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Erinnerungen an meine Großmutter

 

 

 

 

 

 

Ich habe lange überlegt, ob die Farbe Gelb irgendeine Bedeutung in meinem Leben hat, doch so wirklich wollte mir nichts einfallen.

 

Natürlich, auch ich bin von dieser Farbe umgeben. Gerade jetzt, im beginnendem Frühling zeigt sich das Gelb überall. In leuchtendem Gelb beginnen die ersten Blumen ihre Köpfe zum Himmel zu strecken und zeigen uns, wie in jedem Jahr, dass das Leben wieder beginnt. Für mich ist das alte, vergangene Jahr erst wirklich vorüber, wenn im Frühling die ersten Blüten aufbrechen. Wenn aus Winter kahler Erde das erste Grün wieder hervor scheint und die ersten Zugvögel Sträucher und Bäume in Beschlag nehmen, um ihre Nester zu bauen, und mich mit fröhlichem Gezwitscher an jedem Morgen begrüßen.

 

Gelb, das ist eine fröhliche Farbe. Eine Farbe wie das Leben selbst und trotzdem, so richtig mochte mir nichts einfallen, was mich mit der Farbe Gelb verbindet. Einzig meine Großmutter fiel mir ein. Meine Großmutter und wie durch sie meine Mutter zu ihrem ersten Kanarienvogel kam.

 

So möchte ich nun über meine Oma erzählen, auch wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht ein wenig enttäuscht darüber sein wirst, dass die Farbe Gelb in meiner kleinen Erzählung nur eine Randbemerkung bleiben wird.

 

Ich glaube, dass ich meine Oma, die Mutter meines Vaters, sehr gerne gehabt haben muss. Sie war die einzige meiner Großeltern, die ich kennenlernen durfte, denn alle anderen sind schon vor meiner Geburt gestorben.

 

Nun ja, meine Oma muss ich wohl sehr gemocht haben, denn noch heute kann ich mich sehr gut an sie und ihre Eigenarten zurückerinnern. Ich war noch ein ganz kleines Kind, als sie starb und die meisten Menschen, denen ich bis zu dem Tod meiner Oma begegnet bin, habe ich vergessen. Doch an meine Oma erinnere ich mich auch heute noch sehr gut und auch wenn ich nicht wirklich sagen kann, was ich für sie als Kind empfunden habe, muss es wohl so etwas wie Liebe gewesen sein. Denn nur so kann ich mir erklären, dass meine Oma auch heute noch in meinem Kopf herumspukt.

 

Meine Oma lebte bei uns im Haus in einer eigenen, kleinen Einliegerwohnung. Wenn man diese betreten wollte, musste man die Treppe herunter. Dann ein paar wenige Schritte über den Hof und gleich rechts die nächste Tür hinein, die niemals abgeschlossen war. Jetzt nur noch die Waschküche durchqueren und dort, gleich vorne an der schweren Eichentür den verschlungenen, einst messingfarbenem Griff, der aber durch die Jahre lange schon eine schwarze Farbe angenommen hatte, herunterdrücken und die Tür öffnen. Aber bitte, dass Anklopfen und um Einlass bitten zuvor, nicht vergessen. Denn ungefragt einzutreten, hätte meine Oma wirklich übel genommen.

 

Durfte man aber erst einmal ihre Räumlichkeiten betreten, stand man in einem Raum, den Oma immer gerne als „gute Stube“ benannte, und indem man sich um mindestens 100 Jahre zurück in die Zeit versetzt fühlte.

 

Noch heute weiß ich ganz genau, wie es bei Oma ausgeschaut hat. Ein eigentümlicher Geruch lag immer in der Luft. Ein Geruch, den ich als Kind wohl als alte Leute Geruch benannt hätte, der aber in Wirklichkeit von all den Kräutern, Flaschen und Tiegeln stammte, die man in Omas kleiner Wohnung finden konnte und in denen sie allerlei Tinkturen und, nach ihrer Meinung, heilende Kräuter und Suds aufbewahrte, die sie selbst, unter größter Geheimhaltung der Rezepturen, herstellte.

 

Oma war in unserem Dorf das, was man eine Kräuterhexe nennt und als solche war sie nicht nur sehr geachtet, sondern ebenso gefürchtet. Denn, wie die Leute behaupteten, sie wusste nicht nur um die Heilkräfte der Kräuter und Wurzeln, die sie auf Flur und Wald einsammelte und ihnen, durch allerlei Tricks, die Heilkräfte zu entlocken wusste. Nein Oma beherrschte auch die weiße und schwarze Magie. So zumindest behaupteten die Leute in unserem Dorf.

