlich würde er mich überraschen wollen. Ich durfte das nicht zulassen.
Auf einmal drang etwas in meine Nase. Der Alkoholanteil im beißenden Dunst innerhalb dieses Hauses wurde auf einen Schlag eine deutliche Spur größer, als ich mich der Stube zur Rechten näherte. Die Tür war bloß angelehnt und ich meinte dort ein hauchfeines Rascheln vernommen zu haben. Torben war da drin, da war ich mir sicher. Fast gelähmt hielt ich den Atem an und mein Herzschlag setzte aus. Mit einer starren Bewegung drückte ich die flache Hand gegen das zerfranste Holz, das nur noch zu Resten weiß lackiert war, sodass die Tür mit Leichtigkeit nachgab.
Es gab keine Warnung. Eigentlich hätte ich es ahnen müssen. Riesige Splitter flogen mir um die Ohren, als sich ein mächtiges Gewicht auf mich stürzte. Ein grauenhafter Krach. Haltlos fiel ich zu Boden. Meine Wirbelsäule prallte quer auf ein altes Gurkenglas. Schmerzen. Lähmende Qualen. Wie eine Dampfwalze rollte er über mich hinweg, grunzend, sabbernd, aus dem Mund riechend wie ein abgestorbenes, eitriges Glied.
"Verpiss dich aus meinem Haus, du scheiß Bulle!", hörte ich Torben vor Wut kochend lallen, als mir langsam, aber sicher das Augenlicht schwand.
Was gab es für einen ungünstigeren Augenblick als jetzt? Hilflos fuhr ich mit meinen Händen über den zugemüllten Boden, auf der Suche nach meiner Waffe. Alte Zeitungen, Verpackungen, Plastikmüll, Dreck, alles sammelte sich dort. Und noch etwas, wie ich sehr schnell feststellen musste: Scherben. Ich schrie kurz und gedämpft auf, als ein wahres Feuer durch meinen Körper schoss, doch es war gleichzeitig wie ein ungeheurer Energieschub. Schnaubend schleuderte ich meinen Oberkörper nach vorn und rappelte mich in Rekordschnelle auf.
Aus dem Augenwinkel sah ich schon Konstantin, wie er aus der Küche hervoreilte. Dann aber fiel dieses Monster in mein Blickfeld, dieses widerliche menschliche Wrack. Wie ein wandelnder Stereotyp stand er da, kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten, in seinem vollgekotzten weißen Unterhemd, der verschmutzten schwarzen Jogginghose und den zerfledderten beigen Lederhausschuhen. Er wollte wohl auf mich zustürmen, doch er torkelte so sehr, dass er bei jedem angesetzten Schritt beinahe das Gleichgewicht verlor. Sein Kopf hing zur Seite herab und mit leerem Blick starrte Torben ins Nichts, während braun angefärbter Speichel aus seinem Mundwinkel auf den Boden tropfte. Sein dunkelblondes Haar, welches bereits einen erheblichen Graustich besaß, war fettig und verklebt, und seine schweineartigen Gesichtszüge spiegelten seine Lebensweise nur allzu gut wider. Sein - wie ich zugeben musste - recht wirksames Manöver hatte dieses Arschloch wohl ziemlich viel Kraft gekostet, was mir sein konstantes Gekeuche aufzeigte.
"Wichser!", stammelte er unverständlich, wobei eine weitere Ladung Speichel aus seinem Mund schoss. "Ich mach dich alle, warte nur! Kreuzt schon wieder hier auf, Wichser! Halt dich aus meinem Leben raus!"
Wann war dieser Mann überhaupt das letzte Mal so etwas Ähnliches wie zurechnungsfähig gewesen? Zweifellos war nicht bloß Alkohol für seine Lage verantwortlich. Ehrlich gesagt wollte ich die genaue Zusammensetzung dieser toxischen Mischung, die von seinem Körper Besitz ergriffen hatte, gar nicht wissen.
Vorsichtig näherte ich mich Torben um zwei oder drei kleine Schritte und brummte mit fletschenden Zähnen: "Wie oft noch? Wie oft willst du deine arme Frau noch misshandeln? Sieh doch nur, was du angerichtet hast! Das war das letzte Mal, Torben, denn ich werde dafür sorgen, dass du Irina nie wieder anfassen wirst!"
Es kam wie eine Explosion. Ich hatte kaum meine Aussage beenden können, da sprang dieser abstoßende Taugenichts regelrecht auf mich zu, schäumend vor Wut. Wie ein wildgewordener Löwe brüllte er mich an, während sein sonst so träge wirkender Körper wie eine Rakete in meine Richtung schoss.
Jedoch lenkten mich meine eingebauten Reflexe. Ich brauchte nicht lange, um innerlich umzuschalten. Zuerst wich ich aus. Dann kam der Schlag auf den Nacken. Es folgte ein Tritt.
Wie eine Kanonenkugel prallte Torben gegen die Wand und riss beinahe ein Loch in sie hinein. Es war ein gewaltiger Krach. Mit schmerzerfülltem Stöhnen wälzte er sich am Boden und fluchte irgendein unverständliches Zeug in sich hinein. Ich sah, wie seine Nase zu bluten begann. War das etwa alles?
Plötzlich überkam mich wieder diese blinde Wut. Ich hob meinen Fuß, ohne auch nur ein bisschen nachzudenken.
Stopp. Was tat ich da? Ich konnte doch nicht einfach nachtreten, dieser Mann war doch schon außer Gefecht. Schwer war mein Atem. Überkam mich wieder dieser Drang nach Selbstjustiz, nach dem, was ich für gerecht empfand? Doch ich konnte mich fangen, Selbstkontrolle durchdrang mit einem Mal meinen Körper wie Medizin. Ich bückte mich herab und holte die Handschellen heraus. Konstantin eilte mir sofort zu Hilfe. Glücklicherweise wehrte sich Torben vorerst nicht, jedoch trug er auch nichts zu seiner Festnahme bei, verständlicherweise. Wie ein nasser Sack lag er da auf dem Boden und es stellte einen herben Kampf für Konstantin und mich dar, diesen Mistkerl aufzurichten. Meine Muskelstränge schienen fast zu platzen und mein Gesicht glich wahrscheinlich schon einer Tomate, als ich mit aller Kraft versuchte, Torben auf zwei Beine zu kriegen. Seine Augen waren verdreht und halb verschlossen und aus seinem Mund tropften Blut und Speichel auf sein verlottertes Unterhemd herab. Was für ein Wrack er doch war.
"Wie steht's um Irina?", fragte ich Konstantin besorgt.
"Sie ist stabil", antwortete dieser. "Der Wichser hat ihr die Nase gebrochen und eventuell hat ihr Kiefer auch heftig was abbekommen. Hinzu kommen noch die Schnittwunden, doch die sind zum Glück schon ausgeblutet. Aber die Scheiße sah verdammt übel aus, das lässt sich nicht bestreiten."
Plötzlich grunzte Torben einmal heftig auf und lallte desorientiert: "Scheiß Fotze, sie hat's verdient! Warum muss sie mich auch immer belästigen? Soll mich mal in Ruhe lassen, die Fotze! Redet immer nur Scheiße und will sich bei allem einmischen."
Das ging zu weit. Mich überkam ein herber Rückschlag. Mein Augenlicht färbte sich blutrot. Rein gar nichts konnte ich dagegen unternehmen.
"Du armseliges Stück Scheiße!", knurrte ich mit schäumendem Mund und zerrte Torben mit aller Kraft in Richtung Haustür, sodass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor.
Konstantin schien ebenfalls kaum mithalten zu können.
"Jan, verdammt, was hast du vor?", rief er mit stockendem Atem und musste letztendlich loslassen.
Ich schaute nicht zurück, doch ich konnte mir seinen fassungslosen Blick gut vorstellen. Diese Seite von mir hatte er schließlich noch nie kennengelernt. Vermutlich konnte er nicht so gut einschätzen, wie sehr mich die ganze Sache mit Torben beschäftigte.
Ich zitterte vor Anspannung. So dringend wollte ich direkt ausholen und dieses Arschloch niederstrecken. Gewaltsam trat ich die Haustür auf und beförderte diesen trägen Fettkloß nach draußen. Er konnte sein Gleichgewicht nicht halten und seine gefesselten Hände verhinderten es größtenteils, dass er sich abstützen konnte, was darin endete, dass er mit voller Wucht auf dem Gesicht landete. Endlich spürte er den vollen Schmerz, hinweg über die Barriere all der betäubenden Substanzen. Einen kläglichen Schmerzensschrei gab er von sich.
"Es reicht mir, Torben!", brüllte ich ihn von hinten an. "Lieg nicht so doof rum! Hast du mich nicht verstanden? Richte dich auf! Auf die Knie mit dir, du Scheißkerl!"
"Aber, aber, Jan", stammelte Torben verängstigt und sofort brach er bitterlich in Tränen aus.
"Auf die Knie mit dir, verdammt!" wiederholte ich in einem donnernden Ton und packte Torben unter den Achseln, um selbst dafür zu sorgen.
Nichts konnte er selber machen, diese gottlose Pfeife.
"Eine Bewegung und du bist tot!", verkündete ich ihm auf sadistische Art und Weise und entsicherte meine Waffe erneut, um ihm erst einmal gehörig Angst einzujagen.
Daraufhin führte ich den Lauf langsam in Richtung seines Hinterkopfs, bis er schließlich geschmeidig auf diesen traf. Torben zuckte abrupt zusammen und sein Gewinsel verschlimmerte sich auf einen Schlag um das Dreifache.
"Es kommt nie wieder vor, ich verspreche es!", schluchzte er wie ein kleines, hilfloses Kind, während er seinen Kopf kraftlos nach unten hängen ließ. "Bitte töte mich nicht, Jan!"
Ein unerträgliches Jucken hielt meinen rechten Zeigefinger in Schach. Irgendetwas in mir wollte so gerne abdrücken, dieses wertlose Etwas vom Angesicht der Erde verbannen, doch meine Vernunft dominierte in diesem Augenblick noch. Wie lange aber würde das noch vorhalten? Meine Stirn glühte, der Schweiß aber war kalt wie Eis.
