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Auch nur ein Leben

 

 

 

 

"Gestatten, mein Name ist Archibald Theodor zu Bingenstein. Aber du kannst mich auch einfach Archi nennen, alle meine Freunde tun das und du bist doch mein Freund, oder?"

Warum ich dir diese Geschichte erzähle, willst du wissen?

Tja, ich liebe es nun einmal, Geschichten zu erzählen, komme aber leider nicht sehr oft dazu, denn nicht sehr viele gibt es, die bereit sind mir zuzuhören.

Aber Vorsicht!

In dieser Geschichte kommen keine Indianer, Zauberer, Feen und noch nicht einmal Piraten vor.

Geschweige denn Räuber oder irgendwelche Superhelden.

Wenn du also keine Geschichten magst, in denen all diese Zutaten fehlen, dann klappe dieses

Büchlein lieber gleich wieder zu, denn diese Geschichte ist dann wohl nichts für dich. Tut mir leid.

Eigentlich wird es wohl auch eine eher langweilige Geschichte, denn wie alle wahren Geschichten all zu schnell langweilig werden, wird auch diese nicht vor Abenteuern nur so strotzen.

Nun ja, ich könnte dich natürlich auch bitten, mich zu besuchen, damit ich dir das alles, sozusagen von Angesicht zu Angesicht, erzählen könnte, anstatt es dir hier aufzuschreiben.

Aber zuerst einmal lebe ich sehr zurückgezogen und dann - ja dann, da bin ich mir ziemlich sicher, wirst du mich nicht mögen.

Nein, du brauchst jetzt gar nicht so zu kucken und verwundert deine Stirn in Falten legen. Ich weiß ziemlich genau, dass du mich nicht mögen wirst, wenn du mich erst einmal erblickst. Aber keine Angst, ich bin dir deshalb nicht Böse. Du bist nicht alleine damit. So gut wie niemand mag mich nämlich. Warum solltest also ausgerechnet du eine Ausnahme sein?

Warum ich da so sicher bin, dass auch du mich nicht mögen wirst?

Ihr Menschen habt Angst vor uns und wann auch immer mich einer von euch zu Gesicht bekommt, sehe ich Furcht in euren Augen, oft begleitet von einem, manchmal leisem, oft aber auch lautem,

erschrecktem Aufschrei.

Dabei ist es doch so dumm von euch Menschen, Angst vor mir zu haben, denn ich tue keiner Fliege etwas zuleide.

Oh Verzeihung, ich merke, das ich rot werde, denn ganz so stimmt das eigentlich nicht. Denn in

gewisserweise ist es mein Beruf, jeder Fliege etwas zuleide zu tun. Ich mag nämlich Fliegen sehr gerne. Sie sind einfach unheimlich lecker!

Schau doch nicht so angewidert!

Das Schnitzel auf deinem Teller stört dich doch auch nicht. Auch nicht, dass dafür gleich ein ganzes Schwein sterben musste, dieses hat es sich bestimmt auch nicht freiwillig ausgesucht, ausgerechnet auf deinem Teller zu landen. Mit seinem Leben wüsste es sicher besseres anzufangen, als für dich zu sterben.

Aber gut, lassen wir das. Ich wollte dir ja eigentlich auch etwas ganz anderes erzählen.

Angst habt ihr vor mir. Ja Angst. Obwohl ich doch so viel kleiner und schwächer bin als ihr,

fürchtet ihr euch vor mir.

Eigentlich wäre das ziemlich lustig, wenn es nicht zugleich auch so traurig wäre. Denn neben eurer Furcht kommt noch ekel hinzu, den ihr für mich empfindet und angst, gepaart mit ekel scheint bei euch nichts anderes auszulösen, als mich und meine Kameraden möglichst so schnell als möglich umzubringen.

Du bist da ganz anders, behauptest du?

Na warte, noch weißt du ja nicht einmal wer oder was ich bin.

Aber wenn du meinst, dann komme doch zu mir. Ich lebe ganz in deiner nähe. Du must nur die

Kellertreppe hinunterkommen.

Na, traust du dich?

Ja?

Na, dann komme mich besuchen!

Öffne die Tür, welche den Keller verschließt. Aber knips lieber das Licht an, damit du auf den dunklen Stufen nicht versehentlich stürzt, es wäre doch schade, wenn wir uns dann doch nicht

kennenlernen könnten.

Jetzt gehe die Stufen hinunter. Siehst du dort unten das Licht, welches durch die staubigen Scheiben der kleinen Kellerfenster hereinscheint?

Folge ihm.

Ja, nun sind wir uns schon ganz nahe.

Jetzt betritt den Raum, in dem die Regale an den Wänden stehen, in denen sich allerhand altes

Gerümpel, mit dicker Staubschicht bedeckt, über all die Jahre in denen es schon längst vergessen wurde, bis zur niedrigen Decke türmt.

 

Riechst du den Staub?

