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Der Abendkurs

 

 

 

 

 

 

 

Ein flüchtiger Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, ich war spät dran. Der Kurs sollte um 18 Uhr beginnen und nun war es schon kurz nach halb. Ich würde mich beeilen müssen.

Ich hatte lange überlegt, ob ich den Kurs überhaupt besuchen sollte. 200 Euro für einen einzigen Abend - das war nicht gerade ein Pappenstiel.

Dann dachte ich, wenn jemand schon einen so hohen Preis für eine so kurze Zeit verlangte, dann würde auch eine gehörige Portion Selbstvertrauen dahinter stecken und sicher könnte ich auch eine gewisse Qualität erwarten und außerdem ...

 

... Ja, außerdem kam ich nicht weiter. Schon seit vielen Jahren schrieb ich. Mehr als 40 Jahre müssten es jetzt schon sein. Doch das, was mich einmal zutiefst befriedigt hatte, war in der letzten Zeit leer und nichtssagend geworden.

Ich hatte schon des Öfteren daran gedacht, es einfach sein zu lassen und das Schreiben aufzugeben.

Ein paarmal hatte ich es in der Vergangenheit auch versucht und tatsächlich hatte sich auch ein Gefühl des Befreitseins eingestellt und Erleichterung darüber, kein Sklave der Buchstaben mehr sein zu müssen. Diese allerdings hielt niemals lange vor, denn irgendwann konnte ich nicht anders und musste unentwegt an all die Worte und Geschichten denken, die ich nun nicht mehr schreiben würde.

Das Schreiben und ich, wurde mir irgendwann bewusst, gehörten zusammen. Es war wie eine Droge, von der man nicht loskam und, das musste ich mir bald eingestehen, wollte ich auch nicht weg von ihr.

Trotzdem aber konnten meine eigenen Worte mich in letzter Zeit nicht mehr befriedigen. Ich hatte das Gefühl, immer dasselbe zu schreiben, auf der Stelle zu treten, ohne vorwärts zu kommen.

Ich fand keine neuen Worte mehr und so saß ich oft über die Tastatur gebeugt, der Cursor blinkte, und anstatt zu schreiben lauschte ich nur meinen Gedanken. Es gab so viele davon, die, unkontrolliert und wahllos, meinen Kopf durchpflügten. Gedanken, die sich mit meinen Gefühlen mischten, dann wieder auseinander drifteten, sodass ich sie nicht greifen konnte, wenn ich es auch noch so sehr versuchte.

Irgendwann hatten sich die Seiten dann doch mit Buchstaben und ganzen Sätzen gefüllt und irgendwann schaffte ich es auch, den letzten Punkt zu setzen.

Doch wenn ich dann durchlas, was ich geschrieben hatte, wusste ich, dass es nicht das war, was ich sagen wollte und so blieb dann auch dieses Glücksgefühl aus, welches ich früher immer empfunden hatte, wenn ich eine neue, von mir verfasste Erzählung vor mir liegen sah.

Dann las ich diese kleine Anzeige in der Zeitung. Ganz hinten, auf einer der letzten Seiten stand sie und beinahe hätte ich sie übersehen.

"Kreatives Schreiben für angehende Autor:/innen. Dreistündiger Abendkurs, Teilnehmerzahl begrenzt, wir bitten deshalb um frühzeitige Buchung."

Darunter eine Telefonnummer.

Hatte ich etwas zu verlieren?

Ich rief die angegebene Nummer an und eine freundliche Stimme am anderen Ende nannte mir Termin, Preis, Bankkonto und bat mich, als Teilnehmer doch bitte ein paar meiner besten Geschichten für diesen Abend mitzubringen.

Das war es auch, warum ich nun so spät dran war. Bis zum letzten Augenblick hatte ich überlegt, welche meiner Erzählungen ich in die dünne Mappe legen würde. Was war das Beste, was ich je geschrieben hatte?

Aber das Schlimmste war, dass ich mir die Frage stellen musste, ob es sie überhaupt gab - gute Geschichten von mir.

 

Gut, dass es nicht allzu weit war. Ich zog meine Jacke an, klemmte mir die Mappe unter den Arm und stand auch schon draußen vor der Tür. Es regnete und als ich den Gehsteig entlanghastete kamen mir nur wenige Menschen entgegen.

Noch dort vorne die Treppe, welche unter der S-Bahn hindurch führte hinunter und dann auf der anderen Seite wieder hinauf, dann schnell noch die Straße überqueren, ein paar weitere Meter laufen und schon war ich da.

Die ehemals weiß gestrichene, hölzerne Tür, deren Farbe schon am Abblättern war, wirkte wenig einladend. Kein Hinweis deutete darauf hin, dass ich mich wirklich an der richtigen Adresse befand. Aber ich war mir sicher, dass ich mich nicht geirrt hatte. Ich war hier, an diesem Gebäude unweit der S-Bahn-Station, schon des Öfteren vorbeigekommen und wusste, ganz früher hatte sich einmal die Post darin befunden. Danach stand es eine Weile leer und irgendwann beheimatete es für wenige Monate eine Agentur, welche Leiharbeitskräfte vermittelte. Danach hatte es wieder leer gestanden. Bis jetzt.

