„Ordnung ist das halbe Leben“.
Wer kennt ihn nicht, diesen Spruch, der allzu gern und allzu oft mit deutlichem Stirnrunzeln begleitet, aus Mamas oder Papas vorwurfsvollem Mund auf einen niederprasselt.
Das halbe Leben, das muss man sich mal vorstellen!
Was könnte man in dieser Zeit nicht alles Sinnvolles machen.
Schlitten fahren zum Beispiel oder, sollte es gerade Sommer sein, Schwimmen gehen.
Sich mit Freunden treffen, Eis essen, einen Drachen steigen lassen, mit dem Fahrrad in den Park fahren um Ball zu spielen. Oder sollte es gerade regnen, die Musik laut stellen und im Takt zu ihr auf dem Bett herum springen und sollte einem überhaupt nichts mehr Gescheites einfallen, könnte man immer noch den Dackel aus dem Nachbarhaus ärgern. Dieses kleine braune Mistvieh, das einen immer mit zusammengekniffenen Augen ganz genau beobachtet, wenn man auf dem Weg zur Schule am Nachbarhaus vorbeigeht und, wenn man nicht aufpasst, sich heranschleicht und einen immer versucht, ins Bein zu zwicken.
So viele schöne Sachen könnte man in all der Zeit tun. Aber nein, Ordnung soll man halten und das gleich das halbe Leben lang.
Dabei, wer bestimmt eigentlich, was Ordnung ist?
Warum müssen Bücher unbedingt im Regal stehen, dabei ist es doch viel praktischer, sie dort hinzulegen, wo man sie, sobald man Lust dazu hat, auch gleich greifen kann, um dort weiterzulesen, wo man beim letzten Mal aufgehört hat - auf dem Tisch, auf dem Bett, neben dem Bett, auf dem Schreibtisch, unter dem Schreibtisch oder einfach so, mitten im Zimmer. Schließlich, man weiß ja nicht, wann man gerade Lust zum Lesen bekommt und wo man sich in dem Moment befinden wird. Also, wenn man mich fragt, ich würde das jedenfalls viel praktischer finden. Aber mich fragt ja keiner.
Auch das ganze Spielzeug, warum soll es unbedingt immer in diese Kiste hinein?
Das meiste davon haben mir Mama und Papa geschenkt: "Schau mal, ist es nicht hübsch?", "Kuck mal hier, da kommen die Batterien rein" oder "siehst du, das kann man sogar bewegen" und heute? Wie soll ich irgendetwas davon anschauen können, wenn alles von mir in irgendeine Kiste hineingepackt werden soll, wo weder ich, noch irgendein anderer es sehen kann?
Nein, heute heißt es nicht mehr "Schau mal" oder "Freust du dich?", heute heißt es "Räum das weg!"
Dann die Legosteine. Kaum möchte man irgendetwas mit ihnen bauen und ist schon fast fertig und es fehlt nur noch dieser eine rote Stein, dann muss man auch schon suchen. Man kramt in der Kiste, wühlt, findet alle möglichen anderen Steine, aber nie diesen einen, den man jetzt, in diesem Moment unbedingt braucht und man sucht so lange, bis man keine Lust mehr hat. Da kann man es auch gleich bleiben lassen.
Wer sagt, dass all die Steine in die Kiste gehören, wenn man den passenden dann doch nicht findet?
Wenn man den Stein gleich dort liegengelassen hätte, wo er vorher war, also im Flur vor der Badezimmertür, dann würde Papa ihn schon finden, wenn er frisch rasiert, mit nackten Füßen aus dem Bad kommt. Man müsste Papa noch nicht einmal fragen, ob er vielleicht diesen einen, roten Legostein gefunden hätte. Man würde es sofort hören. Das spart Zeit!
Gut, man sollte Papa dann lieber für, sagen wir mal, eine Stunde nicht mehr unter die Augen kommen. Zumindest sollte man genau wissen, wie lang seine Arme sind, damit man den nötigen Sicherheitsabstand zu ihm einhalten kann. Aber lieber eine Stunde abwarten, als eine Stunde in der Kiste wühlen und das vielleicht sogar vergeblich.
Auch meine Anziehsachen ist so etwas, was ich nicht verstehen kann "Nein", sagt Mama "Die Strümpfe gehören nicht aufs Bett, sie gehören dort in die oberste Schublade. Dort gleich über der Schublade mit deiner Unterwäsche!" oder aber "Nimm den Pullover vom Stuhl. Ich habe dir schon tausendmal gesagt der gehört in den Schrank ins dritte Fach und außerdem, was macht das Hemd hier, es gehört ordentlich auf den Bügel gehängt!" und manchmal sagt sie auch "Was macht deine Sporttasche hier mitten im Kleiderschrank, zwischen all der sauberen Wäsche? Wann hältst du endlich Ordnung, Wann begreifst du endlich das ... warum wasche ich deine Wäsche überhaupt noch, wenn du doch nicht Ordnung halten kannst?!"