 

Ob all das, was man meiner Oma nachsagte, wirklich auch stimmte, habe ich mich damals nicht gefragt. Es war auch unnötig, denn ich war überzeugt davon, dass Oma all das auch wirklich konnte. Was mir niemals Furcht, dafür aber umso mehr Neugier einflößte.

 

An all ihren Zaubertinkturen muss aber wohl etwas dran gewesen sein, denn Oma benutzte diese täglich selbst und sie ist sehr alt dabei geworden. Als sie starb, waren sich die Leute uneinig darüber, wie alt sie eigentlich genau geworden ist. Die Schätzungen begannen bei 94 Jahren und gingen bis weit über hundert hinaus.

 

Ich habe Oma übrigens nie dabei gesehen, wie sie all ihre Kräuter sammelte, denn, wie ich später erfuhr, mussten für bestimmte Kräuter auch bestimmte, ganz exakte Rituale eingehalten werden, bevor diese gesammelt werden durften. So ging Oma wohl oft im Vollmond über Wiesen und durch Wälder, um nach bestimmten Pflanzen zu suchen. Manche der Pflanzen durfte man auch nur an ganz bestimmten Tagen im Jahr sammeln. Bei anderen wiederum mussten zuvor einige, ganz bestimmte Lebensumstände eingetreten sein, bevor man diese sammeln und weiterverarbeiten konnte. So genau wusste ich da auch nicht Bescheid, denn Oma machte wie gesagt, immer ein großes Geheimnis um ihre Kunst und hat diese leider niemals irgendwem anderes mitgeteilt, so das mit ihrem Tod auch all ihr Wissen starb. Aber ich ertappe mich, wie ich abschweife, denn eigentlich wollte ich doch zuerst einmal über die Wohnung von Oma berichten:

 

Wenn man also die Gunst meiner Oma errungen hatte und in ihren Gemächern willkommen war, musste man durch besagte schwere Eichentür treten. Genau gegenüber der Tür, befand sich ein riesiger und sehr solider Eichentisch und genau dahinter und gleich unter dem Fenster, stand die ebenso riesige Couch, deren dunkelroter Samt Bezug schon ein wenig abgenutzt wirkte. Dieses Sofa war ein wahres Monstrum an Behaglichkeit. Die Rückenlehne war geschwungen und umrahmt mit kunstvollen Schnitzereien, die wahrscheinlich ebenfalls aus Eichenholz hergestellt waren. Auch die Armlehnen bestanden aus Schnitzereien, die verschlungene Ornamente zeigten, die entfernt an Ranken und Rosenblüten erinnerten. Für mich als noch kleines Kind, war es immer mühsam, dieses Sofa zu erklimmen. War mir das aber gelungen, so saß ich auf einer Wolke der Gemütlichkeit. Die Kunst, solche Möbelstücke herzustellen, ist wohl leider auch im Strom der Zeit verloren gegangen.

 

Über dem Tisch hing eine große Petroleumlampe, die mein Vater aber irgendwann elektrifiziert hatte. Ein weißer, mit Blumen und goldenen Ranken verzierter Glaszylinder schwebte über dem Tisch. Gleich unter dieser mächtigen Lampe befand sich ein Bleigewicht, an dem man ziehen konnte, um die Lampe herunter und anschließend wieder unter der Decke schweben zu lassen.

 

Gleich rechts von der Eingangstür befand sich eine schmale Kommode. Auch diese aus schwerem, dunklem Holz hergestellt und mit kunstvollen Schnitzereien verziert. In dieser Kommode befanden sich alle Wertgegenstände, die meine Oma besaß. Schmuck, Fotoalben, ihr Portemonnaie und eine runde, ehemalige Keksdose aus Blech, in denen meine Oma ihr Geld aufbewahrte. Dann ihre ganzen Klöppelarbeiten, mit denen sie, solange ich zurückdenken konnte, immer beschäftigt war. Die Kunstfertigkeit all ihrer Deckchen und Tischläufer, mit denen das ganze Wohnzimmer meiner Oma verziert war und die sie auch gerne weiter verschenkte, habe ich als Kind niemals erkannt. Ganz im Gegenteil, ich fand es ziemlich verrückt, oft Monate an einem einzigem kleinen Stück zu arbeiten, um mit hauchdünnen Fäden und unzähligen Nadeln Dinge herzustellen, die doch mit nur einem Stück Stoff, den man fertig kaufen konnte, in wenigen Minuten hergestellt werden können.