Man hatte es wohl noch nicht geschafft, sich um einen ordentlichen Hinweis für etwaige Besucher zu kümmern. Oder erachtete dieses auch nicht für notwendig.

Ich suchte nach einer Klingel, fand diese aber nicht. So drückte ich die Klinke herunter und war froh darüber, feststellen zu können, dass sich die Tür einfach öffnen ließ.

Es war still in dem kleinen Flur, auf dem ich mich nach meinem Eintreten befand, aber das Licht war eingeschaltet.

Ich schaute wieder auf meine Armbanduhr - immer noch kurz nach halb. Verdammt, sie musste wohl stehen geblieben sein.

War ich zu spät?

Ich ging ein paar Meter den Flur entlang. Graues Linoleum, graue Wände, die nur hier und da mit einigen Bildern verziert waren, die wirkten, als hätte sie jemand aus einem Kalender ausgeschnitten - Frühlingswiesen, ein paar historische Gebäude, das Bild eines mir unbekannten Flusses.

Einige der Bilder hingen schief und alle waren nur mit Reißzwecken an die Wände gepinnt.

Dieser Flur, der Boden, auf dem ich nun in langsamen Schritten vorwärts ging, die Wände, alles wirkte kühl, irgendwie schmutzig und wenig einladend auf mich.

Rechts von mir sah ich eine Tür, auf die ich zusteuerte. Sie war nur angelehnt. In der Hoffnung, in dem Raum dahinter irgendjemanden anzutreffen, drückte ich diese vorsichtig auf.

Auch dieses Zimmer war beleuchtet und ebenso unfreundlich, wie es der Flur war - graues, schon abgetretenes Linoleum. An den weiß getünchten Wänden ebensolche Bilder, wie ich sie auch schon auf dem Flur gesehen hatte. Die Zimmerdecke war fleckig und in einer der Ecken sah ich ein kleines, aber auffälliges, staubiges Spinnennetz.

Kleine quadratische Tische standen herum, waren angeordnet wie in einer Schulklasse. Zehn oder zwölf mussten es wohl sein und hinter jedem Tisch stand ein Stuhl. Auch die Tische und Stühle wirkten alt. Die ehemals braun gestrichenen Tischplatten zeigten deutliche helle Stellen, an denen sich wohl schon ganze Generationen von Schülern abgearbeitet hatten. Ähnlich sahen die Stühle aus, von denen ich wusste, ohne dass ich mich erst auf einen von ihnen niederlassen musste, dass sie unbequem waren. Mir gegenüber, an der Stirnwand des Raumes, stand ein ausladender Schreibtisch, ebenfalls alt und abgenutzt.

Dieser Raum wirkte auf mich, als hätte ich soeben ein Museum betreten, in dem, wahrscheinlich zur Abschreckung, ein Klassenraum aus den 50er-Jahren ausgestellt war.

Wieder warf ich einen Blick auf meine Uhr, die, als hätte ich es nicht geahnt, immer noch wenige Minuten nach halb anzeigte.

Meine Augen durchwanderten das Zimmer und ich fragte mich gerade, ob ich hier wohl richtig war, als mein Blick einen der Tische traf, auf dem ein zusammengefalteter Zettel einen Namen zeigte. Ich ging ein wenig weiter, trat an den Tisch heran und erkannte, dass es mein Name war, der dort, in schwungvoller Handschrift auf dem Zettel stand.

Dies musste folglich wohl mein Platz sein.

Es ärgerte mich, dass ich nicht wusste, wie spät es war. Gleichzeitig breitete sich in mir ein mulmiges Gefühl aus, denn ich erkannte, dass nur auf diesem einen Tisch ein Zettel mit einem Namen lag. Sollte ich vielleicht wirklich der einzige Teilnehmer sein?

Der Gedanke bereitete mir Unwohlsein, denn innerhalb einer Gruppe, dachte ich, wäre ich etwas geschützt und würde mich vielleicht nicht ganz so leicht blamieren können.

Mein erster Impuls war, einfach wieder zu gehen. Doch dann kam mir das Geld in den Sinn, welches ich bezahlt hatte, und vor allem dachte ich an die vielen leeren Seiten, für die ich keine Worte mehr fand.

So legte ich meine Mappe, die ich immer noch unter meinen Arm geklemmt bei mir trug, auf die Tischplatte, zog meine Jacke aus und setzte mich.

Eine Weile saß ich einfach so da, starrte auf die Tür, durch die ich gerade noch gekommen war und wartete, während meine Finger mit einer der Ecken meiner Mappe spielten, diese umknickte, wieder gerade bog, nur um sie sogleich wieder umzubiegen. Ich war nervös und horchte in mich hinein. Dieses komische Gefühl in meinem Magen fühlte sich schon fast wie Furcht an. Wieder war ich am Überlegen, ob ich nicht doch lieber aufstehen und gehen sollte, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.

"Da bist Du ja endlich!", rief mir die imposante Erscheinung entgegen, als sie mit weit ausholenden Schritten den Raum betrat.

