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Das Experiment

 

 

 

 

 

Thorsten hatte sich ganz hinten, in die äußerste Ecke seines Bettes verkrochen. Dicht hatte er sich mit seinem Rücken an die Wand gepresst, die ihm eine Illusion von Schutz versprach. Die Beine an seinen Körper gezogen, den Kopf auf die Knie gelegt, versuchte er, gegen seine aufsteigenden

Tränen zu kämpfen. Versuchte, diese zu unterdrücken, und wusste doch, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. So wie er auch all die anderen Kämpfe in seinem erst zwölfjährigem Leben stets verloren hatte.

Thorsten war schwierig. Er war anders als all die anderen Kinder. Er war rebellisch und aufsässig. Sein ganzes Dasein schien nur dem Ziel des aufbegehren gewidmet zu sein. Alle wussten das und auch er selbst ahnte wohl, dass er schlecht und bösartig war und obwohl er dieses wusste, fehlte ihm die Kraft, etwas daran zu ändern.

An seiner Schule hatte man schon lange aufgehört ihm mit Verständnis und guten Worten

entgegenzukommen. Worte die, so hatten Lehrer und Lehrerinnen längst begriffen, nicht zu ihm durchdrangen. Die seinen Trotz und seine Gegenwehr nur zu verstärken schienen.

Auch seine Eltern wussten, welch Satan sie dort gezeugt hatten. Auch wenn es seiner Mutter

eigentlich egal war, denn diese hatte sich schon vor Jahren, schon vor seiner Geburt, in den Alkohol geflüchtet. Wäre es irgendwem eingefallen nach ihrer Seele zu suchen, so hätte er vergeblich in ihren Augen danach zu suchen getrachtet, denn ihre Seele lag irgendwo auf dem Boden all der

Flaschen, die sie in ihrem Leben schon geleert hatte, und war gemeinsam mit diesen in irgendeinem Altglascontainer entsorgt worden.

Nur Thorstens Vater, der kümmerte sich. Nicht nur um Thorsten, sondern auch um seine Frau. All die vernarbten Wunden, die blau unterlaufenen Striemen, die Prellungen, all der Schmerz, all die Tränen und auch der Ledergürtel, den Vater an seinem Hosenbund trug, waren Zeugen, wie gut

dieser sich um seine Familie kümmerte und warum Thorsten jetzt, in diesem Moment, sich ganz hinten, an die Wand seines Bettes geflüchtet hatte, wohin sein Vater ihn wieder einmal gepeitscht hatte.

Und ich, wusste ich, welch schlechtes, verabscheuungswürdiges Kind Thorsten war?

Ja, ich wusste es, denn Thorsten habe ich soeben erfunden. Thorsten, er könnte auch Michael,

könnte Anne oder Marie heißen. Könnte zwölf, sechs oder acht Jahre alt sein, oder vielleicht auch fünfzehn.

Thorsten, er ist nur meiner Fantasie entsprungen und es ist gut, dass er nur eine Erfindung von mir ist, denn dadurch blieb es zumindest diesem Kind erspart, Teil eines Experimentes zu werden,

dessen Grausamkeit an die Menschenverachtenden Taten des NS-Regime erinnern.

Ich könnte Thorsten beiseiteschieben. Könnte seinen Namen, sein alter, sein Geschlecht ändern oder mich nur auf die Fakten beschränken.

Aber ich halte an Thorsten fest, klammer mich an ihn, um dir wehzutun. Ganz bewusst will ich

deine Empörung, deine Wut, deinen Schmerz, deine Ohnmacht erwecken, damit sie ein Teil dieser Erzählung wird. Nicht um mich daran zu ergötzen, sondern damit dieses ganze Grauen ein Gesicht erhält. Damit all diese ungezählten Kinder aus der Anonymität auferstehen können, um dich

anzusehen und die anzuklagen, deren Opfer sie wurden.