 

Auf der Kommode, die ebenfalls mit einem weißen Deckchen von Omas Klöppel Arbeit verziert war, stand ein alter Plattenspieler. Musik wurde von diesem aber nur an ganz besonderen Feiertagen abgespielt. Ein Blumenstrauß stand auch im Winter immer auf dieser Kommode. Ich habe nie herausbekommen, woher all diese Blumen stammten, aber ich bewunderte die Kristallvase, in denen diese Blumen standen und in denen sich zu jeder Tageszeit das Licht in den schillerndsten Farben widerspiegelte und manchmal umher tänzelnde bunte Muster auf das weiße Deckchen warf, auf denen diese Vase stand. Ganz hinten auf der Kommode stand eine kleine rechteckige und schwarze Blechdose mit einem Halbrundem Deckel. An diese Dose kann ich mich ganz besonders gut erinnern, denn sie zog mich wie magisch an. Meine Oma machte immer ein großes Geheimnis um diese Dose und niemanden war es gestattet, diese auch nur zu berühren. Irgendwann gelang es mir doch und heimlich öffnete ich den Deckel um einen Blick hineinwerfen zu können. Ich war ziemlich enttäuscht, denn nichts anderes als alte Briefe befanden sich darin. Alte Briefe, die mit einem rosa Band zusammengebunden waren und obenauf lag eine getrocknete, ebenfalls rosa Rosenblüte. Als Kind fand ich das langweilig und verstand nicht, warum Oma ein solches Theater um diese Dose mit all den alten Briefen veranstaltete. Heute wünsche ich mir hingegen, diese Briefe einmal hätte lesen zu dürfen. Doch selbst, wenn ich damals, als es mir gelang, diese Dose in meine Hände zu bekommen, diese auch lang genug bei mir haben hätte können, so hätte es mir nichts genutzt. Denn lesen konnte ich noch nicht und es sollte auch noch ein paar Jahre dauern, bis ich diese Kunst erlernen sollte.

 

Gleich vor der Kommode, befand sich ein Keramiknapf für Purzel, den braunen Dackel meiner Oma. Ein lieber kleiner Kerl, der meiner Oma niemals auch nur einen Zentimeter von der Seite wich und der nur bereit war, mit meinen Geschwistern und mir zu spielen, wenn er sicher war, Oma in seiner Nähe zu wissen.

 

Links von der Eingangstür befand sich der Herd, auf dem Oma uns Kindern immer der Reihe nach das kochte, was wir Kinder uns von ihr wünschten. So bekam meine ältere Schwester Kerstin immer Tomatensuppe. Ich wünschte mir oft Ochsen Schwanz Suppe oder Pfannkuchen. Meine jüngere Schwester Anke hingegen wollte immer Milchreis haben und mit diesem war auch mein jüngster Bruder Klaus zufrieden.

 

Der Herd wurde noch mit Holz beheizt und verströmte im Winter wohlige Wärme. Jeden Tag, bevor er zur Arbeit fuhr, brachte mein Vater den Herd in Ordnung. Entleerte die Asche vom Vortag und zündete ihn an. Sorgte anschließend dafür, dass Oma auch genug Holz hatte, um über den Tag zu kommen, so das sie selbst nicht hinaus in den Holzschuppen gehen musste, um für Holz zu sorgen.

 

Über dem Herd befand sich ein langes Regal auf dem all die Tiegel, Gläser und Näpfe standen, in denen Oma ihre Rezepturen zur Heilung von allen möglichen Krankheiten und Herzens Kummer aufbewahrte. Gleich neben dem Herd stand ein weißer, hölzerner Schrank, in dem sich Töpfe, Pfannen und das Geschirr befanden. Oben auf diesem Schrank, standen all die Utensilien, die Oma für ihre Zaubertinkturen benötigte. Mörser mit Stößel in verschiedenen Größen und aus unterschiedlichen Materialien. Kleine und größere Glasbehälter, so wie man sie manchmal noch in alten Laboren oder Apotheken findet. Spezielle Messer, Pinzetten und manches Werkzeug, das mir fremd war und ich deshalb nicht mit Namen benennen konnte.