"Ich dachte, du hättest es dir vielleicht anders überlegt und würdest überhaupt nicht mehr kommen. Aber na ja, jetzt bist du ja da und es kann losgehen!"

Ich traute meinen Augen nicht, nein, das musste alles ein Traum sein! War ich vielleicht hier, während des Wartens, einfach eingeschlafen?

Diese Erscheinung … ich glaubte sie zu kennen: sein weißer Anzug, der ebenfalls weiße Hut mit der breiten Krempe, der Mann, dessen Präsenz respekteinflößende Ehrfurcht einforderte, egal wo er auch immer erschienen war. Ja, erschienen war. Denn, wenn er es wirklich war, lebte er schon lange nicht mehr. Hatte sich, aus der Verzweiflung heraus, nicht mehr schreiben zu können, den Revolver an den Kopf gesetzt und abgedrückt.

Schnell ging er, den ich zu kennen glaubte und doch nicht kennen konnte, in Richtung Schreibtisch, stellte dann eine braune, abgeschabte Aktentasche darauf ab, öffnete diese, wühlte ein wenig darin herum und zog dann ein Trinkglas hervor, welches er auf die Tischplatte stellte. Einen Augenblick später zog er eine Flasche aus derselben Tasche hervor und auch ohne dass ich das Etikett lesen konnte, wusste ich, dass diese bernsteinfarbene Flüssigkeit Whisky war.

Er öffnete die Flasche, goss dann einen kleinen Schluck der goldfarbenen Flüssigkeit in das Glas, zögerte einen Moment und goss einen weiteren, größeren Schluck hinterher. Nahm dann das Glas in die Hand, hielt es gegen das Licht, lächelte ein wenig, setzte es an den Mund und kippte den kompletten Inhalt in einem Zug hinunter.

Danach strich er sich, sichtlich befriedigt, mit der einen Hand durch seinen kräftigen, schon ergrauenden Vollbart und dann, als wäre ihm soeben erst wieder eingefallen, dass es mich auch noch gab, wandte er sich zu mir und meinte mit kräftiger, ja fast dröhnender Stimme: "Entschuldige, aber das brauchte ich jetzt."

Noch ehe ich irgendetwas antworten konnte, redete er auch schon weiter.

"Du willst also Schreiben lernen? Willst ein richtiger Schriftsteller werden, was?"

Ich starrte ihn weiterhin an. Ihm einfach mit einem „Ja“ zu antworten, traute ich mich nicht, denn neben ihm konnten nur wenige bestehen und eine zustimmende Antwort wäre mir wie selbstgefällige Überheblichkeit vorgekommen. So nickte ich nur mit dem Kopf und kam mir dabei ziemlich dumm vor.

"Nun", meinte er, "das ist ziemlich einfach, man muss nur die falschen Worte weglassen."

Und dann, wieder mit seinem dröhnenden Lachen, fügte er hinzu: "Ich kann mich heute noch darüber ärgern, dass mir dieser Spruch nicht selbst eingefallen ist. Die Leute kamen immer mit so dummen Fragen. Jeder wollte von mir wissen, wie ich das eigentlich mache, das Schreiben meine ich, und woher ich meine Ideen nehme. Der Spruch hätte sie vielleicht, zumindest für eine kleine Weile, ruhig gestellt."

Ich wusste, von wem dieses Zitat stammt, und so hörte ich mich selbst leise sagen: "Twain" und gleich darauf ein wenig lauter: "Das Zitat stammt von Mark Twain".

"Ach", antwortete er, "du bist wohl ein ganz Schlauer, was? Und warum starrst du mich eigentlich die ganze Zeit so an?"

Sollte ich ihm das wirklich sagen? Aber das war doch absurd! Sicherlich würde er mich auslachen und für einen Idioten halten. Aber dann, so dachte ich, dieses alles konnte nur ein Traum sein und so war es doch völlig gleichgültig, was ich nun sagen würde. Spätestens wenn ich wieder erwachte, war, was immer ich auch jetzt antworten würde, nicht mehr existent. So fasste ich all meinen Mut zusammen und antwortete ihm: "Aber Sie sind doch tot!"

"Tot?" Wieder erklang sein dröhnendes Lachen, jetzt aber eine Spur höhnischer.

"Tot? Ja sicher bin ich tot. Aber das ist doch nur ein Detail. Warum sich daran festhalten?"

Ich glaubte es nicht, vor mir stand wirklich Ernest Hemingway und machte sich über mich lustig. Ich spürte, dass mein Unwohlsein in der Zwischenzeit völlig abgeklungen war und ich fühlte auch etwas anderes in mir, so etwas wie Trotz, aber auch immer noch eine Spur Zweifel.

"Sie können nicht hier sein. Tote können nicht sprechen und erst recht keinen Unterricht geben. Egal, wie viel Sie auch immer über das Schreiben wissen mögen. Vielleicht sollte ich aber besser sagen, gewusst haben."

"Du machst schon wieder denselben Fehler", grinste mich Hemingway an. "Immer macht ihr die gleichen Fehler".

"Fehler?", fragte ich. "Welche Fehler und wer ist ihr?"

