Nun saß ich hier. Die tristen grauen Betonwände des kleinen, quadratischen Raumes schienen mich zu erdrücken und der von der Decke bröselnde und in der Luft verteilte Putz kratzte meine Lunge. Die schwere Eisentür am gegenüberliegenden Ende des Raumes stand da wie ein gewaltiger Koloss, bedrohlich und unbezwingbar.
Dies war das erste Mal, dass ich diesen Raum wirklich aktiv nutzte, und ich war froh, dass ich nicht derjenige war, der ihn eigentlich zu fürchten hatte. Steif presste ich mich in meinen Stuhl und klopfte ungeduldig meine Fingerkuppen auf den maroden Kiefernholztisch in der Mitte des Raumes.
Von der Decke herab hing die einzige Lichtquelle, eine heruntergekommene, staubige Lampe, in der eine alte Glühbirne festgeschraubt war. Es war noch eine dieser fast schon antiken, energiefressenden Birnen, die in Deutschland schon seit mindestens fünfzehn Jahren verboten waren.
Doch wen kümmerte das? Wem lagen wir ernsthaft noch am Herzen? Die Regierung interessierte sich einen feuchten Dreck für unsere Probleme und hätte uns in diesem Scheißloch am liebsten gleich elendig verrecken lassen.
Ich verschränkte meine Arme und setzte meinen ernsten Blick auf. Dieser zog bei den meisten Ratten, die sich in diesem Loch tummelten, und ich setzte viel Vertrauen in ihn. Diese Ratte jedoch war zu groß und mächtig. Ich hätte es schon vorher wissen müssen, ehrlich gesagt war ich schon gefasst auf eine ausbleibende Reaktion. Statt einem eingeschüchterten Blick kam mir lediglich der Rauch einer edlen und reichlich fetten kubanischen Zigarre entgegen.
Und da saß er, dieser Mistkerl, direkt gegenüber von mir am anderen Ende des Tisches. Sein markantes, südländisches Gesicht wurde unterstützt durch einen Dreitagebart und sein schwarzes, perfekt nach hinten gegeltes Haar schimmerte im grellen Licht der Lampe. An seinen Ohren blitzten zwei winzige silberne Steckohrringe auf und seine tiefblauen Augen strahlten eine bedrohliche Aura aus, während er sein hämisches Grinsen aufsetzte. Sein durch rosa Hemd und schwarze Krawatte ergänzter, blitzblank polierter weißer Anzug passte perfekt zu seiner stämmigen Figur und sah unverschämt teuer aus. Vermutlich war es einer dieser Gucci- oder Armani-Anzüge, oder wie diese ganzen verfluchten Marken auch hießen.
Sein Name war Rafet Aydin. Er war meines Wissens nach um die dreißig und war durch das Geschäft mit Drogen reich geworden, sehr reich. Seine Haupteinnahmequelle und der Grund für seinen abartigen Reichtum war die von seinem Vater Tayfun Aydin eigens entwickelte Droge Desiderium, auch Dess oder ganz einfach D genannt.
Ich hatte es nie genommen, doch ich wusste, dass es ein sehr starkes Halluzinogen war, welches dich in eine Art Trance versetzte und in eine nach deinen Sehnsüchten gestaltete Traumwelt ziehen konnte. Aber wie bei jeder Droge hatte D auch seine Schattenseiten, und zwar heftige. Während des kurzweiligen Rauschzustands griff die Droge die Organe an und ließ sie langsam, aber sicher verfaulen. Dieser innere Zerfall zeichnete sich auch äußerlich ab, sodass die Opfer dieser Droge immer mehr eingingen, bevor sie einen qualvollen Tod starben. Obwohl D zu vergleichsweise teuren Preisen vertickt wurde, hieß es, Tayfun Aydin hätte die Droge einst mit den einfachsten und billigsten Mitteln zusammengebraut, ganz ohne viele teure Chemikalien und aufwendige Prozesse. Deshalb war wahrscheinlich auch sein Gewinn damals so hoch gewesen.
Ich richtete noch immer meinen finsteren Blick auf dessen Sohn, voller angespannter Stille auf meinem Stuhl sitzend und die verschränkten Arme fest an meine Brust gepresst. Aydins hämisches Grinsen hielt noch immer an und in seinem Gesicht zuckte kein Muskel.
"Du hast mir etwas zu erklären, Aydin", presste ich aus meinen Lippen hervor.
Dieser zeigte sich zunächst schweigend, nahm einen gierigen Zug seiner Zigarre, lächelte mich wie ein kleines Kind an und stieß ein unterdrücktes, aber zugleich kraftvolles Lachen aus.
"Ich hoffe, es ist eine wichtige Angelegenheit, mein Freund. Ich will nicht umsonst hierhergekommen sein", sagte er mit beinahe beunruhigender Souveränität und einem Unterton, der mich ins Lächerliche zu ziehen schien. "Hab ich etwa dich, deine minderbemittelte Gang oder deinen ach so glorreichen Boss, Mark fucking Holm, verärgert? Sag mir, Dimitri Jerschow, Obermacker des gesamten Süd- und Ostbezirks und Holms bestes Schoßhündchen, was genau ist heute dein Problem?"
Diese arrogante Art, dieses Herabschauende, ins Lächerliche ziehende, es machte mich verrückt. Ich fletschte die Zähne und mein Gesicht zuckte vor Wut.
"Du wirst es dir sicher denken können, Rafet Aydin!", grummelte ich und es kochte in mir hoch wie in einem brodelnden Kessel.
Ich hatte diesen Typen nie besonders leiden können, doch in letzter Zeit war er zu einem echten Problem geworden. Dies hatte so seine Gründe, doch nachher mehr dazu.
"Wir hatten eine Vereinbarung!", donnerte ich schließlich los. "Und du hast dich nicht daran gehalten! Gerade vor wenigen Stunden haben wir nur wenige Straßen von hier mal wieder eine deiner dreckigen Sumpfratten beim Dealen erwischt!"
"Warte, warte", unterbrach mich Aydin. "Von einer Vereinbarung war nie die Rede. Ihr habt mich mehrmals aufgefordert, die Drogengeschäfte in eurem Bezirk einzustellen, aber das habe ich eher als Drohung aufgefasst als eine vernünftige Vereinbarung. Im Prinzip habe ich mich keiner eurer Forderungen zu beugen und das ist auch ganz und gar nicht meine Art."
Arroganz und Überheblichkeit. Ich hasste diesen Kerl. Doch ein Risiko einzugehen wäre unvorteilhaft gewesen, besonders aufgrund seiner Kontakte. Diese Machtlosigkeit quälte mich, mit breitem Grinsen zerschlug sie alles in mir und ich fühlte mich schwach.
Ich stützte meine leicht verschwitzte Stirn auf meine rechte Hand und erwiderte schwer atmend: "Hör mir verdammt nochmal zu, Aydin! Das hier ist nicht mehr Meyers Herrschaftsgebiet, hier herrschen nun andere Regeln. Vielleicht hast du dich noch nicht an unseren Flächengewinn gewöhnt, aber zum hundertsten Mal: Wo Holm regiert, wird kein Desiderium verkauft! Diese verfickte Droge zieht uns in den Abgrund, sie macht noch größere Wracks aus den Menschen hier als sie es ohnehin schon sind. Und dein Einkommen hängt verdammt nochmal nicht vom Drogenhandel hier in Soltau ab! Ich weiß durchaus Bescheid über deine großen Deals in Schneverdingen, Munster, Walsrode und sogar die Ausfuhr in die großen Städte wie zum Beispiel Hamburg, Hannover oder Bremen. Soltau bedeutet kaum einen Gewinnverlust für deine schmutzigen Geschäfte und es wäre auch besser für dich, diese hier zu unterlassen, glaub mir! Nichts bleibt ohne Konsequenzen!"
"Du hast teilweise recht", antwortete Aydin, sogar etwas einsichtig wirkend, weshalb ich ihm aber noch lange nicht trauen konnte. "Seitdem dieses östliche Ende Soltaus an euch gefallen ist, sind meine Erträge hier dramatisch gesunken, da auch der Handel immer verdeckter und aufwendiger betrieben werden muss. Als Meyer hier noch Einfluss ausgeübt und mir eine direkte Verbindung in sein Herrschaftsgebiet zur Verfügung gestanden hatte, ging alles noch ohne Probleme. Wir hatten den Drogenhandel auf sein Gebiet beschränkt und dieser war auch größtenteils toleriert von der Allgemeinheit. Wie du sicher weißt, ist Meyer auch selbst drogenabhängig, besonders D hat er mir sehr regelmäßig abgekauft und ordentlich dafür geblecht. In letzter Zeit aber konnte ich bis auf wenige Ausnahmen nicht wirklich in sein Herrschaftsgebiet vordringen, dafür habe ich einfach noch nicht genügend eurer starrköpfigen Grenzfutzis geschmiert."
Aydin stieß ein finsteres Lachen aus, nahm einen weiteren Zug seiner Zigarre und fuhr fort: "Es ist wirklich deprimierend, jetzt auf euren dreckigen Bezirk beschränkt zu sein, doch auch hier habe ich noch so den einen oder anderen Kunden: die alten von hier, denen die Gangzugehörigkeit wohl scheißegal ist, und eine ganze Reihe Zugezogener aus dem Südbezirk. Es ist zwar, wie schon gesagt, nicht viel Umsatz, aber ein paar meiner Männer können davon ganz gut leben. Und ein höherer Lohn stärkt nun mal die Arbeitsmoral und das ist wiederum sehr gut für mich. Ich kann mir mal überlegen, wie es hier weitergehen soll, doch ich lasse mir keine Vorschriften machen, schon gar nicht von euch Pissern!"
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich war so unbeschreiblich wütend auf Aydins niederträchtige Art, doch sie hatte etwas an sich: Sie drückte Macht aus. Und das wusste Aydin ganz genau. Er wusste, wie man andere in Verlegenheit brachte und totredete, sogar Männer wie mich.
Doch zuerst zum Hintergrund seiner Aussage, um aufgeworfene Fragen aufzuklären:
Im seit knapp über siebzehn Jahren abgeriegelten Soltau hatten sich in anbrechenden Zeiten von großem Elend und steigender Kriminalität einzelne Gruppierungen gebildet, welche zwar untereinander gehandelt hatten, aber dennoch alle rivalisiert gewesen waren. Nur etwa zwei Jahre später allerdings hatte sich ein gewisser Phillip Meyer, Anführer der sogenannten "Slayers", erhoben und hatte die einzelnen Gangs vereinen können, indem er deren Handel vereinheitlicht und für alle eine bessere Versorgung sichergestellt hatte. Meyer hatte seine neu gegründete Gang darauffolgend auf den Namen "Unity" getauft.
Einzig und allein die überwiegend südländisch geprägte Gang "Yeni Dünya Düzeni (YDD)" unter Führung von Tayfun Aydin hatte sich nicht unter Meyers Schirm stellen wollen, da sie sich in ihrem florierenden Drogengeschäft gestört gesehen hatte. Da sich Aydin innerhalb Soltaus unsicher gefühlt hatte aufgrund seiner ausgegrenzten Position, hatte er die die Grenzen bewachenden Bundessoldaten unter Druck gesetzt, für seine Leute einen alternativen Platz zum Leben bereitzustellen. Nach endlosen Verhandlungen und einer gefühlt berghohen Summe an Bestechungsgeldern war Aydin und seiner Gang Harber, ein kleiner Vorort unmittelbar östlich von Soltau, bereitgestellt und zusätzlich abgeriegelt worden.
In Soltau hingegen hatte es innerhalb der neuen, vereinheitlichten Gang Unity vermehrt Unruhen gegeben. Besonders ein früheres Mitglied der Slayers, der noch relativ junge Mark Holm, hatte kräftig Feuer geschürt und mit seiner damals noch geringen Zahl an Anhängern mehrere Anschläge auf wichtige Mitglieder von Unity verübt. Meyer hatte Holm mit allen Mitteln bekämpft, doch bald hatte er dessen Potenzial erkannt und hatte aus Angst versucht, einen Deal mit Holm zu vereinbaren.
Da dessen Anhängerschaft mittlerweile auch schon auf eine beträchtliche Zahl geklettert war - die meisten waren Überläufer gewesen - hatte Meyer Holm 2031 das gesamte Gebiet südlich der Amerikalinie zur Verfügung gestellt mit all seinen Wohnvierteln, Gewerbegebieten und Waldstücken. Doch mit der Zeit waren die sogenannten "Black Sheep" mehr und mehr gewachsen und Holms Einfluss war immer größer geworden.
Vor etwa einem Jahr hatte er Meyer eine hohe Summe an Geld angeboten, um von ihm das östliche Ende Soltaus, östlich der Nord-Süd-Verbindung Hannover-Buchholz, zu erwerben. Dieser hatte sich aber vehement geweigert und mit einem Bandenkrieg gedroht. Zwar hatte Holm darauf erst mal einen Rückzieher gemacht, doch hatte er kurze Zeit später bei den Soldaten angefragt. Die Verhandlungen waren nicht leicht gewesen aufgrund schwerer Bedenken von Seiten des deutschen Innenministers und es hatten eine Menge Geld, Schweiß und Blut fließen müssen, bevor die "Black Sheep" den Osten Soltaus unter der Erlaubnis der Regierung hatten einnehmen können. Darüber hinaus waren die Grenzen innerhalb Soltaus ausgebaut und die Kontrollen verschärft worden. Offiziell war die neue Verteilung der Herrschaftsgebiete nun seit fast schon fünf Monaten und der Konflikt beider Gangs hatte sich seitdem dramatisch zugespitzt.
So liefen die Dinge hier bei uns. Aber nun zurück zum Verhör:
Ich saß noch immer stillschweigend Aydin gegenüber und guckte in seine rotzfreche Visage, die ich zutiefst verachtete. Ich hasste diesen Typen wie die Pest, und trotzdem beeindruckte er mich, wie er dort so selbstsicher auf seinem Stuhl hockte und genüsslich an seiner Zigarre zog. Ich wusste, dass er sehnsüchtig auf meinen Konter wartete, doch seine Aura hüllte mich ein wie ein schwarzer Nebel.
Ich konnte einfach nichts sagen, mir fiel nichts ein. Forderungen stellen, Befehle erteilen, das konnte ich. Aber Argumentationen? Ich wusste mich einfach nicht zu rechtfertigen, obwohl ich klar die vertretbarere Position einnahm. Im Prinzip konnte er mir nichts, ich war im Recht. Doch Aydin war der einzige, bei dem ich wirklich Schwierigkeiten hatte, meine Position auch durchzusetzen. Er war einfach zu mächtig.
"Du sagst ja gar nichts, Dimitri", bemerkte er plötzlich mit siegesbewusster Stimme. "Pupsi, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?"
So, das war zu viel! Er stellte mich als Weichei dar. Ich war nicht schwach. Ich hatte schon immer als der harte, respektabler Typ gegolten, als der mit den vielen Muskeln, der mit den Tattoos, den kurzen Haaren und dem bösen Blick, so albern und selbstgefällig das auch klingen mochte. Physisch war ich wahrscheinlich sogar Aydin überlegen, und ich war kurz davor, ihm die Fresse zu polieren. Die Wut schoss in mir hoch wie Sekt nach dem Schütteln, und schließlich schoss sie aus mir heraus.
"Es reicht jetzt, du verficktes Arschloch!", brüllte ich, sodass es im Raum widerhallte. "Durch deine verdammte Droge gehen die Menschen hier zugrunde. Sie sterben! Sie sterben einen langsamen, schmerzhaften und elendigen Tod! Eltern wie Kinder, Männer wie Frauen! Das Leben ist schon beschissen genug hier in dieser gottverlassenen Stadt, zerstör nicht noch das Wenige, das wir noch übrighaben! Dieses scheiß Desiderium lässt uns und unsere Mitmenschen zu Ruinen verfallen, Krankheit befällt uns und unsere Neugeborenen sind missgestaltet. Es zerstört einfach alles!"
"D gibt den Menschen Hoffnung! Es gibt ihnen die schönen Momente zurück!", argumentierte Aydin in einem lauten Ton und ich antwortete mit hochrotem und vor Wut zusammengepresstem Kopf, schreiend:
"Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten? Es hält uns eine Illusion vor, die uns ins Verderben führt! Wir versuchen dem echten, trostlosen Leben zu entfliehen und lassen es deshalb von Halluzinationen bestimmen, die uns eine kurzweilige Befriedigung einbringen. Doch dann ist es vorbei und wir wollen zurück, also brauchen wir mehr und mehr. Und während wir immer wieder in diese fadenscheinige, falsche Traumwelt eintauchen, verfällt unser Körper zu einem Wrack und lässt uns elendig verrecken!"
Ich redete mich in Rage, die Leidenschaft brannte in mir, und der Hass war die Kohle, die das Feuer dieser Leidenschaft immer wieder schürte.
"Also lass es sein!", brüllte ich, sodass mir fast die Stimmbänder zu explodieren schienen. "Du kannst dich glücklich schätzen..."
Ich bekam keine Luft mehr und musste kurz durchatmen.
"Du kannst dich glücklich schätzen, dass du bei mir gelandet bist und nicht beim Chef persönlich. Glaub mir, er hätte dich schon längst auseinandergenommen und an die Hunde verfüttert! Falls du noch einmal auch nur in geringster Weise hier in unserem Bezirk mit Drogen in Verbindung gebracht wirst, dann wird Krieg herrschen. Und es wird nicht gut für dich ausgehen, Aydin. Das wird ein gottverdammtes Massaker, oh ja, und dein Blut und das deiner Kumpanen wird unsere Straßen zieren!"
Nun musste ich ihn eingeschüchtert haben, davon war ich fest überzeugt. Jeder hatte Angst vor ihm, vor Holm. Seine Feinde sowie seine eigenen Männer. Er war berüchtigt, gefürchtet, unberechenbar. Selbst hohe Tiere wie Aydin hätten einen gewissen Respekt für ihn empfinden müssen.
Ich saß angespannt auf meinem Stuhl, die Ellenbogen auf dem Tisch und die Fäuste zusammengepresst. Doch Aydin lehnte sich nur entspannt zurück und zuckte herablassend mit der rechten Augenbraue.
"Er würde mir nichts tun", sagte er plötzlich mit einer weltfremden Emotionslosigkeit und Langeweile in der Stimme. "Er hat so seine Gründe. Anscheinend teilt er sie nicht mit euch, was ist da los?"
Ich war sprachlos. Was laberte dieses Arschloch da für eine Scheiße? Meinte er das gerade wirklich ernst?
"Wie bitte?", ächzte ich verwundert und kam mir vor wie ein Narr, mit dem Aydin sein merkwürdiges Spiel trieb.
"Er hat mir etwas angetan, für das er sich heute schämt, sagen wir so", erklärte dieser und etwas schien in seinen grellblauen Augen zu funkeln.
Es musste etwas Bedeutendes sein, etwas Hochpersönliches, etwas Erschütterndes.
"Dimitri, eins musst du wissen. Vielleicht ist es dir auch schon durchaus bewusst, doch du willst es nur nicht wahrhaben. Eventuell hast du aber auch nur Angst. Holm ist ein gottverdammter Psychopath und er scheißt auf alle Anderen. Auch seine Leute, Männer wie du, sind ihm völlig egal. Er ist ein mordlüsterner Teufel, er liebt es zu töten. Je machtloser seine Opfer, desto mehr kann er sich daran aufgeilen. Ihm macht es auch nichts aus, seine eigenen Gefolgsleute zu töten. Gibt es nicht immer wieder bei euch arme Schweine, die plötzlich auf mysteriöse Art verschwinden und einige Zeit später tot im Fluss wiedergefunden werden? Arme Schweine, die zufällig alle vorher irgendwie in Ärger geraten sind? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass all diese Leute durch Anschläge von Unity umgekommen sind, wie es euch immer so hübsch erzählt wird, oder?"
Ich war im Zwiespalt. Aydin hatte teilweise recht, das musste ich mir eingestehen. Holm war eben sehr unberechenbar und seine Launen konnten tiefgreifende Folgen haben.
"Damit muss man eben leben, das lernt man mit der Zeit", erwiderte ich also. "Holm ist ein launischer Zeitgenosse und er duldet keine Fehler. Aber genau dieses Verhalten verleiht ihm diese unglaubliche Macht und wir respektieren ihn alle und geben unser Bestes."
"Geblendeter Vollidiot!"
Aydins donnernder Schrei hallte von den Wänden wider.
Ich kannte solch ein Verhalten, wenn es um Holm ging, doch nur bei Aydin löste es eine gewisse Furcht bei mir aus. Es war die Furcht, dass er recht hatte und dass am Ende er derjenige sein würde, der über uns alle triumphiert.
Ich vertraute Holm als Privat-, allerdings nicht so sehr als Autoritätsperson, und ich hatte Verständnis für Aydins Meinung. Holm hatte, einige Dinge betreffend, nicht mehr alle Latten am Zaun und ich konnte mich oft nicht mit seinen Vorgehensweisen anfreunden, doch tief im Inneren hatte ich schon immer über das Gute in ihm Bescheid gewusst, denn ich hatte seinen Charakter durchschaut. Er war kein böser Mensch, er verfolgte nachvollziehbare und gute Ziele.
