Endlich kam er wieder zu sich. Ich hatte schon befürchtet, ihm den Rest gegeben zu haben, dabei sollte er doch leiden. Leiden, so wie sie es tun musste, über all die Jahre, durch das was er ihr
angetan hatte. Ich wollte, dass er es spürt - all das Leid, das sie durch ihn erlitten hatte, ihre
Wehrlosigkeit, ihre Ohnmacht. Ich wollte, dass er weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Körper
gemartert und die Seele zu Scherben zerspringt, und ich wollte auch, dass er meinen Hass spürt, auf ihn, der ihr das antat, und meinen quälenden Schmerz, weil ich ihr nicht helfen konnte.
Ich wollte, dass er all das weiß, all das spürt, bevor ich ihn endgültig vernichten würde ...
Ich war nur gekommen, um ihn zu sehen. Der Geruch von Tuja lag in der Luft, dieser Geruch, der einen nicht vergessen ließ, an welchem Ort man sich befand. Geruch nach Traurigkeit und Tod. Ich vergrub meine Hände tief in die Manteltaschen und presste mich noch dichter an die dickstämmige Kiefer, hinter der ich mich versteckt hielt. Mein Blick glitt über Gräber, strich über Wege, streifte kleinwüchsige Buchsbaumhecken und verharrte schließlich auf der kleinen Gruppe Menschen, die dort hinten um ein geöffnetes Grab standen.
Ich war zu weit weg, um die Worte des Pfarrers verstehen zu können, aber ich wusste, egal was er sagen würde, alles war nur Lüge. Es gab keine Hoffnung, keinen Gott, keine Gnade. Für sie hatte es nur Qual, nur Albträume, nur Finsternis gegeben.
Vielleicht hatte sie noch geschrien, vielleicht sich noch zu wehren versucht, vielleicht hatte ihre Seele noch versucht, sich aufzubäumen, damals, als er das erste Mal zu ihr in ihr Zimmer kam.
Damals, als sie kaum zwölf Jahre alt war, er sich in der Dunkelheit über sie beugte, ihr zärtlich über das Haar strich, seine Lippen dicht an ihr Ohr legte und ihr leise zuflüsterte "Ich liebe dich wie
Mama" und sie noch nicht wusste, wie weh das tat.
Ja vielleicht hatte sie damals noch geschrien, vielleicht hatte er aber auch seine schwere, starke Hand auf ihren Mund gepresst, bevor er sich das nahm, wogegen sie sich nicht zu wehren
vermochte.
Vielleicht wäre es damals noch nicht zu spät gewesen, wenn es irgendwen gegeben hätte, der ihr hätte helfen können, der in ihren Augen erkennen und in ihrer Seele lesen hätte können und der ihr aus der Dunkelheit, in die sie allmählich versank, hinausgeholfen hätte. Vielleicht würde sie heute noch Leben und ich, ich würde nicht an dieser Stelle stehen, dicht hinter dieser Kiefer, auf diesem Friedhof und meinen Blick nicht abwenden können von diesem Mann dort vorne, der mit
gebeugtem Kopf, trauer heuchelnd, an ihrem Grab stand.
Ihr Vater, der ihr das alles angetan hatte und der nicht wusste, dass es mich gab. Mich die ich hier, ganz in seiner Nähe stehe, ihn beobachte und deren Hände sich in den Tiefen ihrer Manteltaschen langsam zu Fäusten ballen…
Ich werde nie vergessen, als ich sie das erste Mal sah, dort in diesem Krankenhaus, in dem ich erst seit wenigen Monaten als Pflegerin arbeitete. Sie lag in diesem schmalen Krankenhausbett, ihr Blick starr und unbeweglich zur Zimmerdecke gerichtet und bemerkte mich kaum, als ich das
Zimmer betrat, um irgendetwas zu holen. Bestimmt hatte ich etwas gesagt, als ich ins Zimmer trat. Vielleicht so etwas wie "Guten Morgen", oder "Hallo!", aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Es spielt auch keine Rolle, denn selbst wenn ich laut singend und tanzend in das Krankenzimmer
gestürmt wäre, sie hätte mich auch dann nicht beachtet und ihren Blick nicht von der Zimmerdecke losgerissen.