"Na ihr, alle die ihr euch einbildet, Schriftsteller zu sein, oder euch in den Kopf gesetzt habt, dies zu werden. Immer macht ihr dieselben Fehler!“

Ich schaute ihn fragend an und so fuhr er fort: „Ihr haltet euch einfach viel zu viel bei Details auf. Das langweilt und ermüdet die Leser nur."

"Ach", meinte ich, "woher wollen Sie wissen, ob ich diese Fehler auch mache? Sie haben doch noch nie etwas von mir gelesen."

Und mit diesen Worten griff ich nach meiner Mappe, die immer noch neben mir auf dem Tisch lag, und schob sie nur wenige Zentimeter in seine Richtung.

Einen Moment folgten seine Augen meiner Bewegung, doch dann winkte er ab.

"Lass mal sein, ich habe schon so vieles in meinem Leben gelesen und das meiste davon war ausgemachter Unsinn!"

Ich ließ meine Hand auf der Mappe liegen. Nun war ich wirklich ärgerlich. Ja, ich war vielleicht kein guter Schriftsteller, aber sich zu erdreisten mir dieses Zeugnis auszustellen, ohne je etwas von mir gelesen zu haben, nein, das konnte ich nicht dulden und keinesfalls auf mir sitzen lassen.

Ich wollte, dass er las, was ich in den vergangenen Jahren geschrieben hatte. Doch anstatt auf meine Bitte, die eher einer Aufforderung glich, einzugehen, goss er sich den nächsten Whisky ein, schluckte diesen herunter und begann in seiner Aktentasche zu wühlen und ich konnte sehen, dass seine Hand mit einem Buch aus dieser wieder auftauchte.

Mit dem Buch in der Hand kam er dann auf mich zu.

"Kennst du das?", fragte er und streckte mir das Buch entgegen. Ich nahm es in meine Hand, erkannte den Titel und antwortete: "Natürlich kenne ich das. Jeder kennt es!"

"Es ist gut, nicht wahr?"

Nun, ich musste zugeben, dass es das war. Nicht umsonst hatte ihm dieses den Nobelpreis eingebracht.

"Der alte Mann darin, das bin ich. Das Meer, das ist das Leben und dieser Fisch, stellt all die Träume dar, die sich nicht erfüllten."

"Ich weiß", meinte ich. "Es ist ja genug über das Buch berichtet worden."

"Und, wenn du das weißt, dann weißt du sicher auch, warum diese Geschichte so gut ist?"

Ich schwieg. Wollte er, dass ich ihn nun beweihräucherte, meine Bewunderung ausdrückte? Oder wollte er eine ehrliche Antwort von mir? Und selbst wenn, was sollte ich ihm sagen? Natürlich, jeder kannte dieses Buch. Ohne Zweifel, es war ein Meisterwerk. Aber war es nur gut, weil die Geschichte gut war, oder wegen seiner Symbolkraft, oder vielleicht, weil sich jeder, der es las, in dieser Erzählung wiederfinden konnte?

Er nahm mir die Antwort ab, indem er sagte: "Weißt du, warum dieses Buch gut ist? Es ist so gut, weil ich nicht denselben Fehler machte wie die meisten anderen ihn immer und immer wieder machen. Details, mein Junge, es sind die Details und das völlige Weglassen derselben. Eine Geschichte wird nicht dadurch gut, weil man ihr nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn es nichts mehr gibt, was man weglassen könnte. Und, verdammt, dieser Spruch ist schon wieder nicht von mir!"

"Antoine de Saint-Exupéry", flüsterte ich.

"Nun", murmelte er, "von wem auch immer. Aber merk ihn dir!"

Dann drehte er mir den Rücken zu und schritt eilig wieder zum Schreibtisch. Dort angelangt nahm er die Flasche Whisky, öffnete seine Aktentasche, ließ die Flasche darin verschwinden und nach kurzer Zeit folgte auch das Glas.

Ein letztes Mal wandte er sich an mich. "Das ist alles, was ich dir beibringen kann. Aber ich warne dich davor, es zu vergessen und noch mehr davor, es nicht zu beherzigen. Meine Kollegen werden dir sicher auch nichts anderes sagen."

Damit lupfte er seinen Hut ein paar Zentimeter, hob zum Abschied eine Hand, nahm seine Aktentasche vom Schreibtisch und schon war er durch die Tür verschwunden.

Kollegen?“ dachte ich, „welche Kollegen?“

Ich brauchte nicht weiter nach einer Antwort suchen, denn nach nur wenigen Augenblicken trat ein Herr in den Raum. Ja, ein Herr, anders ließ er sich nicht beschreiben. Schlank war er, ein wenig untersetzt, mit dunklem, fast schwarzen Haar und einem ebenfalls dunklen Schnurrbart. Auch seine tiefliegenden Augen, die dunklen Ringe die sich darunter gebildet hatten und das Gesicht, das eingefallen und krank wirkte, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ansonsten eine sehr gepflegte Erscheinung war.

Auch ihn kannte ich, doch in der Zwischenzeit hatte ich aufgehört, mich darüber noch zu wundern.

Er wirkte fast schüchtern, als er in den Raum trat, dann wenige Meter vor mir stehen blieb und sich mit einer angedeuteten Verbeugung vorstellte.