"Deine Worte prallen an mir ab wie ein Ball an einer Mauer!", brachte ich heraus und lehnte meinen Körper angespannt nach vorn, um krampfhaft Mut auszudrücken. "Geblendet bin ich also? Geblendet und ohne Verstand? Sehe ich etwa aus wie jemand, der jemandem nur aus Furcht blind gehorcht? Sehe ich aus wie jemand, der sich von jedem beliebigen bekloppten Wahnsinnigen leiten lässt? Also ich würde behaupten, dass es nicht so ist. Ich habe meine Seite gewählt und dafür habe ich wohlüberlegte Gründe. Und deshalb solltest du mich fürchten, und zwar nicht als Holms Bimbo, sondern als echte Persönlichkeit!"
"Tut mir leid, mein Freund, aber du lässt mich kalt", schnaufte Aydin mit einem lässigen Grinsen, gefolgt von seinem typischen herablassenden, in sich gekehrten Lachen.
"Verfluchter Wichser!", dachte ich und ohne groß zu zögern griff ich an meine linke Hüfte, zog meine Pistole und richtete sie direkt auf Aydins Gesicht.
Dessen Grinsen verflog binnen einer Sekunde und er starrte fassungslos und überrascht in den tiefschwarzen Lauf meiner altbewährten VI-18. Für einen Augenblick dachte ich, ich hätte gewonnen, doch binnen weniger Sekunden kehrte sein altbewährtes Grinsen wieder zurück.
Mit einem kühlen Schmunzeln brummte er: "Das würdest du dich nicht trauen, glaub mir! Wenn du mich erschießt, hast nur wenige hundert Meter von hier entfernt einen Haufen von etwa dreihundert wütenden Motherfuckern, die dich innerhalb weniger Sekunden in Pastete verwandeln würden. Also nimm die verdammte Knarre aus meinem Gesicht, Dimitri, das wäre das Beste für uns alle!"
Diese unerschütterliche Ruhe und emotionale Kälte Aydins frustrierte mich mehr und mehr. Diesen Mann schien wirklich nichts aus der Fassung bringen zu können.
"Dass ich nicht lache!", fauchte ich ihn an und drückte meinen Zeigefinger leicht gegen den Abzug. "Ich traue mich einiges, das kannst du mir glauben! Frag doch deinen kleinen Freund von Straßendealer! Ich denke, ich hab ihn schon recht gut bearbeitet!"
"Hat er auch verdient, die kleine Mistsau!", warf Aydin ein, begleitet von einem lächerlichen Gackern. "Es war Ata, hab ich recht? Ata Gin?"
Ich nickte stumm und ließ mich von Aydins Versuch, mich von meiner Anspannung und Wüterei runterzubringen, nicht beeinflussen.
"Er hat schon oft Mist gebaut, diese kleine nutzlose Kröte", fuhr er mit giftigem Ekel in der Stimme fort. "Schon mehrmals hat er größere Mengen an D einfach verschwinden lassen. Angeblich wurde es ihm alles gewaltsam und unter Drohung abgenommen, aber ich glaube ihm kein Wort. Er hatte jetzt seine letzte Chance, doch die hat er verspielt, der Bastard."
"Schön für dich!", brummte ich mit tiefer und so bedrohlich wie möglich klingender Stimme, während ich noch ein wenig mit meiner Knarre in Aydins Gesicht rumfuchtelte.
Dieser zeigte sich noch immer nicht sonderlich eingeschüchtert, und immer mehr Gelassenheit kehrte in sein Gesicht zurück.
Mit größtenteils wiedergewonnener Sicherheit erklärte er mir: "Ich bin gerne dazu bereit, mit dir zu verhandeln. Ata Gin führte einen Koffer mit sich. Ihn ihm müsste sich D im Wert von achtzig Riesen befinden. All diesen Stoff biete ich dir an, um ihn an Unity zu verhökern. Im Gegenzug dafür hätte ich gerne diesen Volltrottel von Dealer wieder, denn ich muss mich wohl nochmal mit ihm unterhalten."
Ich konnte mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Irgendwie war es richtig so, ich verstand Aydins Bezugspunkt.
Rasch sanken meine Mundwinkel wieder herab und jener fuhr fort: "Außerdem möchte ich, dass der heutige Vorfall unter den Tisch fällt und dass Holm, wenn es nicht schon zu spät ist, so wenig wie möglich über die Einzelheiten erfährt. Es darf keine große Sache daraus gemacht werden, um unser aller Wohlergehen Willen."
Ich wurde stutzig.
"Soll ich die Sache etwa unter den Teppich kehren, damit du deine dreckigen Geschäfte weiterhin ungestört fortführen kannst?", hakte ich nach. "Willst du nur keinen Stress mit meinem Boss? So ganz überzeugt bin ich noch nicht von deinem Angebot."
Aydins Miene wurde zunehmend ernster und seine Augenbrauen verzogen sich zu einem buschigen V.
"Es ist notwendig, um den Frieden zu bewahren. Holms Reaktionen sind oft unvorhersehbar und überzogen grausam", rechtfertigte er sich. "Und ich bezwecke außerdem auch nicht, meinen Drogenhandel ungestört fortzuführen. Vielmehr akzeptiere ich jede Konsequenz, sollte noch einmal etwas auffliegen."
Ich kam ins Grübeln. Eigentlich war dies ein nachvollziehbares Angebot und ich hatte aufs erste nichts daran auszusetzen. Nur eine Sache störte mich: Aydin. Das Angebot kam von Aydin, der wahrscheinlich vertrauensunwürdigsten Person im gesamten Soltauer Ghetto. Ich war unsicher. Stille. Hektisch drängte ich mich zu einer schnellen Entscheidung. Ich wollte Aydin nicht vertrauen, doch ich konnte einfach keine Argumente gegen das Angebot finden, schließlich konnte ich diesen Schleimbeutel sogar ganz gut verstehen.
"Also gut", sagte ich fest entschlossen und reichte ihm meine rechte Hand.
Er erwiderte dies und wir tauschten die gegenseitige Bestätigung mithilfe eines festen Händedrucks aus.
"Ich bin dir dankbar, dass du dich zu diesem Geschäft bereiterklärt hast", fügte Aydin noch hinzu und drehte sich mit befriedigtem Gesichtsausdruck zur Tür. "Und jetzt gib mir diesen Wichser!"
Gerne erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Rasch hob ich meine rechte Hand in die Nähe meines Mundes und tippte mit meinem linken Zeigefinger auf den auf meinem Handrücken befestigten, kaum einen Quadratzentimeter großen Funk-Chip.
Ein dezentes rotes Licht blinkte auf und ich sprach: "Angel! Bring ihn rein!"
Wenige Augenblicke später vernahm ich schließlich das sehnsüchtig erwartete Quietschen und Schaben der schweren Eisentür. Sie war noch nicht einmal halb geöffnet und ich hatte Angel noch nicht zu Gesicht bekommen, da wurde mit einem kräftigen Ruck ein armseliges, schwer zugerichtetes Etwas von Person in den Raum befördert und fiel mit dumpfem Aufprall und unterdrücktem Schrei zu Boden.
Es war Ata Gin. Er war komplett entkleidet, bis auf eine lange weiße Boxershorts. Sein gesamter Körper, besonders Bauch und Rücken, war geziert von teilweise immer noch blutenden Schlitzwunden und blauen und grünen Schwellungen. Seinem schmalen Mund entrann Blut in kräftigen Schüben und tropfte von seinem spitzen Kinn hinunter auf den kalten Betonboden. Ata Gins mittellange, fettige und schwarze Haare waren zerzaust und sein Körper glänzte vor lauter Schweiß.
Die Tür war nun vollständig geöffnet und dort stand Angel, seine Pistole auf Ata Gin gerichtet. Dieser versuchte unter Schmerzen, von ihm wegzukriechen und winselte dabei wie ein kleines Kind.
"Du bleibst schön hier!", brüllte Angel und plötzlich erschreckte ich fürchterlich.
Der Widerhall des Geräuschs betäubte meine Ohren für einen Augenblick. Er hatte geschossen. Blitzschnell schaute ich nach links zu Ata Gin, wie er seinen Kopf ängstlich an die Wand presste und verzweifelt aufschrie. Ihm war nichts geschehen. Dann entdeckte ich das Einschussloch im Boden. Es war nicht viel mehr als eine Daumenlänge von Ata Gins Arsch entfernt. Ich war beeindruckt.
"Das war sau knapp", bemerkte ich, begleitet von einem leichten Schmunzeln.
"Du kennst mich, Dima", erwiderte Angel in einem abgeklärten Ton und grinste.
Ich grinste zurück.
Auch Aydin musste leicht lächeln, doch ich erkannte die Enttäuschung, die seinen Gesichtsausdruck untermalte. Der Enttäuschung wich nun aber Finsternis, eine gewisse Boshaftigkeit wurde sichtbar. Und dann noch Vorfreude, makabere Vorfreude. Aydins Grinsen wurde immer breiter.
"Nun, was jetzt, mein Lieber?" fragte er mit sarkastischem Unterton.
Ata Gin schien das aber nicht wirklich mitzubekommen, sein Bewusstsein war gedämpft durch den Schmerz.
Kläglich flennte er: "Rafet, bitte hilf mir! Du musst mir helfen, ich flehe dich an! Guck, was sie mir angetan haben!"
Ata Gins vor Tränen schimmernde braune Augen weiteten sich und er presste seine Handflächen gegeneinander und richtete sie auf Aydin, als würde er einen Gott anflehen. Dieser hatte immer noch sein makaberes Grinsen aufgesetzt und drehte seinen Kopf voller bösartiger Vorfreude in Richtung Ata Gin.
"Warum so weinerlich?", brummte er. "Das war doch erst das Vorspiel."
Eine Bombe schien in Ata Gin einzuschlagen.
"Nein! Bitte nicht!"
Verzweifelt schrie er um Gnade und die Tränen schossen auf den Boden.
"Es tut mir leid, Rafet! Es tut mir le-he-he-he-id!"
Er fing bitterlich zu weinen an und schlug die Hände vors Gesicht.
Aydin aber ignorierte ihn und rief laut: "Oi!"
Augenblicklich stürmten zwei dunkle Gestalten durch die Eingangstür, über den langen Gang, an Angel vorbei, bis hinein in den Verhörraum. Sie hatten eine ähnliche Statur und ähnliches Aussehen wie Aydin, nur waren ihre Anzüge schwarz. Ruckartig packten die beiden Ata Gin bei den Armen und schleiften ihn nach draußen.
Dieser, immer noch Tränen vergießend, brüllte wie am Spieß: "Ich werde es wiedergutmachen! Verzeih mir, Rafet! Bitte verzeih mir! Tu mir das nicht an, ich habe eine schwangere Freundin!"
Die Schreie wurden immer leiser, als Ata Gin in Richtung Eingangstür gezerrt wurde.
Draußen auf der Straße war der letzte von ihm vernehmbare Ausruf: "Das wird euch allen noch leidtun!"
Darauf folgte das dumpfe Geräusch eines zugeschlagenen Kofferraums.
Aydin konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Es hatte schon etwas Wahnsinniges an sich, was mir etwas Angst einjagte. Sogar ich musste schlucken bei diesem grausamen Spektakel, doch Aydin schien sich wirklich daran zu belustigen. Er genoss es richtig, seine Macht unter Beweis zu stellen.
Als er sich wieder eingekriegt hatte, streckte er sich nach hinten aus, presste die durchgedrückten Arme gegen die Tischkante, richtete sich stöhnend auf und seufzte: "Also gut. Dann will ich euch mal nicht länger aufhalten."
Mit pompösem Gang marschierte Rafet Aydin aus unserem Verhörraum und strich sich vor lauter Eitelkeit noch einmal über seine perfekt gestylten Haare.
Als er an Angel vorbeiging, boxte er diesem leicht auf die Schulter und murmelte leise, gerade noch so für mich hörbar: "Gar nicht mal so übel, Junge."
Das stimmte. Angel war ein guter Junge. Tatsächlich, ich musste Aydin wieder recht geben. Auch wenn er ein Arschloch war, hatte ich dennoch ein paar winzige Fünkchen Sympathie übrig für ihn. Er wusste halt, wie man sich Freunde machte.
Naja, nun war die Sache gegessen. Jetzt musste sich um den Deal gekümmert werden.
"Hast du noch Ata Gins Koffer?", fragte ich Angel mit ernster Miene und dieser antwortete mit seiner angenehm hellen Stimme:
"Warte, ich hole ihn kurz von drüben."
Endlich ließ meine Anspannung nach.
Motiviert klatschte ich in die Hände und rief mit breitem Lächeln: "Kumpel, wir haben einen astreinen Deal am Laufen! Möge das Glück mit uns sein!"
Es war ein heißer Mittsommernachmittag. Die am wolkenlosen hellblauen Himmel grell leuchtende Sonne knallte erbarmungslos auf meinen Hinterkopf, sodass ich immer wieder meine strohigen dunkelblonden Haare durchwuscheln musste, um mich vor einem regelrechten Kollaps zu schützen. Es waren weit über dreißig Grad, daran bestand kein Zweifel. So einen heißen Sommer hatte es hier in der Gegend schon seit Jahren nicht mehr gegeben.
Die verlassenen, zugewucherten Weiden, die fast dauerhaft links und rechts neben mir auftauchten, sahen vergilbt und vertrocknet aus. Hier und dort erblickte ich einzelne Rehe, die sich erschöpft in den Schatten gelegt hatten, um weiterhin von der unsagbaren Hitze verschont zu bleiben. Nur die Bäume, die Birken, die Buchen, die Eichen und so weiter trugen knallgrüne, saftige Blätter und standen da wie stolze und mächtige Soldaten auf einem von besiegten Feinden übersäten Schlachtfeld. Eine Ausnahme höchstwahrscheinlich. Hier waren die Bäume scheinbar noch nicht ganz so verschandelt von Krieg, Feuer und Schadstoffen. Vermutlich war es der schönste Landstrich weit und breit, ich konnte es mir gut vorstellen.
Das Einzige, was mir mein ganzes Leben über bekannt gewesen war, war die deprimierende Tristesse von Schneverdingen. Von dort kannte ich nur die verrotteten Baumleichen, die vereinzelt und verkümmert dahinvegetierten, doch einen lebendigen Baum mit Blättern und dem ganzen Zeugs hatte ich zuvor in meinem Leben so gut wie noch nie gesehen. Früher hatte es bei uns eine Menge Bäume gegeben, wir hatten sogar einen großen Park gehabt. Doch durch einen großen Brand im Jahr 2022 war fast alles vernichtet worden.
Damals war ich gerade einmal sechs Monate alt gewesen. Es war direkt nach der Abriegelung unserer Stadt geschehen, bei einer heftigen Auseinandersetzung zwischen wütenden Protestlern und Bundessoldaten war das Feuer ausgebrochen und hatte sich unkontrolliert über die Stadt gelegt. Den Rest hatten giftige Gase und Rodungen für neue kleine Slums erledigt.
Doch nicht nur wir waren davon betroffen gewesen, auch viele andere Kleinstädte in unsere Umgebung waren von der Regierung abgeriegelt worden. Munster war als Erstes dran gewesen, dort hatte alles begonnen. Danach Bad Fallingbostel und wenig später auch noch Kleinstädte wie zum Beispiel Walsrode, Bergen, Bispingen, Schneverdingen und schließlich Soltau.
Dorthin war ich auf dem Weg. Weit konnte es nicht mehr sein.
Bumm! Mein Herz stockte für eine Sekunde. Es hob mich für den Bruchteil einer Sekunde wieder von der Ladefläche des Geländewagens und mit einem unangenehmen Aufprall landete ich auf dem Arsch. Es musste wohl schon wieder ein Schlagloch gewesen sein. Kein Wunder, wenn sich seit mehr als zwanzig Jahren niemand mehr um diese verdammte Straße gekümmert hatte.
Ich lehnte mich wieder gegen das Hinterfenster und kaute verträumt auf meinem Zahnstocher herum. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass meine zwei kleinen lausigen Gepäcktaschen nicht runtergeflogen waren, das wäre für mich nämlich nicht so lustig gewesen.
Naja, Beamter Müller hätte sicher für mich angehalten. Er war ein vernünftiger Mensch, ein wirklich angenehmer Zeitgenosse. Er war einst ein einfacher Streifenpolizist gewesen, mittlerweile um die fünfzig Jahre alt, klein, dick und glatzköpfig. Er war einer von diesen, die man eigentlich gar nicht ernst nehmen konnte, aber trotzdem war er wirklich nett und ich respektierte ihn für das, was er tat, denn als Polizist in diesem Drecksloch von Schneverdingen hatte man kein leichtes Leben.
Zudem musste man noch bedenken, dass es in Schneverdingen eigentlich schon lange gar keine offizielle Polizei mehr gab. Müller hatte den Job nur mehr oder weniger freiwillig beibehalten, seiner Ehre zuliebe. Er hatte auch immer einen recht guten Ruf genossen.
Doch heute konnte er sich endlich glücklich schätzen, denn er wurde als Ehrenbürger nach Hamburg versetzt. Dies hatte er sich meiner Meinung nach redlich verdient und es war echt höchste Zeit, denn in Schneverdingen war er schon seit über zwanzig Jahren im Amt gewesen. In ein paar Tagen sollte er von Soltau aus ausgeflogen werden.
So hatte es sich dann ergeben, dass er mich dorthin mitnehmen konnte. Wir kannten uns schließlich recht gut und meine Umsiedlung war auch durch die externe Stadtverwaltung genehmigt geworden.
Rechts neben Müller saß ein junger Soldat, dunkelhaarig, von guter Statur und relativ gutaussehend. Ich kannte ihn nicht wirklich, doch vermutlich war er auch versetzt worden oder so.
Entspannt schloss ich die Augen und fing an nachzudenken, während das kontinuierliche Brummen des lauten Motors meinen Ohren schmeichelte.
Müllers Auto war ehrlich gesagt eine ziemliche Schrottkiste und sehr, sehr alt. Doch genau das fand ich so reizvoll. So ein unglaublicher, von einem Automotor ausgehender Radau war schon eine Seltenheit für mich. Ich war schon längst an das fast lautlose Gleiten der 2019 allgemein eingeführten Elektroautos - hauptsächlich kannte ich von dieser Art Polizei- bzw. Regierungsfahrzeuge - gewöhnt und die wenigen älteren, durch einen Benzinmotor betriebenen Autos, die ich einige Male noch in Schneverdingen gesichtet hatte, waren ebenfalls relativ sparsam und leise. Müllers Wagen hingegen war schon mindestens vierzig Jahre alt, irgendwann in den Neunzigern war er hergestellt worden.
Alte Zeiten. Bessere Zeiten. Ich dachte darüber nach, wie es sich wohl angefühlt hätte, in dieser Zeit zu leben, frei und wohlhabend zu sein.
Meine Mutter hatte sich immer dafür geschämt, dass ich in solch einer Umgebung, unter solchen Umständen, hatte aufwachsen müssen. Aber es war nicht ihre Schuld gewesen, sie hatte einfach nur Pech gehabt. Sie hatte mich zur falschen Zeit am falschen Ort geboren. Oder konnte man ihr doch Schuld anrechnen? Sie war nämlich diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte, in Schneverdingen wohnen zu bleiben und nicht nach Hamburg zu ziehen, wie mein Vater es gerne gewollt hatte. Das Geld dafür hätten wir gehabt, denn mein Vater war ein sehr guter Verdiener gewesen. Na gut, er hatte sein insgesamt zwei Millionen UN-Dollar schweres Vermögen als Öllobbyist verdient, nicht immer ein besonders ehrenwerter Beruf. Genau genommen war er ein ziemliches Arschloch gewesen. Deshalb hatte er uns auch verlassen. Mein Vater hatte eben seine Connections gehabt und nach nur kurzer Zeit der Verhandlungen hatte er sich in Hamburg eine noble Immobilie leisten und sich aus der Sperrzone freikaufen können. Natürlich nur sich selbst, wir waren in diesem Scheißhaufen zum Versauern zurückgelassen worden. Wie gesagt, er hatte auf uns geschissen und uns einfach so verlassen. Er war in der Tat ein Arschloch gewesen. Er hatte uns nicht geliebt, ihn hatte nur das Geld interessiert.
Meine Mutter hatte damals schon einige Jahre keinen Job mehr gehabt, sie war eines der ersten Opfer der Krise gewesen. Sie war als Krankenschwester im Rotenburger Krankhaus angestellt gewesen, doch als Anfang 2016 die Krankenkassen zusammengebrochen waren, hatte sie nicht mehr bezahlt werden können und war daraufhin entlassen worden.