Siehst du wie er im schwachen Sonnenlicht, welches von draußen hereinscheint, zu tanzen beginnt?

Hier, ja hier bin ich zu Hause, so wie auch all meine Vorfahren hier zu Hause waren.

Du kannst mich immer noch nicht entdecken?

Nun, neige dich ein wenig herunter und schaue einmal ganz genau hin.

Blicke in das Regal, dort, ganz hinten, hinter all den unnützen Dingen, die dort liegen, dort wirst du mich entdecken.

Du kannst nichts erkennen?

Doch doch, du irrst dich nicht, das, was du dort vor dir siehst, das bin ich, oder besser gesagt, das ist meine kleine Wohnung.

Warte einen Augenblick, ich komme mal ein wenig näher. Aber erschrecke nicht!

 

Oh, jetzt bist du doch erschrocken. Ich wusste es doch, auch du wirst nicht anders reagieren, als all die anderen Menschen, welche mich je zu Gesicht bekamen.

Aber hab keine Angst, ich tue dir nichts, wie sollte ich dieses auch können, klein wie ich bin.

Ja, ich weiß, für dich bin ich hässlich mit meinen 8 Beinen und den vielen Augen, in die du nun

hineinblickst und ich weiß, ein paar meiner Artgenossen könnten dir auch wirklich gefährlich

werden. Aber keine Angst, ich gehöre nicht zu diesen, bin ich doch eine ganz gewöhnliche

Hausspinne.

 

Nun, erschrick nicht, komm ein wenig näher und lass dich einmal anschauen.

Immerzu muss ich mich vor euch Menschen in acht nehmen, immerzu vor euch Verstecken, so das ich euch noch gar nicht wirklich betrachten konnte.

Ja, wenn ich dich so ansehe, du bist groß, wirklich sehr groß im Verhältnis zu mir.

Ein wenig muss ich lächeln, ihr glaubt, durch eure Größe überlegen und stark zu sein, aber das, was vor euren Füßen vor sich geht, das erkennt ihr nicht. Ihr trampelt durchs Gras und seht nicht das

Leben zu euren Füßen. Seht nicht all die kleinen Lebewesen dort, die sich vor euch flüchtend

verstecken. Viele von ihnen sind kleiner, viel kleiner, als ich es bin. Ihr könnt sie nicht erkennen, diese wundersame Welt dort unten. Eure Größe hindert euch daran.

Ihr sagt, dass ihr uns liebt, uns, die Tiere dieser Welt, aber in Wahrheit liebt ihr nur die, die sich von euch streicheln und zerbrechen lassen. Nur die Tiere, die euch schön und niedlich genug erscheinen, wird eure Liebe zum Geschenk.

Der Hund, so behauptet ihr, sei der beste Freund des Menschen.

Würdet ihr ihn auch lieben, wenn er zu seinem Ursprung zurückfände?

Wild durch eure Wälder streifend, ein einsamer Jäger wäre?

Wenn er nicht mehr der Hund, sondern aus ihm wieder der Wolf werden würde?

Würdet ihr ihn dann immer noch lieben?

Ihr glaubt, Schönheit erkennen zu können. Doch mit welchen Augen geht ihr durch die Welt.

Nur gerade einmal zwei sind es an der Zahl, während ich und meine Artgenossen acht von ihnen

haben. Und glaube mir mein Freund, auch diese acht Augen sind nicht ausreichend um all die

Wunder dieser Welt erblicken und begreifen zu können.

 

Ihr glaubt, ihr seid klug, die höchste Form der Schöpfung.

Aber was muss ich jeden Tag erleben. Alles um euch herum wird zerschlagen und in Trümmer

gelegt. Bäume werden gefällt, um platz für Beton zu schaffen. Die Luft hat schon lange ihren süßen Duft des Lebens verloren, weil ihr sie mit all dem Gestank, mit all dem Gift, welches ihr Tag für Tag in sie hineinpustet verpestet habt.

Ihr sagt, ihr könnt die Schönheit dieser Welt erkennen und zerstört sie doch, um ihr dann hinterher zu trauern.

Niemand von uns, niemand, kein einziges Tier und sei es noch so dumm, würde dieses jemals tun.

Nur ihr, die Menschen zerstört euren eigenen Lebensraum. Zerstört damit eure Zukunft und die unsere.

Nein, schau bitte nicht so ärgerlich. Ich will dich nicht verprellen, ich möchte doch dein Freund sein. Ich will dir keine Vorwürfe machen, du bist doch nur ein Mensch.

Ha, merkst du es?

Durch deinen ärger über das, was ich dir gerade sagte, hast du ganz deine Furcht vor mir vergessen. Ich glaube, nun können wir ja vielleicht wirklich Freunde werden.

Schau mich ruhig ein wenig genauer an, trau dich ruhig, denn auch wenn ich in deinen Augen

hässlich und furchterregend sein mag, bin ich doch ein genauso großes Wunder, wie du eines bist. Siehst du meine Beine? Erkennst du wie elegant und feingliedrig sie sind, und siehst du die feinen Härchen auf ihnen? Schön, nicht wahr?