 

Thorsten war und blieb schwierig, alle wussten das und auch dem Jugendamt konnte dieses auf

dauer nicht verborgen bleiben und so holte man Thorsten irgendwann ab. Entfernte ihn von seiner alkoholkranken Mutter und seinem Vater, der nicht begriff, warum man ihm seinen Sohn nahm, wo doch nur er dazu in der Lage sei, diesen auf die richtige Bahn zu lenken. Es würde halt nur noch ein klein wenig dauern, aber ganz sicher, wenn man ihm doch nur noch etwas Zeit gönnte, nur etwas mehr Zeit und vielleicht den einen oder anderen Ledergürtel, dann würde es ihm schon gelingen, dieses widerspenstige Kind nach seinem Bilde zu formen. Er war doch immer ein guter Vater und Ehemann gewesen. Hatte sich gekümmert und Schläge, die hatten doch noch keinem geschadet.

Doch diese freundlich aber energisch lächelnde Frau vom Jugendamt und die beiden

Polizeibeamten zeigten nur wenig Verständnis für die hervorgebrachten Einwände dieses Mannes, der in seinem fleckigen Unterhemd, mit vor der Brust gekreuzten Armen vor ihnen stand und

dessen schwerfällig ausgesprochene Worte durch eine Dunstwolke von Alkohol zu ihnen drangen.

So nahm dann diese nette Frau Thorsten bei der Hand, zog ihn mit sich fort, weg in ein besseres

Leben.

Thorsten, nein er zeigte keine Dankbarkeit. Er war verwirrt und ganz tief in sich spürte er Furcht. Eine Furcht, die sich auch in dieser Nacht, in diesem sauberen Bett, in diesem Saal mit all den

anderen Kindern nicht vertreiben ließ. So lag er da, starrte an die Decke des Kinderheimes, wohin man ihn verbracht hatte und beobachtete die tänzelnden Schatten, die durch das Fenster drangen und deren Finger nach ihm zu greifen schienen.

Auch in all den anderen Nächten konnte er nicht schlafen und nickte er doch einmal ein, so war sein Schlaf von bedrohlichen Albträumen durchtränkt, die ihn schweißgebadet aufschrecken ließen.

Thorsten, er blieb schwierig und undankbar. Mehrfach hatte man versucht, ihn in Pflegefamilien unterzubringen. Doch keiner war dazu in der Lage gewesen, diesem Kind seine Wut, seine

Aggressivität, seinen Trotz, sein Schweigen auszutreiben.

Im Gegenteil, Thorsten verschloss sich immer mehr und irgendwann begriff man, dieses Kind war eine Gefahr. Eine Gefahr für sich und seine Umwelt und niemand mochte sich ausmalen, welch Mensch er werden würde, hätte er erst einmal das Erwachsenenalter erreicht.

Dieses Kind musste unter allen Umständen gezähmt und gebrochen werden und so wurde er Teil eines Experimentes, welches erst vor kurzer Zeit von Doktor Kentler ins Leben und vom Berliner Senat für gut befunden wurde. Dieses Experiment, so erkannte man, schien die einzige Chance

Kinder, wie Thorsten eines war, erst zu beugen und dann zu brechen, so das sie schließlich zu

wertvollen Mitgliedern unserer Gesellschaft werden könnten.

Denn wenn auch niemand mit diesen widerspenstigen, ja, widerwärtigen Kindern

zurechtzukommen schien, so gab es sie doch, diese Männer deren Liebe zu Kindern grenzenlos war und die bereit waren, alles zu erdulden, nur um diesen Kindern ganz nahe sein zu dürfen.

Es war ein leichtes für die zuständigen Jugendämter die Namen und Adressen dieser Männer

herauszufinden und ihnen diese Kinder als Pflegekinder, für den üblichen Pflegesatz,

anzuvertrauen.

 

Die Dame vom Jugendamt lächelte Thorsten ermutigend an, als sie ihm seinen zukünftigen

Pflegevater vorstellte. Auch dieser lächelte, als er die Hand von Thorsten in die seine nahm, ihm sanft über den Kopf strich und versprach, dass sie sicher gut miteinander auskommen würden.