"Viel zu lange habe ich die Scheiße mit dir schon mitgemacht!", donnerte ich mit dem Äußersten, was meine Stimmbänder noch zu bieten hatten. "Immer wieder habe ich versucht, dich zur Vernunft zu bringen, und mit welchem Ergebnis? Jedes Mal baust du mehr Scheiße, richtest deine arme Frau noch schlimmer zu, als wolltest du mich provozieren! Ist das der Dank für all die Mühe und Zeit, die ich in dich investiert habe? Sag es mir, Torben! Ist das der Dank?"
Ich drückte meine Pistole noch fester gegen Torbens Hinterkopf und erste Tränen schienen sich unterhalb meiner Augäpfel zu bilden.
Kläglich wimmerte der geschlagene Wüterich vor sich hin und stotterte schließlich mit krächzender Stimme: "Ich hab’ die Kontrolle verloren, Jan. Irgendetwas läuft mächtig falsch in meinem Leben. Ich brauche Hilfe, Jan. Bitte hilf mir!"
Immer und immer heftiger schluchzte Torben, sodass sich unterhalb seines Kopfes bereits eine kleine Pfütze bildete. Eine gewisse Erleichterung brachte mir seine scheinbare Erkenntnis, doch nach nur wenigen Sekunden des Überlegens trübte sich dieses Erfolgserlebnis. Hatte ich diesen Mist nicht schon öfter gehört? Mit zusammengebissenen Zähnen packte ich Torbens Nacken und drückte gewaltsam meine Daumen in ihn hinein.
"Ich sag's dir nochmal, damit du es auch ja nicht vergisst!", zischte ich Gift spuckend und verspürte irgendwie ein dringendes Bedürfnis, meine Zähne in Torbens Hals zu bohren und nicht mehr loszulassen. "Das war das allerletzte Mal, hast du mich verstanden? Fass Irina noch einmal an und ich bringe dich eigenhändig um! Glaub mir, Torben, es würde mir unendlich Freude bereiten, dich endlich loszuwerden! Du hast das Angesicht dieser Erde schon zu lange mit deiner Wertlosigkeit verseucht und ich kann nicht zulassen, dass es noch schlimmer wird. Du kannst dich schon einmal auf ein paar schöne Monate im Gefängnis freuen, wo du dein Leben gehörig überdenken kannst. Aber zuerst werde ich dafür sorgen, dass du davor einen netten Aufenthalt im Krankenhaus haben wirst!"
"Jan, hör auf mit der Scheiße!", hörte ich Konstantin hinter mir besorgt rufen, doch ich ignorierte ihn.
Ohne Vorwarnung drosch ich mit der eisernen Pistole auf Torbens Schläfe ein, sodass dieser laut und schrill aufschrie. Auch er sollte Schmerzen empfinden, sollte am eigenen Leib erfahren, wie sich das anfühlte. Wieder und wieder schlug ich seitlich auf sein Gesicht ein, bis es unüberhörbar zu knacken begann. Dann trat ich auf seinen Rücken ein und Torben ging zu Boden. Wieder und wieder hämmerten meine schwarzen Stiefel auf seinen weichen Bauch ein und unterdrückte Schmerzenslaute kamen aus seinem Mund hervor.
"Scheiße man, Jan!", krächzte Konstantin und stürmte auf mich zu.
Sollte er doch machen, Torben hatte jetzt eh genug. Er vermochte es nicht einmal mehr zu schreien, so sehr verkrampften ihn die ungeheuren Schmerzen. Wie ein angeschossener Eber wälzte er sich am Boden, während kräftige Schübe Blut aus seinen Nasenlöchern schossen.
Mit elektrisiertem Körper ließ ich mich zwei große Schritte zurückfallen, um mein Werk aus größerer Distanz zu betrachten. Konstantin jedoch fiel mich trotzdem von hinten an und riss mich beinahe von den Füßen.
"Hast du verdammt nochmal den Verstand verloren?", keifte er mich fassungslos an und seine Augäpfel schienen ihm beinahe aus den Höhlen zu fallen. "So kenne ich dich überhaupt nicht! Ernsthaft, nicht einmal Torben gegenüber bist du jemals so brutal gewesen! Was ist nur los mit dir? Du weißt schon, dass du dafür deinen Job verlieren könntest!"
Schwer seufzend drehte ich mich zu ihm um und erwiderte mit gehässiger Stimme: "Aber nicht ohne einen verlässlichen Zeugen. Und ich weiß, dass du die Schnauze halten wirst. Ich kann doch in deinen Augen sehen, dass du mich insgeheim verstehst."
Konstantin wirkte etwas enttäuscht von meiner Aussage und mit einem melancholischen Lächeln blickte er zu Boden, bevor er schließlich wieder aufsah und mit selbstsicherer Stimme erklärte: "Natürlich werde ich dich nicht verpfeifen, Jan. Aber ich will nie wieder sehen, dass du einen wehrlosen Bürger zusammenschlägst. So etwas darf einem souveränen Polizisten einfach nicht passieren, das weißt du wahrscheinlich besser als ich. Also lass uns den armen Kerl endlich ins Auto verfrachten und uns aus dem Staub machen. Der Ambulanzgleiter wird laut letztem Update in etwa zwei Minuten da sein, um Irina zu versorgen, also machen wir uns besser aus dem Staub, bevor hier noch irgendwer Verdacht schöpft!"
Zuerst zögerte ich, eigentlich grundlos, vermutlich aber wegen dieser wutgetränkten Blockade in meinem Kopf, doch dann nickte ich zustimmend. Zudem wollte noch etwas loswerden, wollte mich entschuldigen, da mein Fehler mir mit einem Schlag bewusst geworden war. So hätte ich wirklich handeln dürfen. Langsam bewegten sich meine Lippen auseinander und meine Stimmbänder gerieten bereits in Schwingung, da geschah etwas Merkwürdiges.
Etwas sauste mit fürchterlichem Getöse durch die Luft. Ich hielt mir schreckhaft die Ohren zu. Das Objekt näherte sich rasend schnell von hinten, und genauso schnell war es wieder verschwunden. Eine aggressive Böe fegte über unsere Köpfe hinweg. Reflexartig hatte ich gen Himmel geschaut. Da war etwas gewesen, ich hatte es doch gesehen, kaum hundert Meter über uns. Jedoch war es lediglich eine Verzerrung der grauen Wolken gewesen, dezent, aber deutlich. Irgendetwas hatte allerdings aufgeblitzt, war gespiegelt worden, da war ich mir absolut sicher. Und es war etwas Großes gewesen, größer als alles, was sich so eine niedrige Flughöhe erlauben konnte.
Konstantins versteinertem Blick und weit geöffnetem Mund zu urteilen, hatte er das Objekt ebenfalls gesehen.
Also wandte ich mich ihm, ebenfalls entgeistert dreinschauend, zu und stammelte ratlos: "Was zur Hölle war das? War das ein Gleiter? Was hat er im Südwesten gemacht? Da ist doch die Sperrzone. Seit wann gehen die da mit Gleitern rein?"
Einen kurzen Moment lang herrschte vollkommene Stille.
Konstantin schien verbissen zu überlegen, bevor er schließlich skeptisch die Augen zusammenkniff und mit kratziger Stimme meinte: "Das muss ein Tarnkappengleiter gewesen sein. Echt mächtige Teile und teuer wie Scheiße. Der Präsident hat vor fünf Jahren ein gutes Dutzend von denen bauen lassen. Die meisten davon sind aber auf der ganzen Welt verstreut im Einsatz und soweit ich weiß, stehen die restlichen meist unbenutzt in irgendwelchen Hangars rum."
Auf einmal fiel es mir wieder ein und mir kam es wie aus der Pistole geschossen.
"Aber zwei sind auf mysteriöse Weise verschwunden, nicht wahr? Man vermutet, sie wurden gestohlen."
"Ganz richtig", bestätigte Konstantin aufgeweckt und kramte augenscheinlich weiterhin in seinen Erinnerungen umher. "Beide waren im Luftwaffenstützpunkt in Frankfurt untergebracht. Aber warum sollte das einer von ihnen gewesen sein?"
"Keine Ahnung", brachte ich verdutzt heraus. "War nur so eine Vermutung. Soweit ich weiß, sind diese Viecher noch nie über heimischem Boden zum Einsatz gekommen. Die gestohlenen Modelle wiederum, wenn sie wirklich gestohlen worden sind, was jedoch anzunehmen ist, sind mit Sicherheit auf dem Schwarzmarkt gelandet und werden wohl kaum noch in Deutschland sein, das wäre doch viel zu riskant. Wahrscheinlich hat man sie irgendwo nach Afrika oder Asien verkauft."
"Wer weiß", entgegnete Konstantin merkwürdig teilnahmslos und auf einmal wurde mir klar, warum.
Mit entgeisterter Visage starrte er auf etwas hinter mir, scheinbar in etwas größerer Entfernung.
"Jan", flüsterte er daraufhin in einem geheimnisvollen Ton. "Das musst du dir ansehen. Dort, direkt hinter den Baumkronen außerhalb des Dorfes. Warum ist uns das vorhin noch nicht aufgefallen?"
"Was meinst du?", hakte ich verwundert nach, verstummte jedoch sofort, als ich mich ebenfalls umdrehte.
Dort hinten war etwas, oberhalb der Baumkronen am hintersten Ende der verkümmerten Felder außerhalb des Dorfes. Eine dichte schwarze Rauchwolke von gigantischen Ausmaßen steig keine drei Kilometer von uns entfernt gen Himmel und verdunkelte die graue Wolkendecke wie ein dämonischer Schatten. Was war dort geschehen? Vielleicht eine Explosion? Der Formation der Rauchwolke zufolge konnte sie sehr wohl schon eine gute halbe Stunde her sein. Hatte ich tatsächlich nichts davon mitbekommen? Vielleicht unterbewusst? So etwas hätte man doch mitbekommen müssen.