Ich wusste nichts über sie, nur ihren Namen kannte ich aus der Medikamentenliste und wusste das sie neunzehn Jahre alt und von der Polizei eingeliefert worden war. Volltrunken hatte sie irgendwo in der Gosse gelegen, war nicht ansprechbar gewesen und die Beamten, die sie so fanden,
irgendwann, mitten in der Nacht, hatten sie hierher geschafft. Ein paar Tage hatte man sie mit
Alkoholvergiftung auf der Intensivstation behandelt, und nun lag sie auf der normalen Station und sollte bald entlassen werden.
Wenn ich Dienst hatte, brachte ich ihr ihre Medikamente und blieb länger, als es nötig gewesen
wäre. Warum? Ich wusste es nicht. Mitleid? Neugier vielleicht?
Ich reichte ihr den kleinen Kunststoffbecher mit den Tabletten, nahm das Glas vom Nachtschrank, goss ihr etwas Wasser ein, reichte es ihr, nur um nicht gleich wieder gehen zu müssen. Dann
schaute ich auf sie herab, versuchte, ihr Gesicht zu ergründen und in ihren Augen zu lesen.
Ungepflegte, kurze braune Haare und Züge, die ein Alter zeigten, welches ihr Körper noch nicht
erreicht hatte. Der Blick in ihre Augen erschreckte mich. Da war nichts, nur unergründliche leere und vielleicht war es ja das, was mich immer öfter in ihr Zimmer gehen ließ. Vielleicht hoffte ich, diese leere irgendwann mit leben füllen zu können. Immer wieder kam ich in ihr Zimmer, oft einige Male am Tag. Viel öfter als nötig und sehr viel öfter als mein Job es mir erlaubte. Trotzdem suchte ich unter vielen Vorwänden ständig ihre Nähe - öffnete das Fenster zum Lüften, kam später herein, um es wieder zu schließen. Zog die Gardinen vor, wenn ich glaubte, die Sonne könnte sie stören, wischte das Waschbecken aus, schaute nach, ob noch alles an seinem Platz stand, oder rückte
einfach irgendwelche Dinge zurecht.
Irgendwann fragte ich sie, ob sie denn niemals Besuch bekam "Ich brauche niemanden!" antwortete sie gereizt. Ich glaube, das war das erste Mal, dass sie überhaupt mit mir sprach. "Das habe ich dich nicht gefragt" antwortete ich und sie zischte "Was geht es dich an?", "Nichts", erwiderte ich und verließ das Zimmer.
Danach sprachen wir öfter miteinander. Nur kurze Sätze zwar und immer wenn sie etwas sagte,
hatte ich das Gefühl, sie würde nur sprechen, um sich gegen mich zur wehr zu setzen.
Eigentlich war ich nur zu ihr gekommen, um mich von ihr zu verabschieden. Sie war gerade dabei ihre letzten Habseligkeiten zusammenzusuchen, als ich in das Krankenzimmer trat. Viel war es nicht, niemand hatte ihr irgendetwas gebracht und die Kleidung, die sie trug, war dieselbe, mit der sie eingeliefert wurde. Irgendwer hier im Krankenhaus hatte sie zum reinigen in die Wäscherei
gegeben.