Thorsten, ja er ging mit diesem Mann mit. Nicht einfach so und nicht mit einem Herzen, welches angefüllt war mit vertrauen. Er ging mit, weil ihm nichts anderes übrig blieb und er keine andere Wahl hatte.

Die Dame vom Jugendamt saß immer noch lächelnd hinter ihrem Schreibtisch, während Thorsten und dieser Mann ihr kleines Büro verließen.

Zufriedenheit legte sich über ihr Gesicht, als sie noch einmal einen letzten Blick in die vor ihr

liegende Akte von Thorsten warf, bevor sie diese dann schloss und hinter sich, zu all den anderen erledigten Fällen einsortierte.

 

Meine Erzählung, sie endet hier.

Was aus Thorsten geworden ist, nachdem er mit diesem Mann fortging?

Ich kann und ich will mir dieses nicht ausmalen, denn auch wenn dieses Kind nur meiner Fantasie entsprungen ist, so gibt mir dieses doch nicht das recht, ihm seine Würde zu nehmen.

 

 

 

Nachwort

 

 

 

Helmut Kentler, geboren am 2. Juli 1928 in Köln, verstorben am 9. Juli 2008 in Hannover, war ein deutscher Psychologe, Sexualwissenschaftler und Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover.

Im Jahr 1969 begann sein Experiment, bei dem Minderjährige aus prekären sozialen Verhältnissen, er selbst nannte diese Kinder und Jugendlichen „Sekundärschwachsinnige“, mit Zustimmung des Berliner Senats und Hilfe der Jugendämter aus dem Raum Berlin, an entsprechend vorbestrafte

Pädosexuelle Männer als Pflegekinder zugeführt wurden. 

Zu diesem Zeitpunkt war Kentler als Abteilungsleiter des Pädagogischen Zentrum in Berlin tätig. 

Der sexuelle Missbrauch an diesen Kindern wurde dabei nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern war Teil des Konzepts, bei dem sich, Zitat Kentler: “... päderastische Verhältnisse sehr

positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können, vor allem dann, wenn der Päderast ein regelrechter Mentor des Jungen ist.“

Enden tat dieses „Experiment“ irgendwann zu Beginn der 2000er-Jahre.

Die Universität Hildesheim erhielt den Auftrag der Aufarbeitung dieser „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung.“

Ein vorläufiger Bericht wurde 2020 Vorgelegt. Dieser enthielt Hinweise darauf, dass auch

Jugendämter in anderen Bundesländern sowie wissenschaftliche Institutionen und

Fachgesellschaften in die Unterbringung von Pflegekindern bei Pädosexuellen involviert waren, was zur Folge hatte, dass die Universität Hildesheim den Auftrag zu weiteren Forschungen, die der Aufklärung und öffentlichkeitmachung eines, so wird vermutet, über Jahrzehnte gebildeten

Pädophilen Netzwerkes dienen.

Die Opferzahlen dieses Netzwerkes müssen in die Hunderte gehen.

Zwei der Opfer, die unerkannt bleiben wollen und sich selbst Marco und Sven nennen, wurden im Jahr 2021 finanziell entschädigt.

 

 

"Ich rate Eltern davon ab, zur Polizei zu gehen, wenn ihr Kind sexuell missbraucht worden ist. Hat man das Kind richtig erzogen, so kann es diesen Sexualkontakt sogar genießen."

Zitat Helmut Kentler

 

 

... Als ich sechs Jahre alt war, sagte der als Pflegevater getarnte Missbrauchstäter: „Das machen Söhne mit ihrem Papa so, wenn sie sich lieb haben.“

Die Vergewaltigungen, die sexuelle Versklavung und die Schläge zogen sich über Jahre hin ...

 

( Marko, geboren 1982, eines der Opfer des „Kentler Experiments“ auf Twitter: @Marco&Sven6)

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2022

Alle Rechte vorbehalten

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