"Der Zaun!", krächzte Konstantin panisch und hechtete unüberlegt in Richtung Auto. "Jemand hat den Zaun gesprengt! Das sollten wir uns ansehen!"
"Meinst du wirklich, das ist eine gute Idee?", warf ich skeptisch dazwischen, doch Konstantin nickte bloß stumm und stieg wie vom Blitz getroffen in den alternden Polizeiwagen.
"Na schön", murmelte ich in mich hinein und beugte mich herab, um Torben unter den Armen zu packen und in Richtung Auto zu schleifen. "Tut mir leid, Freundchen, aber wir müssen noch einen kleinen Ausflug mit dir vornehmen."
Jener zeigte sich gewohnt widerspenstig, doch sein jetziger Zustand ließ nicht zu, dass er sich großartig wehren konnte. Also kooperierte er am Ende sogar ein wenig und kletterte fast schon freiwillig auf die Rückbank, um sich dort brav niederzulassen. Daraufhin eilte ich schnurstracks nach vorn, schlug die Beifahrertür auf und warf mich regelrecht hinein in das Fahrzeug.
Ohne etwas zu sagen, zündete Konstantin den Motor und drückte mit voller Wucht aufs Gaspedal.
Als wir nicht viel mehr als einen Augenaufschlag später wieder rauen Asphalt unter den Rädern hatten, meinte er mit trockener, wenn auch aufgeregter Stimme: "Wahrscheinlich ist das Fass dort drinnen übergelaufen. Irgendwann musste es doch dazu kommen. Die Leute haben eine Revolte gestartet, um endlich wieder frei zu sein. Nie hat man auch nur das kleinste Detail von den Zuständen jenseits des Zaunes erfahren. Wer weiß, wie es den Leuten dort ergangen ist."
"Na, was denkst du wohl?", erwiderte ich mit stark ironischem Unterton. "Eine utopische Mikrogesellschaft natürlich, frei von jeglichen Sorgen und Begierden. Konstantin, verdammt, ich war damals in Mannheim, als dort das Chaos ausgebrochen ist. Aufgrund dessen, was ich dort hatte sehen, tun und miterleben müssen, habe ich unter anderem meinen Job beim Geheimdienst geschmissen. Du glaubst mir nicht, wie die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt bereits unter den Missständen der Pfingstoffensive hatte leiden müssen, und das ist nun bereits elf Jahre her. Glaubst du etwa, da hat sich irgendwas gebessert? Schau dir doch Berlin, Dresden, Nürnberg und Bonn an, da ist es genauso! Die Regierung lässt uns an nichts teilhaben, doch jeder weiß, wie desaströs die Lage innerhalb der Absperrungen sein muss."
"Verkauf mich doch nicht für dumm!", maulte Konstantin mit einem leichten Hauch von Gekränktheit in der Stimme. "Natürlich weiß ich, dass es den Leuten dort nicht unbedingt sehr blendend gehen kann. Wenn die beschissene Regierung auch nur irgendwas auf die Reihe bekommen würde, dann müssten wir uns jetzt auch nicht mit dieser verdammten Snob-Festung Hamburg als Hauptstadt zufrieden geben, dieser vergoldete und parfümierte Haufen Scheiße, umrandet vom meilenweiten Elend der Sozialbauslums. Berlin hatte da etwas viel Ansprechenderes. Es war rauer, ohne Frage, doch irgendwie auch ehrlicher. Ich verstehe sowieso nicht, warum unser ach so geliebter Präsident Fechter diese ganzen armen Leute nicht einfach freilässt. Ich meine, diese verkackte anarchistische Pfingstoffensive bestand doch sowieso nur aus einem riesigen Haufen unfähiger, hirnloser, schießwütiger Brüllaffen, reinste Quantität. Auch hat man alle Strippenzieher ausnahmslos fassen können und seitdem hat sich der ganze Scheiß beruhigt."
"Aber der Schaden, den sie angerichtet haben, war immens und unvergleichlich", warf ich ungestüm dazwischen und schenkte Konstantin einen engstirnigen Blick. "Ein wahrer Amoklauf, bestehend aus völlig willkürlichen Bombenattentaten und Schießereien. Diese Leute hatten keinen Plan, ihre komplette Motivation bestand lediglich aus blinder, hohler Wut, sowie dem unerbittlichen Frust, innerhalb unserer Gesellschaft gescheitert zu sein. Bei Kasimir war das etwas komplett Anderes. Man muss sich eingestehen, ob man will oder nicht, dass dieser Kerl ein wirkliches Talent darin besaß, seine Ziele durchzusetzen, auch wenn es ihm letzten Endes nicht gelungen ist."
"Willst du diesen Mistkerl jetzt wirklich in den Himmel loben?", brummte Konstantin gereizt, während er konzentriert den Wagen über die nicht unerheblich beschädigte Landstraße manövrierte und dabei nicht selten das Lenkrad wild herumreißen musste. "Du weißt schon, dass Kasimir Petric der Verantwortliche für all diese grausamen Verbrechen in letzter Zeit sein könnte. Er soll zwar damals getötet worden sein, aber du kennst ja die Gerüchte. Seine Leiche wurde nie gefunden und überall hört man, er wäre immer noch da draußen. Aber wieso unternimmt niemand etwas? Es wirkt fast so, als hätten wir uns an all das Grauen bereits gewöhnt. Scheinbar juckt es uns gar nicht mehr, wenn direkt vor unserer Haustür unschuldige Menschen abgeschlachtet werden, solange wir uns noch die Illusion von Sicherheit aufrecht erhalten können."
"Immer mit der Ruhe", sprach ich mit vorsichtiger und einfühlsamer Stimme. "Ich verstehe, was du meinst. Es sind grauenhafte Zustände, in die unser Land geraten ist. Seit dem Krieg, aber besonders seit meinem Einsatz in Mannheim, sucht mich diese gewaltige Angst heim. Ich kann so auch nicht mehr länger leben, doch wo könnte man schon hin? Die wenigen Orte auf der Erde, an denen die Lage noch halbwegs stabil ist, sind nicht gerade die gastfreundlichsten. Man kann also nichts tun, außer hier in diesem Käfig aus Angst und Verzweiflung zu verrotten. Aber zurück zu der Sache mit Kasimir. Ich habe wirklich meine Zweifel, dass er etwas damit zu tun hat. Es stimmt einfach überhaupt nicht mit seinen Motiven überein."
"Ach, ich weiß auch nicht", seufzte Konstantin melancholisch in Richtung Seitenfenster und ließ seinen müden Blick langsam hin- und herfahren. "Ich vermisse einfach die alten Zeiten, als alles noch viel besser war. Verdammt, ich weiß noch, wie sehr mir dieser Satz damals immer auf den Wecker gegangen ist, und jetzt weiß ich auch wieso. Es war nichts als ein desillusionierter Nostalgiegedanke, doch mittlerweile hat dieser Satz erst an wahrer Bedeutung gewonnen. Warum kann es nicht einfach wieder so werden wie damals?"
Wie recht Konstantin doch hatte. Innerlich stimmte ich ihm voll und ganz zu und ließ, begleitet von wehmütigen Gedanken, meinen Blick über die Straße schweifen.
Plötzlich zogen sich meine Lungenflügel zusammen. Was verbarg sich hinten im Schatten des schmalen Waldstücks? Auch von dort stieg Rauch auf. Ein Fahrzeug. Camouflage. Das Militär. Doch was war geschehen? Ich rieb mir die Augen, um mich meines gesunden Geisteszustands bewusst zu werden. Dann sah ich sie. Leichen. Überall. Eingelegt in ihr eigenes Blut, offensichtlich durchsiebt von Kugeln.
"Was zum Teufel?", stammelte ich mit hämmerndem Puls und das Blut gefror in meinen Gliedmaßen.
Ich sah herüber zu Konstantin, den Mund geöffnet vor Schreck. Jener sagte nichts, doch ich sah die Fassungslosigkeit in seinen Augen. Für ein paar weitere Sekunden drückte er heftig aufs Gaspedal, bevor er mit einem Mal heftig in die Eisen ging, sodass der Wagen mit einem lauten Quietschen zum Stehen kam. Torben beachteten wir schon gar nicht mehr, er war schon längst aus unserem Interessenfeld gerückt. Uns interessierte nur noch dieser kolossale Militärjeep, der dort mit rauchendem Motor halb quer auf der Straße stand.
Hastig schnallte ich mich ab und stieg aus dem Wagen, um mir die Sache genauer anzusehen. Wie sich sehr bald herausstellte, befand sich vor dem Jeep noch ein ebenso beschädigter Humvee, welcher ebenfalls umgeben von Leichen war. Mit scheinbar fast erstarrten Gliedern trat Konstantin zu mir heran und gemeinsam wagten wir uns vor, um uns ausführlich ein Bild von der Situation zu machen. Wie viele waren es wohl? Zehn? Fünfzehn? Zwanzig? Ich wagte es nicht einmal, mir die Mühe zu machen, zu sehr rebellierten meine Augen, die diesen Anblick wahrlich nicht ertragen wollten. Viele von ihnen hielten noch ihre Waffe in der Hand, hatten sich fest an sie geklammert zum Zeitpunkt ihres Todes. Beiläufig überflog ich einige der Gesichter, wobei mein Augenlicht flackerte wie unter Stroboskoplicht. Die meisten waren noch jung, kaum älter als zwanzig. Was zum Teufel war geschehen? Waren sie auf dem Weg zum Zaun gewesen? Langsamen Schrittes bewegte ich mich vorwärts, Konstantin dicht auf meinen Versen.
"Heilige Scheiße", krächzte er wie gelähmt. "Wer macht nur so etwas? Kranke Bastarde!"
Nur wenig aufmerksam versuchte ich den bereits zum Stillstand gezwungenen Blutlachen auszuweichen, doch im Endeffekt interessierte es mich wenig. Ich schaute links zur ersten Fahrerkabine. Das Glas war durchschlagen und mit Blut bespritzt. Innen drin erkannte ich zwei Leichen, deren leblose Körper zur Seite gesackt waren. Ebenfalls lag einer der gefallenen Soldaten quer auf der Ladefläche, sodass nur die untere Hälfte seines linken Arms heraushing. Ich sah, wie Blut aus seinem Ärmel auf die Straße tropfte. Wer zum Teufel konnte das gewesen sein? Ich wollte Antworten. Wieder kochte diese unbändige Wut in mir auf, dieser brachiale Drang nach Gerechtigkeit.