 

Gleich neben dem Küchenschrank befand sich eine weitere Tür, die zu dem Schlafzimmer meiner Oma führte. Dieser Raum war schlicht und zweckmäßig eingerichtet. Ein riesiges Doppelbett beherrschte das Zimmer vollständig. Ein kleiner brauner Nachtschrank, ein mehr türiger Kleiderschrank und schwere, dunkelrote Vorhänge vor dem einzigem Fenster, war alles, was man in diesem Raum finden konnte.

 

Der Boden des Schlafzimmers, so wie auch des Wohnzimmers, bestand aus schweren Eichendielen, dessen dunkles, fast schwarzes Braun, einmal in der Woche mit Bohnerwachs bearbeitet wurde und deshalb immer ein wenig glänzte.

 

Oma besaß nur wenige Bücher und die, welche sie besaß, waren Nachschlagewerke über den menschlichen Körper, seine Krankheiten und deren Heilung. Diese Bücher waren auch damals schon sehr alt und ich glaube, dass sie heute wohl ein kleines Vermögen wert wären. Diese Bücher vereinten das medizinische Wissen aus zwei Jahrhunderten in sich und so, wie auch die von mir erwähnte Blechdose, zogen mich auch diese Bücher wie magisch an. Alle Abbildungen darin waren von Hand gezeichnet und selbst ich als Kind konnte erkennen, dass die darin abgebildeten Menschen nicht aus dieser Zeit stammten, sondern mir aus einer schon lange vergangenen Zeit entgegenblickten. Alle medizinischen Apparaturen, die in diesen Büchern vorgestellt wurden, wirkten wie Foltergeräte aus dem Mittelalter und ihre gezeigte Anwendung wirkte nicht weniger erschreckend. Auch Krankheiten, die unterhalb der Gürtellinie den Menschen plagen können, wurden in diesen Bücher behandelt und es bedurfte wohl großer Anstrengung, zu erklären und aufzuzeigen, ohne dabei die Tabus der Zeit zu brechen, aus der sie stammten. Diese Bücher waren faszinierend und erschreckend zugleich und trotzdem waren sie auch ebenso wunderschön mit ihren kunstvollen Einbänden. Ihren verschnörkelten Schriften und all ihren so befremdlichen Bildern, die den menschlichen Körper, trotz all der Krankheiten die ihn befallen können, als Tempel der Tugend und der Vollkommenheit zeigten.

 

Ein paar dieser Bücher haben die Zeit und den Tod meiner Großmutter überstanden und befinden sich heute im Besitz meiner älteren Schwester Kerstin. An Alter haben sie zwar noch mehr zugenommen, doch konnte ihnen dieses nichts anhaben, denn ihre Faszination ist geblieben.

 

Noch etwas anderes befand sich im Besitz meiner Großmutter. Ihre Postkartensammlung. Postkarten die wohl einen Zeitraum von deutlich mehr als hundert Jahren umspannten und die in überaus kitschigen Bildern eine idealisierte deutsche Geschichte zeigten, die es so niemals gegeben hat.

 

Auch diese Postkarten befinden sich heute im Besitz meiner Schwester Kerstin.

 

An etwas anderes kann ich mich auch noch sehr gut erinnern, nämlich an das gute Geschirr meiner Oma, welches nur zu ganz besonderen Feier und Ehrentagen auf den Tisch kam und ansonsten in einer kleinen Vitrine in Omas Wohnzimmer dahin schlummerte.

 

Das Geschirr stammte aus der Kaiserzeit und war an Hässlichkeit kaum zu übertreffen. Jedes einzelne Stück, jeder Teller, jede Tasse und selbst die Kaffeekanne waren mit dem Bild des Kaisers und der deutschen Reichsflagge verziert und auf jedem Stück fand sich, umrahmt von Ranken aus Blattgold, der Spruch "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt!"

 

Ich selbst hatte von diesem Geschirr über Jahre hinweg einen sehr hässlichen, überdimensionierten Aschenbecher für Zigarren, den ich aber vor ein paar Jahren, für eine mich selbst überraschend hohe Geldsumme, an ein Antiquitätengeschäft verkaufen konnte, und froh war, ihn los zu sein.