"Ich wollte nur tschüss sagen" meinte ich, als ich an sie herantrat "Mhm, OK, tschau" murmelte sie. Einen Moment lang stand ich nur da, wusste nicht, was ich noch sagen sollte, hatte aber das Gefühl, unbedingt noch etwas sagen zu müssen. "Wohin gehst du jetzt?" fragte ich deshalb. Sie zuckte nur mit den Schultern, schaute sich noch einmal im Zimmer um, so als könne sie befürchten,
irgendetwas vergessen zu haben. "Du kannst mit zu mir kommen" sagte ich und wusste nicht,
warum ich das gesagt hatte. Es war nur ein Impuls gewesen, aber jetzt war es schon heraus und ich konnte die Worte nicht mehr zurücknehmen. "Warum?" schaute sie mich fragend an. "Ich hab Platz" log ich und dachte dabei an meine kleine Einzimmer - Wohnung und daran, dass das ihre
Frage nicht beantwortete.
Eine Weile schaute sie mich an, dann sagte sie "OK", einfach nur OK, ohne noch eine weitere Frage an mich zu richten. "Noch eine Stunde, dann hab ich Schluss hier. Am besten wartest du draußen vor dem Krankenhaus auf mich" gab ich ihr zu verstehen und wieder bekam ich nur ein "OK" zur Antwort.
Ich denke, ich habe damals nicht wirklich geglaubt, dass sie auf mich warten würde, aber als ich das Krankenhaus verließ, saß sie dort auf den Stufen des Portals und rauchte. Ich tippte ihr auf die Schulter "Wir können".
Eine weile gingen wir schweigend nebeneinander her. "Hast du kein Auto?" fragte sie mich
irgendwann "Nein, kann ich mir nicht leisten, aber es ist nicht mehr weit". Danach wieder nur schweigen, bis sie irgendwann meinte "Du kannst mich Claudie nennen, alle tun das". Ich glaubte nicht, dass irgendwer sie Claudie nannte. Ich glaubte auch nicht, dass sie irgendwen kannte, der sie so nennen könnte und ich glaube, es wollte sie auch niemand kennen. Aber ab da nannte ich sie Claudie.
Als wir meine kleine Wohnung betraten, schaute sie sich nur kurz um und ich war froh, dass sie mich nicht fragte, warum ich gelogen hatte.
Ab da lebten wir zusammen.
Ich weiß nicht, was sie tat, wenn ich nicht da war. Aber ich glaube, dann saß sie einfach nur da, starrte vor sich hin, schaute irgendwo in eine Ferne, die weit hinter den Wänden meiner Wohnung lag und oft, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, saß sie immer noch so da.
Wir sprachen niemals viel miteinander und in der ersten Zeit unseres Zusammenlebens, hatte ich noch das Gefühl, ihr schweigen würde mir gelten. Aber irgendwann spürte ich, dass es nicht ich war, die sie schweigen ließ, sondern das sie nur den Worten misstraute und dem, was sie vielleicht sagen würde, wenn sie es zuließ zu sprechen.
Manchmal setzte ich mich neben sie und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, schaute ihr in die
Augen, die nach wie vor so leer waren wie damals, als ich sie das erste Mal in diesem
Krankenhausbett liegen sah. Manchmal nahm ich auch einfach nur ihre Hand in die meine,
streichelte sanft über ihren Handrücken, ließ meine Finger über die ihren gleiten und irgendwann ließ sie es zu, zuckte nicht mehr unwillkürlich wie ein verletztes Tier zurück, sondern ließ es
einfach geschehen.
"Sprich mit mir!", wie oft habe ich ihr wohl diese Worte gesagt, wie oft habe ich sie darum gebeten, sie angebettelt, angefleht? "Bitte rede doch mit mir!" und manchmal schaute sie mich dann an und ich konnte ein leichtes zucken um ihre Mundwinkel erkennen und in ihren Augen lag dann etwas, dass ich nur erahnen konnte. Ein flüchtiges aufblitzen nur. Eine vage Erinnerung an das Leben.
