Juli 2020
Deutschland
200843 Infizierte seit Beginn der Pandemie. Davon haben 186900 die Infektion überstanden. 9082 Tote, die Reproduktionszahl beträgt zur Zeit 1,10 (Alle Zahlen, stand vom 18. Juli 2020 laut Robert-Koch Institut).
Über die Dunkelziffer gibt es nur vorsichtige Schätzungen und wie diese zu berechnen sei, darüber wird nach wie vor gestritten.
Einig ist man sich wohl nur darin, dass eine zweite Infektionswelle kommen wird und diese, auch darin ist man sich eins, wird schlimmer sein. Wird mehr Opfer fordern und schwerer kontrollierbar werden.
Die Geschichte beweist es, meinen die, die sich Experten nennen und verweisen auf Daten ähnlicher Pandemien in der Vergangenheit.
Nüchterne Zahlen. Ein paar Fakten und die Frage danach, ob es das war.
Die Corona - Warnapp auf meinem Handy, deren Freigabe sich durch Datenschutzrechtliche Bedenken um einige Wochen verzögerte, zeigt mir an jedem Tag ein niedriges Risiko an.
Die Zahlen klingen hoch, doch im Vergleich zu vielen anderen Ländern, sind sie erfreulich niedrig. Irgendetwas muss wohl richtig gemacht worden sein.
Und ich?
Hat sich für mich irgendetwas verändert?
Noch immer fühle ich mich nur wie ein Beobachter des Ganzen, fühle mich noch immer nicht bedroht.
Auch in meinem Berufsleben hat sich nichts geändert. Noch immer arbeiten wir, meine Kolleginnen und Kollegen so gut es irgend geht getrennt voneinander. Noch immer fühle ich mich dadurch eingeschränkt, weil mir der Kontakt zu ihnen fehlt.
Alles beim alten, könnte man meinen.
Doch nicht ganz, denn tatsächlich hat sich eine einzelne Postkarte mit Urlaubsgrüßen an unser Schwarzes Brett verirrt. Hängt etwas lieblos, mit einer Reißzwecke angepinnt, ganz in der Ecke, damit scheinbar Wichtigeres nicht überdeckt wird.
"Viele Grüße vom Campingplatz Arnumer See, bei Hannover. Das Wetter ist so lala und ziemlich durchwachsen. Ich freue mich, euch bald wiederzusehen. Eure ..."
Auch in unserem Land ist nicht wirklich alles beim Altem.
Nach wochenlangem Lockdown, bei dem wohl so einigen die Decke auf dem Kopf fiel, traten deutliche Lockerungen ein. Ganz freiwillig wurden diese wohl nicht beschlossen, aber die Menschen wurden unruhig, begannen zu murren. Erst leise nur, aber dann hörbarer und einige erschreckend laut.
Überall im Land wurden kleinere und größere Demonstrationen organisiert von denen, die sich in ihrer, vom Grundgesetz garantierten, persönlichen Freiheit beschnitten sahen. Etwas, was man irgendwo noch verstehen und nachvollziehen kann. Auch wenn ich mich frage, was gibt denen, die auf engem Raum mit anderen zusammenstehen und für die Freiheit demonstrieren, dass Recht die Gesundheit und damit auch die Freiheit anderer zu bedrohen? Trotzdem kann ich die Demonstranten ein wenig verstehen, denn durch die Pandemie wurden einige irrsinnige Gesetze verabschiedet, die zum Teil weder nachvollziehbar und logisch waren und oft an dem zweifeln lässt, was man allgemein hin als Verstand bezeichnet. Einige dieser Gesetze mussten wieder zurückgezogen werden, nicht zuletzt weil sie bar jeder Vernunft waren. So durfte man zum Beispiel auf einer Parkbank sitzen, jedoch nicht dabei lesen. Picknick im öffentlichem Raum war verboten, es sei denn, man hatte die Dinge für den Verzehr direkt vor Ort irgendwo gekauft und nicht von zu Hause mitgebracht. Eis in einer Eisdiele durfte gekauft werden. Der Verzehr musste aber in einem Abstand von mindestens 50 Metern zum Kaufort stattfinden. Ausgenommen war "Das erste Anlecken", dieses durfte noch in der Eisdiele selbst stattfinden. Nur ein paar Beispiele für den Irrsinn, zu dem Menschen fähig sind. Überhaupt gab es von Bundesland zu Bundesland andere Regeln, Ge - und Verbote und wollte man, sofern man überhaupt durfte, die Grenze eines anderen Bundeslandes übertreten, tat man gut daran, sich zuvor zu erkundigen, welche Gesetzte gerade dort herrschten und ob diese überhaupt noch in Kraft waren oder sogar in der Zwischenzeit verschärft wurden.
Vieles lässt einen an die Schildbürger denken und während ich "Denen da oben" den Vogel zeige, muss ich doch schmunzeln. Der Mensch ist fehlbar und das es die, die politische Verantwortung tragen auch sind, macht sie ein wenig menschlicher.