"Miese Schweine!", knirschte ich verbissen, als ich mich langsam zum Humvee vorkämpfte.
Dem Anblick der Hirnmasse auf der Innenscheibe wollte ich mich gar nicht erst länger hingeben. Übelkeit breitete sich in meinem Magen aus und stieg langsam hoch. Krampfhaft versuchte ich sie unter Kontrolle zu halten und tat mich reichlich schwer damit. Was zum verfickten Teufel war hier geschehen? Es musste ein Hinterhalt gewesen sein.
Auf einmal ein leises Rascheln. Was war das gewesen? Ruckartig drehte ich mich um. Ein verkrampftes Husten. Der Straßengraben. Wer war dort?
"Hast du das gehört?", flüsterte ich Konstantin behutsam zu und dieser nickte, die Waffe bereits im Anschlag.
Auch ich legte meine Finger vorsichtig um den Griff meiner Pistole und ließ mir von dem kalten Metall einen Schauer über den Rücken jagen. Immer und immer näher trat ich heran, sodass immer mehr des Grabens meinem Blickfeld dargeboten wurde. Endlich war etwas zu sehen. Mein Herz pochte wie verrückt und fast schon etwas überhastet riss ich die Waffe aus meinem Gürtel. Enge schwarze Stiefel und eine weite dunkelgraue Stoffhose. Darauf folgte ein enganliegendes dunkelblaues T-Shirt mit V-Ausschnitt, um das ein dicker Munitionsgürtel gewickelt war. Ganz sicher gehörte diese Gestalt nicht zum Militär. Sofort erkannte ich die beiden Einschusslöcher in der rechten Brust, aus welchen noch immer Blut quoll. Dann, endlich, sah ich das Gesicht des Mannes. Er war wohl um die Mitte dreißig, besaß scharfkantige Gesichtszüge, war kahlgeschoren und trug einen dichten schwarzen Van Dyke. Stirn und Wangen des Mannes zierten mehrere alte Narben, die sich tief in die Haut gefressen hatten, und seine bedrohlichen Augen leuchteten im tiefsten Blau.
Eine Mischung aus Blut und Speichel sprudelte aus seinem Mund beim verzweifelten Versuch, nach Luft zu schnappen. Dieses Schwein war am Verrecken und es gab in diesem Moment wohl kaum etwas, das mir mehr Befriedigung bereiten konnte. Trotzdem aber galt es, das Beste aus dieser recht glücklichen Situation herauszuholen.
Mit einer Mischung aus rasender Wut und überfunkendem Enthusiasmus sprang ich in den niedrigen, zugewucherten Straßengraben hinein und näherte mich dem sterbenden Attentäter mit erhobener Waffe. Dieser Mistkerl hatte sein Gewehr noch bei sich, nur lag es ein kleines Stück außerhalb seiner Reichweite. In diesem Zustand würde er es aber sowieso nicht mehr hinkriegen, den Abzug zu betätigen. Ein merkwürdiges Lächeln schien meine Ankunft in sein Gesicht zu zaubern. Es war durchtränkt von Spott, welcher wohl als Maske für seine Hilflosigkeit diente. Dieser Mann war muskelbepackt und durchtrainiert, doch in diesem Zustand war er schwächer als ein verhungerndes Kleinkind. Seine Haut war bereits schneeweiß und seine Lippen wiesen unterhalb der überall klebenden roten Flüssigkeit ein höchst ungesundes Lila auf.
"Was ist hier passiert?", brüllte ich den Sterbenden an und näherte mich ihm bis kurz vor seine Fußspitzen. "Wer ist für all das hier verantwortlich? Sprich zu mir!"
Für einen kurzen Moment wirkte das Gesicht des Mannes wie erstarrt, doch dann wurde sein leicht spöttisches Lächeln zu einem maßlos hämischen Grinsen und mit durch Blut verstopfter Kehle begann er, kettensägenartig zu lachen.
"Was erwartest du von mir zu hören?", ächzte er und versuchte krampfhaft, seinen Nacken ein kleines Stück zu heben, um mich genauer unter die Lupe zu nehmen.
"Ich will wissen, wer euch geschickt hat!", donnerte ich erbost und fuchtelte wild mit meiner Waffe herum.
Der Mann jedoch ließ von seinem hässlichen Grinsen nicht ab und sprach, sichtlich unter grauenvollen Qualen, was jedoch seine niederträchtige Art wenig unterband: "Der Sturm hat gerade erst begonnen, du Narr. Versuch gar nicht erst, dich ihm in den Weg zu stellen. Es wird dir nichts als Schmerz bereiten.“
„Worauf willst du hinaus, du Stück Dreck?“, zischte ich, erfüllt von leidenschaftlicher Wut, und näherte mich samt Pistole dem sterbenden Mann um einen weiteren Schritt.
Bald würde es um ihn geschehen sein, ich konnte genau sehen, dass er es nicht mehr lange machen würde. Röchelnd spuckte er einen erneuten Schub dunkelroten Blutes fontänenartig in die Luft, sodass es schließlich seitlich seine erblassten Wangen und sein Kinn herunterlief.
„Lass dir von diesem Dreckssack keinen Mist erzählen!“, hörte ich Konstantin hinter mir rufen und ich wollte seinem Rat nur zu gern folgen.
Allerdings hatte der sterbende Mann noch immer nicht meine Frage beantwortet.
„Worauf willst du hinaus?“, hakte ich also energisch und mit gefletschten Zähnen nach. „Los, rede mit mir! So lange musst du noch durchhalten, dann werde ich dich erlösen!“
Ich meinte, den kümmerlichen Versuch von höhnischem Gelächter zu vernehmen, welcher unglücklicherweise nicht über das Gurgeln und Blubbern dickflüssigen Bluts im Rachen des verwundeten Attentäters hinausging.
„Sei gewarnt, mein Freund“, ächzte er mit letzter Kraft und krümmte sich krampfartig am Boden, als sich das Blut, das aus seinen Einschusslöchern quoll, ebenfalls zusehends verdunkelte.
„Gewarnt wovor?“, hakte ich wiederholt verbissen nach und stach mit todbringendem Blick auf den Sterbenden ein.
Dessen schmerzverzerrtes Räkeln stoppte plötzlich und mit stabiler Körper- und Kopfhaltung starrte er mich an, in seinen tiefblauen Augen ein bedrohliches Flimmern. Dann hob er unter größter Mühe den linken Arm, führte seine Hand gegen sein Gesicht und presste sie flach auf sein linkes Auge. Was hatte das zu bedeuten? Mir stockte der Atem. Eine beinahe schon verklumpte Ladung Blut schoss erneut aus seinem Hals und machte diesen frei, um ein nun deutlicheres Gelächter hervorzubringen. Das verkratzte, kettensägenartige Röhren verblieb, doch viel deutlicher schallte es nun zu mir herüber. Dieser Hohn in seiner Stimme, worauf stützte er ihn? Es bereitete mir eine qualvolle Gänsehaut und ein unerträgliches Druckgefühl in meinem Magen. Was hatte diese seltsame Geste zu bedeuten? Was stellte es dar? Eine Augenklappe? Weiterhin verhöhnte mich dieser Schweinehund, erstickend an seinem eigenen Blut, mitten im Dreck liegend, die Hand auf sein rechtes Auge gedrückt. War es eine Person, die er meinte? Jemand, der eine Augenklappe trug? Mit weit aufgerissenen Augen und schwerem Atem blickte ich auf den Attentäter herab und brachte kein Wort heraus.
Plötzlich zwei Schüsse. Ein schmerzhaftes Piepen drang durch meine Gehörgänge und mein Herz sprang gegen meine Rippen. Zwei Kugeln direkt ins Herz hatten die Sache erledigt. Noch kurz drang Blut aus den qualmenden Einschusslöchern, dann tat sich nichts mehr. Vollkommen reglos lag der Mann am Boden und seine rechte Hand sackte langsam von seinem Gesicht herab.
Mit angehaltenem Atem und zitternden Gliedern drehte ich mich zu Konstantin um. Dort stand er, den rauchenden Pistolenlauf noch immer auf die Leiche gerichtet, wie gelähmt. Seine Augen drückten eine düstere Kälte aus und seine zusammengepressten Lippen fieberhaften Zorn.
„Ich habe genug gehört“, knurrte er schroff und brach heraus aus seiner versteinerten Haltung.
Selten hatte ich ihn so beunruhigt gesehen, verständlicherweise. Auch mir war dieser sterbende Mistkerl übel aufgestoßen. Was hatte das alles zu bedeuten?
Mit verängstigten Augen sah ich mich um und krächzte: „Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden. Das gefällt mir alles überhaupt nicht.“
Es war genau in diesem Moment, dass von Süden plötzlich leise Motorengeräusche in meine Ohren drangen. Mit stockendem Atem zuckte ich auf und schoss in einem Satz aus dem Graben. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass jene Geräusche immer näherkamen.
„Was ist das?“, stotterte Konstantin hinter mir und ich konnte hören, wie er schleppend einen Schritt nach dem anderen nach hinten setzte.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ich ihm zähneknirschend. „Aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“
„Dann lass uns verdammt nochmal verschwinden!“, drängte mich Konstantin panisch.
Ich wollte mich gerade umdrehen, um ihm zuzustimmen, da tauchte in der nicht weit entfernten Kurve vor uns zwischen den Bäumen ein Fahrzeug auf. Mit weit aufgerissenen Augen reckte ich meinen Hals so weit es ging nach oben und versuchte das entgegenkommende Objekt zu identifizieren. Nur wenig später musste ich feststellen, dass kurz darauf ein zweites folgte. Es dauerte nicht lange, da erkannte ich das altbekannte Camouflage. Es waren zwei Militärjeeps, die Ladeflächen vollgepackt mit Soldaten.