Manchmal, wenn ich von der Arbeit heimkommend durch die Straßen der Stadt ging, überkam mich das Gefühl, das ich in eine leere Wohnung kommen würde. Das sie einfach so gegangen sein könnte und wenn ich daran dachte, beschleunigte ich meine Schritte, hastete über den Asphalt und bekam Angst. Ich wollte nicht, dass sie ging. Ich wusste, dass wir uns nicht wirklich nahe waren, aber das wenige, was uns verband, wollte ich nicht verlieren. An solchen Tagen rannte ich die
Straße entlang, zog noch im laufen meinen Wohnungsschlüssel hervor, öffnete schließlich nervös und mit fahrigen Händen die Tür und war froh, sie dort sitzen zu sehen. So wie an jedem Tag den ich nach Hause kam. Ich weiß nicht, warum ich solche Furcht davor hatte, sie verlieren zu können, aber wenn ich sie dann sah, beruhigte sich mein Herz, wurde mein Atem ruhiger und durchfloss
Erleichterung meinen Körper. Ich glaube, an solchen Tagen spürte sie, welche angst ich davor
hatte, sie könnte einfach so gehen. Wir redeten niemals darüber, aber ich denke heute, dass es nur an meiner Furcht lag, dass sie blieb und mich nicht alleine ließ.
Meine Wohnung war zu klein, für ein zweites Bett. So schliefen wir beide gemeinsam in meinem. Schon in der ersten Nacht bat sie mich, dass Licht nicht zu löschen, weil sie die Dunkelheit nicht
ertrug. Als ich sie irgendwann schlafend wähnte, schaltete ich es trotzdem aus. Irgendwann in der Nacht schreckte ich hoch. Ihr stöhnen hatte mich geweckt. Ich knipste das Licht an, schaute auf sie herab, die immer noch schlafend neben mir lag. Schweiß stand auf ihrer Stirn, unruhig warf sie ihren Kopf mal auf die rechte, mal auf die linke Seite. Ihre Augenlider flatterten unruhig und so, als würde sie versuchen, diese zu öffnen, und doch davor zurückschrecken, voller Angst vor dem, was sie dann erblicken könnten. Ich rüttelte sie wach, strich sanft über ihr Haar und versuchte sie zu
beruhigen "Alles ist gut, es ist nur ein Traum, ein böser Traum". Sie setzte sich auf, ihre Augen
irrten im Zimmer umher, fanden schließlich mein Gesicht. Dann umschlang sie mich mit ihren
Armen, klammerte sich an mich und wieder stöhnte sie leise auf. Noch im selben Moment stieß sie mich von sich, ließ ihren Kopf wieder auf das Kissen fallen und drehte mir schließlich den Rücken zu.
Schon damals flehte ich sie an, mit mir zu reden.
Als sie es dann wirklich tat, geschah es ohne ihren Willen.
Draußen prasselte der Regen herunter. Der Wind strich an den Fenstern entlang und forderte
heulend Einlass. Blitze durchzuckten den Himmel, ließen an den Wänden surreale Schatten
entlangtanzen, die in den Ecken des Raumes in Dunkelheit verschwammen. Lichtfinger zerplatzten an der Zimmerdecke, strichen an den Wänden entlang, sprangen auf die Bettdecke, doch noch ehe sie nach einem greifen konnten, verschwanden auch sie, zogen sich wie verwundet zurück, um mit den tänzelnden Schatten eins zu werden. Donner grollte am Firmament, durchpflügte drohend die Luft, bäumte sich auf, um dann leiser und leiser zu werden und schließlich ganz zu verklingen, nur um einem trügerische Sicherheit vorzugaukeln, die sogleich erstarb, sobald er von neuem sein
bedrohliches Knurren verhören ließ.
Dicht nebeneinander lagen wir in meinem Bett und konnten beide nicht einschlafen. Wir starrten an die Decke und verfolgten das bläuliche Licht, welches von draußen zu uns hereindrang und
flimmernd über unseren Köpfen dahin sprang. Wir hörten dem Regen zu, wie er prasselnd gegen die Scheiben schlug, lauschten dem Sturm und dem finsterem grollen dort draußen vor dem Fenster.
Ich erschrak fast, als plötzlich, durch den Lärm des Gewitters hindurch, Claudies Stimme zu mir drang. Leise und so, dass ich sie gerade noch hören konnte, begann sie zu erzählen.