 

Wenn ich meine Oma nun selbst skizziere, wundert es vielleicht, dass ich meine Erinnerungen an sie mit dem Wort Liebe verbinden kann. Denn meine Großmutter war keine Oma, wie Kinder sie sich im allgemeinen wünschen. Keine, die einem Geschichten vorliest, die einem die Sorgen und Nöte abnimmt und immer einen guten Rat parat hat und meine Oma zeigte niemals irgendeine Art von Zärtlichkeit. Niemals bekamen wir eine Umarmung von ihr, oder durften sie selbst umarmen. Nicht einmal ein wohlwollendes, gut gemeintes oder Mut machendes über den Kopf streicheln war von ihr zu erwarten. Meine Oma war eine strenge, unnahbare Frau, der jede Gefühlsregung fremd zu sein schien.

 

Das sie uns Kinder trotzdem liebte, zeigte sie nur in dem, was sie für uns tat. Sie machte uns unser Lieblingsessen und bastelte Spielzeug für uns Kinder, welches sie uns dann wortlos überreichte. Ich selbst bekam einmal Max und Moritz von ihr geschenkt. zwei Puppen, die sie selbst gestrickt hatte und an die ich mich noch gut erinnern kann und daran, wie gut ihr die Köpfe und Gesichter der beiden Lausebengel gelungen waren. Manchmal bekamen wir auch das eine oder andere Geldstück zehn oder zwanzig Pfennige von ihr geschenkt. Sie legte das Geld dann einfach neben der Blumenvase auf die Kommode und bedeutete nur mit einem Kopfnicken, das man dort einmal nachschauen durfte und nehmen konnte, was dort lag.

 

Auch beschützte sie uns, vor unseren Eltern, wenn wir Strafe für irgendeinen Unfug, den wir angestellt hatten, befürchten mussten. Es störte sie auch niemals, wenn wir Kinder in ihrem Wohnzimmer herumtobten und einen Heidenlärm verursachten, während Oma auf der Couch saß und versuchte Zeitung zu lesen, was sie jeden Tag, zu einer festgelegten Zeit tat. An zwei Erlebnisse kann ich mich noch ganz besonders erinnern. Beide betrafen meinen jüngeren Bruder Klaus, an dem sie einen besonderen Narren gefressen hatte. Wohl weil er der jüngste war und von uns allen nur das "Nesthäkchen" genannt wurde.

Das eine Mal war mitten im Winter. Klaus war an den nahe gelegenen Fluss gegangen, was uns Kindern unter Strafe verboten war und war dort im Eis eingebrochen. Pudelnass und frierend schlich er sich nach Hause und verkrümelte sich bei Oma, die ihn schützend in ihre Obhut nahm und erst einmal vorsichtshalber den schweren Riegel von innen vor ihre Tür schob, damit niemand von unseren Eltern ihn dort finden konnte, um ihn zu bestrafen.

 

Mein Vater trommelte lange und ärgerlich an die Tür und erst als er drohte, die Tür einzuschlagen, und Oma ihm das Versprechen abgenommen hatte, dass weder er noch Mutter Klaus verhauen würden, öffnete sie freiwillig die Tür. Meinem Vater ging es auch gar nicht darum, Klaus zu bestrafen, dafür das er sich trotz Verbot, am Fluss herumgetrieben hatte, sondern es ging ihm darum, dass Klaus seine klitschnassen Sachen los wurde und in die Badewanne gesetzt werden konnte, um nicht krank zu werden.

 

Versprochen ist versprochen und so wurde Klaus natürlich auch nicht bestraft. Nur ein wenig ausgeschimpft.

 

Ein weiteres Erlebnis, dass meine Eltern auch noch viele Jahre nach dem Tod meiner Großmutter weitererzählten, war, dass Klaus sich sehr gerne in der Werkstatt unseres Vaters zu schaffen machte. Besonders Hammer und Nägel hatten es ihm angetan. Schlimm war das nicht, denn mein Vater freute sich immer sehr darüber das wir, mein Bruder und ich, handwerkliches Interesse zeigten. Schlimm fand es unser Vater hingegen, dass er, nachdem Klaus sich in seiner Werkstatt zu schaffen machte, niemals sein Werkzeug wiederfand, weil Klaus dieses an allen möglichen Stellen und selbst im Garten achtlos liegenließ, wo unser Vater es dann oft nur durch puren Zufall wiederfand. So verbot er dann irgendwann Klaus, sich weiter in der Werkstatt zu bedienen und schloss diese sogar vorsichtshalber ab.

