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Das Herz der Jägerin

 

 

 

"Lauf, lauf!" rufe ich dem Wind entgegen und stoße dabei die Hacken meiner Füße in die Flanken von Tirek, meinem Pferd. Mit weit nach vorne gestrecktem Hals fegt es über die eisige Steppe. Schnee, der einen Moment in der Luft zu erstarren scheint, wirbelt unter seinen Hufen hervor, vereint sich dann Staub gleich mit den Strahlen der Sonne.

Wir fliegen, ja wir fliegen dahin. Das Pochen meines Herzen wird eins mit dem knirschenden Schlagen der stämmigen Beine meines Pferdes, die kaum noch den Boden zu berühren scheinen. Noch einmal treibe ich mein Pferd an "lauf mein Freund, lauf!" Der eisige Wind schlägt mir ins Gesicht, so dass ich meine Augen vor ihm zu engen Schlitzen verschließe. Fast reißt er mir die dicke Fell Mütze vom Kopf. Doch ich spüre die Kälte nicht, fühle nur das Schlagen meines Herzens und wie es mein Blut heiß und pulsierend durch die Adern pumpt. Dann gebe ich das Zeichen - nur ein kurzer Ruck durch meine Schulter, aber es wird verstanden. Schnell strecke ich meinen rechten Arm aus und das schwere Tier, welches gerade noch auf meiner Schulter saß und sich, so wie ich selbst, gegen den Wind stemmte, hüpft mit einer schnellen Bewegung auf meinen ausgestreckten Arm, krallt sich an diesem fest, sodass ich seine scharfen Krallen durch meinen dichten Pelzmantel spüren kann. Nur eine leichte, fast unmerkliche Bewegung von mir, einem kurzen Zittern gleich und schon geht ein heftiger Ruck durch meinen Arm, als sich der Adler, welcher eben noch auf meiner Schulter saß, von ihm abstößt, seine Flügel in die Weite des Himmels ausstreckt und nun über mir, in weit ausholenden Kreisen das Blau des Himmels durchpflügt.

Ich muss ihm nicht hinterher schauen, denn ich weiß, er wird mich nicht im Stich lassen. Die Kraft und Schnelligkeit meines Pferdes, das unter mir über die Steppe jagt, der scharfe Blick meines Adlers, sein Instinkt und die Anmut mit der er den Himmel beherrscht und mein Herz, das Herz einer Jägerin, wurden schon vor langer Zeit eins.

Wieder stoße ich die Hacken in die Flanken von Tirek. Noch einmal stemmt er sich mit unbändiger Kraft gegen die eisige Luft und jagt fast so, als wäre er selbst der Adler, über die Weite der Landschaft. Nur noch wenige hundert Meter und wir haben den Fuß der steilen Bergkette erreicht, die jetzt schneebedeckt unter der Sonne glitzernd, mein Herz noch um eine Spur heftiger schlagen lässt.

Schnell springe ich von meinem Pferd hinab, welches nun, erschöpft und in den Flanken zitternd, mir sanft seine Nüstern entgegenstreckt, über die ich mit zärtlicher Geste streiche. Dann lege ich meinen Kopf dicht an die Ohren meines Freundes und mit leiser Stimme flüstere ich ihm ein Danke zu, welches er mit gutwilligen Schnauben zur Kenntnis nimmt.

Doch schon muss ich mich beeilen, denn auffordernde Schreie klingen aus dem Blau des Firmaments zu mir. Mein Freund der Adler, der ungeduldig meines Aufstieges harrt, denn auch ihn hat das Jagdfieber schon längst erfasst.

Sanft klopfe ich Tirek auf den Hals. Er wird auf mich warten, so wie er immer auf mich wartet. Treu und verlässlich.