Blitzschnell drehte ich mich zu Konstantin um und rief: „Bleib hier! Das sind welche von uns!“
Mit drastisch erhöhtem Puls und rasender Atmung wandte ich mich wieder den näherkommenden Fahrzeugen zu und verstaute meine Pistole etwas tollpatschig in meinem Gürtel. Die Soldaten hatten uns fast erreicht. Die Bremsen der Jeeps quietschten und beide Gefährte kamen quer auf der Straße abrupt zum Halt, nur wenige Meter von den ersten Leichen entfernt. Mein Herz war kurz davor zu explodieren. Erst jetzt wurde mir klar, wonach das hier aussehen konnte. Würden die Soldaten vielleicht uns zu den Verantwortlichen zählen? Wir hatten hier überhaupt nichts verloren. Angsterfüllt musterte ich die Gesichter der Soldaten auf den beiden Ladeflächen. Es waren größtenteils junge Kerle, genau wie die Männer, die um uns verstreut tot und blutüberströmt auf der Straße lagen. Straff hielten sie ihre Gewehre in den Händen und warfen mir reglose, argwöhnische Blicke zu.
Eine zermürbende Stille trat ein. Was würde nun geschehen? Wie würden die Soldaten vorgehen?
Auf einmal öffneten sich Fahrer- und Beifahrertür des vorderen Jeeps. Gebannt erwartete ich den Anblick der beiden Personen, mit denen ich mich nun höchstwahrscheinlich konfrontiert sah. Energisch zückte der Fahrer, von der Kleidung her ein gewöhnlicher Soldat, eine massive schwarze Pistole hinter der Kopfstütze hervor und das Klicken des Entsicherns drang wie ein beängstigendes Warnsignal zu mir hervor. Daraufhin drehte der Mann sich um und sofort vernahm ich die bedrohliche Aura seiner leuchtend grünen Augen. Dieser Soldat war von äußerst massiver Statur und nicht viel weniger als zwei Meter groß. Seine dunkel angehauchte Haut und der dichte schwarze Vollbart ließen auf einen Südländer tippen. Mit achtsam gesetzten, langsamen Schritten bewegte er sich auf Konstantin und mich zu. Es wurde schnell klar, dass er noch auf seinen Beifahrer zu warten hatte. Schnell schaute ich ein kleines Stück nach links und sah, wie dieser endlich hinter der Motorhaube hervorkam. Mein Puls beschleunigte sich noch mehr und ich musste mir fest auf die Unterlippe beißen, damit sich mein Atem nicht überschlug.
Wann war ich das letzte Mal bloß so nervös gewesen? Vor fünfzehn Jahren noch hätte sich nichts bei mir gerührt, kein einziger Nerv wäre kollabiert, keinen einzigen Schlag zu viel hätte mein Herz gemacht. Doch nun stand ich hier, irgendwo im Nirgendwo, umgeben von Leichen, konfrontiert mit den böse ausschauenden Kameraden dieser. Wie sollte das bloß enden?
Meine Augen waren noch immer weit geöffnet. So langsam verschärften sich die Konturen des herannähernden Mannes. Als Erstes erspähte ich die vielen Orden auf seiner Camouflage-Jacke. Im Gegensatz zu den anderen Soldaten erschien seine Kleidung besonders gepflegt und glattgebügelt und selbst seine massiven beigebraunen Stiefel glänzten in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die zwischen den Baumkronen zur Straße durchdrangen. Wir hatten es ohne Zweifel mit irgendeinem Leutnant oder General zu tun. Das weinrote Barett versteckte fast vollständig sein dunkelgraues Haar, das in Relation zu seinem massiven, gepflegten Schnurrbart stand. Als er näherkam, erkannte ich die unheilvollen dunkelbraunen Augen, die abwechselnd mich und Konstantin intensiv musterten. Der General schien bereits an der Sechzig zu kratzen, doch seine Statur machte das schwer zu glauben. Er war in etwa so groß wie ich, doch mit Sicherheit zehn Kilo schwerer. Schon seine massiven Handgelenke machten den Eindruck, als könnte er mit Leichtigkeit einen Tennisball zerquetschen. Mit über die Stränge schlagendem Puls beobachtete ich, wie er misstrauisch seine majestätische Nase rümpfte und eisernen Schrittes auf uns zumarschierte, seinen Leibwächter recht rasch überholend.
„Was zum Teufel haben Sie hier verloren?“, knurrte er uns an, noch bevor er nur eine Motorradlänge vor mir zum Stehen kann.
Verbissen versuchte ich meine gehetzte Atemfrequenz zu kontrollieren, trat einen Schritt vor und antwortete überraschend trocken: „Mein Kollege und ich waren bei einem Einsatz in Wriedel, als wir die gigantische Rauchsäule am Horizont gesehen haben. Auf dem Weg dorthin sind wir dann auf das hier gestoßen.“
Mit jedweden Fragen gedachte ich gezielt zu warten, doch Konstantin war scheinbar anderer Meinung.
Energisch trat er vor und brummte mit zunehmend entsetzter Miene: „Wollen Sie uns nicht vielleicht zuerst darüber aufklären, was hier geschehen ist? Zwanzig tote Soldaten sind keine Lappalie, über die man einfach so hinwegsehen kann.“
Auf einmal verfinsterte sich der Gesichtsausdruck des Generals noch mehr, was mir einen eiskalten Schauer bereitete.
„Sie haben ja keine Ahnung“, zischte er und warf Konstantin einen tödlichen Blick zu. „Das hier ist nur die Spitze des Eisbergs. Hören Sie am besten auf, Fragen zu stellen, die Medien werden noch früh genug davon berichten. Heute ist ein dunkler Tag für die Bundeswehr. Dort drinnen in der Sperrzone ist die Hölle los und wir werden dafür sorgen, dass Sesselpfurzern wie Ihnen dadurch keine Unannehmlichkeiten bereitet werden.“
„Die Hölle ist los?“, hakte ich beunruhigt nach. „Was soll das heißen? Gab es noch mehr Massaker wie dieses?“
Der Fokus des Generals wechselte zu mir und ungeduldig ließ er einen Seufzer los, die Hand an seinem Gürtel, wo seine Pistole angebracht war.
„Sehe ich etwa aus wie ein Nachrichtensprecher?“, donnerte er kurz darauf mit unangebrachter Härte. „Verschwinden Sie gefälligst von hier, das ist nicht Ihr Zuständigkeitsbereich! Ich bin nicht hergekommen, um irgendeinem Polizistenbimbo irgendwelche Fragen zu beantworten!“
„Na schön“, murmelte ich grimmig in mich hinein und ließ meinen Blick ein letztes Mal über die vielen Leichen schweifen.
Ich hatte so viele Fragen, nach deren Antwort ich verlangte, doch scheinbar redeten wir hier gegen eine Wand. Allerdings sah Konstantin das anders, oder er wollte es einfach nicht wahrhaben.
„Wir möchten doch lediglich die Wahrheit erfahren!“, zeterte er mit erhobener Brust. „Was in der Sperrzone vorgeht, ist mir erst einmal egal! Fakt ist nur, dass hier, in freiem Gebiet, ein Haufen kaltblütig ermordeter Soldaten liegt, erschossen von irgendwelchen Barbaren. Vergewissern Sie sich doch selbst, einer von ihnen liegt hier im Straßengraben! Außerdem hat ganz offensichtlich jemand etwas hier in der Nähe hochgehen lassen und erst vor wenigen Minuten ist ein verdammter Tarnkappengleiter über uns hinweggeflogen!“
„Wie gesagt, sehen Sie sich die Nachrichten an, da werden Sie schon alles erfahren, was zu wissen ist“, meinte der General zu Konstantin mit aufgesetzter Freundlichkeit.
Dann aber wandte er sich wieder mir zu und drohte mit unheilvollem Leuchten in den Augen: „Wenn Ihr Kollege noch ein Wort sagt, dann werde ich ihm die Fresse mit Kugeln stopfen! Das Gleiche gilt für Sie, wenn Sie beide sich nicht sofort von hier verpissen! Dies hier ist kein verfickter Tatort, es ist ein Schlachtfeld!“
Mit tödlichem Blick beäugte ich den General und ballte die Fäuste, doch schon sehr bald erkannte ich die Ernsthaftigkeit seiner Drohung.
Einknickend drehte ich mich also zu Konstantin und sagte: „Komm schon, das hier hat doch keinen Zweck. Wir sollten wirklich aufbrechen, immerhin haben wir auch noch Torben abzuliefern. Überlassen wir das hier lieber denjenigen, die für so etwas ausgebildet wurden.“
Ich wusste den Ausdruck in Konstantins Gesicht überhaupt nicht konkret einzuschätzen. War es Enttäuschung? War es Wut? Von beidem waren Komponenten zu erkennen, doch sie hatten sich tief unterhalb der Oberfläche verkrochen. Man konnte meinen, er wäre eine verbitterte leere Hülle, die orientierungslos durch die Welt streifte, weitab von jeglicher Genugtuung. Seine ausdruckslos schimmernden Augen auf mich gerichtet, zog er ein letztes Mal laut Luft durch die Nase, wandte sich schweigsam von mir ab und stapfte in Richtung Auto.
Flüchtig schielte ich noch einmal zum General und seinen Gefolgsleuten herüber, dann drehte ich mich ebenfalls weg und folgte Konstantin. Dieser hatte es in kürzester Zeit zum Wagen geschafft und war gerade dabei, ruppig die Tür aufzureißen, anstatt wie üblich den Sensor an seinem Schlüssel zu nutzen. Ein wenig gehetzt eilte ich ihm nach, öffnete die Beifahrertür und warf mich regelrecht in meinen viel zu harten Sitz. Schnell überprüfte ich die Rückbank und fand Torben schlafend vor, aus dem Bewusstsein geprügelt durch seinen ausufernden Rauschmittelkonsum. Daraufhin schwenkte ich hinüber zu Konstantin, der noch immer schwieg und aus dessen Miene eine mürrische Kälte hervorging.