Wenige Monate später war dann das Chaos in der EU ausgebrochen. Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Italien und noch weitere Länder hatten sich endgültig in den Ruin getrieben, sodass der Euro als Währung zusammengebrochen war. Es war zu so einem heftigen finanziellen Eklat gekommen, dass unzählige große Unternehmen hatten schließen müssen und die Löhne ins Bodenlose gestürzt waren. Die Menschen waren erzürnt gewesen, es hatte Unruhe geherrscht. Es war einfach alles zusammengekommen: das finanzielle Chaos, die niedrigen Löhne, Massenarbeitslosigkeit, Klimawandel, Ölknappheit, die Einführung verschiedener Abkommen zur Internetzensur und Totalüberwachung, und die Manipulation und Kontrolle der Medien durch Staat, Lobbyisten und Geheimorganisationen, welche ungeahnte Ausmaße angenommen hatte.
Spätestens im Dezember 2016 war halb Deutschland auf der Straße gewesen und hatte protestiert. Blutige Straßenschlachten, eine hohe Kriminalitätsrate und Bandenbildung waren die Folgen gewesen. Die Leute hatten Tag ein Tag aus um ihr Leben gefürchtet. Wenn man allein im Dunkeln nach Hause gegangen war, hatte man froh sein können, wenn man am Ende überhaupt noch seine Unterhose gehabt hatte, ja sogar komplett nackt hätte man sich noch glücklich schätzen können. Es war geraubt, geprügelt und gemordet worden.
Damals war es allerdings, um ehrlich zu sein, in kleinen Städten wie Schneverdingen bei weitem nicht so schlimm gewesen wie zum Beispiel in Berlin oder Hamburg.
Doch dann hatte der "Rote August" 2019 das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Es war eine riesige Operation von Seiten der Regierung gestartet worden, eine Säuberung aller Städte. Wie mit einem Besen war einmal übers ganze Land gefegt worden, um den ganzen Dreck, den ganzen verfluchten Bandenabschaum vom Teppich zu kehren. Dieser "Rote August" war in meinem Umfeld von den meisten totgeschwiegen worden, keiner hatte ein Wort darüber verlieren wollen. Doch Eines wusste ich: Es war blutig gewesen. Hauptsächlich in den großen Metropolregionen Deutschlands waren all die Gangs so brutal zerstört worden, dass die meisten von ihnen ohne auch nur irgendwelche Hinterlassenschaften von der Bildfläche verschwunden waren.
Naja, dann hatte es auch noch uns gegeben: die Heide. Wer hatte sich für uns, diese paar kleinen Nester mitten in der Pampa, diese eher unterdurchschnittlich wohlhabende Gegend mitten in Niedersachsen, interessiert? Hier hatte nichts stattgefunden, es war alles beim Alten geblieben.
Nein, es war sogar noch schlimmer geworden. Alles, was von den urbanen Straßengangs in Hamburg, Hannover, Bremen und so weiter übriggeblieben war, hatte sich bei uns eingenistet. Wir waren vom Abschaum nur so überrannt worden. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Heide komplett von Kriminellen kontrolliert, von Dieben, Dealern, Betrügern und Mördern.
Und aus genau diesem Haufen von Halunken hatte sich mit der Zeit eine aggressive Bewegung entwickelt, ein Widerstand gegen die Regierung.
Angeführt worden war diese Vereinigung von einem gewissen Kasimir Petric, ein raffinierter Stratege und durchtriebener Terrorist von auf Anhieb überzeugender, einen sofort in den Bann ziehender Eloquenz. Er, ein in die Jahre kommender Serbe, der einst in den Balkankriegen gekämpft hatte, hatte aus diesem zusammengewürfelten Haufen von Gangstern, Perspektiv- und Arbeitslosen und Fanatikern eine gefährliche Streitkraft geschaffen. Im Vornherein schon versorgt durch den blühenden Waffenhandel, hatte dann am 21. September 2021 der Überfall auf den Militärstützpunkt Munster stattgefunden.
Der Krieg hatte begonnen, und eine Aussicht auf Erfolg hatte es nicht gegeben. Wer nicht gefallen war, war entweder gefangen genommen und in die einzelnen Kleinstadtghettos verfrachtet worden oder hatte sich bereits vorher freiwillig dorthin begeben.
Im Februar 2022, drei Monate nach meiner Geburt, war es dann soweit gewesen. Schneverdingen hatte für die nächsten siebzehneinhalb Jahre mein Zuhause werden sollen und alles jenseits der Mauern das unbekannte weite Land, welches ich niemals betreten würde.
Es war fast schon ironisch. Endlich durfte ich nun jenes unbekannte Land zum ersten Mal begutachten, aber nur, um direkt wieder ins nächste Ghetto gesperrt zu werden. Ich wollte fast sagen, ich verfluchte den 3. November 2021, den Tag meiner Geburt.
"Die Großstadt ist nichts für Kinder", hatte meine Mutter immer gepflegt zu sagen. Wie falsch sie damit gelegen hatte.
Naja, damals war wenig über den Roten August bekannt gewesen und die Großstädte hatten sich äußerst verschlossen gehalten. Wäre sie nicht schwanger gewesen, wäre sie aber wahrscheinlich doch mit nach Hamburg gekommen, damals im Sommer 2021, als meinem Vater sich dieses schöne Haus angeboten hatte. Damals war es noch nicht zu spät gewesen. Wahrscheinlich wäre dann meine Mutter jetzt noch am Leben.
Häuser glitten langsam und geschmeidig an mir vorbei. Hier und dort hörte ich einige lautstarke Unterhaltungen zwischen einzelnen Soldaten, das laute Geschnatter mehrerer Gruppierungen und das monotone Marschieren einer Patrouille.
Ich fuhr gerade durch ein kleines Dorf namens Wolterdingen. Einst hatten hier noch ganz normale Menschen gewohnt, einst war es ein ganz gewöhnliches Dorf gewesen. Doch es hatte sich vieles geändert. Wolterdingen lag nicht weit weg von der Grenzmauer Soltaus. Es war eines der Dörfer, die nun als Soldatenstützpunkt dienten. Die Einwohner dieser Dörfer waren zusammen mit den Anderen, Leuten wie mir, in den Kleinstadtghettos eingesperrt worden, nachdem sie alle gewaltsam vertrieben worden waren. Die Menschen vom Lande waren oftmals jene gewesen, die es am härtesten getroffen hatte.
Als ich noch keine zehn Jahre alt gewesen war, hatte ich einst einen Mann aus einem kleinen Dorf namens Wesseloh getroffen, der mir verfaulte Äpfel hatte verkaufen wollen, die er irgendwo gestohlen hatte. Er hatte mir von seiner Notlage erzählt, davon, wie ihm sein Haus und sein gesamtes Eigentum weggenommen worden waren, wie er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern und ohne Job nach Schneverdingen gekommen war und seitdem mit diesen in einem halb zerfallenen Lagerhaus hatte unterkommen müssen. Als ich ihn getroffen hatte, war seine Frau schon seit vier Jahren tot gewesen, eine unbekannte Seuche hatte sie dahingerafft. Er hatte mir viel von seinem Leben erzählt, ich konnte mich aber eigentlich an nichts mehr wirklich erinnern. Er war ein sehr kranker und verzweifelter Mann gewesen. Ich hatte Mitleid gehabt, und ein reines, gutes und unschuldiges Herz. Ich hatte mich eine lange Zeit mit dem Mann unterhalten, er hatte mir erzählt, er hieße Egon, und er hatte mir seinen Unterschlupf gezeigt, dort wo er und seine Kinder gezwungen gewesen waren, ihr Dasein zu verbringen. Es war dreckig, feucht und kalt gewesen. Und inmitten dieser lebensfeindlichen Umgebung hatte ich sie dann gesehen, die Kinder.
Es war ein Anblick gewesen, der mich auch heute noch zum Schaudern brachte, wenn ich es wagte, mich daran zu erinnern. Doch glücklicherweise würden mir höchstwahrscheinlich nie wieder solch heftige Schauer über den Rücken jagen wie damals.
Egons dreizehnjährige Tochter war wie eine Leiche an eine mit Graffiti beschmierte Betonwand gelehnt gewesen und hatte fürchterlich geächzt. Sie war dünn gewesen, sehr dünn. Sie hatte mich etwas an diese hungernden Kinder in Afrika erinnert, deren Bilder ich einmal in einem Magazin gesehen hatte. Egons Tochter war ein kleines Häufchen Elend gewesen, nichts als Haut und Knochen, und zudem hatten in ihrem Gesicht lauter riesige eitrige Geschwüre gewuchert. Egon hatte mir schon zuvor erzählt, seine Tochter wäre sehr krank, doch so schlimm hatte ich mir es wahrlich nicht vorgestellt.
Seinem sechszehnjährigen Sohn war es scheinbar aber noch etwas besser zu ergangen, bis auf seinen linken Arm, welcher komplett gefehlt hatte. Er war bei weitem auch nicht wohl genährt gewesen, doch bei ihm hatte es nicht ganz so schlimme Ausmaße angenommen.
Ich hatte die Bilder noch genau im Kopf. Ich konnte es deutlich vor meinen Augen sehen, wie sich Egons Sohn liebevoll um seine sterbende Schwester gekümmert hatte, indem er versucht hatte, sie mit einem Häppchen Brei zu füttern. Es waren Szenen, die mir immer im Gedächtnis bleiben würden, und die mich für immer verändert hatten. Mit meinen zarten neun Jahren hatte ich damals schon viel gesehen, doch diese Szene hatte für mich das Fass zum Überlaufen gebracht.
Ich hatte mir geschworen, Egon fortan immer zu helfen und ihm und seinen Kindern Essen von zu Hause mitzubringen. Mein kleines Herz hatte sich damals dazu verpflichtet gefühlt, denn mir war es im Vergleich zu Egon und seinen Kindern blendend gegangen. Ich war gesund gewesen und hatte in einem noch gut erhaltenen Haus gewohnt.
Schon am nächsten Tag hatte ich mich mit einem Rucksack voller Brot und Kekse, die ich aus unserer Vorratskammer entwendet hatte, auf den Weg zu Egon gemacht. Ich war voller Vorfreude gewesen, eine gute Tat zu vollbringen. Solche Gefühle hatte es eigentlich nicht mehr gegeben in Schneverdingen, wo auch heute jeder Schmarotzer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war und ihm andere egal waren. Ich wäre durch diese Tat wahrscheinlich zum großherzigsten Menschen Schneverdingens geworden, meine kindliche Unschuld war noch nicht verdorben.
Als ich das düstere Lagerhaus aber betreten hatte, hatte ich die ernüchternden Umstände erkennen müssen. Egon war nicht da gewesen, und seine Kinder ebenfalls nicht. Es hatte jede Spur von ihnen gefehlt.
Ich hatte plötzlich von hinten ein böse klingendes Gelächter gehört und ich wusste heute noch, wie damals mein Herz stillgestanden hatte. Was war passiert? Ich hatte mich ängstlich umgedreht und eine Gruppe von fünf jungen Männern erblickt. Sie waren alle kahl rasiert gewesen und hatten schwarze Bomberjacken und Springerstiefel getragen. Es hatten diese Neo-Nazis sein müssen, vor denen mich meine Mutter schon als kleines Kind gewarnt hatte. Sie hatten unheimlich bedrohlich ausgesehen und ich mit meinen neun Jahren war wie angewurzelt gewesen vor Angst.
Der in der Mitte, vermutlich der Anführer, hatte mich mit finsterem Gesicht angegrinst und mit ekelhafter Stimme gedonnert: "Verpiss dich von hier, du kleine Kröte! Das ist unser Revier! Willst du etwa, dass wir dich kaltmachen?"
Heulend war ich davongerannt, durch die zerstörten Türrahmen gesprintet, und panisch nach draußen gehechtet, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
Wo war Egon gewesen? Wohin hatte man seine Kinder gebracht? Ich hatte es mir nicht erklären können. Ich hatte es mir auch nicht ausmalen wollen.
Vollkommen verstört war ich nach Hause gegangen, hatte nächtelang nicht schlafen können und hatte immer wieder über Egon und seine Kinder nachdenken müssen, und was dort wirklich für eine Scheiße abgegangen war.
Ich hatte mir ganz schön viele Gedanken für so einen neunjährigen Pimpf gemacht, doch an jenem Tag hatte ich beschlossen, mein Leben von Grund auf umzukrempeln. Ich hatte ein guter Mensch sein wollen, jemand, der die Schwachen vor den Gangs beschützen und den Armen Essen geben würde. Ich hatte das Kämpfen lernen wollen und einen großen Drang nach Bildung verspürt. Doch genau dort hatten die Probleme gelegen. Wer hätte mich ausbilden sollen? Wer von all den zerstörten Seelen hätte mich nicht ausgelacht? Und Bildung? Ich hatte Bücher lesen wollen, doch ich war nicht in der Lage dazu gewesen.
Die Schulen waren hier schon seit Jahren geschlossen gewesen, und um ehrlich zu sein, ohne meine Mutter wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen. Sie hatte nämlich das Lesen beherrscht, sie war noch in der Zeit aufgewachsen, wo es hier noch üblich gewesen war, zur Schule zu gehen.
Ich hatte mich herausgemacht, hatte schnelle Fortschritte gezeigt, und meine Mutter war sogar erfreut gewesen über meinen neuen Bildungs- und Trainingsdrang. Ich hatte Selbstbewusstsein erlangt. Egon und seine Kinder hatten sich langsam aus meinen Gedanken geschlichen, ich war darüber hinweggekommen, ob sie tot gewesen waren oder nicht. Aber jene Erfahrung war in jedem Fall Eines für mich gewesen: prägend. Ich war zu einem kleinen, charakterstarken und rotzfrechen Giftzwerg geworden. Vorerst.
Pechschwarze Wolken brausten durch meinen Kopf und ertränkten das Licht. Hier musste ein Stopp eingelegt werden, ich wollte nicht weiterdenken. Dieses Geschehnis wollte ich nur verdrängen und nicht darüber nachdenken. Dies gelang auch meistens, denn es war schon mehr als sieben Jahre her, einige Monate nach dem ersten Treffen mit Egon. Meine Gedanken mussten ausweichen und etwas Anderes finden. Doch wenn sie schon in diesem schwarzen Sumpf voller schlechter Erinnerungen feststeckten, kamen sie nur schwer wieder heraus.
Meine Mutter. Tot. Ein paar Wochen war es nun schon her, doch es kam mir vor wie gestern. Erst dieser dumpfe Knall der auf den Boden fallenden Kiste, dann die gedämpften Schreie. Ich konnte es noch genau in meinem Kopf hören, wie es gerumpelt hatte, als meine Mutter zu Boden gefallen war. Wo war ich nur gewesen?
Plötzlich hörte ich wieder Schmu in meinem Kopf sprechen, genau wie beim Tod meiner Mutter. Es war wie verhext gewesen, meine Mutter war zufällig auf ihn raufgefallen. Vier Jahre lang hatte er nicht mehr funktioniert.
Wieder spielte er die gleichen eingespeicherten Phrasen ab:
"Ich bin dein Kuschelmonster."
"Ich hab dich ganz doll lieb."
"Liebe ist für alle da."
"Lasst uns alle Freunde sein."
"Das Leben ist schön."
"Ich bin ein glückliches Kuschelmonster, also sei zusammen mit mir glücklich!" Aufhören! Ich ertrug diesen Schwachsinn nicht mehr.
Verzweifelt presste ich meine Augen zusammen und schlug mir gegen die Stirn. Diese Stimme in meinem Kopf musste endlich verschwinden. Schmu hatte mich schon immer verfolgt, schon seit dem Tag, als ich ihn bekommen hatte, der Tag, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis hätte streichen sollen. Doch es hatte niemals funktioniert. Ich konnte zwar verhindern, daran zu denken, aber vergessen? So etwas konnte man nicht vergessen. Das viele Blut. Das Geschrei.
Ich atmete tief ein und wieder aus und sackte zusammen, sodass ich nun flach mit dem Rücken unten auf der Ladefläche lag.
Ich hatte gerade eben noch das Ortsausgangsschild Wolterdingens vorbeigleiten sehen und wir waren vor einem kurzen Moment an einer Kreuzung rechts abgebogen. Es konnte also nicht mehr weit sein.
Ich versuchte mich zu beruhigen und biss fest die Zähne zusammen.
Das war ein heftiger Flashback gewesen, einer der heftigsten, die ich jemals gehabt hatte.
Schmus Stimme verzerrte sich, wurde lauter und greller, und keifte gegen mein Innenohr. Ich drückte meine Hände fest gegen beide Ohrmuscheln und stieß einen unterdrückten Schrei aus.
"Hör auf!", brüllte ich in Gedanken. "Lass mich in Ruhe!"
Was war mit mir los, was stimmte nicht mit mir? Ich war nicht verrückt, niemals! Aber wie konnte mich dann ein dämliches Kuscheltier dermaßen heimsuchen? Warum konnte es nicht einfach aufhören?
Einfach erheben und sich wieder auf die Umgebung konzentrieren, das war jetzt ein guter Plan. Ich drückte meinen Oberkörper nach oben, die Handflächen fest auf den Boden gepresst, und hob meinen Kopf, sodass ich geradewegs nach vorne schaute.
Rumms! Schnurstracks knallte ich wieder auf die Ladefläche, mit dem Kopf zuerst. Diesmal hielt der Wagen an.
"Diese verdammten Schlaglöcher!", hörte ich Müller gerade noch so aufgebracht rufen, bevor sich der von mir wahrgenommene Schall verflüssigte und mein Umfeld bis zur Orientierungslosigkeit verschwamm.
Sämtliche Farben und Formen verzerrten sich, feste Gegenstände schienen sich zu bewegen, auf- und abzuspringen. Das soeben noch nebensächlich begleitende Geräusch der kreischenden Raben und Krähen drückte sich immer weiter in den Vordergrund und bohrte sich in einer unerträglichen Lautstärke in meine Ohren hinein.
Nicht schon wieder! Wollten diese Trips denn niemals aufhören? Was war nur mit mir los? Oder war es doch die Realität?
Der Schmerz des Aufpralls schien mir den Schädel einzudrücken, immer fester und fester. Mein Kopf fühlte sich wahrhaftig an wie ein Auto in der Schrottpresse. Ich versuchte meine zitternden Hände in Richtung Geländer zu heben. Kraftlos war ich, etwas wie ein sehr unangenehmes inneres Jucken schoss durch meine Hände und schien mit aller Kraft zu versuchen, mich vom Geländer loszureißen. Ich wusste nicht, was ich tat, mein Körper war völlig außer Kontrolle, er entwickelte ein Eigenleben. Ich drückte und zog, drückte und zog.
Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen.
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, auch wenn es wahrscheinlich nur wenige Sekunden waren.
Ich zog mich heran und drückte meinen Körper hoch, weiter und immer weiter. Dieses erdrückende Jucken der Kraftlosigkeit ließ meinen Körper unaufhörlich schütteln und meine Beine zuckten wild umher. Ich presste immer weiter und weiter, fester und fester.
Plötzlich spürte ich, wie mein Kinn auf einen harten Vorsprung herabfiel und meine Augen nahmen so etwas wie eine grüne Wand vor mir wahr, wahrscheinlich Wald. Ich konnte nach wie vor so gut wie nichts erkennen, doch es konnte eigentlich nur Wald sein. Hier waren doch Bäume.
Mein hastiger Atem beruhigte sich langsam und mein Puls schwächte sich ab. Doch dies war nur von kurzer Dauer. Schnurstracks schoss jener wieder in die Höhe, bis auf gefühlte zehntausend. Mein Herz schlug so schnell, dass es jeden Moment zu explodieren drohte, und mein Atem war kurz vorm Anhalten, als ich den gelben, leicht kegelförmig spitzen Kopf im Gestrüpp entdeckte. Die grellroten Augen, die zwischen all dem Haarwuchs hervorguckten, blendeten mich, sodass ich panisch versuchte, meine Augen zu schließen.
Es ging nicht. Der Schock hatte mich jeder Reaktionsfähigkeit beraubt.
Ich vernahm ein lautes Rascheln und Knistern, als auch der restliche Körper aus dem Unterholz stieg. Dick, gelb, pelzig und mit vier mächtigen Tatzen, von denen nur zwei dem Fortbewegen dienten.
"Verschwinde, Schmu! Bleib weg von mir!", schrie ich in meinem Inneren, doch in Wirklichkeit stammelte ich nur hilflos: "Was willst du von mir?"
Ich konnte im Gegensatz zur restlichen Umgebung klar und deutlich Schmus spitze weiße Zähne erkennen, als dieser sein Maul öffnete und mit relativ tiefer aber eigentlich eher wehleidiger und zutraulicher Stimme sagte: "Ich habe dich gesucht, Frederik. Wo warst du die ganze Zeit?"
Ich schwieg. Ich wollte das nicht, wollte, dass es aufhörte.
"Warum hast du mich zurückgelassen, Frederik?", setzte Schmu fort und seine Stimme wurde flehender. "Bitte komm mit mir! Ich möchte, dass wir wieder Freunde sind."
Mein Puls raste weiterhin ungebremst nach oben und mich schüttelte es mehr und mehr. So etwas wie elektrische Schocks schossen durch meine Beine und ließen sie unkontrolliert zappeln und austreten. Ich schien mich aufzurichten.
"Komm mit mir, Freddi!", wiederholte Schmu. "Ich will doch nur Zeit mit dir verbringen, schließlich bin ich doch dein bester Freund."