 

Meine Oma besorgte daraufhin Hammer und einen großen Karton Nägel und ab da saß Klaus fast tagtäglich bei Oma im Wohnzimmer auf dem Fußboden und schlug Nägel in den Eichenboden. Unter der Freude meiner Oma und dem Leid meines Vaters, der allabendlich, nachdem er von der Arbeit heimgekehrt war, die Nägel mit einer Zange wieder aus dem Fußboden ziehen musste.

 

Nein, Oma zeigte ihre Liebe zu uns Kindern niemals mit Zärtlichkeiten. Weder mit zärtlichen Taten, noch mit zärtlichen, liebevollen Worten. Ich glaube, das kam daher, dass sie einer ganz anderen Generation entwachsen war, einer Generation in der es verpönt war, öffentlich Emotionen zu zeigen und in denen Worte voller Wärme und Liebe das Zeigen von Schwäche bedeutete.

 

 

Ich weiß nicht, wie es meinen Geschwistern ging, aber ich habe diese Art Zuneigung zu zeigen oder zu empfangen, bei meiner Oma niemals vermisst. Für Umarmungen, Küsse und Kuscheln gab es ja Mama und Papa und mir reichte das.

 

Ich kann mich noch an viele Dinge erinnern. An Omas Strenge, an ihre festen Regeln und Rituale, die ihren Tag bestimmten und von denen sie niemals abwich. An ihre immer korrekte, schlichte Kleidung die sie trug und an ihre grauen Haare und besonders an ihr verschmitztes Lächeln. Das irgendwie nicht so richtig zu dieser Frau zu passen schien, die so streng und unnahbar wirkte und, da bin ich fast sicher, dass sie gerne unterdrückt hätte, weil es zu viel von ihrem Inneren zeigte. Ich kann mich auch gut an all die Leute erinnern, die fast täglich, zu festgelegten Zeiten zu ihr kamen, um Hilfe bei ihr zu finden und wohl auch meistens zu erhalten.

Oft, wenn jemand bei ihr war, habe ich versucht durchs Schlüsselloch zu schauen, weil ich sehr neugierig war zu erfahren, was Oma wohl tat, um den Leuten zu helfen. Gelungen ist mir das hingegen doch nie und ich glaube, Oma hatte vielleicht, wohlweislich über meine und die Neugier meiner Geschwister Bescheid wissend, auch das Schlüsselloch mit einem Tuch verhangen. Durch eines der Fenster konnte ich hingegen nicht hineinschauen, da ich noch zu klein war, um auch nur über den Fenstersims blicken zu können.

So blieb das was Oma dort drinnen in ihrer Wohnung tat, für immer ein Geheimnis für mich.

 

 

Ich kann mich auch gut an das lange Sterben von Oma erinnern, welches sich über Jahre dahinzog.

Was Oma genau gehabt hat, oder ob es nur ihr Alter war, welches sie sterben lassen hat, kann ich nicht sagen. Aber sie hat sich gewehrt gegen ihren Tod und war noch nicht bereit zu gehen.

 

Es war sehr seltsam, denn über Jahre war sie bettlägerig und lag mit geschlossenen Augen und röchelnd in ihrem Bett, während meine Mutter sie über all die Jahre pflegte. Mir bereitete der Anblick meiner Oma, die so zerbrechlich in ihrem großem Bett auf dem großen Kopfkissen lag, Furcht. Nichts war geblieben von der einst strengen und starken Frau. Ich ging nicht gerne in ihr Krankenzimmer und wenn, dann nur, wenn ich auch meine Mutter dort wusste, denn instinktiv spürte ich, dass der Tod schon längst ein Mitbewohner dieses Zimmers geworden war, was mir Angst bereitete.

 

Angst machte mir auch, wenn meine Oma nachts zu schreien begann. Sie rief dann immer den Namen meiner Mutter, während ich fast erstarrt in meinem Bett lag und ihrer Stimme lauschte und mich nicht traute aufzustehen, um selbst nach meiner Oma zu schauen. Beruhigt war ich erst, wenn ich meine Mutter die Schlafzimmertreppe herunterkommen hörte, weil ich wusste, dass nun die Schreie verstummen würden. Als Kind wusste ich nicht, warum meine Oma so schrie, aber heute weiß ich, dass sie es nicht aus Schmerz tat, sondern das Großmutter aus Angst schrie. Sie wollte nicht sterben und wehrte sich mit all ihrer nachlassenden Stärke gegen den Tod.