Blickkontakt mit dem Militär meidend, startete er die Zündung, fuhr den Wagen mit brutalem Quietschen rückwärts an und wendete, als wäre er auf einer Rennstrecke. Ich musste mich beinahe an meinem Sitz festhalten, um nicht von ihm herunterzufliegen. Rasch drückte ich den kleinen roten Knopf neben der Kopfstütze und ließ mich durch den automatisch ausfahrenden Gurt anschnallen.
In einem äußerst gewagten Tempo bretterte Konstantin die holprige Landstraße entlang. Noch einmal wagte ich es, ihm von der Seite ins Gesicht zu blicken. Was hatte der Vorfall eben in ihm ausgelöst? Tief in seinem Inneren schlummerte ein unbändiger Durst, das erkannte ich. Es war ein Monster in ihm geweckt worden, ehrgeizig und aufbrausend. Aufgrund meiner vergangenen Erfahrungen mit Konstantin konnte ich grob einschätzen, was in ihm vorging. Auch ich wollte dringend erfahren, was genau heute geschehen war und wer all diese Menschen getötet hatte, doch er wollte mehr, das wusste ich genau. Ich hoffte eindringlich, dass es keine Anzeichen unbändiger, selbstzerstörerischer Obsession waren. Konstantin hatte nicht selten bei gewissen Fällen die nötige Distanz gefehlt. Einige Sachen waren ihm viel zu nah gegangen und das hatte bei ihm jedes Mal zu beunruhigenden Stimmungsabläufen geführt. Je mehr ich es mir ausreden wollte, desto mehr wurde mir klar, dass erneut alle Zeichen dafür sprachen. War es nun eine gute Idee, mit ihm zu reden, um meine Besorgnis zu lindern? Im Moment schien es nicht wirklich angebracht. In Konstantins Augen war ich ihm eben offenbar in den Rücken gefallen. Es war bereits der erste klare Indikator, dass mit seiner Urteilsfähigkeit irgendetwas nicht ganz stimmte. Schon jetzt schien dieses Massaker Besitz von ihm genommen zu haben. Sollte ich ihn vielleicht einfach in Ruhe lassen? Vielleicht war seine Verbissenheit genau das, was wir in diesem Moment brauchten. Doch würde es das Happy End bringen, auf das wir alle hofften?
Aufrechte Haltung. Jedes Gelenk musste gestreckt sein, jeder Muskel angespannt. Bereits jetzt überspielte ich meine scharfen Augen mit der neuesten imaginären Scansoftware. Ich war vorbereitet, die rechte Hand immer in der Nähe der Pistole. Jede mögliche Attacke würde ich erfolgreich abwehren können. Jeder meiner Sinne war auf Hochleistung gedrillt. Das schleichende Rauschen kollektiven Schweigens erfasste mich von schräg rechts wie eine Welle in der Brandung. Das metallicweiße Rednerpult glänzte im hellen Licht der Scheinwerfer. Ich konnte einen Blick auf die vordersten Reihen im Publikum erhaschen, wahrlich nur die Spitze des Eisbergs. Wohlgekleidete und herausgeputzte Männer und Frauen mittleren bis höheren Alters, eigentlich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Friedlich saßen sie da und lauschten gebannt dem Redner, der dort hinten am Pult stand und erneut seine Parolen schwang. Bis jetzt hatte ich bloß mit halbem Ohr zugehört, denn ironischerweise ließ Politik mich größtenteils kalt. Hauptsächlich war es nur ein reiner Affenzirkus, angeführt von inkompetenten Narzissten, die so sehr von sich überzeugt waren, dass ihre Grundmotivation daraus zu bestehen schien, sich im Nachhinein auf ihre leeren Hassreden und Appelle einen runterholen zu können.
Natürlich gab es da auch Ausnahmen, meinen Arbeitgeber zum Beispiel, das wichtigste Organ der deutschen Legislative, eine wahrhaft nervenaufreibende Bürde, besonders seit der Reform unseres Staatssystems, welche aus Angst vor uneinigkeitsbedingter Machtlosigkeit der Regierung unter anderem das Amt des Bundeskanzlers völlig aus dem Programm gestrichen hatte, zusammen mit ungefähr Dreiviertel der Plätze im Bundestag und, was für am meisten Kontroverse gesorgt hatte, die erzwungene Auflösung des mittlerweile unübersichtlich gewordenen Parteiensalats zugunsten einer rein individualistisch geführten Politik, ein Paradies für Intrigen und Backstabbing. Der Widerstand gegen dieses neuartige System wütete noch heute und das aus völlig verständlichen Gründen.
Unser Präsident, der Mann, für den ich arbeitete, den ich zu beschützen hatte, war ein guter Mann, doch die ihm aufgelegte Last war zu schwer für jeden Menschen. Und selten hatte es in diesem Land so viel zu tun gegeben, ganz abgesehen von der hohen Arbeitslosigkeit, dem Dilemma der Generationen, dem noch immer stetig steigenden Flüchtlingsstrom und der kränkelnden Wirtschaft.
Nichts von diesen Dingen war jedoch auch nur im Ansatz mit dem Terror vergleichbar, der dieses Land seit kürzester Zeit erneut heimsuchte. Vor zwei oder drei Jahren hatte es wieder begonnen, wenn ich mich nicht irrte. Mordende Attentäter zogen übers Land und zerstörten vorwiegend soziale Einrichtungen und strukturschwache Dörfer. Meistens hinterließen sie grausame Blutbäder, Meere von Leichen, mit toten, schreckerfüllten Blicken nebeneinander liegend, kaltblütig hingerichtet. In letzter Zeit jedoch waren zusätzlich immer mehr Menschen verschwunden, nur wenige Leichen waren dabei zurückgelassen worden. Was hatte das zu bedeuten? Wo hatten diese Leute all die Menschen hingebracht, die bereits verschwunden waren? Irgendetwas musste einfach ans Licht kommen, es waren doch schließlich bereits Hunderte.
Und wie sollte das mit den Sperrzonen weitergehen, mit der Lüneburger Heide, Berlin und den anderen Städten? Was ging dort wirklich vor sich? Wann würden die Soldaten endlich ihr Schweigegelübde brechen? So konnte es nicht weitergehen. Nicht einmal der Präsident wagte sich dort hinein und das verhieß nichts Gutes. Immer wieder waren Gerüchte über irgendwelche weitgreifenden blutigen Auseinandersetzungen, extreme Armut oder sogar mysteriöse Massengräber laut geworden, jedoch hatten jene nie über eine langfristige Strecke standgehalten. Lag die Antwort auf das Verschwinden so vieler Menschen etwa innerhalb dieser Mauern?
Erneut schoss der Gedanke an die Massengräber durch meinen Kopf und ein eiskalter Schauer erfasste mich, den ich schleunigst zu unterdrücken versuchte. Ich hatte nicht die Befugnis, mir über so etwas Gedanken zu machen, durfte mich nicht mit der geringstfügig subjektiven Herangehensweise solchen Fragenstellungen hingeben.
Doch schon wieder wanderten meine Gedanken in eine gefährliche Richtung, hin zur Lüneburger Heide, der größten Sperrzone des Landes. Wie lange es doch um dieses Ödland still gewesen war. Die Fertigstellung des äußeren Zauns mit einer Länge von gut 200km lag erst wenige Monate zurück. Merkwürdig, wenn man bedachte, dass ab diesem Zeitpunkt der Terror noch um ein gutes Stück zugenommen hatte. Diese Massengräber mussten doch etwas damit zu tun haben. Jedoch schien das kaum jemanden aus der Bevölkerung so wirklich zu interessieren, denn keines dieser Dumpfhirne war wohl in der Lage, daraus eine Verbindung mit dem Verschwinden ihrer Freunde, Eltern, Großeltern, Geschwister oder Kinder herzustellen.
Oh nein, etwas Anderes hatte vor kurzem für mächtig Aufruhr gesorgt. Etwa zwei Wochen war es nun her, dass bei einem bewaffneten Überfall in Soltau, dem Keim allen Übels der Kasimir-Revolte, um die vierzig Soldaten und Ärzte ums Leben gekommen waren, Menschen, für die das Volk plötzlich ganz offen seine erkalteten Herzen ausschüttete. Niemand fragte sich, warum es überhaupt dazu hatte kommen müssen, was eventuell innerhalb unserer Regierung falsch gelaufen war. Nein, das Einzige, was diese Gesellschaft kannte, war Hass. War erst einmal ein Sündenbock gefunden, begann wie immer die Hetze der Medien, diese elendige Schwarz-Weiß-Malerei, auf die dieser verdammte Pöbel jedes Mal aufs Neue hereinfiel.
In den Augen des Volkes waren die Einwohner der Sperrzonen nichts als Abschaum, Krankheitserreger, die es einzudämmen galt. Einen Haufen aus faulen, respektlosen Gewaltverbrechern hatten die Medien aus ihnen gemacht, die reine Verkörperung aller Todsünden, und das, ohne auch nur einmal jenseits des Zaunes gewesen zu sein. Diese verdammten Deutschen, wie sehr sie doch ihre Propaganda liebten, sich durch sie blenden ließen und dadurch für die wahren Probleme dieses Landes blind wurden.
Und waren diese Menschen jenseits der meterhohen Stacheldrahtzäune nicht eigentlich genau wie sie und damals nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Wenn sie tatsächlich zu dem verkommen waren, was die Medien uns einprägen wollten, dann nur aufgrund der katastrophalen Lage, die sie erdulden mussten.
Mit vor Unmut angeschwollenen Augen blickte ich rüber zum Rednerpult und musterte den Mann, der sich mit dieser Propaganda am besten auskannte, den Mann, der in der innerdeutschen Krisenpolitik und bei der Verwaltung des in den Sperrzonen stationierten Militärs sämtliche Fäden zog. Ohne ihn und ohne seinen Einfluss hätte Präsident Fechter die Grenzen vermutlich längst geöffnet, anstatt dazu gezwungen zu sein, neue zu bauen und sich sogar komplett von diesen Zonen fernzuhalten. Bei jeglichen Einwänden würde er die Sympathie der deutschen Bevölkerung sofort verlieren, das wusste er genau, und das erforderte viel mehr als nur Mut und Ehre, sondern auch schieren Wahnsinn.