Mein Blick wandert die steilen, schroffen Felsen empor, die jetzt, mitten im Winter, zum Teil vom Eis ummantelt und von Schnee bedeckt sind. Als ich noch viel kleiner war und erst mit einem Falken zur Jagd gehen durfte, hat mir der Anblick dieser unüberwindlich scheinenden Felsen Furcht eingeflößt. Doch damals war ich erst acht Jahre alt. Ein kleines, unwissendes Kind noch, welches sich leicht Furcht einflößen ließ. Ein paar Jahre erst ist das her. Jahre, in denen ich lernte, mich auf mich selbst zu verlassen. Jahre auch, in denen ich älter, erwachsener, größer und stärker wurde. Und umso mehr mein Körper wuchs, umso mehr wuchs auch mein Herz, wurde ebenfalls größer und stärker und besiegte schließlich meine kindliche Angst.

 

Vorsichtig lege ich meine Hand um einen der Felsvorsprünge, ziehe mich an ihm hoch, stemme meine Beine gegen das Gestein und ziehe schließlich auch diese nach. Meter um Meter erklimme ich das Massiv, welches sich über viele Kilometer dahinzieht und sowohl Grenze meiner Heimat, wie auch Ziel all derer ist, die so fühlen wie ich - all den anderen Jägern, unter denen ich das einzige Mädchen bin.

Der Aufstieg ist langwierig und anstrengend. Schon nach kurzer Zeit steht mir der Schweiß glänzend auf der Stirn, geht mein Atem heftiger und stößt in immer kürzeren Abständen weiße Wolken aus meinem halb geöffnetem Mund, dem hin und wieder ein Stöhnen entweicht ob all dieser Anstrengung. Einen kurzen Moment der Rast, in der ich meine behandschuhte Hand an die Augen lege und in die Sonne blinzel. Mein Freund, der Adler zieht immer noch seine Kreise ganz weit dort droben im Blau des Himmels und manchmal scheint er fast mit der Sonne zu verschmelzen, wenn er, mit weit ausgebreiteten Flügeln, in den Strahl ihres Glanzes eintaucht und ich sein da sein nur noch mehr erahnen kann. Ich weiß, sein scharfer Blick, dem nichts entgehen kann, streift dabei über die Landschaft und bewacht auch gleichzeitig meinen langsamen, aber stetigen Aufstieg. Nichts kann seinen Augen verborgen bleiben. Nicht die kleinste Bewegung wird ihm entgehen und selbst das verändern der Schatten zwischen den Felsen, bleibt ihm nicht verborgen.

Einige Minuten noch, dann ist es geschafft. Der letzte Felsvorsprung, an dem ich mich emporziehe und schon habe ich das Plateau erreicht, welches von Anfang an mein Ziel war. Ich richte mich auf. Mein Blick wandert über die unendliche Weite der Landschaft, die ich meine Heimat nenne. Wieder fühle ich mein Herz heftig in meiner Brust pochen. Doch dieses mal nicht vor Anstrengung, sondern vor Glück, welches mich immer wieder aufs Neue erfasst, wenn meine Augen all diese Schönheit erblicken.

Ich bin nicht sehr hoch geklettert und doch habe ich das Gefühl, auf dem Gipfel zu stehen. Mein Blick wandert umher und verliert sich irgendwo am Horizont, wo Finger gleich die Berge den Himmel berühren. Über 2100 km zieht sich das Altaigebirge dahin. Verbindet und trennt zugleich meine Heimat, die Mongolei, mit dem Rest der Welt. Eine Welt, die ich vermutlich niemals sehen werde, von der mein Herz mir aber sagt, dass ein Suchen nach dieser anderen Welt nur Vergeudung wäre, weil jeder Tag, fern meiner Heimat, ein verschwendeter Tag ist.

Ich schaue zurück auf die Ebene, über die ich noch vor kurzer Zeit auf dem Rücken meines Pferdes dahin jagte. In sanften Wellen zieht sie sich bis zum Horizont dahin und dort, ganz weit vorne, mehr zu erahnen, als wirklich zu sehen, ist sie eingesäumt von dunklen Fichtenwäldern. Ich kann mich niemals sattsehen an all dieser Schönheit, die sich weiß und glitzernd bis in die Unendlichkeit vor mir auszubreiten scheint.