"Gestatten, Poe. Edgar Allan Poe."

Ich nickte ihm zu und unwillkürlich hatte ich das Gefühl, jetzt aufstehen zu müssen, mich von meinem Platz zu erheben und ebenfalls zu verbeugen. Als hätte er meine Gedanken erraten gemahnte er mich mit einer Handbewegung, sitzen zu bleiben.

Dann schritt er ein paar Mal vor mir auf und ab. Seine Bewegungen waren dabei zögerlich und so, als würde er vor jedem Schritt erst überlegen müssen, ob er wohl das Richtige tat. Dann wandte er sich wieder mir zu, deutete auf meine Mappe und fragte: "Sie haben etwas mitgebracht?"

Ich spürte, seine Frage war nicht als solche gedacht, sondern eine Aufforderung, ihm meine Mappe zu reichen. Trotzdem aber setzte er "Darf ich es sehen?“ hinzu.

Ich reichte ihm meine Mappe. Er stellte keine weiteren Fragen, öffnete diese und begann zu lesen.

In nichts waren meine Erzählungen ähnlich den seinen, also konnte er dann überhaupt beurteilen, ob das, was er da las, gut oder schlecht war?

Während ich mir diese Frage stellte, schaute ich ihn an. Beobachtete, wie er eine Seite las, dann die nächste. Dann überblätterte er einige Seiten und vertiefte sich wieder in die Worte.

Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er von dem, was ich geschrieben hatte, hielt. Es schien fast, als wäre er selbst nur der Zuschauer und als würde er als solcher jemanden beobachten, der gerade dabei war eine Geschichte zu lesen. Keine Regung vermochte ich seinem Gesicht zu entnehmen. Dabei hatte ich so sehr gehofft, zumindest eine klitzekleine Bewegung zu sehen - ein Stirnrunzeln vielleicht, ein kurzes Lächeln oder den Hauch einer Zustimmung.

Dann klappte er meine Mappe wieder zu und legte sie zurück auf meinen Tisch. Noch immer schaute ich ihn gespannt und hoffnungsvoll an. Einen Moment betrachtete er mich und meinte dann: "Ihren Erzählungen fehlt etwas." Und anders als bei Hemingway wusste ich sofort, was er damit sagen wollte.

"Ja, ich weiß", antwortete ich und fragte mich im gleichen Augenblick, warum ich eigentlich flüsterte.

"Ihren Worten fehlt die Melodie", meinte er dann und wieder konnte ich nur mit einem "Ja, ich weiß" antworten.

Ich wusste genau, was er mir sagen wollte. Er war ein Meister darin, mit seinen Erzählungen nicht nur die Menschen zum Erschauern zu bringen, denn seine wirkliche Begabung bestand darin, die richtigen Worte zu finden - dem Bedrohlichen in seinen Geschichten auch die Dunkelheit des Wortklangs anbei zu stellen und dort, wo es Hoffnung und Wärme gab, die Worte leicht und leuchtend zu wählen. Das war es, was es so schwierig, ja fast unmöglich machte, seine Erzählungen in andere Sprachen übersetzen zu können und das war es, was ihn zu einem Genie hat werden lassen.

Fragend schaute ich ihn an. "Wie findet man diese Worte?"

"Ihre Sprache ist so gewaltig, so reich an Begrifflichkeiten und Umschreibungen, so unendlich reich an Worten, dass es doch eigentlich ein Leichtes sein müsste, diese selbst zu finden", meinte er.

"Aber ... ", wollte ich einen Einwand vorbringen.

"Kein Aber - lernen Sie sprechen! Lernen Sie Ihre Sprache wirklich verstehen. Lernen Sie Worte. Erweitern Sie Ihren Sprachschatz und lesen Sie, lesen Sie viel. Doch lernen Sie nicht einfach. Sie müssen auch zuhören, dem Klang der Worte lauschen und dann, wenn Sie nur geduldig genug sind, werden Sie Ihre eigene Melodie aus diesen Worten komponieren können."

Einen Moment schauten wir uns an. Ich wusste, dass er Recht hatte, aber ich wusste auch oder ahnte zumindest, dass mir das niemals gelingen würde. Nicht so, wie es ihm gelungen war.

Seine Erzählungen waren Symphonien, während die meinen, selbst wenn ich seinen Rat befolgte, wohl immer nur einfache Kinderlieder bleiben würden.

Eine Weile stand er schweigend vor mir. Wir schauten uns an und ich ahnte, dass er lesen konnte, was in meinem Kopf vorging.

Einen Augenblick noch, dann verabschiedete er sich von mir. Wieder diese nur angedeutete Verbeugung.

"Das ist alles was ich Ihnen beibringen kann. Vergessen Sie es nicht und verzweifeln Sie nicht, denn auch kleine Melodien können ein Herz rühren."

Ich schaute ihm lange hinterher und starrte immer noch auf die Tür, durch die er verschwunden war, als auch schon der nächste meiner Lehrer eintrat.