So weit hatte es dieser Schleimbolzen dort hinten schon mithilfe der Medien gebracht, dieser verschissene Kleingeist von Innenminister, Emil Brandauer, wie er sich schimpfte. Und es war natürlich gekommen wie es hatte kommen müssen. Den Propagandabestien war wieder etwas zum Fraß vorgeworfen worden, und zwar nicht bloß irgendwelche halbabgenagten Knochen, nein, ein wahres Prachtsteak mit dreifachem Sättigungsfaktor. Die Hölle war gestern Vormittag ausgebrochen in der Heide, natürlich von Soltau ausgehend. Hunderte von Soldaten waren bereits tot. Die Verantwortlichen? Na, das war doch offensichtlich.
"Zu lange haben wir versucht, diesen Schandfleck unter Kontrolle zu kriegen!", hörte ich Brandauer in einem majestätischen Tonfall und mit theatralisch ausgebreiteten Armen von sich geben, während ein grelles Blitzlichtgewitter ihn umhüllte. "Mehr als fünfzigtausend Soldaten waren seit Anfang 2022 bereits in der Lüneburger Heide stationiert und ein Vielfaches davon seit 2028 in Berlin, Dresden, Nürnberg, Mannheim und Bonn. Milliarden von Steuergeldern sind bereits an diese klaffende Wunde in unserem souveränen Staatsgebiet verloren gegangen, insbesondere für die vielen Versuche, durch soziale und humanitäre Projekte wieder Struktur in diese zerrütteten Gebiete zu bringen. Doch mit welchem Ergebnis? Ich komme mir schon vor, als müsste ich mich heute unnötig oft wiederholen, aber es muss noch einmal offen dargelegt werden. Nichts als Hass und Gewalt erfahren wir als Gegenleistung für unseren weiträumigen Einsatz, der uns so viel Zeit und Kraft abverlangt und besonders Ihnen, der Bevölkerung, tief in die Geldbörse greift. Diese Menschen, die scheinbar ihre damals durch Kasimir induzierte Wut und Mordlust exponentiell in die Höhe getrieben haben, sind wie ein tobender Haufen, der mit Feuer und Äxten auf seine Arche losgeht. Wie soll man diese Menschen denn noch bekehren? Je mehr wir ihnen zur Seite gestanden haben, desto aggressiver ist ihr Verhalten geworden. Es scheint fast, als hätten wir dieses grausame Monster selbst erschaffen. Und gestern, meine lieben Bürger, gestern hat sich dieses Monster endgültig von seinen Ketten befreit und ein ungeheures Massaker begonnen, das jeden rational denkenden Menschen nur mit bloßem Ekel erfüllen kann. Ich selbst bin zutiefst abgestoßen und verbittert über diese Ereignisse und es werden sämtliche Register gezogen, um dieses grauenvolle Morden endlich zu beenden. Schließlich sind es alles kostbare Menschenleben, Freunde, Partner, Ehemänner, Ehefrauen, Väter und Mütter, Söhne und Töchter, die dort auf bestialische Art und Weise ihr Leben lassen müssen. Und deshalb müssen wir dafür sorgen, dass wir diese Menschen sicher nach Hause bringen können und dass wir dieses Monster für alle Zeit in den Griff kriegen!"
Tosender Jubel ertönte von den Zuschauerrängen. Abgeordnete wie auch normale Besucher verfielen in einen regelrechten Rausch, applaudierten wild, brüllten hetzerische Parolen in die Luft und hoben die Hände, als würden sie einen Gott anbeten. Klammheimlich begann sich ein entfernter Geruch von fauligem Schwefel in meine Nasenhöhlen zu schleichen, doch wahrscheinlich war es nichts als eine ausufernde Assoziation.
Wie dieser schleimige Narzisst dastand, mit seinem strahlenden Zahnarztlächeln, seinem maßgenschneiderten dunkelblauen Anzug und den auf Hochglanz polierten schwarzen Lackschuhen, ich konnte es mir nicht weiter antun. Gülle schien durch meine Gedärme zu fließen und ein unkontrolliertes Fegefeuer jagte abertausende Gedankenfetzen durch meinen Kopf, so wie kleine Papierschnipsel in einem gewaltigen Tornado. Doch äußerlich blieb ich starr, zeigte keinerlei Affekt.
Brandauers bereits etwas aufgelockerte Körperhaltung signalisierte, dass er wohl kurz vorm Ende war. Einen weiteren Moment blendete er das Publikum noch mit seinem heuchlerischen Lächeln, während sich der Schweiß getaner Arbeit auf seinem gebräunten, schmal geschnittenen Gesicht und gestylten schwarzen, leicht angegrauten Haar abbildete.
"Bevor ich mich von Ihnen verabschiede, meine Damen und Herren...", warf Brandauer mit großer Wucht in die Menge. "...werde ich aber noch einen hochgeschätzten Gast ankündigen, der von seinen eigenen Erfahrungen innerhalb der Sperrzone berichten möchte. Sie haben richtig gehört, am heutigen Tag wird das Schweigen endlich gebrochen und Licht in die Sache gebracht. Der Mann, der nun zu Ihnen sprechen wird, musste unglaubliches Leid durchstehen und hat letztendlich unfassbaren Mut bewiesen, um sich und viele andere Soldaten aus diesem vernichtenden Strudel der Gewalt zu befreien. Der Name des Mannes, dessen Statement ich wahrlich nicht weniger herbeisehne als Sie, ist Thomas Engelbrecht. Bitte begrüßen Sie ihn, während ich mich jetzt von Ihnen verabschiede! Vielen Dank!"
Erneut ertönte tosender Beifall. Ein totaler Aufruhr herrschte in dieser gewaltigen Halle. Es waren mehr als dreitausend Menschen anwesend und alle schienen sie ausnahmslos außer Kontrolle zu sein. Man konnte es fast schon pure Ekstase nennen, diese Orgie von Jubelrufen und Händeklatschen.
Wie selbstgefällig Brandauer doch dreinblickte. Erhaben trat er vom Rednerpult weg und machte sich auf den Weg zum Backstagebereich, direkt auf mich zu. Jegliches Verlangen, verbal auf diesen Blender einzudreschen, gefror ich mithilfe der Kälte meiner Willenskaft.
Aufrecht marschierte er an uns vorbei, während er uns ein formales, höfliches Lächeln zuwarf, unterstützt durch ein zustimmendes Nicken. Dieser Mensch konnte sich gut verkaufen, konnte über seinen wahren Charakter hinwegtäuschen, das musste ich ihm lassen. Doch ich kaufte ihm nichts davon ab, kein bisschen dieser Freundlichkeit, die wie ein mächtiges Fundament über seiner unterschwelligen, nicht leicht zu findenden Aufgesetztheit lag. Aber mich konnte man nicht täuschen, ich war dazu ausgebildet worden, Menschen zu lesen, eine Gabe, die mein Arbeitgeber immer weniger zu besitzen schien.
Mit einer mechanischen Halsbewegung schaute ich nach links zu ihm, der neugierige Blick unterdrückt durch das kühle Leuchten der Irisoberfläche. Ein klein wenig neben der Spur wirkte Fechter. Der Schweiß begann sich bereits an seinem kurz zuvor aufgetragenen Make-Up vorbei zu kämpfen und eine leichte Blässe war ihm ins Gesicht gestiegen. Der gute David Fechter, manchmal schien seine Stärke wirklich zu schwinden.
Dabei war er doch ein Politiker durch und durch, hatte seine Karriere schon in der Jugend begonnen, damals noch im bunten Mischmasch des alten Parteiensystems. Daraufhin hatte er sein Studium in Politikwissenschaften abgeschlossen als einer der besten Absolventen bundesweit im Jahr 2022, ein wirklich abenteuerlicher Zeitpunkt, um in das wahre Politikgeschehen einzusteigen. Doch Fechter hatte sich hochgearbeitet wie ein Tier, niemals locker gelassen, sich engagiert wie kein Anderer, und letztendlich hatten sich all diese Mühen ausgezahlt. 2033, im Alter von unglaublichen sechsunddreißig Jahren, hatte man ihn zum Bundespräsidenten gewählt, als mit großem Abstand der jüngste in diesem Amt. Als ein fleißiger Weltverbesserer voller Energie und Hingabe hatte er gegolten, anfangs zumindest. Mittlerweile war dieses Image leider etwas verblasst, bröckelnd unter den Lasten aller Probleme unseres Landes. Spätestens seit der ersten Terroranschläge 2036 hatten sich die ersten Risse in der Fassade bemerkbar gemacht, ein Jahr, nachdem ich bei ihm angeheuert worden war.
Fechters durchschnittliches, wenn auch einigermaßen wohlgeschnittenes Gesicht zeigte bereits die ersten Falten und mit allen möglichen Pflegeprodukten versuchte er sich Tag für Tag die dezente hellbraune Haarpracht zu erhalten, die in typischer Businessman-Länge auf seinem Kopf ruhte. Seinen hellblauen Augen war Tag für Tag stärker die wachende Unsicherheit anzusehen.
Wie ein zerbrechlicher Welpe wirkte er manchmal, wenn er morgens in seinem Büro erschien. Wahrscheinlich dachte Fechter schon jetzt darüber nach, wie er die Menge gegenüber den Sperrzonenbewohnern etwas milder stimmen und das Feuer, das Brandauer geschürt hatte, eindämmen könnte. Doch wie auch ich wusste er sicher nur zu gut, dass der nun auftretende Gast dies wohl nicht einfacher machen würde.
Laute Schritte ertönten hinter mir und kontrolliert fuhr ich herum. Ein lautes, eisernes Pochen ertönte und hallte von den Wänden wider. Es wiederholte sich Sekunde um Sekunde, im Wechseltakt mit den unregelmäßig wirkenden Schritten schwerer Stiefel.