Ich werde niemals meinen Bruder verstehen, wie er all das im Stich lassen konnte, wie er wirklich glauben konnte, nicht hier wäre sein Platz, sondern in der Stadt, wo es ihn schon vor Jahren hinzog, um dort sein Glück zu suchen. Ob er es wohl gefunden hat? Schon lange haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ob er uns, Vater, Mutter und mich wohl vergessen hat?

Ein wenig wehmütig, ja traurig denke ich darüber nach, dass es so sein könnte und dass nur er mir meine Frage beantworten könnte.

Und doch mischt sich auch Dankbarkeit in meine trübsinnigen Gedanken, denn wenn mein Bruder nicht gegangen wäre, so würde ich jetzt nicht hier stehen. Nicht meinen Adler über meinem Kopf Kreise ziehen wissend und mein Freund Tirek würde nicht am Fuß der Felsen auf mich warten. Ja, selbst mein Herz wäre ein anderes. Es wäre das Herz eines fünfzehnjährigen Mädchens, nicht das einer Jägerin.

Vater hätte es nie erlaubt: "Du bist ein Mädchen, Mädchen gehen nicht zur Jagd. Du wirst niemals in der Lage sein, das Gewicht eines Adlers auf deinen Schultern tragen zu können!" Abwehrend und unwillig hatte er meiner Bitte zugehört, eine Jägerin werden zu dürfen. Doch noch während ich sprach, konnte ich in seinen Augen lesen, dass er es niemals erlauben würde. Unwillig und, wie ich damals zu erkennen glaubte, auch ein wenig spöttisch, betrachtete er mich - das kleine Mädchen, welches vor ihm saß und ihn bittend, fast flehentlich ansah und dessen Wunsch er mit einer einfachen Handbewegung fort wischen wollte.

Auch Mutter verstand nicht, warum ich unbedingt zur Jagd gehen wollte. Aber, so glaube ich, sie konnte in mir das erkennen, wofür Vater blind war und das mein Drang Jägerin zu werden, mehr, viel mehr war, als nur das kurze Aufflammen einer Laune. Sie fühlte das Feuer in mir und wusste, dass sich dieses niemals ersticken ließ. So zog sie mich damals an sich, strich mir sanft über das Haar und sagte mit leisen Worten "Wenn es der Wille des Schicksals ist, so wirst du eine Jägerin werden. Das Schicksal lässt sich nicht betrügen, von niemandem. Nicht von Vater und nicht einmal von dir selbst"

So stellte sie sich auf meine Seite und vielleicht das erste Mal in ihrem Leben gegen Vater, der nicht begreifen konnte, was Mutter begriff und der nicht sehen konnte, was für Mutter doch so offensichtlich war.

Nein, nie, niemals hätte er zugestimmt und erst, als mein Bruder ging, als er uns verließ, um in der Stadt zu leben, erst da blieb Vater nichts anderes übrig, als endlich nachzugeben. Denn die Jagd war kein Spiel, mit dem man sich vergnügliche Stunden bereiten konnte. Sie war kein Abenteuer, welchem man hinterherlief, um gegen die Langeweile der Tage anzukämpfen. Die Jagd ist anstrengend, ist gefährlich, aber sie ist auch Grundlage und überlebensnotwendig für mein Volk der Kasachen. Während wir im Frühjahr und Sommer mit unseren Tierherden über die Steppe ziehen, zwingt uns der Winter, über Monate an einem Ort zu verweilen und nur durch die Jagd, können wir Nahrung und Felle, die uns gegen die eisigen Temperaturen schützen, finden.

Nein, Vater gefiel es trotzdem nicht. Er erkannte nicht die Jägerin in mir und sah nur das kleine, schmächtige Mädchen, das ich einmal gewesen bin.