Ich kannte nur ein einziges Bild von ihm: - die hohe Stirn, darunter Augen, die einen ansehen und doch durch einen hindurchzuschauen schienen, - ein Blick, als würde dieser nicht von einem Menschen stammen, sondern als würde die ganze Welt zugleich auf einen herunterschauen, aus Augen, die schon Vieles gesehen hatten, doch nur Weniges davon war gut gewesen, - seine dünnen Lippen, mit einem Hauch Zynismus, den auch sein dunkler Bart nicht verdecken konnte.

Er sah genauso aus, wie das Abbild, welches schon vor langer Zeit irgendein Maler von ihm geschaffen hatte und ich fragte mich gerade, ob es dieser Maler war, der ihn so gut getroffen hatte oder ob er, Dostojewski, sich im Laufe der Zeit dem Bild angeglichen hatte, als er mich mit überraschend leiser Stimme ansprach.

"Entschuldigen Sie, aber ich habe nicht allzu viel Zeit. Ich würde deshalb vorschlagen, wir lassen die Formalitäten beiseite und kommen gleich auf den Punkt."

Ich konnte nicht antworten, mein Mund war viel zu trocken, als dass Worte aus ihm hätten dringen können. Ob er wohl wusste, wie sehr ich ihn bewunderte?

So nickte ich nur und er, ohne eine weitere Frage zu stellen, griff nach meiner Mappe und es war seltsam, aber obwohl beide keinerlei Ähnlichkeit miteinander hatten musste ich unwillkürlich an Edgar Allan Poe denken, denn auch Dostojewski stand einfach so da, blätterte, las hier und da ein kleines Stück, blätterte dann weiter und sein Gesicht blieb leer und ausdruckslos.

Ich erwartete kein Urteil von ihm und er war wohl viel zu rücksichtsvoll, um mir dieses zu geben. Alles, was ich je geschrieben hatte, konnte neben seinen Werken nur untergehen.

Vorsichtig, so als könnte er zerstören, was er eben noch in der Hand gehalten hatte, legte er meine Mappe wieder neben mir auf den Tisch. Dann schaute er mich an und mit ebenso leiser Stimme, mit der er sich vor wenigen Augenblicken vorgestellt hatte, sagte er: "Es ist die Angst, mein Freund, die Angst, die Ihnen fehlt. Ich rede nicht von Furcht, nicht von einem kurzen Erschrecken oder Unbehagen. Ich rede von nackter, panischer Angst. Angst, gepaart mit Verzweiflung, aus der es keinen Ausweg gibt."

Ja, auch bei seinen Worten wusste ich genau, was er meinte. Ich kannte fast seine komplette Lebensgeschichte und so wusste ich auch um seine Anfänge und das, was ihn schließlich all diese faszinierenden Werke schreiben ließ.

"Alles, was ich je schrieb, entspringt dieser Angst", sprach er weiter und mir schien fast, als wären diese Worte nicht an mich gerichtet, sondern vorwurfsvoll und anklagend gegen die Welt.

"Ich hatte mich nur mit ein paar Freunden getroffen", sprach er weiter. "Nur ein paar Texte hatten wir uns gegenseitig vorgelesen, um anschließend darüber zu diskutieren. Wenn man uns überhaupt einen Vorwurf machen konnte, war es, dass wir wussten, dass diese Texte politisch nicht gewollt waren. Aber wir, meine Freunde und ich, wollten niemals eine Revolution anzetteln. Ja gewiss, wir stellten vieles in Frage und lehnten auch einiges ab, aber durfte das schon Grund genug sein, uns zum Tode zu verurteilen?"

Er erwartete keine Antwort von mir, sah mich aber fast vorwurfsvoll an und sprach weiter. "Hochverrat, hieß es, Hochverrat hätten wir begangen! Wie lächerlich und absurd das doch war! Aber dann fand ich mich wieder, stand neben meinen Kameraden, hörte das Urteil und wir wussten alle, dass wir nur noch wenige Augenblicke zu leben hatten.

Wie meinen Freunden wurde auch mir ein Sack über den Kopf gezogen und auch wenn es vielleicht unwahrscheinlich scheinen mag, ich sah durch das Tuch dieses Sackes so klar und deutlich alles, was um mich herum geschah, als hätte erst dieser Sack meine Sinne geschärft. Die Zeit war nicht mehr existent. Sie verlor in diesen Augenblicken ihre Bedeutung und ich könnte heute noch nicht mit Gewissheit sagen, waren es Sekunden, Minuten oder Stunden, die ich dort stand und nur diese Angst in mir fühlte. Niemals zuvor in meinem Leben fühlte ich mich so lebendig! Und das sollte nun alles einfach zu Ende sein, fortgewischt durch eine einzige Kugel, die mich gleich, in jedem Augenblick treffen würde?

Ich sah ganz deutlich, wie die Gewehre angelegt wurden, hörte das Klicken des Entsicherns, schaute in die Augen derer, die mich und meine Kameraden anvisierten und alles, was ich fühlen konnte, war diese Angst, die mich nur äußerlich lähmte. Denn in meinem Innersten rauschte mein Blut, bäumte sich alles gegen das Unausweichliche auf und neben all meiner Angst begriff ich erst, was Leben zu dürfen wirklich bedeutete."