Davon, wie sie als kleines Mädchen vor Angst erstarrt in ihrem Bett lag, wie sie versuchte, die sie umgebende Nacht mit ihren blicken zu durchdringen. Sie erzählte, wie sie da lag und auf seine Schritte lauschte. Auf das dumpfe Geräusch, wenn er die Treppe hochkam, die schweren Schritte, wenn er den Flur entlangging, dass Geräusch, wenn er die Türklinke zu ihrem Zimmer langsam
herunterdrückte, sich die Tür fast lautlos öffnete und hinter ihm wieder schloss. Seinen Schatten, der ihr immer näher kam, schließlich neben ihrem Bett stehen blieb, sich über sie beugte. Seinen oft nach Alkohol riechenden Atem, wenn er seine Lippen erst auf ihre Stirn, dann auf ihren Mund presste. Wenn seine Hände über ihr Haare strichen und dann nach ihrem Körper griffen.
Ich lag da, lauschte ihrer Stimme, die leise, fast flüsternd an mein Ohr drang. Irgendwann setzte Claudie sich auf, schlang die Arme um ihre Knie, starrte an die gegenüberliegende Wand, an der noch immer der Tanz von Licht und Schatten seinen Fortgang nahm und fuhr fort, mir die Hölle ihrer Kindheit zu berichten. Mit monotoner, fast gleichgültiger Stimme erzählte sie von all den
Jahren, in denen sie erdulden musste, was ihr Vater ihr antat, wenn er zu ihr kam. Von ihrer Angst, die sie in die Dunkelheit lauschen ließ und von all dem Schmerz, der Scham und dem Schmutz der blieb, wenn er endlich wieder gegangen war. Sie erzählte von ihrer Mutter, die all das nicht
wahrhaben wollte, die einfach ihre Augen schloss und ihr nicht helfen wollte oder konnte. Sie
erzählte, wie oft sie von zu Hause fortgelaufen war, wie man sie aber immer wieder einfing und
dieses unartige und rebellische Mädchen wieder ihren Eltern, ihrem Vater überließ.
Erst als sie sechzehn wurde, musste sie das letzte Mal flüchten. Zuerst versteckte sie sich noch,
hatte Angst bei jeder Polizeistreife, die ihr begegnete, fürchtete sich vor fremden Blicken, doch
irgendwann begriff sie, dass niemand mehr auf der Suche nach ihr war.
Ab da lebte sie auf der Straße, ließ sich treiben, stahl, betäubte sich mit Alkohol, manchmal mit Drogen, nur um nicht schreien zu müssen.
Claudie saß noch immer, mit um den Knien umschlungenen Armen da und schwieg nun.
Auch ich sagte nichts, denn ich wusste, dass alles hatte sie nicht mir erzählt, sie hatte es den
tanzenden Schatten berichtet, hatte es dem Donner zugeflüstert und dem Regen, der noch immer an die Scheiben schlug, mit auf die Reise gegeben. In dieser unwirklichen Nacht hatte sie vergessen, dass es mich gab.
Langsam ließ sie den Kopf wieder auf das Kissen niedersinken, starrte wie zuvor mit offenen
Augen gegen die Zimmerdecke und ich lag da, neben ihr und wusste nicht was ich sagen, was ich tun sollte. Dann griff ich unter der Bettdecke nach ihrer Hand, drückte diese sanft, ohne das sie
meinen druck erwiderte, und schließlich flüsterte ich "Er muss dafür bezahlen. Er muss büßen, für all das, was er dir angetan hat" Claudie lag einfach so da, antwortete nicht, entzog aber auch ihre Hand nicht der meinen und so fuhr ich fort "Du musst dieses Schwein anzeigen!" Und es waren wohl nur diese wenigen Worte, in dieser seltsamen Nacht, die wirklich an mich gerichtet waren, als sie mir mit verächtlicher Stimme antwortete "Du weißt nichts, nichts weißt du. Du hast doch keine Ahnung. Lass mich gefälligst in Ruhe!" Dann entzog sie mir ihre Hand, drehte mir den Rücken zu und wir sprachen nie wieder darüber.