"Nein", murmelte ich, was mich schon an die Grenzen meiner Fähigkeiten brachte. "Nein!"
Diesmal wurde ich lauter und spürte wieder etwas mehr Beherrschung in meinem Körper.
"Du sollst mich in Ruhe lassen!"
Ich konnte klar und deutlich erkennen, wie sich Schmus Gesichtszüge trübten, und er flehte mit weinerlicher Stimme: "Bitte lass mich nicht allein, du bist alles, was ich habe!"
War das Mitleid in meinem Kopf? Vollkommener Schwachsinn. Dieses verdammte Wesen existierte nicht. Es war nur eine Wahnvorstellung. Ich wusste dies tief im Inneren, doch mein Körper blieb ahnungslos.
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen erhob sich mein rechter Arm und erstreckte sich in Richtung des gelben Monsters. Heftige Schübe in meinen Beinen versuchten meinen Körper aufzurichten und plötzlich stand ich. Ja, ich stand . Ich hatte keine Idee, wie mir das hatte gelingen können. Mein rechter Fuß befand sich nun bereits auf dem Geländer und ich streckte auch den linken Arm nach Schmu aus.
"Sei frei!", hauchte dieser und seine Stimme traf mich wie ein sanfter Wind.
Ich war gerade dabei, meinen Mund zu öffnen und ihm zuzustimmen, als ich inmitten des Nebels meiner Wahrnehmung einen empörten Schrei vernahm: "Freddi, was tust du da?"
Ein brutaler Stich durchdrang meinen Kopf. Ich verlor das Gleichgewicht.
Das Erste, was ich fühlte, als ich wieder zu mir kam, waren extreme Kopfschmerzen. Auf der einen Seite war es dieser drückende Schmerz von innen, als auch ein stechender Schmerz von außen. Ich wollte schon einen Schrei ausstoßen, bevor ich überhaupt meine Augen geöffnet hatte, doch ich riss mich zusammen. Meine Augenlider waren verklebt und es war nicht leicht, sie voneinander zu lösen.
Meine Sicht war im ersten Augenblick verschwommen, doch ich konnte sofort eine wuchtige Gestalt über mir erkennen. Es war Beamter Müller, der mir mit besorgtem Blick in die Augen schaute. Ich sagte nichts.
Wo war ich überhaupt?
Sorgsam strich ich mit der Fläche meiner linken Hand über den Boden und fühlte rauen Asphalt. Ich lag also auf der Straße.
"Was ist bloß los mit dir, Junge?", fragte Müller mit leiser Stimme, mehr an sich selbst gerichtet als an mich. "Du scheinst ein paar ernsthafte Probleme zu haben."
"Es geht mir gut", erwiderte ich stotternd und versuchte vergeblich, meinen Kopf zu heben.
Müller lachte nur in sich hinein, und dieses Lachen endete in einem besorgten Seufzer.
"Du hast anscheinend keine Ahnung, was vorhin geschehen ist, nicht?"
Ich schüttelte den Kopf. Dabei rieb meine Kopfoberfläche den Asphalt und plötzlich schoss wieder ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Eine Wunde? Ich verzog mein Gesicht aufgrund der unangenehmen Qualen und unterdrückte meinen Drang aufzuschreien.
"Was ist passiert?", fragte ich ratlos und verwundert.
Müllers Blick wurde ernster und mit tiefer Stimme erzählte er: "Wir sind vorhin wieder durch ein Schlagloch gefahren. Diesmal war es so tief, dass durch die Wucht der Wagen abgeschmiert ist. Plötzlich habe ich dann sehr merkwürdige Geräusche von der Ladefläche mitbekommen und habe beobachtet, wie du dort wie wild gezuckt und dich gekrümmt hast. Dann auf einmal hast du es irgendwie hinbekommen, dich aufzurichten und wenige Sekunden später, als ich gerade dabei war, auszusteigen und dir zu helfen, bist du einfach vom Wagen gefallen, direkt auf den Asphalt."
Wie bitte? Ich konnte nicht glauben, was Müller mir da erzählt hatte. Ich erinnerte mich an nichts. So etwas konnte doch nicht passiert sein, nicht schon wieder.
"Wie lange habe ich hier gelegen?", wollte ich wissen und Müller antwortete:
"Eine knappe Stunde. Wir hatten wie gesagt einen Motorschaden und konnten deshalb noch nicht weiter. Heine hat den Schaden aber vor wenigen Minuten behoben. Und außerdem hielt ich es für eine bessere Idee, deine Platzwunde erst hier vor Ort zu behandeln, die ärztlich Versorgung ist in Soltau sowieso für'n Arsch."
Ich lächelte. Müller war zwar bierernst, aber als jemand, der ihn schon länger kannte, wurde man von allem erheitert, was dieser Mann sagte. Er hatte einfach diese Art, die einen fröhlich stimmte, denn in Müllers tiefer Brummbärenstimme fand man immer etwas Ironisches, mochte er das Gesagte auch noch so ernst meinen.
"Jetzt ist aber alles wieder gut", setzte dieser fort. "Es ist nur eine kleine Wunde, also besteht keine Notwendigkeit, sie zu nähen. Ich habe sie nur etwas abgetupft und Desinfektionsspray drauf gesprüht, das müsste eigentlich relativ schnell verheilen. Komm, ich helf dir hoch!"
Müller packte meinen Arm und zog mich mit aller Kraft hoch.
Die Wunde brannte fürchterlich. Es fühlte sich an, als würden sich tausende Maden durch meinen Kopf fressen. Aber irgendwie machte mir das nichts groß aus. Ich fühlte mich sogar frei in einer gewissen Weise.
Warum, wusste ich nicht, doch ich hatte eine Ahnung. Oder war es doch eine langsam wieder hochkommende Erinnerung? Sicher doch. Ich rekapitulierte grob, was geschehen war. Schmu hatte mich wieder heimgesucht. Doch jetzt war er fort und mir ging's gut.
Die Schmerzen, die meinen ganzen Körper durchzogen, ignorierend, hievte ich mich über das Geländer zurück auf die Ladefläche und lehnte mich vorsichtig an das Hinterfenster. Müller stieg ebenfalls zurück ins Auto, wo der Soldat - anscheinend hieß er ja mit Nachnamen Heine - schon auf dem Beifahrersitz auf diesen wartete.
Es dauerte keine zwei Minuten, da waren wir am Kontrollposten angelangt. Er befand sich wenige hundert Meter hinter dem ebenfalls als Soldatenstützpunkt dienenden Dorf Ahlften.
Eine massive rot-weiße Schranke, obenrum verstärkt durch spitzen Stacheldraht und untenrum durch ein hässliches, rostiges Stahlgitter, versperrte uns den Weg. Links und rechts dieser Schranke erstreckte sich so weit aus Auge reichte der etwa drei Meter hohe Gitterzaun aus massivem Stahl, ebenfalls mit Stacheldrahtaufsatz, welcher Soltau umschloss. Eine Flucht war so gut wie unmöglich. Außerhalb der Umzäunung erkannte ich außerdem auf den sich beidseitig erstreckenden ehemaligen Getreidefeldern mehrere Wachtürme mit Scharfschützen, jeweils einer davon nur etwa zwanzig Meter von der Schranke entfernt. Direkt neben dieser, auch eher außerhalb gelegen, stand ein kleines Grenzhäuschen aus weinroten Ziegelsteinen mit einem Flachdach und verdunkelten Fenstern.
Zwei Soldaten, schwer ausgerüstet mit gepanzerten schwarzen SEK-Anzügen und hochmodernen Schusswaffen - meines Wissens trugen sie beide eine erst seit ungefähr zwei Jahren erhältliche UGG17 - patrouillierten vor der Schranke und warfen dem Wagen finstere Blicke zu.
Einer der beiden trat zu Müller und forderte seinen Ausweis und die Einreisebescheinigung. Das gleiche verlangte er darauf von Heine, welcher ebenfalls Gehorsam leistete.
Ich fixierte meinen Blick auf den Wachturm zur linken Seite und war wie benebelt durch seine Bedrohlichkeit. Er war ein gewaltiger Betonklotz, der mehrere Meter in den Himmel ragte, oben abgelöst durch vollkommen verdunkelte und verschiebbare Fenster. Hineingucken konnte man nicht, doch hinaus wahrscheinlich nur zu gut. Und erblickte man einen unerwünschten Gast, konnten die Fenster geöffnet und auf den Störenfried geschossen werden.
"Hey, Junge!", rief der eine Soldat plötzlich und seine muskulöse Figur warf einen breiten Schatten auf mich. "Deine Papiere!"
Panisch drehte ich meinen Kopf zu diesem hin und griff in die Seitentasche meiner zerlöcherten Jeans. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meinen Ausweis fand und ich war erleichtert, als ich ihn schließlich zwischen meiner Brieftasche und irgendwelchen alten Unterlagen fühlte. Ich zog ihn heraus und warf einen obligatorischen, prüfenden Blick auf ihn:
Frederik Hoffmann.
Geboren am 3.11.2021 in Schneverdingen.
Männlich.
177 cm groß.
Nationalität deutsch.
Hier war meine komplette Identität protokolliert. Doch was war die überhaupt noch wert? Im Prinzip war ich doch nur ein Schädling von vielen, welcher ausgeräuchert werden musste. Eine wirkliche Identität war da doch nur überflüssig und störend.
Mit skeptisch und nachdenklich umherschweifenden Augen reichte ich dem Soldaten meinen Ausweis. Dieser warf einen kurzen Blick darauf und gab ihn mir zurück.
Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Schranke und die beiden Soldaten winkten uns durch. Müller trat aufs Gaspedal und der Motor bellte laut auf.
Nun war es an der Zeit, die Reise zu Ende zu bringen.
Ich spürte, wie die Straße langsam unebener und zersprengter wurde, denn sie war gezeichnet von Krieg und Konflikten. In der Ferne, hinter den Bäumen, sah ich Rauch aufsteigen und hörte das tiefe Brummen alter Motoren.
Und je näher wir uns dem Ortseingangsschild näherten, desto stärker konnte ich diesen einen Geruch wahrnehmen: den Gestank des Elends. Es war dieser eine charakteristische Geruch, den ich schon aus Schneverdingen kannte, nur nicht ganz so schlimm. Schließlich wurde er hier ja noch ein wenig durch das Grün kompensiert. Aber trotzdem war dieser räudige Gestank unverkennbar. Es war eine Mischung aus Feuer, Abfall, Abgasen, Angst und Tod. Je stärker der Geruch wurde, desto heftiger bohrte er sich energisch in meine Nase und biss sich dort renitent fest.
Zur rechten Seite passierten wir innerhalb einer Minute die beiden kleinen Siedlungen Einfrielingen und Ebsmoor und nur wenige Augenblicke später war es dann soweit: Wir waren in Soltau.
Eine durchaus familiäre Atmosphäre legte ihren Mantel um mich und das damit herbeieilende Gefühl der Hoffnungslosigkeit drückte seine Finger in meine Wunden und gab mir ein unangenehmes Gefühl. Der stechende Schmerz in meinem Kopf schien mich zu erdrücken und mein Kopf wurde wie von unsichtbaren Fäden von der ach so gemütlich aussehenden Ladefläche angezogen.
Verdammt! Ich musste stark sein! Mit aller Kraft schlug ich mir diese Fuseln aus dem Kopf.
"Noch einmal drehst du heute nicht durch!", sagte ich mir wieder und wieder, während ich mit nur halb geöffneten Augen rechts zum verfallenen Turm des Mundschenk-Gebäudes hinaufblickte.
Hier musste so etwas wie eine große Nahrungslagerungsstätte sein, denn es roch stark nach halb vergammeltem Essen und ich konnte das laute Schnattern einer größeren Menschenmenge hören.
Wo waren die Autos? Gesichtet hatte ich bis jetzt noch keines, nur in der Ferne blieb das anhaltende Dröhnen aggressiver Motoren. Hier und da konnte ich vereinzelt Personen den sehr mitgenommenen Gehweg entlang schleichen sehen, junge sowie alte Leute.
Es schien hier eigentlich mal eine relativ gute Wohngegend gewesen zu sein, zumindest waren alle Häuser direkt an der Hauptstraße fast ausnahmslos relativ groß und für Kleinstadtverhältnisse ziemlich prächtig. Doch von diesem Glanz war wenig übrig. Die meisten dieser Häuser waren verfallen, einige sogar eingestürzt. Ich konnte nur zwei von ihnen ausmachen, die noch gut erhalten waren. Wieder hörte ich Stimmen.
Je mehr wir in Richtung Stadtkern vordrangen, desto dichter schienen sich hier die Einwohner Soltaus zu tummeln. Verschiedene Menschentrauben hatten sich in Nebenstraßen oder Vorgärten zusammengefunden und riefen und grölten, sodass ein großer Lärm entstand.
Der giftige Dampf, der aus den Gullys stieg, vernebelte mir die Sicht. Hinzu kamen plötzlich die gigantischen Rauchwolken mehrerer großer Feuer, die in irgendwelchen Gärten und Hinterhöfen loderten, und für ein paar Sekunden erblindete ich beinahe komplett. Die Dämpfe griffen mich erbarmungslos an und, begleitet von einem fürchterlichen Brennen, schossen Tränen mein Gesicht hinunter. Hastig kniff ich meine Augen zusammen und wartete sehnsüchtig auf klarere Luft.
Das aggressive Gemisch aus Rauch und chemischen Dämpfen sog in nur kürzester Zeit jeglichen Schweiß aus meinen Poren und ich spürte, wie meine Haut anfing zu kochen. Es war schrecklich unangenehm.
Mehrere Sekunden hatte sich diese Tortur nun schon hingezogen, doch auf einmal spürte ich eine angenehme Abkühlung auf meiner Haut. Es war göttlich. Vorsichtig zog ich meine Augenlider auseinander und mit Freude erfüllt stellte ich fest, dass die Sicht deutlich aufgeklart war und die Dämpfe nur noch so schwach waren, dass sie meine Augen nicht mehr reizten.
Umso mehr erschlug mich allerdings der sich mir nun darbietende Anblick. Auf der Straße tummelten sich Dutzende von schwarzgekleideten, teilweise maskierten Männern, sodass ein Durchkommen auf den ersten Blick unmöglich schien. Überall blitzten ihre Schusswaffen auf. AK-47, Uzis, Shotguns, alles war dabei. Hektisch stürmten die Männer hin und her und aus der Menge ertönten Wellen der Freude und Belustigung. Ich musste immer wieder zusammenzucken, als irgendwer aus dieser betrunkenen Schar seine Waffe in den Himmel abfeuerte. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Auch Schreie drangen aus diesem Tumult hervor, Schmerzensschreie. Sehen konnte ich allerdings nicht, was dort passierte.
Vielmehr fiel mein Blick auf ein mächtiges, sich ein beträchtliches Stück an der Hauptstraße hinstreckendes Gebäude in Fahrtrichtung links. Der Eingangsbereich war eine zylinderartig gebaute Glasfront, bestehend aus drei Stockwerken. Im Anschluss daran erstreckte sich das quaderförmige, aus rotem Stein gebaute Gebäude mit einem lagerhallenähnlichen, flachen Satteldach aus Blech. In regelmäßigen Abständen waren weitere Glasfronten in den Komplex eingebaut, sowie mehrere Garagentore aus durchsichtigem Plastik. Vor Regen schützten am Glaszylinder und auf der zur Hauptstraße gerichteten Seite schirmartige Stahlkonstrukte und am Eingang sowie an der Straßenseite zog sich der Schriftzug 'Röders Tec' entlang. Wie ein technischer Betrieb sah das aber nicht aus.
Die Krieger, Söldner, Gangster, oder was auch immer sie waren, hatten sich alle um dieses Gebäude verteilt und vor den Garagentoren erkannte ich drei oder vier geparkte schwarze SUVs. Dies hier musste das Hauptquartier der berüchtigten Unity-Gang sein, keine Frage.
Wie aggressive Trommelschläge donnerten die lauten Rufe der Krieger durch die Gegend. Was war geschehen? War ein Sieg errungen worden gegen diese Black Sheep?
Die Geschichte der Bandenkriege in Soltau war sogar in Schneverdingen ein großes Thema gewesen und hatte die Sichtweisen der dort lebenden Menschen sehr beeinflusst, besonders die der jungen Männer. Gangs hatte es in Schneverdingen schon genauso lange gegeben wie in Soltau, doch die Machtübernahme Meyers hatte damals für viel Aufruhr in der Stadt gesorgt. Es hatten sich potenzielle Nachahmer versucht und die Gangs hatten sich dutzende blutige Kämpfe geliefert. Für Schneverdingen war es der Beginn einer dunklen Ära gewesen, einer noch dunkleren.
Ich drehte mich zur Seite, um durch das Hinterfenster nach vorne auf die Straße schauen zu können. Wir waren nun schon mindestens zweihundert Meter vom Hauptquartier entfernt und die wilden Triumphschreie dröhnten nicht mehr ganz so heftig in meinen Ohren. Stattdessen erkannte ich in kürzester Entfernung eine riesige Kreuzung und drum herum beträchtliche Menschenmassen, die sich in alle möglichen Himmelsrichtungen fortbewegten.
Wir mussten nahe der Innenstadt sein. Natürlich waren wir das, denn ich erkannte die meterhohe Umzäunung, die sich hinter der Kreuzung links neben der Straße erstreckte.
Müller hatte mir einst erzählt, die Innenstadt sei eine gangneutrale Zone, und deshalb besonders nachts ein gefährlicher Krisenherd. Die meisten Auseinandersetzungen zwischen Unity und den Black Sheep fanden dort statt.
Plötzlich wurde meine Wange gegen das Fenster gedrückt. Müller bremste und fuhr, nur noch etwa hundert Meter von der Kreuzung entfernt, rechts an die Straße heran. Wir schienen unser Ziel erreicht zu haben.
Als der Motor erloschen war, sprang ich rasch auf, schnappte mir meine beiden Taschen und kletterte von der Ladefläche herab. Müller stieg ebenfalls aus dem Wagen, schlug die Autotür mit einem lauten Knall zu und schlenderte vorne um sein Auto herum, um sich schließlich direkt vor mich zu stellen.
"So, mein Junge", sagte er. "Der mir überlieferten Informationen zufolge bist du hier im ehemaligen Hotel Meyn untergebracht. Dein Zimmer liegt im ersten Stock direkt gegenüber dem deines Onkels. Wenn du das Gebäude betrittst, wird dir der Verwalter deinen Schlüssel überreichen. Er ist bereits informiert."
"Okay", antwortete ich und nickte leicht mit dem Kopf.
Müller griff in seine rechte Hosentasche und machte ein angestrengtes Gesicht, während er konzentriert darin herumkramte. Kein Wunder, bei diesen kräftigen Schenkeln und prallen Wurstfingern konnte es nur eng werden.
Schließlich, und mit viel Mühe, zog er eine winzige Chipkarte aus seiner Tasche und reichte sie mir.
"Das hier ist sozusagen deine Eintrittskarte", erklärte mir Müller und klopfte mir daraufhin auf die Schulter. "Mach's gut, Frederik! Es war mir eine Ehre, dich kennenlernen zu dürfen."
"Mir auch", erwiderte ich mit respektvoller, von Trauer angehauchter Miene.
Tief durchatmend hob ich meine beiden Taschen an und drehte Müller den Rücken zu. Mochte er nun ein besseres Leben in Hamburg führen, ohne den ganzen Scheiß hier. Wie hatte er es nur so lange durchgehalten? Zwanzig Jahre in Schneverdingen, das war fast so schlimm wie zwanzig Jahre im Krieg.
Ich hörte den Motor starten und wenige Augenblicke später war das Geräusch des sich fortbewegenden Fahrzeugs verschluckt vom Lärm der Stadt.
An der Schwelle des belebten Gehwegs türmte sich nun also mein neues Zuhause auf. Es stand da als weißgrauer Klotz mit altmodisch verziertem Dachgitter und oben, Teile dieses Gitters bedeckend, zog sich der Schriftzug 'Hotel Meyn' entlang. Das Gebäude war alt, sehr alt. Es hatte seine besten Tage gesehen, der Krieg hatte ihm besonders heftige Verletzungen zugeführt. Hier und da, auf den drei Etagen verteilt, waren die rechteckigen Fenster verbarrikadiert oder es waren ganze Löcher in die aus quaderförmigen Bausteinen bestehende Fassade gesprengt, teilweise nur sporadisch wieder verschlossen.
Aber das Hotel war die perfekte Unterkunft. Es schien wasserdicht und gut bewacht zu sein. Hier konnte wenig passieren. Außerdem gab es nichts Besseres als in einer Gemeinschaft zu hausen. Für meine Mutter und mich wäre es auch besser gewesen. Also worauf wartete ich jetzt noch?
Ich kreuzte die aus zerlumpten Müttern und Kindern, von Hoffnungslosigkeit gezierten Männern, Gangstern und Milizen bestehende Menge, erreichte den überdachten Eingangsbereich und schritt durch die mit Holzbrettern zugenagelte Doppeltür.