Ich sah eine Gestalt auf mich zukommen, die eines Mannes. Er war stämmig, hatte eine beeindruckende Physis, das erkannte ich sofort, doch irgendetwas stimmte nicht. Der Mann ging leicht gebeugt, humpelnd, in den Händen einen eisernen, schwarzlackierten Gehstock. Das also war Thomas Engelbrecht? Als er näher kam, fielen mir immer und immer mehr Details ins Auge. Die Leute in der Maske hatten wohl Engelbrechts Erscheinung so wenig wie möglich verändern wollen, wahrscheinlich aus gutem Grund. Die Zuschauer sollten sehen, was mit ihm angestellt worden war. Zwar war sein relativ kurzes, dunkles, leicht angelocktes Haar brav zurechtgebürstet, jedoch war sein scharfkantig geformtes Gesicht übersät mit grausamen Narben, die sich kreuz und quer über dessen raue Haut zogen. Der auffälligste Schnitt in seinem Gesicht aber war wohl der, der sich in grausamster Manier mitten durch sein linkes Auge zog, welches wie ein lebloses Stück Fleisch in seiner Höhle saß, ein weißes, fast farbloses Haufen Elend, durchzogen von etlichen roten Äderchen. Außerdem erkannte ich direkt unter der patriotischen Armeebekleidung in hauptsächlich beigebetontem Camouflage einen massiven Verband an Engelbrechts linkem Arm, und nicht zu übersehen war auch die im Gegensatz dazu außenliegende Schiene an seinem rechten Bein, die durch ihre scheinbar gewaltige Masse die Fortbewegung reichlich erschwerte.
Oberstleutnant Thomas Engelbrecht, eines der vielen Opfer des kürzlich entbrannten Sperrzonenaufstands, was würde er wohl von sich geben? Würde man ihn zum Nationalheld erheben? Mühsam schleppte er sich in Richtung Bühne und das eiserne Pochen wurde lauter und lauter. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lassen, doch er erwiderte diesen nie. Unaufhörlich schaute er ins Leere, mit einem eiskalten Feuer in den Augen, das mich, einen recht hochgewachsenen, austrainierten Bodyguard, innerlich mächtig erschauern ließ. Engelbrecht wirkte fast wie ein alter, verbitterter Kriegsveteran, dabei war er kaum viel älter als ich, allerhöchstens Anfang vierzig.
Es dauerte keine Sekunde, nachdem er im grellen Scheinwerferlicht zu leuchten begonnen hatte, dass ein tosender Applaus vom Publikum aus zu uns nach hinten drang. Quälend lange zog sich dieses hysterische Ritual hin, bis Engelbrecht es endlich zum Rednerpult geschafft hatte und seinen Mund vor dem Mikrofon platzierte.
"Ich begrüße Sie herzlich, meine Damen und Herren", sprach er in einem ruhigen, jedoch höchst aufreibenden Ton, der tief unter meine Haut vordrang. "Vorweg will ich mich ausdrücklich bei Innenminister Brandauer bedanken, dass er heute für mich diese Rede arrangiert hat. Was ich nämlich erlebt habe, soll meines Erachtens das ganze Land erfahren, denn es ist das gleiche Schicksal wie das unzähliger anderer Soldaten in der Lüneburger Heide. Und wer weiß, vielleicht wird es in den anderen fünf abgeriegelten Städten bald genauso geschehen. Sie können bestimmt sehen, wie sehr mein Körper unter den Ereignissen der letzten zwei Wochen gelitten hat, doch was Sie nicht sehen können, sind die tiefen Wunden in meiner Seele, an denen ich beinahe zugrunde gegangen wäre. Was meinen Kameraden, den Männern, für deren Wohl ich in vollster Verantwortung stand, vor meinen Augen widerfahren ist, war unverzeihlich und für mich kaum zu ertragen. Die Tage vom 24. Juli bis zum gestrigen Tag waren eine einzige Odyssee des Horrors, die mich noch ewig in meinen Träumen heimsuchen wird. Es begann an jenem wunderbaren Sonntagnachmittag, an dem mein Bataillon den Auftrag hatte, den komplett aus Staatskasse finanzierten Gesundheitscheck in Soltau zu begleiten. Es war kein Spaß für mich und meine Männer, viel lieber wären wir wohl in dieser brüllenden Hitze in einen kühlen Swimmingpool gesprungen, doch wir taten, was getan werden musste. Mit höchster Präzision haben wir die ungeduldige Menge im Zaum gehalten und so dafür gesorgt, dass wirklich jeder das bekam, was er benötigte. Doch wie wurde uns das bei unserem Abzug gedankt? Ich glaube, ich muss Ihnen das gar nicht erzählen, die Nachrichten haben ja schon genug davon berichtet. Aber was Sie auf Ihren riesigen Bildschirmen nicht sehen konnten, waren die Bilder dieses unbeschreiblichen Massakers. Ich selbst war allerdings nicht direkt anwesend bei jenem Blutbad auf der Walsroder Straße, ein Soldat eines verbündeten Bataillons hatte es mir jedoch geschildert. Was mir aber widerfahren ist, war etwas noch viel Grausameres als der Tod."
Ich hörte, wie die Menge geschockt die Luft anhielt. Sensationsgeile Aasgeier, wie sie sich bereits an all der beschriebenen Gewalt labten.
"Ich saß in dem Helikopter, der vom Schauplatz dieses Gemetzels aus abgeschossen wurde", fuhr Engelbrecht also fort und ich konnte seiner Stimme entnehmen, wie er sich langsam immer weiter in seine Wut hineinsteigerte. "Außer mir saßen noch ein gutes Dutzend an Soldaten und Ärzten darin, doch sie sind alle umgekommen. Ich, nur ich habe diesen Absturz überleben dürfen. Und als ich hilflos über die zerfetzten Leichen meiner Kameraden kroch, habe ich mich gefragt, ob das ein Segen oder eine Strafe war. Ich habe einfach den Grund nicht erkannt, warum gerade ich der Auserwählte sein musste. Doch diese Frage hatte sich nicht sehr viel später geklärt und es wird Sie wohl wenig überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass mein Überleben alles Andere als ein Segen war. Ein Haufen barbarischer Einwohner dieses verkommenen Städtchens hat mich aufgegriffen und mich in den Kofferraum ihres Autos gezerrt. Dann haben sie mich in irgendein dunkles Loch verfrachtet, wo sie mich stundenlang körperlich und sexuell misshandelt haben, und zwar auf die grausamste Weise, die man sich vorstellen kann."
Engelbrechts Stimme hatte sich um einiges erhoben, genau wie ein Vulkan, der sich endlich von seinem Magma befreien konnte, und mit explodierendem Gemüt erhob er die rechte Faust auf die Höhe seines Kinns, während ein regelrechter Aufruhr im Publikum vor sich ging.
Diesen Zustand merklich begrüßend, gab er schließlich ein lautes Räuspern von sich und fuhr mit brachialer Stimmgewalt fort: "Wie ein Stück Dreck haben sie mich behandelt. Mein Körper war zu Brei gekloppt und ich ersehnte in diesem Moment nichts mehr als den Tod. In einem Gebüsch haben sie mich dann abgeworfen, damit ich einen langsamen, qualvollen und einsamen Tod erleide. Jetzt wissen Sie, was das für Menschen dort sind."
Die Zuschauer wogen sich regelrecht in Rage und feuerten in maschinengewehrartiger Frequenz Parolen gegen die Sperrzone ab.
"Es waren am Ende verbündete Soldaten, die mich in letzter Minute gerettet haben", führte Engelbrecht weiter aus und seine Stimmgewalt war wieder um einiges zusammengeschrumpft, ohne jedoch diese verbissene Bedrohlichkeit zu verlieren. "Fast zwei Wochen lang haben sie mich behandelt, gepflegt und mit allem Nötigen versorgt. Wir waren in einem Vorposten Soltaus, keine drei Kilometer von der Stadt entfernt. Die Soldaten hatten sich bereits auf ihren Abzug in Richtung der äußeren Grenze vorbereitet, womit sie Soltaus Grenzen komplett geöffnet hätten. Doch wie haben diese Barbaren uns das gedankt? Bereits wenige Stunden nach Auflösung der Grenzposten sind sie zu Hunderten in unseren Posten gedrungen und haben so gut wie jeden gnadenlos abgeschlachtet. Wie wilde Tiere sind sie über uns hergefallen! Mit einer Handvoll anderer Soldaten konnte ich mich geradeso in einem Keller verschanzen, bevor ein Kampfhelikopter uns evakuiert hat. Wieder hatte ich also unvorstellbares Glück gehabt, doch wieso gerade ich? Unzählige junge Männer und Frauen haben bereits einen blutigen Tod erleiden müssen und viele müssen noch immer um ihr Leben fürchten, warum also wurde erneut ich dazu auserkoren, meinem Ende zu entgehen? Wissen Sie was, wertes Publikum? Ich glaube, ich weiß es mittlerweile. Es gibt einen Grund, dass ich verschont wurde, denn ich denke, ich bin dazu bestimmt, auf diese Missstände in der Sperrzone aufmerksam zu machen und alles in Gang zu setzen, um diesen Hort des Terrors endlich zu beseitigen. Das, meine Damen und Herren, ist verdammt nochmal unsere Aufgabe! Es ist nämlich unsere heilige Pflicht, wieder Sicherheit in dieses Land zu bringen! Vielen Dank!"
Dieser Applaus war nichts im Vergleich mit dem, den man Brandauer hatte zukommen lassen. Aus meinem ungünstigen Blickwinkel konnte ich trotzdem gut genug erkennen, wie ganze Scharen von Menschen sich von ihren Plätzen erhoben und in ekstatischen Beifall ausarteten, während sie munter weiter ihre Hassparolen schwangen. Die Meinungsmache war nun perfektioniert, es ließ sich nichts mehr dran rütteln, und die Wahrscheinlichkeit, das Volk wieder zur Vernunft zu bekommen, war schon seit Jahren immer weiter geschrumpft. Jetzt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5512-0
Alle Rechte vorbehalten