Einige Tage später, die dieser unwirklichen Nacht gefolgt waren, wusste ich, noch bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte, um die Wohnungstür zu öffnen, dass sie mich verlassen hatte. Dass meine kleine Wohnung nun leer und einsam war, weil sie nicht mehr da sein würde, um auf mich zu warten.
Sie lag auf dem Bett, ihre Augen geschlossen. In ihrem Gesicht lag Sanftmut und Frieden und etwas von dem Mädchen, welches sie einmal hätte werden können, wenn es nicht schon zerstört worden wäre, als sie noch ein Kind war.
Auf dem Fußboden lag ein Wasserglas, welches ihr wohl aus den Händen geglitten war. Daneben das leere Tablettenröhrchen.
Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante, nahm ihre Hand in die meine, streichelte diese sanft und wünschte so sehr, weinen zu können.
Ich war nur gekommen, um ihn zu sehen. Um in sein Gesicht, in seine Augen schauen zu können. Ich hatte mich versteckt, presste mich dicht an die Kiefer, hinter der ich stand und beobachtete
diesen Mann da vorne, der nun seinen Arm hob um sie der Frau, die neben ihm stand, um die
Schulter zu legen.
Meine Hände, die ich tief in die Taschen meines Mantels vergraben hatte, ballten sich langsam zu Fäusten und in diesem Moment wusste ich, dass ich ihn töten werde, töten musste.
Ich ging nicht mehr zur Arbeit, ließ mein Handy einfach klingeln, wenn irgendwer versuchte mich zu erreichen. Ich saß einfach so da, starrte vor mich hin, überließ mich dem Schmerz und floh vor meinen Gedanken, die ich nicht zulassen durfte, um nicht verrückt zu werden.
Es war so einfach, seine Adresse herauszubekommen, und niemandem fiel diese Frau auf, die
einige Abende gegenüber seines Hauses stand und dieses beobachtete. Die einfach so dastand und registriere, wann er nach Hause kam und wo er seinen Wagen parkte. Die seine Bewegungen
studierte, seine Gelassenheit, wenn er den Aktenkoffer aus dem Fond nahm und sich mit schnellen Schritten dem Haus zuwandte, wo ihm nach nur wenigen Augenblicken die Tür geöffnet wurde. Die sah, wie sich hinter ihm die Tür wieder schloss und von der niemand ahnte, was in ihr vorging und nur ein Blick in ihre Augen, erschrecken verursacht hätte.
Doch niemand interessierte sich für diese unbekannte Frau, die Abend für Abend dort drüben auf der anderen Straßenseite stand und auf dieses Haus starrte.
Es stellte auch keiner Fragen, als sie den Kastenwagen bei der Autovermietung abholte, oder als sie im Baumarkt Klebeband, Kabelbinder und dieses Stück Rohr kaufte, von dem nur sie wusste, dass es ihn töten würde.
Als ich in dem Wagen saß und auf ihn wartete, wusste ich nicht, ob ich im Stande sein werde, es wirklich tun zu können und auch, als er endlich angefahren kam und sein Fahrzeug abstellte, wusste ich es noch nicht. Selbst als ich schließlich ausstieg und meine Hände mit festem, fast
schmerzhaftem Griff das Rohr umschlossen, ich langsam auf ihn zuging, der mir den Rücken
zuwendete und gerade dabei war seinen Aktenkoffer aus dem Auto zu holen, wusste ich nicht, ob ich es wirklich schaffen werde. Erst als ich schon die Hände erhoben hatte, als ich ausholte und der Stahl durch die Luft schoss und der Schlag ihn mit einem dumpfen Geräusch am Schädel traf, als er sich erschrocken, ja fast erstaunt, nach mir umwandte und ich ein zweites Mal zuschlug, wusste ich, dass ich es konnte.