Leider aber kann ich mit ihnen nicht besonders gut klettern, dafür bin ich aber rasend schnell im Laufen - ganze 50 cm in einer Sekunde schaffe ich. Eine enorme Strecke, wenn man bedenkt, wie klein mein Körper eigentlich ist. Ich bin nämlich eine Jagdspinne, drum muss ich so schnell sein. Genau gesagt bin ich wohl eine Winkelspinne. Der Name kommt durch die feine Zeichnung auf meinem Rücken, die ein wenig an zwei Dreiecke erinnert. Aber Winkelspinne, der Name gefällt mir eigentlich nicht so wirklich gut, er klinkt so gewöhnlich. Archibald Theodor zu Bingenstein gefällt mir da schon viel besser, der Name hört sich nach Erhabenheit und Weisheit an und klinkt fast wie eine Melodie. Den Namen hat mir meine Mama gegeben. Aber Mama lebt leider nicht mehr, du musst nämlich wissen, all zu alt werden wir nicht. Drei Jahre, mit sehr viel Glück auch etwas älter. Ja ich weiß, das mag sich für dich als nicht sehr viel anhören, aber Zeit ist relativ und wenn du

bedenkst, dass ich den ganzen lieben langen Tag nur hier im Keller in meinem Netz hocke und auf Beute warte, da kann einem die Zeit ganz schön lang werden und drei Jahre werden zu einer

Ewigkeit.

Aber ich habe auch sehr viel Zeit nachzudenken, besonders über euch Menschen und darüber,

warum ihr so viel Furcht vor uns habt, obwohl ihr euch für so klug haltet und trotzdem so gut wie nichts über uns wisst und darüber, wie wichtig wir für euch sind.

Nun schau nicht so erstaunt, ja, wir sind wirklich wichtig für euch, wir brauchen uns sozusagen gegenseitig. Wir, meine Kameraden und ich, brauchen eure Häuser und Wohnungen, um in ihnen

leben zu können, denn gerade im Winter würden wir jämmerlich erfrieren, müssten wir draußen bleiben. Zum dank, dass ihr uns bei euch aufnehmt, wenn auch nicht ganz freiwillig, halten wir eure Behausungen von Ungeziefer frei und wir zeigen euch, ganz allein durch unsere Anwesenheit, dass es bei euch sauber und trocken ist. Wir mögen nämlich keine feuchten Ecken und Wände, die sind für uns fast genauso unerträglich wie die kälte im Winter.

Tja, mein Freund, du weißt nun viel über mich und bitte, wenn wir uns das nächste Mal begegnen, oder wenn dir vielleicht zufällig einer meiner Kameraden über den Weg läuft, weil er so

unvorsichtig war, bei dir im Zimmer über den Teppich zu huschen, dann denke daran, dass er viel mehr angst vor dir, als du vor ihm hast und das auch ihr Freunde werden könntet, wenn ihr nur eure Furcht voreinander ein wenig beiseite wischen könnt und ja, ich weiß, du bist nicht alleine, deine Mama und dein Papa sind ja auch noch da und ihnen zu erklären, wie harmlos wir sind, das wird schwer und wird wohl fast unmöglich sein. Aber erkläre ihnen doch bitte, dass sie mich und meine Artgenossen nicht einfach so töten dürfen, sondern, wenn sie uns schon unbedingt loswerden

müssen, einfach in ein Glas setzen sollten und irgendwo hinbringen, wo es genauso warm und

trocken ist wie bei euch und ja, wenn du schon einmal dabei bist, ihnen zu erklären wie harmlos und wichtig wir sind, dann, bitte, bitte, sag ihnen doch, dass sie niemals versuchen dürfen uns mit diesem Apparat, den ihr Staubsauger nennt, aufzusaugen, das nämlich, mein lieber Freund, ist der wohl qualvollste tot, den man sich nur denken kann.

Mein lieber Freund, ich habe dir ja gesagt, meine kleine Geschichte mag ein wenig langweilig für dich sein, weil weder Piraten noch Prinzessinnen darin vorkommen, aber du bist der erste, dem ich sie je erzählt habe, und auch nur, weil du der erste warst, der sich traute, mir zuzuhören.

Wenn du nun wieder die Kellertreppe hinaufgehst, zurück in dein Zimmer, dann denkst du ja

vielleicht hin und wieder an mich und vielleicht kommst du mich ja sogar gelegentlich wieder

einmal besuchen. Du weißt ja nun, wo du meine Wohnung findest und, ach ja, wenn du nun

hinaufgehst, bitte mache doch oben, am Ende der Treppe, das Licht wieder aus. Ich mag es nämlich viel lieber im Dunkeln zu hocken, denn dabei kann ich sehr viel besser nachdenken.

Machs gut mein Freund!

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2020

Alle Rechte vorbehalten

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