Doch er musste einsehen, dass es nicht anders ging, dass ich nun, wo mein Bruder fort war, dessen Stelle einnehmen musste, und so willigte er, wenn auch mit schwerem Herzen, schließlich irgendwann doch ein, mich in der Kunst der Jagd zu unterrichten.

So vertraute er mir seinen Falken an und aus mir, seiner Tochter wurde seine Schülerin.

Ich lernte schnell und kannte schon bald alle wortlosen Kommandos, denen der Falke folgte. Ich lernte in den Spuren an Bäumen, Sträuchern und selbst denen im Himmel zu lesen und ich erlernte zu sehen, was nur wirkliche Jäger erkennen können.

Vater brachte mir bei, mit dem Messer umzugehen und zu töten ohne Schmerz zuzufügen, und er lehrte mich, die Tiere in ihren Verstecken zu entdecken.

Aber ich lernte auch Demut und die Achtung vor jedem Leben und ich glaube, irgendwann lernte ich auch, meine Heimat durch die Augen meines Vaters zu sehen und deren wahre Schönheit erst wirklich zu erkennen, als ich seine Schülerin wurde.

Schon bald stand ich den männlichen Jägern aus unserem Stamm in nichts nach. Ich wurde so flink und geschickt wie sie und ebenso mutig und irgendwann musste selbst Vater zugeben, dass er sich geirrt hatte.

Doch noch immer trennte mich etwas von meinem Traum und wieder musste ich gegen die Überzeugungen meines Vaters ankämpfen, denn ich wollte eine richtige Berkutschi, eine Adlerjägerin werden.

Mein Kampf gegen Vaters Willen und seinen Glauben daran, ich wäre zu schwach, um den Adler auf meinen Schultern tragen zu können, währte hingegen nicht lang, denn insgeheim hatte er wohl längst begriffen, dass mein Traum sich von niemanden mehr aufhalten ließ. So stimmte er schließlich, wenn auch etwas widerwillig und voller Sorge zu, dass ich mir meinen Adler holen dürfte.

Seine Sorge war nicht unbegründet, denn, so verlangte es die Tradition, ich musste allein und ohne Hilfe ins Gebirge ziehen, die schroffen Felsen erklimmen und dort ein Jungtier aus einem der Nester der Steinadler entführen.

Das Unterfangen war gefährlich. Nicht nur, dass ich die steilen Felsen bezwingen musste, es musste mir auch gelingen, ein Junges aus einem der Nester zu stehlen, ohne von dessen Eltern bemerkt zu werden, denn sollte das passieren, so würden mich diese attackieren und alles daran setzen, ihr Junges wieder zu bekommen, auch wenn sie mich dafür töten müssten.

Der Adler war ein starkes Tier und ein großer Jäger. Schnell, ausdauernd, mit scharfen Krallen und kräftigem Schnabel versehen, die zu gefährlichen Waffen werden konnten und einmal in Wut geraten, konnte er zum größten und gefährlichsten Feind des Menschen werden. Aber auch, hatte er erst einmal Vertrauen gewonnen, zu seinem größten Freund.

Doch so wie es Mutter gesagt hatte, das Schicksal lässt sich nicht betrügen und so gelang mir dieses gefährliche Unterfangen und ich kehrte stolz, glücklich und wohlbehalten in unser Lager zurück. Unter meinem Fell einen jungen Adler, welcher hin und wieder ängstliche Laute ausstieß.

 

Ich stehe hier auf dem Plateau des Gebirges, fühle die eisige Kälte auf meinem Gesicht, die meine Haut zum Brennen bringt, schaue auf all diese Schönheit, die mich umgibt, und denke an damals zurück, als ich mit meinem Adler nach Hause zurückkehrte. Ich war damals gerade 12 Jahre alt geworden und es war wohl das erste Mal in meinem Leben, dass Vater mir zeigte, wie stolz er auf mich war, denn als ich vor ihm stand, strich er mir sanft meine Fellmütze vom Kopf, zog mich dann an sich, liebkoste mein Haar, Küsste dann meine Stirn und nannte mich seine kleine Bakutschi.