Mit einem Röcheln brach er vor mir zusammen. Blut sickerte aus seinen Haaren hervor, breitete sich unter seinem Kopf langsam aus, aber noch lebte er.
Schnell nahm ich das breite Klebeband, riss ein Stück davon herunter, verklebte ihm schließlich den Mund. Dann holte ich die Kabelbinder hervor, fesselte zuerst seine Hände, danach band ich auch seine Füße zusammen.
Es war schwer, ihn bis zu dem Kastenwagen zu schleifen, und noch schwerer war es, ihn in den
Laderaum zu wuchten. Die Anstrengung ließ mir den Schweiß aus den Poren treten, ließ mich
meinen Atem heftig und nur stoßweise aus der Brust pressen, doch endlich schaffte ich es. Ein
Stöhnen entrang ihm, als es mir endlich gelungen war, seinen Körper über die Ladekante des
Fahrzeugs zu rollen und sein Kopf mit einem dumpfen Schlag auf den Boden des Wagens schlug. Schnell schloss ich die hinteren Türen, setzte mich dann ans Steuer, wischte mir den Schweiß vom Gesicht und aus den Augen und gab schließlich Gas.
Ich verließ die Stadt, lenkte den Wagen die Bundesstraße entlang, bog dann, nach nur wenigen
Minuten auf die Landstraße, die mich durch einige kleine Dörfer führte.
Manchmal drehte ich mich um, schaute nach hinten in den Laderaum wo sein Körper, auf dem
stählernem Boden lag und langsam hin und her schaukelnd, den Bewegungen des Fahrzeugs folgte.
Ich starrte durch die Windschutzscheibe, versuchte, mich auf den grauen Asphalt zu konzentrieren, der unter mir dahinglitt. Gedanken explodierten in meinem Kopf, nahmen Form an und
verschwammen wieder, noch bevor ich ihrer habhaft werden konnte. Ich durfte es nicht zulassen, musste mich wehren gegen das, was in meinem Kopf passierte. Ich musste klar denken, um tun zu können, was ich tun musste.
Ein Stöhnen drang durch meine Gedanken hindurch, als ich auf den schmalen Waldweg abbog und das Fahrzeug, fast als würde es sich gegen mein Vorhaben zur Wehr setzen, ruckelnd und nur
widerwillig der Spur folgte, welcher mir der unebene Weg vorgab.
Ich drehte mich um, schaute nach hinten, wo er noch immer gefesselt und bewusstlos auf der
Ladefläche lag und sein Körper nun den Schlaglöchern und Unebenheiten des Weges ausgesetzt war und in einem absurdem Tanz den Bewegungen des Fahrzeugs nachgab.
Es war nicht weit. Nach wenigen Minuten erreichte ich eine kleine Lichtung, die von Tannen
umsäumt jedem Blick standhielt. Mit einem ruck brachte ich den Wagen zum Stehen, griff nach der Metallstange, die bis eben noch im Fußraum sacht vor sich hingeschaukelt hatte und an deren einem ende Blut und einige, wenige Haare klebten. Dann stieß ich die Tür auf und ging um das Fahrzeug herum, wo ich schließlich auch dort die Türen zur Ladefläche öffnete. Ich fasste seine Beine, zog und zerrte ihn heraus, schleifte ihn endlich bis auf die Lichtung, wo ich einen Moment verharrte, um meinen keuchenden Atem zu beruhigen.
Er lag mit immer noch geschlossenen Augen vor mir im Gras und einen Augenblick befürchtete ich, dass er diese niemals mehr öffnen würde. Erst als ich das leise heben und senken seines
Brustkorbs sah, wusste ich, dass er immer noch am Leben war.