 

Unser Hausarzt kam mehrmals die Woche und verließ die Wohnung oft mit den Worten, dass Oma nur noch wenige Stunden zu leben hätte. Aber aus den Stunden wurden Tage, Wochen und schließlich Jahre und manchmal, dann erwachte Oma, so als wäre nichts geschehen. Stand auf, wusch sich, kleidete sich an, frühstückte und versorgte Purzel, der über all die Jahre nicht von ihrem Bett wich. Sie verbrachte so einen, manchmal auch zwei Tage in scheinbar völliger Gesundheit und bei vollständig klarem Verstand, um dann am darauffolgendem Tag nicht mehr aufstehen zu können und wieder hilflos, klein und röchelnd in ihrem Bett zu liegen. Manchmal Wochen, Monate oder auch ein oder zwei Jahre. Bis dann wieder, für ganz kurze Zeit, ihre Lebensgeister erwachten.

 

An einem dieser Tage, an denen sie plötzlich, wie durch ein Wunder erwachte, schenkte sie meiner Mutter den ersten Kanarienvogel, der leuchtend gelb und obwohl ein wenig verängstigt, fröhlich in seinem Vogelbauer vor sich hin trällerte.

Ja und dieser Kanarienvogel, ist das einzige, was mich in meinem bisherigem Leben mit der Farbe gelb verbindet.

 

Meine Mutter hatte sich immer einen solchen Vogel gewünscht, doch niemals mit irgendwem darüber gesprochen, denn meine Mutter war in dieser Beziehung etwas seltsam, denn in eigenen Wünschen und Sehnsüchten und darin sich diese selbst zu erfüllen, sah sie wohl nur Egoismus und Selbstsucht. Diese seltsame Auffassung bekamen mein Vater, aber auch wir Geschwister sehr oft zu spüren. Denn manchmal, wenn sich meine Mutter ganz spontan etwas wünschte oder besonders schön fand, beknieten wir sie oft geradezu, sich diese Dinge zu kaufen. Getan hat sie es hingegen nie. Ihre Begründung war immer, dass es wichtigere Dinge gab, als ein schönes Kleid, schöne Schuhe, wo es die alten doch noch taten. Ein hübscher Ring, ein Armband oder anderer Schmuck, der ja doch nur in irgendeiner Schublade verstauben würde. Viel wichtiger war es, so meinte sie, dass es uns Kindern und uns als gesamte Familie an nichts fehlen dürfte. Ja, dass klingt edelmütig, aber ich bin davon überzeugt, dass es das in Wirklichkeit nicht war. Sondern dass sich meine Mutter damit selbst in eine Art Opferrolle versetzte, die sie vollends genoss. Sie, die Ehefrau und Mutter, die auf alles verzichtete, nur damit es dem Ehemann und den Kindern gut geht. In dieser Rolle gefiel sie sich, was mir aber natürlich erst wirklich klar wurde, als ich selbst schon älter und erwachsener wurde.

 

Jedenfalls, Mutter hatte sich immer heimlich einen Kanarienvogel gewünscht und diesen, da keiner ihren Wunsch kannte, niemals erhalten.

 

An dem vermeintlichem Sterbebett meiner Großmutter hingegen, hatte sie irgendwem diesen Wunsch anvertraut. Als Oma nun wieder einen ihrer seltenen Tage hatte, an denen sie, so als wäre nichts geschehen, erwachte, erfüllte sie meiner Mutter diesen Wunsch.

 

Oma, nein, sie hatte die Worte meiner Mutter nicht bewusst gehört, trotzdem waren sie in ihr Bewusstsein gelangt, dass Bewusstsein einer Sterbenden, und hatten sich dort verankert und so trällerte bald schon ein gelber Kanarienvogel in unserem Wohnzimmer, der den Namen Hansi bekam. Kanarienvögel können überraschend alt werden - zehn bis zwölf Jahre und trotzdem, irgendwann folgte diesem ersten Kanarienvogel der nächste und übernächste und alle bekamen den Namen Hansi. Bis zu ihrem eigenem Tod mit 82 Jahren, hat Mutter seit damals, als ihr Oma den allerersten schenkte, immer Kanarienvögel gehabt.