Weiter geradeaus erblickte ich bereits die Treppe, als ich innerhalb einer Sekunde plötzlich in vier tiefschwarze Uzi-Läufe blickte. Links und rechts neben mir ragten jeweils zwei stämmige, komplett in schwarz gekleidete Wachen vor mir auf und grimmige Blicke blitzten hinter den kleinen Löchern der Sturmhauben hervor.
"Wer bist du?", fragte mich einer der gepanzerten Muskelberge mit donnernder, einschüchternder Stimme.
"D-d-d-as k-könnte Ihnen weiterhelfen", stammelte ich völlig verängstigt und griff zitternd in meine linke Hosentasche.
In mir zog sich alles zusammen. Waffen, ich hasste sie. Ich hasste sie über alles. Sie hatten nicht nur mein Leben zerstört.
Ich holte Müllers Chipkarte heraus und legte sie dem Wachmann in die Hand. Dieser ballte seine Faust, riss rasch und kommentarlos seinen Arm von mir weg und drehte sich um. Die anderen drei folgten ihm und so tat ich es auch.
In dieser Zeit sah ich mich kurz um, doch es gab wirklich nicht viel zu sehen. Es war nur ein relativ kleiner Eingangsbereich, Zugänge zu einem vermeintlichen Speisesaal zur Linken oder zu anderen Räumen waren so sehr verbarrikadiert, dass sich mir nicht einmal der winzigste Durchblick gewährte.
Allerdings konnte ich schon vom Eingangsbereich, welcher übrigens komplett leergeräumt war, her sagen, dass dieses Hotel wahrlich nicht mehr im besten Zustand war. Es roch unglaublich marode und schimmlig und Putz regnete von der Decke. Zudem kamen etliche schwarze Schmierereien an der Wand hinzu, welche an Graffiti erinnerten, und so manche Kugel hatte auch schon ihren Weg in die einfarbig graue Tapete gefunden, die sowieso schon an vielen Stellen abgeblättert war und so die weinroten Ziegelsteine des Gemäuers zum Vorschein brachte.
Ich folgte den Wachmännern auf eine zweiläufige, gegenläufige Treppe, die nur wenige Meter hinter dem Eingang lag. Auf einmal erkannte ich auf dem Zwischenpodest ein rechteckiges Loch in der Wand, in welchem ein trübes Licht leuchtete, das dennoch die hier vorherrschende Düsternis etwas abmilderte.
Der eine Wachmann reichte seinen Arm in das Loch, um die Chipkarte abzudrücken, und winkte daraufhin seine drei Kameraden ab, die sich ohne zu zögern an mir vorbei wieder zum Eingang begaben. Daraufhin wandte er sich mir zu und winkte mich zu sich heran. Vorsichtig stieg ich die Stufen hoch und bewegte mich langsam zum Loch in der Wand.
Jetzt, wo ich eine erhöhte Position hatte, konnte ich endlich etwas tiefer in das Loch hineinblicken und erkannte einen sonderbar aussehenden Mann mittleren Alters, der an einem winzigen Schreibtisch saß und einen alten Windows Veinte bediente. Er hatte längeres und äußerst fettiges schwarzes Haar und ein längliches Gesicht, das in Richtung Kinn etwas spitz zulief. Der Mann trug eine kleine John-Lennon-Brille und in seinem schiefen, nach außen gerückten Gebiss blitzten mehrere Silberzähne auf.
Als ich direkt vor das Loch in der Wand getreten war, guckte er mich an und sagte mit hoher, quakender Stimme: "Hier hast du deine Chipkarte wieder."
Er reichte mir diese und dazu noch einen Schlüssel.
"Das Andere ist der Schlüssel für dein Zimmer. Es befindet sich gleich hier oben im ersten Stock, den Gang links und dann die dritte Tür rechts. Ich würde mich an deiner Stelle erst mal bis morgen dort aufhalten, denn dein Onkel befindet sich heute bei einer wichtigen Versammlung von Meyers engsten Vertrauten. Die Männer haben heute angeblich eine feindliche Gruppierung am Stadtrand zerschlagen."
"Vielen Dank für die Information", antwortete ich höflich und nahm Chipkarte und Schlüssel an mich.
Der Mann im kleinen Hinterzimmer richtete seinen Blick von mir zurück auf seinen PC und erwiderte mit konzentriertem Blick: "Solltest du irgendwelche Fragen haben, wende dich einfach an mich. Mein Name ist übrigens Darwin."
Ich nickte nur kurz, drehte Darwin den Rücken zu und bestieg die restlichen Stufen nach oben. Am Ende der Treppe schaute ich nach links und rechts und sah auf beiden Seiten jeweils einen blauen Duschvorhang hängen, wodurch mir die Sicht auf beide Gänge verwehrt wurde.
Ich ging nach links und schob den Duschvorhang zur Seite. Hier auf dem Gang herrschte Dunkelheit, es war so gut wie nichts zu erkennen. Ab und zu rieselte Putz von der Decke und auf dem Boden nahm ich vereinzelte Holzteile und Backsteine wahr. Aus den Zimmern ertönte immer wieder ein Rumpeln und Klopfen und ich konnte leise Stimmen sprechen hören.
Vorsichtig tastete ich mich an der rechten Wand entlang, bis ich zur dritten Tür gelangte. Ich holte meinen Schlüssel hervor, steckte ihn nach kurzem Suchen in das Schlüsselloch und drehte ihn um. Ein unangenehmes Quietschen drang in meine Ohren.
Ich setzte den ersten Fuß in mein Zimmer, kurz darauf den nächsten. Ich war drin. Sofort verschloss ich die Tür wieder.
Es war düster. Nur vereinzelte Lichtstrahlen leuchteten durch die zwei verbarrikadierten Fenster . Rechts führte eine modrige Tür in ein kleines Nebenzimmer, höchstwahrscheinlich das Bad. Nachsehen wollte ich jetzt nicht, dafür war später Zeit.
Ich ging noch drei Schritte vorwärts, bis ich das Bad passiert hatte und das Zimmer sich mir in seiner vollen Breite darbot. In der Vergangenheit war es bestimmt mal ein gemütliches Hotelzimmer gewesen, jetzt eine einfache Unterkunft.
Es war in der Tat sehr spartanisch eingerichtet. In der hinteren rechten Ecke stand ein dunkelgrünes Feldbett mit Kissen und einer dünnen Wolldecke. Direkt links neben mir an der Wand befand sich ein kleiner Schreibtisch mit einem winzigen hölzernen Hocker davor und rechts daneben ein fast auseinanderzufallen scheinender Schrank aus Kiefernholz. Die Tapete war halb abgerissen und überall an Wänden, Decke und Boden tummelten sich wilde Kritzeleien, Löcher aller Art und in der einen oder anderen Ecke sogar tiefschwarze Schimmelkolonien.
Ich drehte mich um, schaute in alle Richtungen. Gab es hier keinen Lichtschalter? Anscheinend nicht. Doch dann erblickte ich hinten rechts in der Ecke neben dem rechten Fenster eine etwa einen Meter hohe Stehlampe.
Ermüdet von der düsteren Atmosphäre schleppte ich mich dorthin und betätigte den Schalter. Das Licht funktionierte und es besaß sogar eine ganz akzeptable Leuchtkraft. War schon in Ordnung, das Ding. Ich schaltete es wieder aus.
Auf einmal spürte ich alle Lasten des heutigen Tages und allgemein der letzten Zeit auf mich zurückfallen und sie bildeten einen erheblichen Druck auf meine Schultern. Schlaf. Schlaf war das, was ich jetzt unbedingt brauchte. Mochte der nächste Tag mir Zeit geben, meine neue Umgebung zu erkunden.
"Der Deal ist am Laufen, Mark. Treffpunkt ist auf dem Parkplatz hinter dem ehemaligen Aldi. Ich bin jetzt fast in der neutralen Zone, passiere gerade das Tennisheim. Angel kommt in wenigen Minuten nach. Er hatte noch irgendetwas zu erledigen, hinten Hoyner Heide raus. Du weißt schon, da war ja die Sache mit diesem Spinner Ricky Mai. Er passiert dann also die südwestliche Grenze auf der Walsroder Straße. Den Koffer wird er mitbringen."
Selbstsicher erklärte ich Holm die Situation mit meinem Funkgerät. Es war kurz nach Mitternacht und ein praller Vollmond leuchtete in einem intensiven Licht auf die Straße herab.
Ich war frisch geduscht und hatte mich gut herausgeputzt. Ich trug das beste Hemd, das ich hatte finden können, und hatte extra meine schon etwas heruntergekommenen Lackschuhe geschrubbt.
Angel und ich mussten aussehen wie seriöse Geschäftsmänner und nicht wie abgefuckte Straßendealer, denn die heutige Übergabe war von höchster Bedeutung. Fünf Kilogramm Desiderium im Wert von 80000 UN-Dollar trug der Koffer in sich. Aydin musste über Ata Gin einen großen Deal geplant haben und war deshalb wahrscheinlich umso wütender über dessen Versagen gewesen. Mochte Ata Gin in Frieden ruhen, also falls Aydin ihn wirklich getötet haben sollte.
"Bin nun unter der Brücke Charlottenstraße, passiere jetzt die Grenze."
Routinemäßig winkte ich den beiden Grenzwächtern zu und diese öffneten das niedrige Tor zwischen den zwei Stacheldrahtzäunen, die sich vom einen zum anderen Ende des Brückenbogens erstreckten.
Die Brücke war eine von zwei direkt hintereinanderstehenden Eisenbahnbrücken. Die andere war statt aus Ziegelsteinen aus Beton und hatte zudem eine rechteckige Form. Unter den Brücken hindurch führte eine normale Kleinstadtstraße. Dies bildete einen der wenigen Zugänge zur neutralen Zone Soltaus, die Zone für alle gangübergreifenden Deals und Konflikte.
Die beiden Grenzwächter gehörten zu den Black Sheep, ich kannte sie gut. Folglich war es also auch so, dass ich ohne Fragen und Kontrolle passieren durfte, auch mit Knarre am Gürtel. Das war der Vorteil an dieser inneren Grenze in Soltau, welche im Gegensatz zur Stadtgrenze von Gangmitgliedern und nicht von Bundessoldaten kontrolliert wurde.
"Ich bin drin", flüsterte ich in mein Funkgerät.
Holm räusperte sich und erwiderte: "Bei diesem Deal ist äußerste Vorsicht geboten, denn es geht um eine Menge Geld und du kennst Meyers Leute. Immer ruhig und freundlich bleiben und keine dummen Sprüche, verstanden?"
Ich bejahte.
"Also gut", setzte Holm fort. "Ihr rückt den Koffer erst raus, wenn ihr das Geld in euren Händen haltet. Lasst euch bloß nicht verarschen! Dir als einer meiner engsten Vertrauten vertraue ich natürlich, doch pass auf Angel auf! Er hat noch nicht die Erfahrung, die du über all die Jahre schon angesammelt hast. Er tendiert immer wieder zur Naivität und hat seine Emotionen oft nicht unter Kontrolle. Ich denke, das weißt du besser als ich. Also gib Acht auf ihn, schließlich ist er mein Neffe!"
"Das werde ich", versicherte ich Holm überzeugt. "Angel und ich werden den Deal sauber durchziehen."
Holm schien sich allerdings skeptisch zu zeigen und erwähnte mit ernster, tiefer Stimme: "Bedenke, dass dies für Aydin ein großes Verslustgeschäft ist. Er könnte also auch seine Finger im Spiel haben."
"Dessen bin ich mir bewusst", gab ich ihm entschlossen zu wissen. "Mit Aydin ist nicht zu spaßen, aber ich werde aufpassen, dass nichts passiert. Vertrau mir, Mark!"
"Ich glaub an dich, Junge", seufzte Holm.
Es klang zwar nur halbwegs überzeugt, doch was sollte schon sein? Ich hatte noch nie Scheiße gebaut und dieses Mal konnte es eigentlich auch nicht schiefgehen. Ich hatte Holms Vertrauen, und das auch zu Recht.
"In spätestens einer Stunde ist das Geld bei dir zuhause", versicherte ich ihm noch zum Abschluss und steckte daraufhin das Funkgerät in meine linke Hosentasche.
Holms Residenz war eine Villa namens Breidingsgarten, die sich nur wenige hundert Meter hinter der eben passierten Grenze befand. Von der Charlottenstraße am Tennisheim vorbei führte irgendwo links ein schmaler Feldweg dorthin. Es war eine fast schon unverschämt offensichtliche Residenz, denn etwas Prachtvolleres gab es hier im Bezirk der Black Sheep bei weitem nicht.
Holm wäre samt Breidingsgarten schon längst ausradiert worden, wären nicht immer so unfassbar viele Schmiergelder geflossen. Diese dreckigen Bundessoldaten waren einfach bestechlich wie sonst was. Immer wieder wurden Einsätze vorgetäuscht und Berichte gefälscht. Offiziell war Holm schon knappe sechs Monate tot, inklusive mehrerer angeblicher Nachfolger.
Es war schon eine verkehrte Welt.
Angespannt und mit einem leicht irritierenden Gefühl im Bauch senkte ich mein Haupt und schaute mit müdem Blick auf den Boden. Der silberne Lauf meiner VI-18, die an meiner rechten Hüfte hing, schimmerte dezent im hellen Mondlicht auf.
"Du rufst nach mir", murmelte ich gedankenverloren vor mich hin. "Du ächzt nach meiner Hand, nach meinem Zeigefinger, der den Abzug drückt. Wie lange ist es jetzt schon her? Zwei Wochen? Oder sogar drei? Du willst befreit werden von der Last der Kugeln, willst Blut sehen. Ich will das aber nicht. Du solltest dich damit abfinden. Man kann nicht immer das im Leben bekommen, was man will. Oft weiß man sogar, dass etwas in ungreifbarer Ferne ist. Etwas, wonach du dich so sehr sehnst. Nur die Hoffnung vermag es, dich am Leben zu erhalten, wenn all deine Träume in weite Ferne rücken, sinnlose Hoffnung, allzu schwachsinnig sogar. Doch sie ist überlebenswichtig. Du hast noch viel Hoffnung, mein alter Kamerad, aber ich werde dich auf die Probe stellen. Ich bin das Leben, ich bin hart und ungerecht. Weißt du was, mein Freund? Ich hatte auch mal Hoffnung, doch sie ist verloren gegangen. Ich werde nur noch von einer anderen Empfindung am Leben erhalten: Hass. So weit hätte es nicht kommen dürfen. Wenn du von Hass geleitet bist, tust du nur dir und deinen Mitmenschen weh, das solltest DU am besten wissen."
Nachdenklich schaute ich in den Himmel und erblickte all die Sterne, die die dunkle Nacht erhellten. Sie waren meine Träume. Für mich noch irgendwo in der Ferne zu erkennen, doch in Wirklichkeit schon vor Ewigkeiten erloschen. Ich wünschte mir, ich wäre wieder jung, voller Lebensfreude, voller Träume. Ein kleines Kind, ja, das wollte ich wieder sein. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen.
Der Aldi-Parkplatz lag rechts von mir. Er verlief auf drei Seiten um das Gebäude herum, außer auf der zur Straße zeigenden.
Auf dem Hinterparkplatz sollte der Deal ablaufen. Es war dunkel, doch die Sicht war relativ klar. Der Parkplatz war leer, keine Menschenseele weit und breit.
Mit angespanntem Schritt driftete ich zum rechten Straßenrand ab und sprang über einen schmalen Straßengraben, in dessen Abwasser sich äußerst übelriechende Dinge zu tummeln schienen. Drei Schritte und ich hatte Stein unter meinen Schuhen. Es fühlte sich angenehm glatt an meinen Sohlen an, nicht wie der raue Asphalt, der wie Schmirgelpapier meine Schuhe abgeschliffen hatte. Schließlich waren die alten Teile meine besten.
Ich hatte sie vor elf Jahren von meinem Vater geschenkt bekommen, nämlich zu meinem achtzehnten Geburtstag. Es war eines der wenigen guten Dinge gewesen, die er mir angetan hatte. Die Schuhe waren ziemlich alt, doch mein Vater hatte sie nur wenige Male getragen. Sie waren also immer noch in einem vernünftigen Zustand.
Schritt für Schritt schlenderte ich über den leeren Parkplatz. Zu meiner Linken befand sich der Aldi. Es war ein gewöhnlicher Einkaufsmarkt: einstöckig, Flachdach und relativ kompakt, die Fassade bestehend aus braunroten Ziegelsteinen.
Stille.
In dem hinter dem Parkplatz liegenden kleinen Sumpf, den die Böhme nur ein kurzes Stück entfernt durchfloss, hörte ich lediglich das Zirpen der Grillen. Jenseits des von Unkraut und Schilf überwucherten Sumpfes sah ich einige Lichter in den gegenüberliegenden Häuserblocks leuchten.
Es überkam mich wie ein Schlag, diese Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. Was hätte ich jetzt dafür gegeben, mich in mein warmes, kuschliges Bett zu legen? Was hätte ich geopfert, um Anna wieder bei mir zu haben? Meine große Liebe, warum hatte sie fortgehen müssen?
Ich verschränkte die Arme und presste sie gegen meine Brust, um mich zu wärmen. Es war eigentlich eine relativ angenehme Sommernacht, doch diese emotionale Kälte, dieser Flashback, dieses erneute schmerzhafte Realisieren des Verlusts ließen meinen Körper frieren.
Direkt auf der Mitte des hinteren Parkplatzabschnitts blieb ich stehen und blickte weiterhin geradeaus. Wollte ich all das hier wirklich tun? Jeden Tag kämpfte ich mit dem Gedanken, abzuschließen: mit der Gang, mit Holm, mit meinem Leben. Hatte das alles noch einen Sinn? Mein Leben bestand lediglich aus Gewalt, Drogen, Hass und noch mehr Gewalt.
Wo war mein Rückhalt, die Person, bei der ich zur Abwechslung auch wirklich mal etwas Liebe genießen konnte? Sie war fort. Einfach so. Wofür lebte ich nun? Sadistische Eskapaden und Nutten?
Eine dicke Träne drückte sich hinter meinem linken Auge hervor und rutschte entspannt meine Wange hinunter. Immer diese Gedanken, sie überkamen mich überall und zu jeder Zeit. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich hatte mehr verloren als man ertragen konnte.
Das plötzliche Quietschen einer Bremse riss mich mit einem Mal aus meinen Gedanken. Es kam von links. Hastig schaute ich zur Ecke und wartete. Das Auto schien auf den Parkplatz eingebogen zu sein.
Ein paar Sekunden später sah ich einen alten schwarzen VW-Kleinbus hinter der Ecke des Aldi auftauchen. Er bremste nach wenigen Metern am Rand des Parkplatzes, nur ein paar Meter von mir entfernt. Der knarrende Motor wurde abgewürgt und einen Moment lang herrschte angespannte Stille. Dann öffnete sich die blecherne Schiebetür mit einem kräftigen Rums und es zeigten sich zwei vollkommen in schwarz gekleidete Männer.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, beängstigend stark. Ich hatte über die Jahre schon so viel Erfahrung gesammelt, hatte so viele Deals abgeschlossen, Läden und Depots ausgeraubt, Menschen bedroht, geschlagen, getötet. Eigentlich war ich abgehärtet, eigentlich musste ich mittlerweile eine gewisse Routine spüren. Ich durfte keine Angst haben.
Mit leerem Blick schaute ich auf den Schatten, den der Kleinbus aufgrund des hell leuchtenden Mondes warf, während die beiden Männer langsam aus dem Wagen ausstiegen.
Diesmal war alles anders. Woher kam nur diese Unsicherheit? Ich dachte mir, dass es einfach an allem lag, was in letzter Zeit so vorgefallen war. Es war so viel Scheiße passiert, so viel war schiefgelaufen.
In meinem Kopf hatte sich schon seit längerer Zeit ein hartnäckiger Gedanke festgesetzt, nämlich der Gedanke daran, aufzuhören. Heute war der Tag, an dem dieser Gedanke gegenüber meiner Treue zu den Black Sheep siegen würde. Das heute sollte mein letzter Auftrag sein und morgen dann der Ausstieg. Einfach zur Ruhe setzen und alles Andere an mir vorbeirauschen lassen, das war mein größter Wunsch. Deswegen hatte ich heute auch die Angst zu versagen. Dies war nun also mein auschlaggebendster Auftrag. Auf heute kam es an.
Energisch ballte ich meine Fäuste und guckte entschlossen zu den beiden Männern, die mir nun gegenüberstanden.
"Guten Abend, Dimitri", sagte der Linke, der in seiner rechten Hand einen kleinen, im Mondschein glänzenden Koffer aus Aluminium trug.
Er war ziemlich groß, schätzungsweise knapp unter zwei Meter, ein gutes Stück größer als ich. Er war weder stämmig noch besonders schlaksig, seine Figur war eigentlich ziemlich normal. Ich schätzte diesen Unity-Halunken auf etwa Mitte bis Ende dreißig, auch wenn sein knapp schulterlanges, zerzaustes Haar schon stark ausgebleicht und leicht gräulich war.
"Guten Abend", erwiderte ich und schaute selbstbewusst in seine dunklen, bedrohlich wirkenden Augen.