Ich starrte auf ihn hinab, wartete, sah in sein blutverschmiertes Gesicht und umgriff das Eisenrohr in meinen Händen. Seine Lider flatterten, kurz bevor er die Augen öffnete. Er schaute zu mir hoch und ich konnte erkennen, dass er nicht begriff. Noch halb betäubt begann er an den Fesseln zu
zerren, stöhnte auf, wollte schreien und begriff erst jetzt, dass das Klebeband auf seinem Mund
dieses nicht zuließ.
Ich stand da, schaute auf ihn hinab, blickte in seine Augen, betrachtete seinen sich windenden
Körper und dachte an Claudie, die in dieselben Augen geschaut hatte, als er sich in der Dunkelheit über sie beugte, dass sie diesen Körper spüren musste, gegen den sie sich nicht wehren konnte, und dann schlug ich zu.
Immer und immer wieder schlug ich zu, ließ das stählerne Rohr auf seinen Körper, auf seinen Kopf niedersausen, schlug selbst dann noch auf ihn ein, als er schon längst reglos vor mir lag und ich wusste, dass er schon lange tot sein musste.
Ich konnte nicht aufhören, ließ immer und immer wieder den Stahl auf seinen Körper
niederprasseln und selbst als ich keine Luft mehr bekam, als meine Lungen zu brennen begannen und ich kaum noch die Arme heben konnte, schlug ich weiter auf ihn ein.
Dann brach ich zusammen, fiel neben ihn ins Gras, sah nichts mehr, hörte nichts mehr, fühlte nichts mehr.
Danach kann ich mich an fast nichts mehr erinnern. Wie langsam und aus einem dichten Nebel
hervortauchend, spürte ich irgendwann, wie mir irgendwer das Eisenrohr aus den Händen wand, welches ich immer noch fest umklammert zwischen meinen Fingern hielt. Irgendwer berührte
meine Schulter, zog mich schließlich hoch, drängte mich fort und ich sah mich selbst, wie ich einen Fuß vor den anderen setzend, mich langsam von der Lichtung entfernte und wie sich vor mir die Tür eines Polizeiwagens öffnete und ich hinten auf die Sitzbank gedrückt wurde.
Worte, Stimmen, dumpf und von weit her. Zu weit, als das ich deren Sinn verstehen konnte.
Das erste, das ich wieder wahrnahm, waren meine Hände, die ruhig und entspannt auf meinem Schoss lagen. Erst dann sah ich den Tisch, vor dem ich saß und dessen graue Oberfläche das kalte Licht der Neonröhre, die über meinem Kopf an der Decke angebracht war, widerspiegelte. Ich schaute hoch, betrachte die Frau, die mir gegenüber an diesem Tisch saß. Die mich fragend und
auffordernd ansah. Dann hörte ich Worte. Eine Stimme die von einem Mädchen erzählte, das in einem Krankenhaus in einem schmalen Bett gelegen hatte und deren Namen Claudie war. Ich
versuchte, der Stimme zu lauschen und zu begreifen, was sie sagte und erst da merkte ich, dass es meine eigene Stimme, meine eigenen Worte waren und das diese Stimme nicht aufhören wollte, nicht aufhören konnte, bevor sie nicht all das, was geschehen war, erzählt hatte.
Danach wurde es still und ich schaute hoch, blickte in das Gesicht dieser Frau mir gegenüber, die mich immer noch betrachtete und nun ihren Kopf senkte, um in einer dünnen Mappe zu lesen, die sie zu sich herangezogen hatte und nun aufklappte.
Dann schaute sie mich wieder an, sah mir in die Augen und mein Verstand weigerte sich, die Worte zu erfassen, als sie sagte „Der Mann den sie getötet haben war nicht der Vater, zumindest nicht der leibliche Vater. Dieser ist schon vor fast zwei Jahren verstorben“.
Ich versuchte, das, was sie gerade gesagt hatte in meinen Kopf hineinzulassen und ihren Worten
irgendwie einen Sinn zu geben. Aber erst, als sie mich wieder anblickte und wir uns in die Augen sahen, begannen sich die Worte wie von selbst zu ordnen und erst da begriff ich, was ich getan
hatte.
Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2021
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