 

Als Kind fand ich es schon seltsam, dass meine Oma den Wunsch meiner Mutter, trotz ihres Koma artigem Zustandes, mitbekommen hat. Später dann, als ich selbst schon älter wurde, hat dieses Erlebnis mich hingegen nachdenklich gemacht.

 

Wenn ich heute in einem Buch lese, oder in einem Film sehe, dass irgendwer von einem Arzt vertröstet wird, weil der im Koma liegende Patient doch nichts von dem mitbekommt, was um ihn herum geschieht und nichts über seinen eigenen Zustand weiß, so bin ich sicher, dass dies nicht unbedingt stimmt. Ich weiß nicht, was in meiner Großmutter vor sich ging, oder was jemand fühlt, der künstlich am Leben gehalten wird. Ich weiß nur, dass er oder sie etwas fühlt und das er immer noch ein denkendes Wesen ist. Ich stelle mir das so ähnlich vor, wie einen Laib Brot, der von außen nach innen mit der Zeit immer trockener wird. Irgendwann ist er steinhart und wird ungenießbar. Doch ganz tief drinnen, in der Mitte seines Leibes gibt es noch eine ganz kleine weiche Stelle, die in der sie umgebenden Härte gefangen ist.

 

Für mich hat dieses Erlebnis und das Sterben meiner Großmutter den Entschluss gefestigt, hat ihn vielleicht auch erst hervorgebracht, mich niemals lebensverlängernden Maßnahmen hinzugeben, wenn doch mein wirkliches Leben schon längst erloschen ist.

Ich habe keine Angst vor dem Tod, doch habe ich Furcht vor dem Sterben.

 

Meine Oma wurde niemals an Apparaturen angeschlossen, die ihr Leben verlängern sollten. Meine Oma hat einfach nur gekämpft und wollte dieses Leben nicht einfach so hingeben. Jahre wurde sie von meiner Mutter gepflegt. So lange, bis schließlich auch meine Mutter zusammenbrach, und so mussten beide zusammen ins Krankenhaus verbracht werden.

 

Ihre Krankenzimmer befanden sich auf demselben Flur, nur wenige Türen voneinander entfernt und auch dort im Krankenhaus hat meine Oma nachts noch voller Angst nach meiner Mutter geschrien. Für meine Mutter muss dieses sehr schlimm gewesen sein. Die Schreie meiner Oma hören zu müssen, die immer wieder ihren Namen rief und nicht zu ihr zu können.

Doch irgendwann musste meine Großmutter ihren Kampf aufgeben und starb.

 

Ich glaube, ich war damals nicht besonders traurig über ihren Tod. Oma ist jetzt im Himmel, hieß es und auch wenn ich wusste, dass dieses bedeutete, dass sie nun tot wäre, reichte mir das Wissen, dass sie nun im Himmel sei um mich zu trösten und außerdem, ich war wohl sehr froh darüber, nun ihre Schreie nicht mehr hören zu müssen.

 

Meine Geschichte, nein sie hat nicht wirklich etwas mit der Farbe gelb zu tun und hätte meine Mutter sich keinen Kanarienvogel gewünscht, sondern vielleicht eine Schildkröte, so würde die Farbe gelb nicht einmal in ihr vorkommen.

 

Gelb umgibt uns alle. Gelb das ist Fröhlichkeit und bedeutet Leben. Gelb, das ist die Sonne, auf den Bildern von Kindern, die oft mit einem lächelndem Gesicht gemalt wird. Gelb sind die Blüten manch unscheinbarer Blumen, die uns zeigen, der Frühling ist da. Gelb steht für Optimismus, Heiterkeit und Intelligenz. Gelb steht aber auch für den Neid und in manchen Erdteilen ist sie die Farbe des aufkommenden Irrsinns.

 

Gelb ist also eine Farbe der wir nicht ausweichen können und mit der wir alle, jeder für sich und auf ganz eigene Art, eine Verbindung eingegangen sind. Für mich steht die Farbe gelb für einen Kanarienvogel namens Hansi und noch viel mehr für meine Großmutter. Für ihren Ernst, ihre Strenge, ihre ganzen Geheimnisse und ihre unbeholfene Art, Liebe zu zeigen. Sie steht aber auch für den Kampf meiner Großmutter, der viele Jahre andauerte und den sie am Ende doch nur verlieren konnte.

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2021

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