Rechts daneben stand ein deutlich kleinerer und etwas beleibterer Mann, ein wenig jünger vom Aussehen her. Er war nicht wirklich fett, doch er hatte einen etwas dickeren Bauch und auch sein runder, kahlgeschorener Kopf ließ ihn ziemlich moppelig aussehen. Er hatte deutlich abstehende Ohren, die jeweils ein riesiger schwarzer Tunnel zierte und seine Augen glichen engen Schlitzen.
Der Dicke aber schaute nur teilnahmslos auf den Boden und schien seinem Kumpanen den Vortritt zu überlassen, welcher nun losprustete: "Und jetzt? Was soll der Scheiß hier? Wo ist der Stoff?"
Nun musste ich diesem abgefuckten Junkie also erklären, warum sein wertvolles D noch nicht da war.
Eine kühle Brise schoss in meine Lunge und ich ächzte, während ich hustend entgegnete: "Einen Moment, er müsste jede Sekunde ankommen."
Ich schaute prüfend hinauf in die Augen des Riesen. Dieser schien nur noch ernster zu werden.
"Immer mit der Ruhe", dachte ich mir. "Nur nicht nervös werden."
"Ich lasse mich nicht gerne verarschen!", keifte er mich an, zog blitzschnell seine Pistole und hielt sie mir schräg unter die Nase. "Es war eine Zeit vereinbart und an die muss sich gehalten werden! Ich lasse doch nicht mit mir spielen!"
Mir war das Herz in die Hose gerutscht. Angstschweiß brach aus und ich begann zu zittern. Ungewöhnlich. Im Inneren betete ich zu Gott, dass nichts passieren würde. Dieses Gefühl von Leere und Dunkelheit breitete sich in meinem Kopf aus wie Blut, das in Wasser diffundierte. Ein schwarzer Schleier kontrollierte meinen Verstand und zwang mich förmlich zu Boden. Wo war diese Gleichgültigkeit von früher geblieben? Warum hatte ich gerade jetzt Angst vorm Tod, wo mein Leben doch verbraucht war?
"Es kann sich nur noch um Sekunden handeln", stammelte ich verunsichert und mein Herzschlag schien an der 200 zu kratzen.
"Ich würde dich aber ehrlich gesagt am liebsten gleich jetzt umlegen, du dreckiger Betrüger!", zischte der immer angespannter wirkende Riese mit einer noch nie gehörten Aggressivität in der Stimme.
Er biss die Zähne zusammen und war wahrscheinlich schon kurz davor, abzudrücken. Er war gierig, das konnte ich in seinen Augen sehen.
Mochte Gott meiner Seele gnädig sein. Früher oder später musste es ja so kommen.
"Stopp!", hörte ich hinter mir auf einmal eine laute und klare Stimme rufen und daraufhin das Geräusch schneller Schritte auf flachem Stein.
Es war Angel, der zu eben auf den Parkplatz gesprintet war. Ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen, als ich mich umdrehte. Doch auch Zorn hatte sich in mir angesammelt.
"Wo zur Hölle hast du gesteckt?", fragte ich ihn in einem passiv-aggressiven Ton, den er sofort erkannte.
"Tut mir wirklich leid, man!", beteuerte Angel mit beschämtem Blick. "Ich musste noch ein paar Geschäfte erledigen, hat etwas länger gedauert."
Wieder seine "Geschäfte" also. Ich hatte nie verstanden, was er immer am Laufen hatte. Es war eine Unverschämtheit von ihm, doch mit einem Mal fiel es mir wieder schwer, sauer auf ihn zu sein.
Es war seine Stimme. Angel hatte eine wunderschöne, helle Stimme, was ihm auch seinen Spitznamen eingebracht hatte. Als Junge hatte er schon immer gerne gesungen und es hatte buchstäblich Engelsgesang geglichen, wann immer er seinen Mund geöffnet hatte.
Angel war erst zweiundzwanzig Jahre alt, also eher noch einer unserer Sprösslinge. Doch er war sehr talentiert und wusste mit Konfliktsituationen gut umzugehen. Das lag wahrscheinlich in der Familie, denn Mark Holm war sein Onkel. Dieser liebte ihn fast so sehr wie seinen eigenen Sohn, für Holm stand Angel direkt an zweiter Stelle, direkt hinter seiner Tochter. Schon seit frühem Kindesalter hatte er ihn aufgezogen, nachdem dessen Vater, Holms großer Bruder, im Bürgerkrieg gefallen war.
Mein Atem verlangsamte sich wieder und ich ließ Angel mit dem massiven Koffer in seiner Hand neben mich treten. Mein Puls hatte sich wieder einigermaßen beruhigt und erleichtert schaute ich kurz nach rechts zu ihm herüber.
Angel war ein kleines Stück größer als ich und hatte fast schulterlange, zerzauste, ausgebleichte braune Haare und ein ziemlich schmales Gesicht. Sein Gebiss stand etwas hervor, sodass seine leicht schiefen Zähne in den Vordergrund traten, und seinen langen Hals zierte ein sehr ausgeprägter Adamsapfel.
"Meine Herren, der Stoff ist hier!", hechelte er schwer atmend und stellte den Koffer auf dem Boden ab. "Fünf Kilogramm feinstes Desiderium, direkt aus Aydins Küche, ungestreckt natürlich. Ich erwarte 80000 Riesen und wie ich sehe, scheinen die auch anwesend zu sein."
Kollege Junkie sah nicht wirklich zufrieden aus. Misstrauisch beäugte er Angel, als würde ihn etwas gewaltig stören. Es erschloss sich mir einfach nicht.
Wieder setzte Stille ein, mehrere Sekunden lang. Ich sah ihn weiterhin schwer atmend Angel anstarren, doch plötzlich stupste er seinen Kollegen unsanft an. Unterwürfig bückte sich dieser, nahm dem Junkie den Koffer ab, legte ihn flach auf den Boden und öffnete den Verschluss.
"80000 in bar, hundertprozentig echt", garantierte der kleine, moppelige Begleiter, schloss den Koffer sofort wieder und richtete sich auf. "Nun seid ihr an der Reihe."
Ich war noch immer überwältigt vom kurzen Anblick des Geldes. So viel Bares hatte ich seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen, nicht seit dem Soltau-Munster-Waffendeal.
Okay, zusammenreißen. Jetzt war also Angel an der Reihe. Vorsichtig ging er auf die Knie und öffnete sachte den metallenen Koffer.
Ich hatte den Stoff schon vor dem Verhör mit Aydin begutachten können, doch es beeindruckte mich erneut. In dem Koffer häuften sich unzählige winzige Päckchen, allesamt aus durchsichtigem Plastik. Darin befand sich jeweils eine weiche hellblaue Masse mit sehr synthetischem Aussehen.
"Lass mal schauen!", brummte der Große, scheinbar sehr angefressen, griff sich eines der kleinen Päckchen und roch prüfend daran.
Danach rümpfte er kurz die Nase, verzog das Gesicht zu einem etwas entspannteren Ausdruck und legte das Päckchen wieder nieder.
"Scheint in Ordnung zu sein. Da habt ihr nochmal Glück gehabt, ihr Ratten! Am liebsten hätte ich euch beiden den Schädel weggepustet, meine Laune ist nämlich nicht sehr gut zurzeit!"
"Viele wollen mich tot sehen", erwiderte ich nur trotzig und unbeeindruckt und griff rüber zum Koffer, um ihn auf die gegenüberliegende Seite zu schieben. "Bedröhn' dich lieber 'ne ordentliche Runde und komm drüber weg!"
"Schnauze!", fauchte der Junkie und rempelte seinen kleinen Kollegen leicht zur Seite, um den Geldkoffer greifen zu können.
Darauf sprach er in einem äußerst sarkastischen Ton: "Es war mir eine Ehre, mit euch Geschäfte machen zu dürfen, Gentlemen."
Fast schon gewaltsam drückte er den Koffer in Angels Hände und drehte sich schließlich um.
"Beweg dich!", schnauzte er Schweinegesicht an und dieser trampelte ihm, unseren Koffer tragend, hinterher, schnurstracks zurück zum Kleinbus.
Die Schiebetür schepperte in meinen Ohren, als ich mich umdrehte. Dabei nickte ich Angel erleichtert zu und grinste daraufhin verschlossen den Boden an. Es war geschafft. Der Deal war abgeschlossen. Eine große Last schien in diesem Moment von mir zu fallen, es fühlte sich sogar an, als wäre ein böser Geist aus meinem Körper vertrieben worden. Nun war es vorbei. Nichts, wofür es noch wert war zu kämpfen. Endlich Freiheit.
"Meine Güte", stöhnte ich erschöpft und voller Erleichterung, als wir beide so langsam wieder in Richtung Charlottenstraße schlenderten. "Gott hat uns heute mächtig Beistand geleistet. Darauf muss ich erst einmal eine rauchen."
Entspannt griff ich in meine Hemdtasche und zog behutsam die Packung am Schwarzmarkt ergatterter Marlboros heraus, um eine der wenigen verbliebenen Zigaretten herausziehen zu können. Nachdem ich außerdem das alte Sowjet-Sturmfeuerzeug meines Großvaters herausgeholt hatte, klappte ich den Deckel der Packung sanft wieder zu und schob sie wieder ganz in meine Tasche hinein.
"Hattest du nicht aufgehört?", fragte Angel mit deutlichem Erstaunen in seiner wohlklingenden Stimme.
"Ja", murmelte ich teilnahmslos und der Klang des feinen Zündmechanismus war wie Musik in meinen Ohren, die mich meine Umgebung vergessen ließ.
Das leichte Flattern der Flamme in der zarten Brise, dieser Hauch von Knistern, als sie am Tabak ansetzte, es war einfach wundervoll. In diesem Moment war mir alles egal, denn dies würde wahrscheinlich die beste Zigarette meines Lebens sein.
"Warum rauchst du wieder?", hakte Angel nach und wie durch einen Schlag wurde ich aus meiner sanften Meditation entrissen.
Hastig blies ich meinen ersten Zug in die milde Nachtluft und mein Feuerzeug rutschte mir aus der Hand. Sollte ich es ihm jetzt schon sagen? Nein, lieber nicht. Er würde es noch früh genug erfahren.
Langsam bückte ich mich mit meiner frisch angezündeten Zigarette im Mund, griff nach dem Feuerzeug und erklärte: "Weißt du, nach langem Überlegen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir hier in Soltau weitaus größere Sorgen als Lungenkrebs haben."
Ich richtete mich wieder auf, nahm einen weiteren Zug und blieb vor Angel stehen.
"So lange kann man hier doch sowieso nicht überleben. Bis der Krebs mich kriegt, schmore ich schon längst in der Hölle. Also wieso Verzicht? Wir haben nur dieses eine kurze Leben und sobald wir im Sterben liegen, werden wir uns ärgern, dass wir unser Leben durch Dinge versaut haben, die uns am Ende sowieso nichts mehr angingen. Also stehe ich nun hier und rauche genüsslich meine Zigarette, um diesen erfolgreichen Tag gebührlich zu feiern."
Leichte Zweifel schienen Angels Gesicht zu durchziehen, doch schon nach wenigen Sekunden verflogen sie und er verfiel in ein zustimmendes Lächeln.
"Gib mal auch eine!", krächzte er.
Ich musste schmunzeln. Nun hatte mich Angel also tatsächlich um eine Zigarette gebeten.
Also griff ich erneut eine aus der Packung, hielt sie ihm hin und sprach: "Auf unsere Freundschaft, Bruder. Möge uns das Leben zukünftig nicht mehr ganz so hart ficken."
"Ja man!", rief Angel fröhlich und riss mir die Zigarette förmlich aus der Hand, woraufhin ich ironisch brummte:
"Aber verhunz dir ja nicht deine wunderschöne Stimme! Hier, Feuerzeug!"
Er fing es wie ein kleines Kind und musste furchtbar husten, als er schließlich die Zigarette angezündet hatte und seinen ersten Zug genommen hatte. Es war lustig anzusehen, das konnte ich nicht leugnen. Mein Angel, er war wie ein kleiner Bruder für mich.
"Das kriegen wir noch besser hin", schmunzelte ich mit einem breiten Grinsen und drehte mich wieder rechts zur Seite, zur Charlottenstraße hin gerichtet. "Lass uns weitergehen!"
Ich war gerade dabei, meinen rechten Fuß vorauszusetzen, da flüsterte Angel auf einmal: "Stopp!"
Er war stehengeblieben und auch ich hielt sofort wieder inne.
Ohne mich umzudrehen, zischte ich leicht verwirrt: "Was ist los?"
"Es ist der Wagen", erklärte Angel, der nun ein kleines Stück schräg links hinter mir stand. "Ich hab ihn noch nicht gehört. Dima, die sind noch gar nicht losgefahren."
Angel klang sehr besorgt. Ich drehte schnell meinen Kopf nach hinten, um einen kurzen Blick auf den Wagen zu erhaschen. Ja, er stand noch da. Es konnte aber sonst was heißen.
"Das hat nichts zu bedeuten, man", behauptete ich also und drehte meinen Kopf wieder nach vorn. "Diese Spastis müssen sich vorher wahrscheinlich noch gegenseitig einen runterholen."
Plötzlich ein Knall.
Der Aufprall.
Dieses Gefühl.
Ich riss meine Augen auf und meine Pupillen weiteten sich.
Noch einmal und noch einmal. Es knallte wieder und wieder.
Die Kugeln drangen in meinen Rücken.
Die Weste. Ich hatte sie nicht vergessen.
Wieder traf mich ein Schuss. Mein Gleichgewicht schwankte.
Ein Knall. Stechender Schmerz. Blut spritzte aus meinem rechten Oberschenkel. Schmerzen. Schwerkraft. Freier Fall. Mein Gesicht auf Stein. Schmerzen. Jeglicher Schall war gedämpft.
Es kam ein Schuss. Und noch einer. Es wollte nicht aufhören.
Meine Umgebung verschwamm. Ich kämpfte dagegen an, gegen die Ohnmacht. Es durfte nicht passieren. Dunkelheit. Ich hörte mein schweres und beschleunigtes Atmen. Mehr vernahm ich nicht.
Doch da war etwas: Motorengeräusche.
Ich musste bei Bewusstsein bleiben, um jeden Preis.
Ich streckte meinen Arm aus und fühlte den Bordstein, der den Parkplatz begrenzte. Mit aller Kraft zog ich mich heran.
Schwere und Trägheit.
Blut. Ich fühlte Blut. Wie von neuen Kräften erfasst, riss ich meine Augen auf. Ich sah es: Blut auf dem Boden, am Bordstein.
Nein!
Ich würgte. Blutstropfen fädelten sich aus meinen Mundwinkeln wie geschmolzener Käse. Ich würgte wieder. Erbrochenes.
Meine Sicht verschwamm erneut, mehr und mehr.
Waren das Schritte? Kam etwas über die Straße gelaufen? Es näherte sich von rechts. Das sanfte Knistern von Gras erreichte gerade noch so meinen Gehörgang. Ein schwarzer Schuh. Zwei. Irgendjemand war hier, und so schnell auch schon wieder fort. Ein leichtes Scharben konnte ich vernehmen. Der Koffer. Er wurde mitgenommen. Die Gestalt sprintete davon. Wohin? Wer war es gewesen?
Ich stieß einen gequälten Schrei aus, doch es kam nichts raus außer kümmerliches Krächzen. Ich spuckte das Blut auf den Boden. Panisch rang ich nach Luft. Mein Atem war rasend schnell, mein Puls auf 180.
"Angel!", konnte ich gerade so herausbringen. "Angel?"
Mein linker Arm tastete sich nach links ab. Mit hastigen, schmerzhaften Bewegungen robbte ich meinen Körper in diese Richtung.
Ein Bein.
Es traf mich ein Schlag. Wie vom Teufel besessen riss ich meinen rechten Arm vom Bordstein weg und warf meinen Körper in Richtung des Beines. Ich robbte mich noch weiter nach vorne.
Die Benommenheit verschwand allmählich, verursacht durch diesen Schlag. Meine Hände tauchten in Blut und ich konnte Angel schon röcheln hören. Ich lag jetzt genau neben ihm. Panisch beugte ich mich über ihn. Es sah nicht gut aus.
Ein grausamer Schmerz durchbohrte mein Herz und ich stieß einen weiteren verzweifelten Schrei aus, der vom Aldi-Gebäude widerhallte. Ich war komplett bei Bewusstsein. Nur die Schmerzen, körperlich und seelisch, töteten mich.
Angel lag auf dem Rücken, hilflos. Unkontrolliert spuckte er Blut auf seinen grauen Hoodie und der verbliebene Rest floss immer wieder in seine Luftröhre ab. Seine sonst so vitalen braunen Augen waren halb geschlossen. Angel hatte aufgegeben. Aus seinem Hals sprudelte unaufhörlich Blut und auch Brust und Bauch zierten einige blutende Schusswunden. Es sah nicht gut aus.
Das alles konnte gerade einfach nicht passieren. Ich wollte es nicht wahrhaben. Niemals war das hier real. Es musste ein Alptraum sein.
Mir kamen die Tränen, sie schossen wie aus einem Gartenschlauch aus mir heraus.
"Angel, kannst du mich hören?", brüllte ich ihn weinend an und rüttelte kräftig und verzweifelt an seinen Schultern. "Angel, du darfst mich jetzt nicht alleine lassen!"
Wut, Trauer und Verzweiflung stauten sich rasend schnell auf und durchbrachen den Damm.
"Fuck!"
Sogar in meinen Ohren dröhnte es und von allen Seiten schoss das Echo zurück. Plötzlich wurde Angels Röcheln intensiver und ich erkannte, dass er vorsichtig Ober- und Unterkiefer auseinanderbewegte.
"Es ist okay", brachte er gequält hervor und noch mehr Blut wurde aus seinem Mund geschleudert.
"Nein!", schrie ich Angel ins Gesicht, vollkommen bleich vor Panik, und Rotz und Tränen liefen mir über die Lippen. "Nein, du bleibst hier! Du darfst nicht gehen! Du darfst mich nicht im Stich lassen!"
"Es ist nicht deine Schuld", stammelte Angel und ich sah, wie er sich vor Schmerzen krümmte.
Es brach mir das Herz. Die Trauer wuchs in mir bis ins Unerträgliche heran.
"Gott, lass ihn leben!", flehte ich den Allmächtigen an, der mich schon so oft ignoriert hatte. "Angel, das kann nicht sein! Warum du und nicht ich? Warum kann ich nicht an deiner Stelle sterben? Du bist so unverbraucht, du hast es nicht verdient! Mein Leben hat jeden Sinn verloren, ich sollte derjenige sein, den es trifft! Du solltest alt werden, ein erfülltes Leben haben! Gott, wieso bestrafst du uns Menschen mehr als wir es verdienen?"
Ich rüttelte und rüttelte Angels Schulter und stieß immer wieder laute Schreie aus, welche die Ruhe der Nacht erschütterten.
Auf einmal spürte ich Angels Hand, wie sie meinen rechten Arm festhielt. Er riss, offensichtlich mit viel Mühe, seine Augenlider auseinander und schaute mir tief in die Augen.
Mühsam spuckte er die Restmenge Blut in seinem Mund aus und sprach mit überraschend viel Selbstbeherrschung: "Wer will schon alt werden in dieser Stadt? Gott - falls es ihn wirklich gibt - hat anscheinend andere Pläne für mich."
Es war seine letzte Kraft. Mit einem Mal spürte ich, wie der feste Griff sich lockerte und sich bald vollständig löste. Langsam verschlossen sich Angels Augenlider und er stieß einen langen letzten Atemzug aus, der mir die Seele gefrieren ließ.
Er war tot. Es war wirklich geschehen.
Ich war zutiefst erschüttert und die Mauern meines Verstands brachen ein.War es meine Schuld gewesen? Angel hatte keine kugelsichere Weste gehabt. Ich hätte es besser mit ihm absprechen müssen. Ich hätte ihm eine besorgen müssen.
Nein, es war seine eigene Verantwortung gewesen. Ich hatte keine Schuld. Oder doch? Was würde Mark sagen?
Ich war selten in meinem Leben so verunsichert gewesen, so voller tiefster Trauer. Meine Fassade bröckelte, die des harten, kompromisslosen Kämpfers. Warum hatte ich Angel nicht beschützen können?
In mir kam wieder der kleine Junge durch, der damals seine Zukunft verloren hatte. Eingesperrt von der Regierung, aller Perspektiven beraubt, isoliert in einem desolaten Elternhaus.
Ich spürte sie wieder, die Faust. Sie wölbte mein Gesicht und hinterließ einen bleibenden Eindruck. Ich spürte wieder, wie ich zu Boden fiel. Die Schläge peitschten auf mich ein wie riesige Hagelkörner.
Wir hatten damals alle die Hoffnung verloren, waren frustriert gewesen. Schon damals hatten wir unser Ende gesehen. Die Stadt hatte mir all die Jahre Stück für Stück meinen Lebenswillen entzogen. Wie konnte ich überhaupt noch am Leben sein? Fragen über Fragen stellte ich mir.