Auch das Versammlungsrecht und damit das Demonstrationsrecht wurde deutlich beschnitten. Doch dagegen wurde geklagt und ja - demonstriert!
Das Bundesverfassungsgericht machte die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit zum großen Teil wieder rückgängig. Weil diese, laut Urteilsspruch, verfassungswidrig seien. Ob es klug und angeraten ist, gerade jetzt, während der Pandemie, mit anderen eng zusammenzustehen und zu demonstrieren. Sich vielleicht dort zu infizieren und somit andere zu gefährden mag dahingestellt sein. Doch dieses Urteil macht Hoffnung darauf, dass unser Grundgesetz, vor so vielen Jahren durch die Auswirkungen und die Verbrechen des Dritten Reichs, von klugen Leuten erdacht, immer noch Geltung hat und das wir immer noch in einer Demokratie leben. Deren ausgeklügelte Form zwar oft Trägheit zur Folge hat, aber trotzdem die beste der Welt ist.
Viele andere bezweifeln dieses und diese anderen werden scheinbar immer mehr. Sie mischen sich unter diejenigen, die für ihr Recht auf Freiheit kämpfen. Unterwandern, höhlen aus, erheben ihre Stimmen und übertönen diejenigen die fordernd aber friedfertig sind.
Es gab sie schon zuvor, doch jetzt, durch die Pandemie, durch den Lockdown, durch die Unzufriedenheit und Ungeduld von vielen, wurden sie empor gespült aus den dunklen Kloaken der sozialen Netzwerke und das ist etwas was mich persönlich erschreckt und mir Sorge bereitet. Sie propagieren die Un- Rechtmäßigkeit unseres Staates. Deklarieren Machtmissbrauch, den Willen zur Diktatur, die Fremdherrschaft anderer Staaten über unser eigenes Land. Stellen einzelne Menschen an den Pranger und sind durchsetzt von Hass und Rassismus und das erschreckende! - Immer mehr hören ihnen zu und ich frage mich, wie viele wohl nicht einfach nur zuhören, sondern ihnen Glauben schenken und das ist etwas, was nicht einmal die Pandemie imstande war mit mir zu machen - mir Furcht einflössen.
Das Wissen darum, dass man selbst auf der richtigen Seite steht, wird irgendwann vielleicht nicht mehr ausreichen und ich fürchte mich davor, kämpfen zu müssen.
Vor Monaten bin ich aus den sozialen Netzwerken, insbesondere Facebook geflohen. Weil ich es nicht mehr ertrug, ständigen Anfeindungen ausgesetzt zu sein, und einsehen musste, all das was ich schreibe und all meine Argumente werden überhört, nicht zur Kenntnis genommen oder einfach verhöhnt. Zu wissen, dass ich nichts ändern kann, hat mich irgendwann schweigen lassen. Bedroht und beschimpft zu werden hat, trotz aller Distanz die ich versucht habe zu wahren, irgendwann weh getan und so bin ich gegangen.
Doch so langsam holt es mich ein und ich glaube, auch daran ist die derzeitige Pandemie schuld. Weil es derzeit so viele gibt, die sich trauen zu brüllen, trauen sich auch andere, zu schreien. Von dem, was ich in den letzten Wochen alles zu hören bekam, möchte ich hier nichts wiedergeben, denn fast alles ist verachtenswert, ist ab-und bösartig und stinkt erbärmlich nach dieser Jauchegrube, die sich in den sozialen Netzwerken in letzter Zeit aufgetan hat.
Auch meine Frau, die selbst schwarz ist, bleibt davon nicht verschont und ich versuche sie davor zu schützen. Noch hat sie nichts, oder zumindest nicht viel von dem mitbekommen, was der eine oder andere über sie erzählt. Wie lange ich sie noch schützen kann, dass weiß ich nicht, aber ich bin müde und will einfach nicht mehr gegen Wände laufen.
Toilettenpapier gibt es wieder in Hülle und Fülle und Masken, vor kurzer Zeit noch begehrtes Gut, findet man in der Zwischenzeit überall an Straßenrändern, in Papierkörben oder in irgendwelchen Sträuchern hängen, wo sie verloren oder achtlos weggeworfen wurden. Noch immer gilt Maskenpflicht in Kaufhäusern und öffentlichen Transportmitteln oder an Orten wo sich die eineinhalb Meter Abstand, der irgendwann festgelegt wurde, nicht immer einhalten lässt.
Virologen, vor wenigen Wochen noch Superstars, sind fast wieder in der Versenkung verschwunden.
Ihr Stern leuchtete nicht lange. Besonders der Axel Springer Verlag mit seiner BILD-Zeitung sorgte dafür, dass das Leuchten allmählich verglimmte. Ausgerechnet dieses Blatt, welches durch Sexismus, Populismus, Lügen und zurechtgebogenen Wahrheiten, bis hin zur Grenze der Volksverhetzung bekannt wurde und immer noch ist, streute Zweifel, verbreitete Unwahrheiten und ignorierte die Gesetzte der Wissenschaft und ließ damit den Stern allmählich untergehen. Das dieses Blatt noch immer an Kiosken und im Zeitschriftenhandel ausliegt und immer noch von vielen gekauft wird, lässt mich oft an der Intelligenz unseres Volkes zweifeln.