Ab diesem Tag lebte der Adler bei mir, so wie es die Tradition forderte. Er lernte, meinen Worten und Gesten zu gehorchen, und was viel wichtiger war, er lernte mir zu vertrauen und so wurden wir allmählich zu Freunden.

Drei Jahre ist das nun schon her. Drei Jahre, ach was für eine schöne, glückliche Zeit!

 

Der Schrei schreckt mich aus meinen Gedanken auf. Ich Blicke hinauf in den Himmel, wo mein Freund langsam ungeduldig wurde. Ja, er hatte recht, ich sollte tun, wozu wir gekommen waren.

Ich gehe einige Schritte vorwärts, bis ich mich etwa in der Mitte des Plateaus wähne. Von hier aus konnte ich schnell jeden Punkt erreichen, zu dem mich der Adler führen wird.

Ich stehe da, verharre unbeweglich und atme flach und gleichmäßig. Nur meine Augen strafen meiner scheinbaren Bewegungslosigkeit Lügen, denn ihr Blick tanzt über Felsen, Risse und die wenigen Sträucher, die es geschafft hatten, dem rauen Klima zu trotzen und ihre Wurzeln in steinige Erde zu graben. Ein wenig, so denke ich, sind sie so wie ich selbst. Scheinbar schwach und der Natur unterlegen und doch hatten sie ihrer Schwäche getrotzt und ihre unsichtbaren Wurzeln tief in das Gestein gegraben und sich fest an dieses gekrallt und damit ihre scheinbare Schwäche überwunden. Ja, ein wenig war ich ihnen gleich - schwach in ihrem Äußeren, aber stark und fast unbesiegbar im Innersten.

Über meinem Kopf kreist der Adler und nur aus den Augenwinkeln folge ich seinem Flug. Dann, ganz plötzlich, stürzt er hinab. Seine eben noch weit ausgebreiteten Schwingen nun fest an den Körper gepresst, den Kopf nach vorne gereckt, schießt er vom Himmel herab und einen kurzen Moment verliert er sich hinter den Felsen. Aber schon einen Augenblick später und er steigt wieder empor. Mit weit ausholenden Flügelschlägen zieht er einen engen Bogen durch den Himmel. Wieder taucht er ab, lässt sich durch das Gewicht seines Körpers herabfallen und erst da kann ich selbst das Tier erkennen, welches er mit seinen scharfen Augen schon lange vor mir erblickt hatte. Im Zickzack rennt der Manul, eine Wildkatze, der wir unsere schönen und wärmenden Pelzmäntel zu verdanken haben, direkt auf mich zu. Doch als er meine Gegenwart wahrnimmt, schlägt er eine scharfe Kurve und versucht, mir auszuweichen. Er ist schnell, doch nicht schnell genug, denn kaum hat er seine Flucht erneut angetreten, höre ich den Schrei meines Freundes, der sich pfeilschnell auf das sich nun flach auf den Boden pressende Tier stürzt. Es dauerte nur die Zeit eines Wimpernschlags und mein Freund hat das Tier erreicht. Fast triumphierend landet er auf dessen Rücken. Noch einmal versucht sich der Manul, unter den Fängen des Adlers aufzubäumen, doch vergebens, denn schon schlägt dieser seine scharfen Krallen in den Nacken des Tieres, welches nun reglos liegen bleibt. Ich weiß, dass es tot ist und auch wenn diese Art zu jagen grausam scheint, so weiß ich auch, dass dieser kurze Kampf vielleicht angefüllt war mit Angst, aber frei von Schmerz, denn die kräftigen Krallen eines Adlers erlegen das Tier in Bruchteilen von Sekunden.