Es ging alles so schnell. Schreien. Mein Kopf explodierte. Schreien wollte ich. Ich zerriss den nächtlichen Frieden durch mein Leid. Jeder sollte es spüren. Das Echo drang in meine Ohren und es schien für mich wie die Antworten der anderen leidenden, geknechteten Seelen. Sie waren überall. Ich weinte laut und schrie noch mehr.
Wie ein kleines Baby einen Teddybären umklammerte ich Angels Körper und ließ ihn nicht mehr los. Warum? Warum er? Ich drückte fester und fester, bis meine Kraft schwand.
Es fühlte sich merkwürdig an, wie ein unangenehmes Kitzeln. Mein Atem verlangsamte sich und meine Augenlider wurden schwer. Meine Umgebung verflüchtigte sich wieder. Warum hätte ich mich jetzt wehren sollen? Ich gab nach. Kraftlos ließ ich meinen Kopf auf Angels Bauch fallen.
Ein Stechen in meinen Augen. Schützend hielt ich meine Hand vors Gesicht, das ich aufgrund des Lichts reflexartig verzogen hatte. Einzelne starke Sonnenstrahlen brachen durch die verbarrikadierten Fenster und wirkten wie Scheinwerfer. Der nächste Tag hatte scheinbar begonnen. Ich war ausgeschlafen und mir ging es gut, bis auf leichte Kopfschmerzen und einen etwas verspannten Rücken aufgrund des harten, doch eher ungemütlichen Feldbetts.
Von draußen her ertönte das Getöse aufbrausender Menschenmengen, aber das war anscheinend, wie auch damals in Schneverdingen, Alltag. Jeden Tag herrschte der Kampf um alle möglichen Güter: Essen, Trinken, Kleidung, Benzin, Öl, Waffen. Das Angebot war niedrig und die Nachfrage hoch, was nicht selten in heikle Konflikte ausartete. Doch hier in Soltau wirkte alles noch ein Stück heftiger. Es waren deutlich mehr Menschen und sie waren um einiges lauter.
Mühsam stöhnend richtete ich mich auf und streckte mich ausgiebig. Ein angenehmes Gefühl durchfloss meine Arme und Beine, es war wie bei einer Massage.
Wie konnte ich diesen Tag nun am besten beginnen? Wollte ich wirklich jetzt schon diese behutsame Isolation meines Zimmers verlassen? Eigentlich nicht. Was sollte ich auch tun? Warten hielt ich für die beste Idee. Mittlerweile war mein Onkel wahrscheinlich schon von seinem Treffen zurückgekehrt, oder vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall würde er demnächst bei mir vorbeischauen, da war ich mir sicher.
Sein Name war Eduard, Eduard Zellmer, und er war der drei Jahre ältere Bruder meiner Mutter. Ich hatte ihn logischerweise noch nie gesehen, doch meine Mutter hatte mir oft von ihm erzählt. Ihrer Beschreibung nach war er damals ein dynamischer, sportlicher Kerl gewesen, obwohl er angeblich etwas fülliger gewesen war. Er war Richter hier in Soltau gewesen und hatte eine polnische Ehefrau gehabt, die er 2010 in Hamburg geheiratet hatte. Bis zur Verriegelung der Städte Anfang 2022 hatte er mit seiner Frau zwei Söhne bekommen, geboren 2012 und 2017.
Bevor Eduard im Dezember 2021 von einem wütenden Rebellenmob aufgrund in den Jahren zuvor gefällter Urteile gegen sie im dunklen Keller eines Wohnhauses eingesperrt und schließlich vergessen worden war, hatte er seiner Frau geraten, mit den beiden Söhnen, Joshua und Raphael, zu fliehen. Es war vermutet worden, dass sie in Richtung Bremen geflüchtet waren, doch über ihr Schicksal wusste bis heute niemand Bescheid. Doch die Hoffnung auf ihr Überleben war verschwindend gering geworden, als nur wenige Tage später entlang der Verteidigungslinie zwischen Scheeßel und Nienburg die Rebellen mit dem neuartigen Gas "Savage Gold", welches zu Behinderung, Verstümmelung und Tod führte, alles und jeden ausgeräuchert hatten.
Es war erstmals 2015 in Afghanistan zum Ausräuchern von Taliban-Höhlen verwendet worden und schließlich für Kasimirs Schergen zur alltäglichen Waffe geworden. Es hatte begonnen mit Anschlägen auf Regierungsgebäude und darauf waren die Hauptquartiere großer Firmen, Innenstädte, Wohnblocks sowie später Militärstützpunkte und -konvois gefolgt. Aber am Ende war das Gas eigentlich nur noch irgendwo ziellos versprüht worden, besonders entlang der großen Kampfgebiete.
Vielleicht hatten sie es damals ja auch nach Bremen geschafft, niemand konnte es wissen. Gewiss war nichts, was draußen passierte. Hier, in der totalen Isolation, drang nicht einmal ein winziges Fünkchen an Information durch die Stacheldrahtzäune. Man wusste nicht, wer dieses Land überhaupt regierte, was sich in der Wirtschaft, Technologie und allgemein in der Struktur dieser Nation und der Welt geändert hatte. Soldaten, Waffen, Militärfahrzeuge, abgestandene Nahrungsmittel und alte Klamotten, das war das Einzige, was aus der Welt da draußen hier nach innen drang.
Die Drogen nicht zu vergessen, welche hier, auf welche Wege auch immer, eingeschleust wurden. Alte, gestreckte Scheiße, die niemand mehr haben wollte, verhökert zu Spottpreisen. War das Angebot höher als die Nachfrage, wurden hier die Reste verwertet, um den Preis stabil zu halten.
Es war im Prinzip genau das gleiche Verfahren, auf das auch all die Jahre vor dem Krieg die europäische Agrarpolitik vertraut hatte. Eine Politik, die nämlich wesentlich zur Verarmung dieser Region hier beigetragen hatte. Um eine streckenweite Rationalisierung durchzusetzen, waren die meisten kleinen landwirtschaftlichen Betriebe geschlossen worden, zu Gunsten größerer Betriebe irgendwo anders in diesem gottverdammten Land. Es waren hauptsächlich die Dörfer betroffen gewesen, was dazu geführt, dass immer mehr Landwirte nach Schneverdingen, Soltau oder in andere kleinere Städte gekommen waren, um neue Arbeit zu suchen. Ein Zustrom, der unsere schwierige Lage noch weiter verschärft hatte.
Ich merkte, ich schweifte schon wieder ab in meinen Gedanken.
Wo blieb Eduard? Sollte ich noch länger hier rumsitzen und warten? Warum konnte ich mich denn nicht einfach mal umschauen? Er musste ja eigentlich ganz in der Nähe von mir wohnen, wahrscheinlich sogar direkt nebenan.
Ich entschloss mich dazu, einfach mal aufzustehen und nachzuschauen. Mühsam richtete ich mich wieder auf und tastete mich mit verkrampftem Rücken links an der Wand ab, immer weiter und weiter. Ich drehte mich nach links und bewegte mich auf die Tür zu. Der Schlüssel steckte noch. Ich streckte meine Hand aus und drehte ihn nach rechts. Die Tür öffnete sich abermals mit einem fürchterlichen Quietschen und eine Wolke Putz fiel über mich her wie ein Rudel hungriger Wölfe. Angewidert verzog ich mein Gesicht, hustete und versuchte mit meiner Hand, den Putz von mir weg zu wedeln. Ich merkte, wie sich dieser abstoßende Geschmack von Backstein auf meiner Zunge niederlegte und meine Geschmacksknospen misshandelte. Verzweifelt versuchte ich den Putz mit meinen Zähnen von der Zunge abzustreifen, doch vergeblich.
Das Hotel war die reinste Baustelle, da hatte ich es sogar in Schneverdingen besser gehabt. Gestern war mir das noch gar nicht so wirklich aufgefallen, wahrscheinlich war ich so erschöpft gewesen, dass ich es gar nicht mehr wahrgenommen hatte.
Aber naja, ich musste mich jetzt zusammenreißen und nach draußen treten. Also gut, auf den Staub geschissen! Ich setzte mein linkes und rechtes Bein nach vorn und stand nun mitten auf dem Gang. Wo war Eduards Zimmer? Intuitiv tippte ich einfach mal auf links, also eine Tür weiter in Richtung Treppe. Vorsichtig schritt ich in Richtung Tür und der angesammelte Putz knisterte unter meinen blanken Füßen.
Im Moment war es angenehm ruhig hier im ersten Stock. Aus keinem der Zimmer vernahm ich irgendein Geräusch, nur konnte ich aus dem Erdgeschoss leise die gleichmäßigen Schritte der Wächter hören.
Ich stand nun direkt vor der Tür. Der weiße Lack war größtenteils abgeblättert, genau wie bei meiner Tür, und in das Holz fraßen sich viele vereinzelte Löcher, aus welchen Splitter wie spitze Zähne herausragten. Sollte ich jetzt wirklich klopfen? Ach, was konnte denn schon passieren? Prüfend presste ich mein Ohr gegen die Tür. Nichts. Ich nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Dann atmete ich wieder aus und klopfte dreimal kräftig. Ich wartete. Mein Herz schlug schneller.
Ich war höchstwahrscheinlich kurz davor, meinem Onkel gegenüberzustehen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und bei dem ich fortan mein Leben verbringen sollte. Aufregung machte sich in mir breit, mein Herz pochte wie verrückt.
Ich hörte leise Schritte und mir stockte der Atem. Wie auf Zehnspitzen tapsten sie auf mich zu und plötzlich wurde der Schlüssel ins Schloss geschoben. Ich atmete abermals tief ein und streckte meinen Kopf in die Höhe. Was sollte ich jetzt sagen? Ach, einfach irgendetwas. Die Tür bewegte sich nach innen, ganz langsam.
Langes braunes Haar, das war das Erste, was ich erblickte. Daraufhin schob sich vorsichtig ein Gesicht zwischen Tür und Wand. Es war anscheinend nicht Eduard, denn dieses Gesicht gehörte einem Mädchen. Sie sah ungefähr genauso alt aus wie ich, hatte ein wunderschönes, zartes Gesicht und große tiefbraune Augen. Ihre glatt und weich aussehenden Wangen waren errötet und ihre dünnen roten Lippen bewegten sich langsam auseinander.
"Was gibt's?", fragte sie verwundet dreinschauend.
Ihre Stimme war süß wie Zucker und ich konnte aus ihr irgendwie eine gewisse Zerbrechlichkeit heraushören, auch wenn sie auf den ersten Schlag ziemlich selbstbewusst klang.
Nervös stammelte ich also: "Ähm, also ich bin eigentlich auf..."
Ich hatte komplett die Sprache verloren. Verdammte Scheiße!
Das Mädchen schaute mich fragend an, was in einem verwirrten Lächeln mündete.
"Wer bist du und was willst du hier?", wollte sie wissen.
Ich musste mich darauf konzentrieren, nicht die Fassung zu verlieren.
"Ich bin Freddi", stotterte ich unbeholfen. "Ich bin eigentlich auf der Suche nach Eduard, Eduard Zellmer. Ich bin neu hier und nun ja, er ist mein Onkel und ich soll hier mit ihm leben."
"Dann bist du falsch hier", erklärte das Mädchen in einem versucht freundlichen Ton, doch ich bemerkte ihre starke Verwunderung.
"Und du heißt also Freddi?", hakte sie nach und ich erwiderte:
"Ja, mein Name ist Frederik Hoffmann und ich komme eigentlich aus Schneverdingen. Mir wurde eine Umsiedlung gewährt und gestern bin ich hier in Soltau angekommen. Es tut mir leid, dass ich dich hier jetzt aufgrund meiner mangelnden Orientierung störe."
"Schon okay", sprach das hübsche Mädchen und setzte ein breites Lächeln auf, welches nun sogar äußerst natürlich wirkte. "Ich bin Lea. Du scheinst dann wohl mein neuer Nachbar zu sein."
Leas umwerfendes Lächeln blendete mich wie Sonnenlicht und trotzdem zog es mich in einen magischen Bann und ich konnte einfach nicht wegschauen.
"Oh ja, das bin ich in der Tat", prustete ich los und stoppte abrupt, als ich mich wieder in der Peinlichkeit verlor, mich bei Gesprächen nicht zusammenreißen zu können.
"Du bist nervös", bemerkte sie und zog belustigt ihre perfekt gezupften Augenbrauen hoch.
"Ja, ähm, das war alles ein bisschen viel für mich die letzten Tage", versuchte ich mich zu rechtfertigen und schluckte nervös.
In meinem Kopf pfiffen tausend Kessel. Es war schrecklich.
Lachend fügte Lea hinzu: "Und jetzt klopfst du also bei mir an, und zwar in Boxershorts und Unterhemd?"
Was zur Hölle? Scheiße! Mir war das gar nicht aufgefallen. In all meiner geistigen Ablenkung hatte ich glatt vergessen, mir etwas überzuziehen. So ein Pech aber auch!
"Oh, verdammt!", bemerkte ich mit einem lauten Ausruf, auffällig aufgesetzt. "Tut mir leid, ich wollte dich jetzt nicht belästigen! Ich bin auch kein Perverser oder so, ich war nur abgelenkt, glaub mir!"
Lea lachte noch lauter und wirkte auf irgendeine Art verständnisvoll.
"Ist ja gut, Kumpel. Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen", kicherte sie freudig. "Glaub mir, ich habe schon Schlimmeres gesehen als das."
Endlich öffnete sie die Tür vollständig und ich konnte ihre gesamte Gestalt betrachten. Sie war fast einen Kopf kleiner als ich, trug ein halbwegs sauberes weißes T-Shirt und zerfetzte Jeans. Ihre Füße bekleideten alte, abgenutzte grüne Chucks. Lea war recht schlank, sah aber nicht abgemagert aus. Ihr Körper machte einen sehr gesunden Eindruck. Ihre Beine, ihre Taille, ihre Oberweite, alles war nahezu perfekt. Ihre Pracht strahlte auf mich wie tausend Sonnen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so ein schönes Mädchen gesehen. Diese glatte Haut, die zarten Gesichtszüge, die langen, geschwungenen Wimpern, die süße Stupsnase, die vollen braunen Haare und vor allem diese magischen braunen Augen. Ich hätte in Gedanken noch viel mehr Dinge aufzählen können, die mich sofort an ihr faszinierten, aber ich durfte mir jetzt in diesem Moment nichts anmerken lassen.
Ich spürte, wie sich mein Kopf erhitzte und ich vor Scham errötete. Ich konnte einfach nicht mehr klar denken. Diese Begeisterung drückte auf mich ein, entzog mir jede Denkfähigkeit. Ich guckte nur auf Lea, wie sie lieblich lächelnd zu mir hinaufschaute, an die Tür gelehnt und mit leicht gekreuzten Beinen. Verzweifelt rang ich nach Worten, doch mein Kopf war blockiert.
Ich nickte also einfach und murmelte undeutlich: "Ja. Ja, okay."
Oh man, jetzt hatte ich es gründlich verkackt. Ich ohrfeigte mich innerlich. "Aber trotzdem solltest du dir grundsätzlich lieber was überziehen", riet Lea mir in einem keineswegs ernsten Ton. "Das wäre zu deiner eigenen Sicherheit, denke ich."
Ich konnte nur ein kurzes, unsicheres Schmunzeln hervorbringen vor lauter Nervosität.
"Ich geh dann mal am besten wieder, wir sehen uns bestimmt", stammelte ich nur mit einem Hauch von Stimme.
Wie konnte man nur so versagen? Naja, erstmal nichts wie weg hier. Ich nahm all meine Kraft zusammen und versuchte, Lea ein glaubhaftes, selbstsicheres Lächeln entgegenzubringen. Ich gab mein Bestes. Ob es gut war, wusste ich nicht.
Ich war schon fast dabei, mich wegzudrehen, da erwähnte Lea mit hastiger Stimme: "Warte! Wolltest du nicht wissen, wo Eduard wohnt?"
Erschrocken schoss mein Blick zurück zur Tür und reflexartig antwortete ich: "Ja, stimmt!"
Ich hätte mich schon wieder selbst ohrfeigen können.
"Nun gut", begann Lea. "Eduard wohnt schräg gegenüber von hier, also im Prinzip direkt gegenüber von deinem Zimmer. Er ist aber noch gar nicht wieder da, soweit ich weiß. Es dürfte aber ein Arzt oder so da sein, der für seine Tochter sorgt."
Ich Vollidiot, hatte mir Darwin das nicht gestern sogar noch gesagt? Scheinbar hatte ich es in meinem etwas desolaten Zustand sofort wieder vergessen.
Und Eduard hatte also noch eine jüngere Tochter? Gut zu wissen.
"Was ist denn passiert?", fragte ich erschrocken und blickte hinüber zu Eduards verschlossener Zimmertür.
"Ich bin mir nicht ganz sicher", flüsterte Lea mit besorgtem Blick. "Es ist gestern Vormittag passiert und es hat hier deswegen ein riesiger Trubel geherrscht. Man sagt, seine kleine Tochter sei in einen Unfall mit LH-15 geraten. Sie hat angeblich mit einem Freund in irgendeiner Lagerhalle zwischen den Fässern Verstecken gespielt, wobei sie ausversehen ein undichtes Fass mit dieser Substanz umgestoßen hat. Sie wurde förmlich von der Säure übergossen."
Ich hörte, wie Leas Stimme zerbrechlicher wurde, wie tauendes Eis. Auch ich war fassungslos, mir stockte der Atem. Ein unangenehmes Gefühl kroch über meinen Hals in meinen Kopf und setzte sich an den Schläfen nieder. In meinem Magen gedieh der Keim unerbittlichen Zorns.
"Großer Gott", krächzte ich, während mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
LH-15, das Verderben höchstpersönlich. Was machte ein solches Fass überhaupt hier in Soltau? Wie zum Teufel konnte eine Regierung, mochte sie ohnehin schon unendlich korrupt und falsch sein, so etwas verantworten? Wie viel Leid wollte man den Menschen hier denn noch zumuten? Meine Erfahrung mit dieser Substanz war einmalig und einschlägig gewesen. Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken. Irgendwo im tiefsten Verlies meines Verstands war diese Erinnerung verschlossen.
Plötzlich ertönten laute Schritte. Ich spürte eine gewisse Hektik, die sich rasch auf mich zubewegte.
"Verfluchte Scheiße!"
Der Schrei hallte in den Gängen wieder und verstummte erst nach mehreren Sekunden. Es war ein Leichtes, dieser Stimme eine maßlose Frustration zu entnehmen.
"Das war Eduard", piepste Lea vorsichtig und griff ihre Türklinke. "Wir sehen uns, Freddi."
Ich hob nur kurz meine Hand zur Verabschiedung, denn meine Gedanken waren schon einen Schritt weiter.
Der staubige Duschvorhang beim Treppenhaus bewegte sich und rasch bewegte sich eine Gestalt unter diesem hindurch. Ein fülliger älterer Mann, so etwa um die Mitte fünfzig, mit schwarzgrauem Vollbart und Halbglatze marschierte in schnellem Schritt auf mich zu. Er trug eine auffällig große Brille mit einem dicken schwarzen Rahmen, zerfledderte schwarze Lackschuhe, eine dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Mantel über seinem weißen, zugeknöpften Hemd. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, rauschte er an mir vorbei zu seiner Tür. Das war also Eduard?
Ich war wie erstarrt vor Schock. Hoffnungen auf ein besseres Leben? Sie waren nur rege Fantasie gewesen, Wunschgedanken eines gequälten Jungen ohne Perspektive. Hier in Soltau war das Leben kein Stück besser, das hatte ich sofort gemerkt.
Ich sah zu, wie Eduard zitternd seinen Schlüssel in das Schloss steckte und dabei verzweifelt winselte.
"Eduard!", rief ich vorsichtig und dieser hob erschrocken seinen Kopf.
"Wer bist du?", fragte er mit verwunderter Miene.
Ohne zu zögern antwortete ich: "Ich bin's, Frederik!"
"Also doch heute schon?", äußerte sich Eduard, scheinbar etwas verwirrt. "Schön dich zu sehen, mein Junge!"
Er erstarrte für einige Sekunden und musterte mich intensiv.
"Endlich erblicke ich mal den Burschen, den meine kleine Schwester zur Welt gebracht hat. Komm mit, ich zeig dir mein Zimmer!"
Eduards von Trauer verfinstertes Gesicht hellte auf, nicht vollständig, aber ich merkte, wie erleichtert er jetzt war, dass ich heil angekommen war.
Er hatte die Tür nun geöffnet und war in seinem Zimmer verschwunden. Ich folgte ihm unverzüglich.