Wann, wann, wann, warum, warum, warum?
Hat man dann doch einmal alles dorthin geräumt, wo Mama es gerne haben will, ist es auch wieder nicht recht, denn gleich am nächsten Morgen bekommt man von ihr zu hören "Beeil dich, du musst zur Schule!" und "Du bist ja immer noch nicht angezogen, warum dauert das so lange?"
Dabei ist doch alleine sie schuld daran, denn wenn ich nicht alles in Schränke und Schubladen räumen müsste, wo ich es dann nicht mehr sehen und deshalb auch nicht wiederfinden kann, dann müsste ich nicht so lange Zeit mit Suchen verbringen und morgens erst durch die halbe Wohnung rennen, um Schränke und Schubladen zu durchwühlen. Alles würde viel schneller gehen. Auch das anziehen.
Na ja, wenn es nur Mama wäre, damit würde ich schon irgendwie klar kommen. Aber Papa ist ja auch nicht anders: Räum dies weg, räum das weg. Lass das liegen, fasse das nicht an! oder aber "Ich glaube fast, du wirst das nie lernen, aber was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr". Beherzige ich aber seinen Spruch, ist es schon wieder nicht richtig. So wie neulich, als ich seinen Rasierapparat mal ausprobieren wollte, um schon mal zu lernen, wie das so geht mit dem Rasieren und wie sich das wohl anfühlt. Da hat er sich nur grinsend vor mir aufgebaut, hat gelacht und mir das Ding aus der Hand genommen "Den brauchst du noch nicht", hat er gesagt, "um das zu lernen, dafür hast du später immer noch genug Zeit". Mhm, da soll nun einer draus klug werden.
Dabei ist Papa auch nicht besser als ich. Erst gestern habe ich gehört, wie Mama zu ihm sagte "Du hast schon wieder die Zahncreme Tube nicht zugeschraubt und übrigens, deine dunkle Hose gehört nicht in den Korb mit der weißen Wäsche!"
Ordnung ist das halbe Leben. Vielleicht, ja vielleicht würde ich es ja noch verstehen, zumindest ein bisschen wenigstens, wenn Mama und Papa wenigstens konsequent wären, mit ihren Ansichten über das Aufräumen und Ordnung halten. Aber nein, neulich zum Beispiel, ich glaube, es war Sonntag, sind wir hinaus in den Wald gefahren. Zum spazieren gehen und um die frische Luft zu genießen, wie Mama und Papa meinten.
Jetzt mal ganz abgesehen davon, dass ich spazieren gehen äußerst langweilig finde und überhaupt keinen Sinn darin sehe, warum es irgendwem Spaß machen sollte, auf einem holprigen Weg durch den Wald zu laufen, wo man in der Zeit echt sinnvolleres anstellen könnte, finde ich es auch noch ziemlich dumm.
Mama meinte dann, ich solle mal tief einatmen und riechen wie herrlich die Luft hier ist. Aber ich musste an Oma denken und daran, wie wunderbar und lecker es duftet, wenn sie mir ihren leckeren Haselnusskuchen backt, den ich so gerne mag und hab deshalb gesagt "Ich rieche nichts". Papa hat dann gemeint "Aber das ist ja gerade das besondere daran" und Mama meinte dann wieder, ich solle nicht so ein mürrisches Gesicht machen und lieber schauen wie schön es hier ist. Ich hab dann auch geschaut und was habe ich gesehen?
Lauter durcheinander! Einen Haufen Bäume und viele abgebrochene Äste, die einfach so unordentlich im Wald herumlagen und selbst der Weg, auf dem wir durch den Wald gingen, hatte lauter Löcher.
Ich habe dann gemeint, hier sollte mal lieber jemand aufräumen und Papa hat dann gesagt, dass ich doch keine Ahnung hätte und ich glaube, er hatte recht damit. Aber wie soll auch einer Ahnung von irgendwas bekommen, wenn er Eltern hat, die hinausfahren um nichts zu riechen und es schön finden, sich abgebrochene Äste anzuschauen,
während sie einem gleichzeitig zu Hause die Hölle heiß machen und sich wahnsinnig darüber aufregen, nur weil man einmal vergessen hat, irgendetwas wegzuräumen. Das ist doch verrückt und am besten man erzählt es erst gar nicht weiter.
Ordnung ist das halbe Leben, sagen sie immer, aber niemand sagt einem, was die andere Hälfte dann ist. Aber ich habe mir da so meine Gedanken gemacht und ich glaube, die andere Hälfte ihres Lebens verbringen die Erwachsenen damit, sich all diese dummen Sprüche auszudenken.
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2021
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