Aber auch andere wurden vergessen. Vor wenigen Wochen zeugte man ihnen noch Beifall. Stand applaudierend auf Balkonen, in Fensteröffnungen und fühlte sich noch solidarisch mit denen, die damals noch Systemrelevant waren. So kurze Zeit ist das erst her, aber so kurz wie sie auch war, für uns reichte sie um vergessen zu können und uns damit selbst zu Lügnern zu stempeln.
Anderes trat in den Vordergrund. Insbesondere die Ausbeutung und Sklaverei in der Fleischindustrie und die damit verbundene Infektionsrate. Wir empörten uns und ja, zeigten uns wieder einmal solidarisch und forderten Änderungen.
Man könnte fast glauben, wir hätten davon nicht schon seit Jahren gewusst und einige taten wirklich vollkommen überrascht. Aber das waren nur diejenigen, die mit besonderem schauspielerischem Talent gesegnet sind, denn gewusst hat es jeder. Nicht umsonst wurde im Laufe der Jahre Deutschland führender Hersteller von Fleischprodukten in Europa. Weil man wusste, dass man in Deutschland weder hygienische Maßnahmen wirklich einhalten muss, noch zwingend an irgendeinen Mindestlohn gebunden ist, ließen sich Firmen aus dem Ausland gerne bei uns nieder.
4500 Infizierte Arbeiter in der Fleischindustrie, oder sollte ich doch lieber Sklaven sagen?
Ja das schreckt auf, erregt unser Missfallen und unseren Ärger, aber ein paar Tage noch, vielleicht auch noch ein paar Wochen die wir uns empören. Danach werden wir auch sie vergessen haben.
Im gleichen Zeitraum, indem sich in der deutschen Fleischindustrie 4500 Menschen infizierten, infizierten sich 14000 Menschen in Pflegeberufen!
Gut, dass uns das Vergessen so leicht fällt.
Ich weiß nicht, ob ich damals, als ich den ersten Teil schrieb, wirklich so dumm war, zu glauben, dass sich durch diesen Virus etwas ändern würde. Gehofft zumindest hatte ich es. Dadurch das wir soziale Distanz wahren mussten und immer noch müssen, entwickelte sich eine Ahnung davon, wie es sein könnte, näher zusammenzurücken. Sich gegenseitig zu helfen und auch den Schwächsten in unsere Gesellschaft endlich Beachtung zu spenden.
Dieser Virus war, ja ist immer noch eine Chance für mehr Gerechtigkeit, und dafür nicht mehr wegzuschauen, um leichter die vergessen zu können, die uns alle brauchen. Weil Corona uns gelehrt hat, dass auch wir sie brauchen - all die Alten, Kranken, Hilflosen und Ausgebeuteten. Wir müssen nur unsere Hände öffnen um Hilfe zu schenken und bekommen dafür etwas viel Wertvolleres in unsere ausgestreckten Hände gelegt - Menschlichkeit und all das, was uns als Menschen wirklich ausmachen sollte.
Ob uns das gelingen wird?
Das wird wohl nur die Zukunft zeigen.
Doch ich will nicht ungerecht sein. Jetzt gerade, wo ich dieses hier niederschreibe, läuft eine Petition. Fast 500 000 haben schon unterschrieben. Dafür, dass diejenigen, all die Pflegerinnen und Pfleger, die wir schon fast vergessen haben, in der Zukunft für ihre Arbeit besser und gerechter entlohnt werden.
500 000 Unterschriften und wie viele es am Ende sein werden, kann niemand sagen. Aber 500 000, das heißt auch, 500 000 ausgestreckte Hände, 500 000 mal Dankbarkeit und 500 000 Menschen die nicht vergessen wollen und werden.
Ein wenig macht das Hoffnung.
Dieses ist nach "Gedanken von heute über gestern und morgen", der zweite Teil meiner Gedanken zur derzeitigen Pandemie und dem Corona Virus Covit19 und dessen Auswirkungen auf mein Leben.
So wie ich Ende März, als ich den ersten Teil schrieb, nicht wusste, ob es je einen zweiten geben wird, so weiß ich jetzt nicht, ob noch ein dritter folgen wird.
Dieser, jetzt zweite Teil, mag vielleicht nicht jedem gefallen, denn er ist zynisch und von Enttäuschung geprägt. Aber ich habe diesen Teil auch nicht geschrieben, um zu gefallen. Geschrieben habe ich ihn um meine Gedanke zu ordnen, um das was in der letzten Zeit alles passiert ist, einzuordnen und mir selbst bewusst zu machen. Vielleicht hat nichts von dem, was ich niederschrieb Allgemeingültigkeit, aber es sind meine Gedanken und diese sind frei.
Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2020
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