Ja, ich wusste das alles, wusste von seiner Begnadigung im letzten Augenblick, von den vier Jahren Arbeitslager, zu denen man ihn stattdessen verurteilte und dass auch diese Zeit in all seinen Werken wiederzufinden ist. Ich wusste auch von seiner Angst, aber hatte ich je Ähnliches gefühlt?

Musste es denn unbedingt Angst sein, welche einen den Rest seines Lebens fest in ihren Krallen hält, um ein guter Schriftsteller zu werden? Könnte es stattdessen nicht auch Liebe sein? Ich wusste die Antwort nicht, ahnte aber, dass auch die Liebe nicht ohne Angst existieren konnte.

Tief in meine Gedanken versunken hatte ich nicht bemerkt, dass Dostojewski schon längst den Raum wieder verlassen hatte. Dabei hätte ich noch so viele Fragen an ihn gehabt, denn tief in meinem Innersten fühlte ich, dass all das, was ich von ihm schon gelesen hatte, nicht nur der Angst entsprungen sein konnte. Und ich fragte mich gerade, ob es, neben der durchlittenen Angst, nicht doch auch Liebe war, als ich auch schon aus meinen Gedanken aufgeschreckt wurde.

Boris Vian! Hätte ich daran zweifeln können, dass auch er hier auftauchen würde, auftauchen musste?

Ach, wie liebte ich seine Geschichten und ach, wie sehr hasste ich sie auch gleichzeitig!

"Der Schaum der Tage", „Der Herzausreißer", „Ich werde auf eure Gräber spucken“ und all die anderen Erzählungen, die mich oft genug anzogen und doch auch ebenso oft abstießen.

"Boris mein Name", stellte er sich bei mir vor. "Boris Vian, zumindest gelegentlich und auch nur dann, wenn es mir gefällt."

Dabei grinste er mich breit an und wirkte in diesem Moment fast wie ein kleiner Junge und nicht wie der erwachsene Mann, der er war. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er nicht besonders alt geworden war und sich deshalb einen Teil seines Kindseins bewahren konnte. Den Teil, den erst das Alter einem rauben kann.

Jetzt stand er vor mir, lächelte auf mich herab und auf seiner hohen Stirn konnte ich ein paar wenige Schweißtropfen erkennen. So, als hätte er es ganz besonders eilig, oder wäre gerade erst, just in diesem Moment, von der Bühne gesprungen, hätte eilig seine Trompete beiseite gelegt, weil ihm gerade eingefallen war, dass es da ja noch einen Schüler zu versorgen gäbe.

Ich wollte ihm meine Mappe reichen, doch auch er wollte sie nicht sehen.

"Weißt du", meinte er, "was soll ich dir schon beibringen? Du kennst all meine Erzählungen und heute, wo ich nicht mehr am Leben bin, hat keiner Zweifel daran, dass diese gut sind. Aber damals hat man viele von ihnen verrissen und gehasst und soll ich dir mal ein Geheimnis verraten?"

Und ohne eine Antwort von mir abzuwarten, fuhr er auch schon fort: "Einmal, das war, als ich in Paris noch für die Zeitung gearbeitet habe, sollte ich eine meiner eigenen Erzählungen kritisieren. Ich hatte diese natürlich unter einem ganz anderen Namen veröffentlicht, sodass niemand wissen konnte, dass ich dahinter steckte. Und soll ich dir mal sagen, was ich gemacht habe?"

Wieder wartete er nicht auf eine Antwort. Ich fragte mich gerade, ob diese, einstmals so großen Schriftsteller, eigentlich nicht begriffen, dass sie schon längst gestorben waren und man in der Zwischenzeit alles, aber wirklich alles über sie wusste? Und natürlich, auch ich wusste, was er damals, als Kritiker, gemacht hatte. Ich wollte ihm aber den Spaß nicht vergällen, mir seine Eulenspiegelei vorzutragen. So wartete ich ab, dass er weitersprach.

"Zerrissen habe ich die Erzählung, in der Luft zerfetzt. Über den Autor habe ich mich lustig gemacht, habe ihn einen Schmierfinken und Dilettanten geschimpft!"

Und während er mir das erzählte, klatschte er vor Freude in die Hände.

"Und soll ich dir mal was sagen?", richtete er schon wieder eine rhetorische Frage an mich. "Wenn mein Buch es auch nicht war, meine Kritik war es jedenfalls - ein voller Erfolg!" Dabei lachte er, den Kopf in den Nacken gelegt und klatschte, wie zur Unterstreichung seiner Worte wieder ein paar Mal in die Hände.

"Wie soll ich dir also etwas beibringen?", meinte er dann. "Die Leute, zumindest die meisten von ihnen, mochten meine Geschichten nicht. Sie verstanden sie nicht. Wenn ich dir also überhaupt irgendeinen Tipp geben kann, dann diesen, den Menschen erst einmal Verstand zu schenken, bevor du ihnen etwas zu lesen gibst", grinste er mich an.