Schnell eile ich zu ihnen und noch im Lauf greife ich unter meinen Pelzmantel und ziehe mein Messer hervor. Mein Freund macht mir bereitwillig Platz, so dass ich mich über das nun vor mir liegende Tier beugen kann, dessen Körperwärme noch Zeuge des eben erst ausgehauchten Lebens ist. Sanft streiche ich ihm über das seidige Fell, während meine Lippen lautlose Worte formen, die voller Dankbarkeit für dieses Tier sind, welches leblos zu meinen Füßen liegt und die um Vergebung bitten, für mein Tun, das aber doch so nötig ist, um selbst leben zu dürfen.

Auch das hat mir Vater beigebracht. Er hatte mich nicht nur die Worte, welche voller Dankbarkeit waren und doch um Vergebung bitten gelehrt, sondern, viel wichtiger noch, er hatte mich gelehrt, diese Worte nicht nur auswendig zu lernen, sondern sie auch zu verinnerlichen. Denn er hatte verstanden, mir den Wert eines jeden Lebens begreiflich zu machen. Mich Demut und Dankbarkeit zu lehren und dass das Töten niemals um des Tötens Willens geschehen darf. Erst das Begreifen seiner Worte, hatte mich zu einer wirklichen Jägerin gemacht.

Noch einmal streiche ich über das in der Sonne glänzende Fell des Manul, bevor ich seinen Körper mit dem Messer aufbreche, so wie Vater es mich gelehrt hatte. Auch mein Freund bekommt seinen Anteil an der Beute, denn auch das forderte die Tradition.

 

Es ist schon später Nachmittag, als ich wieder die steilen Felsen hinab klettere. Die Jagd ist erfolgreich gewesen. Sieben Manuls hängen seitlich an meinem Gürtel. Am Fuße des Berges umschlinge ich den Hals von Tirek, der geduldig auf meine Rückkehr gewartet hatte. Sein leises Schnauben zeigt mir, auch er freute sich darüber, mich wiederzusehen.

Schnell schwinge ich mich auf seinen Rücken, während mein Freund, der Adler noch einige weite Kurven durch den allmählich dunkler werdenden Himmel zieht, bevor er sich dann hinab fallen lässt und zielsicher auf meiner Schulter seinen gewohnten Platz einnimmt.

Wir müssen uns nicht beeilen und so traben wir gemächlich dem Lager entgegen.

Ich weiß, auch heute wird Vater wieder stolz auf mich sein, auch wenn es ihm immer schwer fällt, mir dieses auch zu zeigen.

Ich bin eine Bakutschi, trage das Herz einer Jägerin in mir und auch Vater hat schon längst begriffen, was Mutter nie verborgen war - das Schicksal lässt sich nicht betrügen.

 

 

Nachwort

 

 

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Ein bisschen zumindest. Denn das Nomadenvolk der Kasachen gibt es wirklich und so wie in meiner Geschichte, gehen die Jäger auch heute noch mit ihren Adlern zur Jagd, so wie es ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten vor ihnen taten.

Doch es gibt nur noch wenige von ihnen, denn viele zieht es in die Städte, wo sie sich ein leichteres und erfüllteres Leben erhoffen und so ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass im Laufe der Jahre auch Mädchen ihren Platz unter den Adlerjägern fanden, um diejenigen zu ersetzen, die es in die Städte zog.

Nur noch 120 soll es von ihnen geben, die am Fuße und in den Höhen des Altai Gebirges, welches eine Höhe von bis zu 4506 m erreicht und im Grenzgebiet von Russland (Sibirien), Kasachstan, der Mongolei und China liegt, Hasen, Füchse und Manuls jagen.

Doch es werden immer weniger von ihnen und eines, nicht fernen Tages, wird der Schrei des Adlers für immer verstummt sein.

Zurück bleibt dann nur noch die Erinnerung an dieses Nomadenvolk und seine mutigen Jäger und Jägerinnen und vielleicht kann diese kleine Geschichte ein wenig dazu beitragen, diese lebendig zu halten.

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2022

Alle Rechte vorbehalten

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