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Glück in nassen Socken

 





"Das tut man nicht!" höre ich noch immer die Stimme von Mutter "mach dich nicht schmutzig!" und "wer glaubst du eigentlich, wird deine Kleidung wieder waschen müssen?!"

Ermahnungen und Verbote, denen ich all zu oft widerstand. Lang schon ist das her. Mutter ist schon vor vielen Jahren für immer gegangen und auch meine Zeit hier auf Erden ist gezählt. Ein paar Monate vielleicht, mit etwas Glück ein paar Jahre und, wenn das Leben und die Zeit gnädig mit mir ist, werden diese gut sein.

Vielleicht sollte ich traurig sein bei dem Gedanken an Mutter und meine eigene Vergänglichkeit, doch ich fühle etwas in mir, das mich lächeln lässt. Etwas, das ich nicht beschreiben kann, aber das tief aus meinem Innersten emporsteigt und sich warm anfühlt.

Ich lächle und die Leute, die vorüber gehen, werden sich wohl wundern über diesen alten Mann. Der dort steht, vor seine Füße starrt und dessen Augen wie aus weiter Ferne strahlen und dessen Gesicht einen seltsamen Glanz angenommen hat. "Ein seltsamer Typ" mögen sie denken "Vielleicht braucht er Hilfe?"

Aber die Fremden gehen vorüber und wundern sich nur stumm. Mir ist das gleichgültig, denn einer der Vorteile, wenn man alt wird, ist, dass die Gedanken anderer einem irgendwann egal sein können.

Ich stehe da und blicke auf die Fläche, in der sich die Sonne spiegelt. Ich sehe den Himmel vor meinen Füßen, beobachte die Wolken, wie sie langsam dahintreiben, sehe das Glitzern der Oberfläche und muss wieder an Mutter denken, die wohl jetzt irgendwo mahnend mit dem Kopf schüttelt und mir ein "denke nicht einmal daran!" zu flüstert. Obwohl, zuflüstern, das war nicht ihre Art. Laut, autoritär und resolut, das war Mutter. Leise und flüsternd das war sie nur manchmal. Immer dann, wenn ich als kleiner Junge selbst traurig war und sie mich tröstend in ihren Armen hielt, oder wenn ich krank im Bett lag und sie auf dessen Kante saß und ich in ihren leisen Worten erkennen konnte, dass es ihr schlechter ging, als mir selbst.

Ja, sie war eine tolle Frau - zärtlich, liebevoll, aber auch autoritär und stark. Stärker als Vater es gewesen ist, der schon Jahre vor ihr ging.

Ich schiebe den Gedanken an Vater beiseite, über dessen Flucht aus dem Leben ich nie ganz hinweggekommen bin. Auch Mutter beiseite zuschieben, das gelingt mir nicht. Was würde sie wohl denken? Was sie sagen würde, das kann ich mir ausmalen, aber was würde sie denken, wenn sie mir jetzt zuschauen könnte?

Achtsam setze ich einen Fuß vor. Die spiegelnde Fläche zerfließt in leichten Wellen. Die Sonne, die Wolken, sie verschwimmen in konzentrischen Kreisen. Den nächsten Fuß und das Spiel beginnt von vorn.

Langsam gehe ich in die Knie, stoße mich ab und lasse mich wieder fallen. Wasser spritzt in tausend glitzernden Perlen auf, in denen sich die Sonnenstrahlen fingen.

Ich tanze, ich lache und wenn ich es könnte, so würde ich singen.

Immer wieder springe ich auf und ab und greife mit meinen Händen nach den funkelnden Tropfen.

Die Leute wundern sich, sind erstaunt oder empört. Aber ein paar von ihnen lächeln. Es sind nur wenige, aber es sind die, die verstanden haben, dass das Glück manchmal in glitzernden Tropfen zu finden ist und manchmal auch in nassen Socken.

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2022

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