"Nun", sprach er dann weiter, "das ist wohl ein unsinniges, weil nicht zu realisierendes Unterfangen. Aber damit du wenigstens etwas von mir lernst und ich nicht ganz umsonst hergekommen bin, will ich dir doch noch etwas auf den Weg mitgeben: Spiele mit dem, was du siehst, höre zu, was die Menschen um dich herum sagen und führe es ins Absurde. Das Leben ist nicht wirklich greifbar, es hat keine Erklärungen und beantwortet keine Fragen. Es ist surreal und absurd und genau das ist es, was sich in deinen Geschichten wiederfinden muss. Warte nicht darauf, dass dir das Leben erst seine Absurdität beweist, beweise du dem Leben wie absurd und unmöglich es ist und dann lacht beide darüber!"

Da stand er vor mir, grinste mich an und ich wusste nicht, sollte ich das, was er mir da gesagt hatte wirklich ernst nehmen? Und wenn, würden mich die Menschen nicht genauso verlachen, wie es viele seinerzeit mit ihm getan hatten?

"So", unterbrach er meine Gedanken. "Jetzt muss ich aber wirklich los. Ich habe noch ein Konzert vorzubereiten und mir schwirrt da seit Tagen schon so eine Melodie im Kopf herum, die ich unbedingt zu Papier bringen muss und dann dieser Liedtext, bei dem ich irgendwie nicht weiterkomme. Also du siehst, ich habe wirklich keine Zeit mehr!"

Und mit diesen Worten war er auch schon verschwunden.

Ich saß da, schaute wieder auf meine Uhr, die mir natürlich immer noch die falsche Zeit anzeigte.

War es das? Hatte ich wirklich etwas gelernt und wenn ja, was?

War denn nicht alles voller Widersprüche und wem sollte ich in Zukunft folgen, wessen Rat annehmen?

Plötzlich schaute ein Mann durch die Tür ins Zimmer. Fast fühlte ich so etwas wie Enttäuschung in mir, als ich feststellte, dass mir dieses Gesicht gänzlich unbekannt war.

"Oh, gut, dass ich Sie noch antreffe", sagte der schon etwas ältere Herr. "Ich hatte schon die Befürchtung, Sie könnten mittlerweile gegangen sein."

Mit diesen Worten betrat er den Raum und kam direkt auf mich zu. In seiner Hand trug er eine Mappe, ganz ähnlich der meinen.

"Diese soll ich Ihnen noch geben", meinte er, als er sie mir entgegen hielt. Ich nahm sie und er setzte noch hinzu: "Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie darin alles finden werden, was Sie zum Schreiben benötigen."

Ich dankte ihm und wusste in diesem Augenblick, dass es wohl auch bedeutete, dass dieser Kurs nun zu Ende sei. Langsam erhob ich mich von meinem Platz, nahm meine Jacke, die immer noch auf der Stuhllehne hinter mir hing, griff dann nach den beiden Mappen und wollte mich schon verabschieden, als mir der ältere Herr mitteilte, dass er mich bis zur Tür begleiten würde.

"Wissen Sie, dann kann ich gleich hinter Ihnen abschließen."

 

Es nieselte noch leicht, als ich auf die menschenleere Straße trat.

Diesmal musste ich mich nicht beeilen und so trat ich, völlig in Gedanken versunken, meinen Heimweg an.

Zu Hause angekommen, setzte ich mich an meinen Schreibtisch. War das, was ich erlebt hatte wirklich real? Träumte ich vielleicht immer noch und wann würde ich aus diesem Traum erwachen? Oder war ich vielleicht schon erwacht und hatte es nur nicht bemerkt?

Und diese Mappe, die mir der ältere Herr gegeben hatte. Gab es sie wirklich, lag sie so, wie ich sie jetzt in diesem Augenblick vor mir sah, tatsächlich neben meiner eigenen auf dem Schreibtisch, oder war das immer noch ein Teil meines Traumes?

Ich streckte meinen Arm aus, griff nach dieser Mappe und schlug sie auf. Eine um die andere Seite blätterte ich um, doch nichts anderes als lauter weiße und unbeschriebene Blätter waren darin.

Was hatte dies zu bedeuten, oder war es gar ein Irrtum?

Ich wusste es nicht, fand keine Antwort.

Nach einer Weile schob ich die Dinge auf meinem Schreibtisch beiseite, griff dann nach meinem Füllfederhalter und begann die ersten Worte zu schreiben ...

 

... Ein flüchtiger Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass ich spät dran war. Der Kurs sollte um 18 Uhr beginnen und nun war es schon kurz nach halb. Ich würde mich beeilen müssen ...

 

Die ganze Nacht über hatte ich geschrieben. Ich hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verstrichen war und erst, als vor meinem Fenster die Sonne langsam den Horizont berührte, legte ich den Stift aus der Hand.

Ich war müde, fühlte mich erschöpft und meine Schultern taten mir weh. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das ich so lange vermisst hatte und vor dem ich mich nun, wo es sich wieder bemerkbar machte, fast erschreckte - da war dieses Gefühl von Glück, das ich so lange entbehren musste.

Ich reckte mich in meinem Stuhl, streckte die Arme nach hinten über meinen Kopf und gähnte ausgiebig und als ich, aus guter, alter Gewohnheit, auf meine Armbanduhr schaute, sah ich, wie die Sekunden verstrichen.

 

 


Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2022

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