Eduards Zimmer hatte im Prinzip dieselben Merkmale wie meines. Es besaß zu Beginn einen kurzen Korridor mit Eingang zur Toilette auf der rechten Seite und teilweise verbarrikadierte Fenster und Wände. Decke und Boden waren von Staub bedeckt, als wäre dieses Zimmer seit mindestens einem Jahr nicht betreten worden. Auch konnte ich hier ebenfalls eine äußerst störende Putzwolke ausmachen, fast so stark wie auf dem Gang, die sich fast schon wie Nebel durch das Zimmer zog. Dadurch war jeder einzelne Lichtstrahl deutlich sichtbar, der sich durch die wenigen Freiräume in den Fenstern zwängte. Die Einrichtung war hier etwas anders als bei mir. Zwischen den zwei Fenstern stand ein großer Schreibtisch mit allerlei Utensilien und mehreren Fächern für Unterlagen und ganz hinten links stand eine ziemlich gewaltige Stehlampe mit einer Leuchtkugel an der Spitze, die einen Durchmesser von locker einem Meter besaß. Ganz hinten rechts in Eduards Raum stand ein massiver, alter IKEA-Schrank, wie man sie vor dreißig Jahren fast überall hatte. Er war quaderförmig und hatte ein graues Gehäuse plus schwarze Türen. Wo in meinem Zimmer mein spartanisches Feldbett positioniert war, befand sich hier in Eduards Zimmer ein breites Doppelbett mit drei weißen Plastikstühlen links daneben, die völlig ungeordnet dort herumstanden.
Als ich direkt hinter Eduard auf das Bett zuging, erblickte ich einen Mann mit kurzen schwarzen Haaren, weißem Tank Top und an den Knien abgeschnittener Jeans vor dem Bett hocken, über dieses gebeugt und uns den Rücken zugekehrt. Darüber, auf dem Bett liegend, erkannte ich nur die Umrisse eines kleinen Mädchens, bedeckt mit einer bluttrunkenen Bandage, die um ihren gesamten Körper gewickelt worden war. Dies war also Eduards kleine Tochter. Mir gefror der Atem bei dem Anblick, meine Pupillen weiteten sich vor Schock und mein Herz schlug hastiger.
Plötzlich drehte Eduard seinen Oberkörper in meine Richtung, tippte mir auf die Schulter und sagte mit sanfter Stimme: "Nimm ruhig Platz, Frederik! Hier sind genug Stühle für uns."
So tat ich es. Ich griff mir den Stuhl, der am nächsten an der Wand stand, und ließ mich langsam nieder. Jener war nicht mehr im besten Zustand, er hatte Löcher und ich konnte außerdem mehrere scharfkantige Plastikspitzen in mein Gesäß eindringen fühlen. Trotzdem war es um vieles besser als Stehen.
Eduard klopfte dem Mann mit dem weißen Tank Top ebenfalls auf die Schulter und flüsterte: "Es ist okay, Tom. Du kannst gehen."
Dieser drehte sich mit besorgtem Blick zu Eduard um und nickte stumm.
Daraufhin erhob er sich ächzend, fasste sich an seinen Dreitagebart und stöhnte verzweifelt und mit feuchten Augen: "Ihr Zustand hat sich verschlechtert, Eduard. Sie atmet zwar noch, aber sie zeigt keinerlei Reaktionen."
"Schon gut", warf Eduard ein, um Tom zu beruhigen.
Doch im Inneren war er noch viel verzweifelter, das spürte ich. Er zeigte es nur nicht.
"Ich bin dir sehr dankbar für deine Unterstützung."
"Ich denke, ich schaue heute Abend nochmal vorbei", erwiderte Tom wohlwollend und in seinen auffällig grünen Augen spürte ich all das Entsetzen und Grauen, das der Zustand des kleinen Mädchens über ihn gebracht hatte.
Eduard verabschiedete Tom mit einem akzeptierenden Nicken und dieser schlenderte daraufhin zur Tür und verschwand.
Sofort lenkte ich meinen Blick wieder auf das Mädchen, das rührungslos und bis auf ihren vertrockneten Mund und ihre verbrannte und zerfressene Nase in Bandagen gewickelt auf dem alten Doppelbett lag und nur minimal atmete. Erst in dieser Sekunde der plötzlichen totalen Stille konnte ich auf einmal ihren Atem wahrnehmen, wie er sanft die bedrückende Atmosphäre des Raumes durchdrang. Ich hörte, wie sich Eduard ebenfalls einen Stuhl griff und sich hinsetzte, was ein bescheidenes Quietschen erzeugte.
"Tom ist ein guter Freund von mir", erklärte er mir. "Ich habe ihm vor einigen Jahren mal das Leben gerettet, als er noch ziemlich grün hinter den Ohren war. Seitdem versucht er mir all seinen Dank zu zeigen. Es ist manchmal schon etwas krampfhaft, doch er hat ein gutes Herz, das weiß ich. Er ist kein Heuchler."
Ich hörte Eduard zu, doch mein Blick konnte nicht von dem Mädchen weichen. "Wie heißt sie?", fragte ich leise und vorsichtig.
"Ihr Name ist Lisa", antwortete Eduard. "Sie ist die Tochter meiner zweiten Frau, gerade einmal zwölf Jahre alt. Sie war noch nicht einmal fünf, als ihre Mutter an Krebs gestorben ist. Es hat sie damals wirklich mitgenommen, sie hat sogar ein ganzes Jahr lang nicht gesprochen, nicht ein einziges Wort. Auch in den darauffolgenden Jahren spürte ich in ihr das Trauma, das sie noch immer unten in der Finsternis festgekettet hielt. Weißt du, Lisa hat seit dem Tod ihrer Mutter bis vor etwa einem Jahr nicht gelächelt. Ich habe sie kein einziges Mal lächeln sehen. Sie war so zart und verletzlich, und so traurig. Aber an jenem Tag..."
Eduard unterbrach mit einem lauten Schluchzen und die ersten Tränen glitten seine Wangen herab.
"An jenem Tag vor einem Jahr hatte sie das erste Mal nach über sechs Jahren wieder gelächelt. Ich hatte zuvor eine Auseinandersetzung mit einem Bundessoldaten gehabt und wurde dafür zwei Monate in irgendein Loch draußen in Wolterdingen gesperrt. Tom hatte sich in der Zeit um Lisa gekümmert. Als ich dann zurückkam, sprang sie mir direkt in die Arme mit einem breiten, überglücklichen Lächeln im Gesicht. Dies wiederholte sich mit der Zeit und Lisa wurde langsam zu einem neuen Menschen. Sie entdeckte wieder die Freude am Leben, spielte ausgelassen mit ihren Freundinnen, sang und sprang umher. Sie war ein unschuldiges und unbeschwert lebendes Mädchen. Bis gestern. Ich weiß ja nicht, ob du davon schon etwas mitbekommen hast."
Ich nickte bedrückt. Die Verzweiflung, die Eduard zerfraß, war unerträglich mit anzusehen.
"Es ist schrecklich", murmelte ich mitfühlend und mit starrem Blick.
Eduard wischte sich die Tränen vom Gesicht und schnaufte.
Immer noch schluchzend meinte er nun zu mir: "Es tut mir leid, dich unter diesen Umständen aufnehmen zu müssen. Zurzeit kommt einfach so viel Scheiße zusammen."
"Schon gut", seufzte ich voller Mitleid, zog, leichten Tränen nahe, meine Augenbrauen hoch und starrte Eduard mit weiß geöffneten Augen ins Gesicht.
"Es wäre vielleicht ganz gut, dich ein wenig hier einzuweisen", setzte dieser fort. "Schließlich bist du ja gerade erst angekommen und wir haben hier in diesem Gebäude eine gewisse Organisation, über die du Bescheid wissen solltest."
"Und die wäre?", wollte ich wissen und Eduard begann:
"Essen gibt es in unserem Speisesaal, zu dem du durch die erste Tür rechts im Eingangsbereich gelangst, also von der Treppe aus gesehen. Frühstück gibt es immer, wir haben ein kleines, aber feines Buffet auf die Beine gestellt und Nachschub ist für uns relativ gesichert. Es ist nichts Besonderes, aber du kannst davon ausgehen, dass du damit für den Tag gestärkt bist. Mittagessen ist da schon eine etwas kompliziertere Sache. In der Regel gibt es sonntags immer etwas Warmes zu essen, und an allen anderen Tagen kommt es ganz darauf an. Das liegt daran, dass unsere Versorgungslage meistens ziemlich unberechenbar ist. Abends bieten wir leider nichts an. Das heißt, entweder verzichtest du auf dein Abendbrot oder du holst es dir von irgendwo anders. Für schmutzige Wäsche gibt es im Erdgeschoss auf der rechten Seite einen Waschraum und Wasser bekommst du im Hinterhof. Dort haben wir einige Kanister, die regelmäßig aufgefüllt werden. Sei aber sparsam, denn Wasser ist immer knapp. Es ist eigentlich fast schon zum Luxusgut geworden, wie so ziemlich alles Andere in dieser Stadt. Hier in Soltau ist nichts selbstverständlich, bis auf Drogen, die kriegst du überall. Sei immer vorsichtig und widerstehe der Versuchung, mein Junge! Du musst wissen, wir haben hier ein weitaus größeres Drogenproblem als im Bezirk der Black Sheep. Ich bin da fast schon eine Ausnahme, denn ich bin clean. Meyer und so gut wie alle seine Leute aber sind ziemlich verkorkste Junkies. Versteh mich nicht falsch, ich bin Meyer treu ergeben und würde mein Leben lassen für Unity, doch trotzdem gibt es meiner Meinung einige Dinge, die hier falsch laufen."
"Ich verstehe", gab ich Eduard zu erkennen und meine Neugier wuchs.
"Was für ein Treffen war das gestern eigentlich?", fragte ich vorsichtig. "Es muss ja ziemlich wichtig gewesen sein, wenn man bedenkt, dass du dafür Lisa alleine gelassen hast."
Eduard seufzte bedrückt und schaute mir mit trübem Blick in die Augen.
Mit einer plötzlich eingesetzten Heiserkeit antwortete er: "Es ging hauptsächlich um einen Deal von äußerster Wichtigkeit. Drogen natürlich. Vor ein paar Tagen wurde bekannt, dass Mark Holm, Anführer der Black Sheep, in Besitz von fünf Kilogramm Desiderium gelangt war, indem er einen von Rafet Aydins Dealern überführt hatte."
"Rafet Aydin", murmelte ich unfreiwillig.
"Was ist mit ihm?", wollte Eduard wissen und wirkte leicht erstaunt. "Du kennst diesen Mann?"
"Ich glaube", antwortete ich zaghaft und unschlüssig. "Ich habe diesen Namen irgendwann schon mal gehört, vor einiger Zeit. Ich kann nur nicht sagen, mit was er in Verbindung steht. Es ist, als hätte sich ein dunkler Schleier um diese Erinnerung gewickelt, der sie völlig unzugänglich macht. Es will mir einfach nicht einfallen."
"Naja, Rafet Aydin ist schon ein bekannter Mann", brummte Eduard daraufhin. "Auch in Schneverdingen ist er mit Sicherheit bereits schon einige Male gewesen. Es sollte mich also gar nicht wundern, dass du ihn kennst. Er ist ein schmieriger Typ, stolz und selbstverliebt. Er wohnt direkt östlich von Soltau in Harber, seinem kleinen Extrabezirk. Ein hässliches kleines Moloch, man kann durchgehend den Rauch seiner stinkenden Drogenküchen gen Himmel steigen sehen. Er hat bis vor einem Jahr Meyer mit D und anderen Drogen versorgt, bis der Ostbezirk an die Black Sheep gefallen ist. Nun dringt nur noch wenig durch die von Holm streng bewachten Grenzen. Aber naja, zurück zum eigentlichen Thema. Holm wollte uns die Drogen verkaufen zu einem vernünftigen Betrag. Das verursachte natürlich große Aufregung bei uns und Meyer setzte mich und drei Andere für den Deal an. Als das gestern mit Lisa passiert war, war ich komplett am Boden zerstört und erklärte daraufhin Meyer, nachdem er mich ins Hauptquartier gerufen hatte, dass ich nicht im Stande wäre, den Deal durchzuführen. Er war nicht sonderlich begeistert, doch trotzdem willigte er nach einer kurzen Diskussion ein. Als Bedingung musste ich aber im Quartier bleiben und bei der Planung der nächtlichen Aktion behilflich sein, sowie schließlich über Funk den drei Anderen Anweisungen geben. Ich konnte also leider nicht bei Lisa sein, doch wenigstens hatte ich die Gewissheit, dass sie nur wenige hundert Meter von mir entfernt und in Sicherheit war und dass sich Tom gut um sie kümmerte."
"Ach so", unterbrach ich Eduard, um mein Verständnis auszudrücken, doch plötzlich sah ich, wie sein Gesicht sich verfinsterte.
"So eine Scheiße!", fluchte er auf einmal, sodass es von den Wänden widerhallte. "Ich hätte schon vor Stunden zurück sein können!"
Ich fand keine Worte, so überrascht war ich durch Eduards plötzliches Aufbrausen. Allgemein diese bedrückende Situation schnürte sich wie ein Strick um meinen Hals und quetschte meine Stimmbänder zusammen.
"Es tut mir leid", erklärte Eduard, sichtlich überrascht von sich selbst und seinen unkontrollierten Emotionen. "Du musst wissen, der Deal ist beschissen gelaufen, sehr beschissen sogar. Die Drogen haben wir, das ist nicht das Problem. Aber anscheinend meinte plötzlich einer unserer drei Jungs, die beiden armen Würstchen von den Black Sheep abknallen zu müssen."
Ekel und Wut gingen von Eduards Stimme aus, als auch Unverständnis und Verwirrung.
"Der Deal war schon abgeschlossen und die drei saßen wieder im Auto, doch er hat sie einfach erschossen, ohne Grund. Es ging auch nicht um das Geld, das blieb einfach neben den beiden Leichen liegen. Er - sein Name ist Reece Neumann - ist dann wenige Meter weiter einfach ausgestiegen und abgehauen. Von ihm fehlt jetzt jede Spur und die anderen beiden Pfeifen haben nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten. Sie haben ihn einfach entwischen lassen. Und es ist nicht nur das, Frederik. Du musst wissen, es kommt noch viel schlimmer, denn die beiden Opfer dieser willkürlichen, hirnlosen Tat sind zufällig Holms Neffe und einer seiner engsten Vertrauten. Und weißt du, was das bedeutet?"
Ich schwieg. Die Sekunden verstrichen. Ich spürte die bedrohliche Atmosphäre, die plötzlich durch den Raum schwirrte.
Eduard beugte sich schließlich vor und sein Kopf kam meinem ein großes Stück näher.
"Krieg, Freddi. Das bedeutet Krieg", flüsterte er mit dunkler Stimme, die mich bis in die letzten Enden meines Körpers durchdrang und mich innerlich schütteln ließ.
Ich spürte, dass bald schreckliche Dinge passieren würden. Sehr bald.
Mit einem Schock fuhr ich auf. Schweißgebadet. Wo war ich? Wo war Angel? Meine Gedanken waren blockiert und mein Schädel war wie gelähmt. Ich atmete schwer.
Hellbraune, zerfledderte Tapete zierte die Wände. Hinter dem Fußende meines Bettes stand in einem gewissen Abstand ein alter Kleiderschrank mit vielen verspielten Verzierungen und Schnörkeln. Rechts daneben war die Tür. Der Raum war eher länglich und ziemlich schmal. Von der Decke hing ein kleiner, aber feiner Kronleuchter herab, der mit einem konstanten Quietschen hin- und herschaukelte.
Unzählige Schweißtropfen liefen mein Gesicht herunter und ich wischte mir die Stirn. Sie hatte eine hohe Temperatur. Erst jetzt fielen mir die zermürbenden Kopfschmerzen auf, die sich wie Nadeln durch meinen Schädel zu bohren schienen. Mit verkrampfter Miene stöhnte ich schmerzerfüllt. Eine unerträgliche Kälte durchströmte meinen Körper und ließ mich zittern. Auf einmal spürte ich außerdem ein heftiges Brennen in meinem rechten Oberschenkel. Was zur Hölle war passiert? Ich steckte meinen Kopf unter die Decke und erkannte in der Dunkelheit ein kleines, rotgefärbtes Abdecktuch, befestigt durch ein großes Pflaster. War ich angeschossen worden?
Angel! All die Ereignisse zogen in meinem Kopf an mir vorbei wie in einem Film. Nein, das konnte nicht sein! Ich schrie und brüllte, soweit es mein verkrampfter Körper zuließ. Meine Kehle brannte ungemein, doch ich machte weiter. Ich klang wie ein sterbendes Tier, doch ich konnte nicht anders.
Es war alles vorbei. Alles, wofür ich gekämpft hatte, war verloren. Ich hielt inne, laut, schwer und schnell atmend. Luft pfiff durch meine zusammengebissenen Zähne und ich kniff die Augen zu.
Wo zur Hölle war ich? Wo konnte ich sein? Mein Verstand machte es mir schwer, doch mit einem Mal fiel es mir ein. Ich kannte diesen Ort. Holm, Breidingsgarten. Das hier war ein Nebenzimmer im Erdgeschoss.
Ich hatte hier vor Jahren mal übernachtet während eines blutigen Konflikts zwischen Unity und den Black Sheep. Gott, war das lange her. Es war noch ganz am Anfang gewesen, als es die Black Sheep noch nicht lange gegeben hatte. Ich war damals jung und unerfahren gewesen und war am rechten Bein von einer Kugel getroffen worden. Holm hatte mich sofort hier untergebracht und behandeln lassen. Es war alles glatt gelaufen damals, die Wunde hatte sich zum Glück nicht infiziert. Außerdem war die pharmazeutische Versorgung um 2030 auch noch nicht ganz so fürchterlich knapp gewesen wie heute.
"Wie es scheint, bist du wieder erwacht von den Toten", ertönte plötzlich eine Stimme im Raum und ich drehte ruckartig und voller Schreck meinen Kopf nach rechts.
Auf einem alten, weinrötlich lackierten Holzstuhl saß er, Eric Ivankovic. Er war ein verkorkster serbischer Sturkopf, unerträglich, aber effizient, weshalb er auch Holms Vertrauen genoss. Er hatte diese spezielle serbische Mentalität beibehalten, extremistisch, unberechenbar und gewalttätig. Natürlich kannte ich auch einige völlig bodenständige und reservierte Serben, doch Eric war für mich irgendwie so etwas wie die Personifizierung eines Klischees. Sein Lebensstil war exzessiv, viele Drogen und Nutten waren mit im Spiel. Ja, auch er war abhängig von Desiderium, das wusste ich. Schon immer hatte Eric versucht, seinen abgewrackten Körper durch höchstmögliche Körperpflege und saubere Klamotten zu vertuschen, damit Holm ja kein Wind davon bekam. Scheiß drauf, sollte er doch machen, was er wollte! Ich wollte keine Petze sein. Außerdem hatte Eric eine schwere Kindheit gehabt, war oft von seinem Onkel misshandelt worden und seine Eltern hatten nie etwas davon wissen wollen. Er war sogar jedes Mal von seinem Vater verprügelt worden, wenn er versucht hatte, seinen Onkel anzuschwärzen, da jener geglaubt hatte, er erzähle Lügen und würde seine Familie auseinanderbringen wollen. Eric war etwa in meinem Alter und ich kannte ihn schon sehr lange, weshalb ich auch all diese Dinge damals mitbekommen hatte. Er war noch immer im tiefsten Inneren ein kleines, verletzliches Kind, weshalb ich durchaus Verständnis ihm gegenüber zeigte, jedoch keine Sympathie hegte. Das ging einfach nicht.
Und nun saß Eric da mit seinen kurzen, nach hinten geklatschten schwarzen Haare, die wie von Fett durchspült im Licht glänzten. So kamen besonders seine Segelohren und seine vernarbte Stirn, Relikte seines Vaters und seiner selbst, zum Vorschein. Dicke grünliche Augenringe zogen sich an der Unterseite seiner glasigen hellblauen Augen entlang, die über seiner länglichen Hakennase lagen, die nach meinem Wissen schon das ein oder andere Mal gebrochen worden war. Er trug einen dunkelblauen Trenchcoat, eine schwarze Anzughose und schwarze Lackschuhe, auf höchstmöglichen Glanz poliert.
"Echt scheiße gelaufen, Dima", zischte Eric mit diesem typischen finsteren, herablassenden Blick in seiner widerlichen Visage.
Ich, immer noch schwer atmend, verspürte sofort Aggressionen durch sein unangebrachtes Verhalten, doch ich zog mein Gesicht krampfhaft zusammen und hielt mich zurück.
Aber meine Emotionen wurden augenblicklich wieder rückfällig und waren nur sehr schwer zu kontrollieren. Ich spürte, wie sich das Tränenwasser hinter meinen Augen staute, nach außen gedrückt durch die aufgestaute Wut. Meine Güte, ich war ein Mann! Da musste man sich doch zusammenreißen können! Mit aller Kraft hielt ich die Tränen zurück, um ja keine Schwäche vor Eric zu zeigen. Dem Saftsack wollte ich es einfach nicht gönnen.
"Hältst du das jetzt für besonders aufbauend, Wichser?", knurrte ich mit angestautem Zorn und blickte dabei schnurstracks geradeaus, um Blickkontakt zu vermeiden.
"Tut mir leid, Dima. Es ist nicht einfach, dir gegenüber die richtigen Worte zu finden nach so einer Sache", versuchte sich Eric zu rechtfertigen. "Wie du vielleicht nicht weißt, sitz ich hier schon den halben Tag und bin sehr erschöpft und nicht mehr ganz bei der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2761-5
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