Nichts wiegt so schwer wie Worte, die ehrlich sind. Sie zu finden, niederzuschreiben und darauf zu hoffen, dass sie verstanden werden, wird immer einer der schwersten Kämpfe meines Lebens
bleiben.
So ist es jedes Mal, wenn ich dasitze und versuche, etwas aus meinem Leben zu berichten.
Ich werfe dir, liebe Leserin, lieber Leser, meine Seele vor die Füße und hoffe nichts so sehr, als
darauf, dass du verstehst. Dass du deine Füße nicht erhebst, um auf ihr herumzutrampeln, sondern sie vorsichtig in deine Hände nimmst und sie für einen Moment betrachtest, auch wenn ich weiß, egal wie viele Worte ich auch benutzen werde, es wird vieles ungesagt bleiben. Egal, wie lang
meine Erzählung auch immer sein wird, immer wird sie zu kurz sein, wird, wie eine Fotografie, nur eine Momentaufnahme sein können, ohne jemals alles zu zeigen.
Trotzdem hoffe ich, dass du verstehen wirst, dass diese Erzählung, welche du gerade vor dir hast, nichts Trauriges in sich trägt, weil das Gewesene ein Stützpfeiler meines späteren Lebens wurde.
Ich stehe vor dir - nackt. Du kannst auf mich herunterblicken, oder mir in die Augen schauen.
Mehr als 40 Jahre ist es nun schon her und niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal darüber schreiben werde. Für immer sollte es ein Geheimnis bleiben, weil es mir so unmöglich schien,
darüber zu reden, und weil mein Entschluss, mir das Leben zu nehmen, so schwer verständlich zu machen ist. Denn nicht dessen Unerträglichkeit war der Ursprung, sondern die Liebe zu ihm, von dem ich jeden Tag genoss, an dem ich ohne Schmerz und Angst sein durfte.
Oft habe ich beteuert, wie glücklich meine Kindheit war und noch heute tue ich dieses, weil es wahr ist. Ich habe, trotz allem, eine glückliche Kindheit gehabt, weil die Menschen, die mich umgaben, voller Liebe zu mir waren und nichts für das konnten, was mit mir geschah.
Ich muss etwa 7 Jahre alt gewesen sein, als es begann. Die Kopfschmerzen fingen schleichend an, so, als würden sie erst noch ihren Platz suchen müssen, an dem sie sich schließlich ausbreiten und von meinem Inneren Besitz nehmen könnten. Zuerst ein leichter Druck hinter der Stirn, dann pochender Schmerz, der schließlich explosionsartig meinen Schädel mit stechenden Blitzen
durchpflügte, die hinter meinen Augäpfeln wütend nach außen zu dringen versuchten, weil mein Schädel ihnen zu wenig platz bot, um ihrer Heerschar den Raum zu geben, den sie einforderten. Nur meine Augenlider, die ich krampfhaft geschlossen hielt, schienen sie davon abhalten zu können nach außen zu drängen. Und wenn ich diese doch einmal öffnete, schien der Schmerz auch von außerhalb meines Körpers auf mich einzudringen. Kroch aus den Ecken der Räume, aus den
Schatten, den Lichtern, und stürzte sich von Decken und Wänden auf mich,verschleierte mir den Blick und trieb mir Tränen in die Augen.
Mehrere Tage hielten diese Schmerzen an, bis sie dann verschwanden, so plötzlich und
unvermittelt, wie sie gekommen waren.
Ärzte, Krankenhäuser, Ratlosigkeit. Diagnosen, die sich als falsch erwiesen und Medikamente, die weder den Schmerz besiegten, noch den Abstand, wann dieser auf mich einschlug, vergrößern konnte.
Schule, die ich nur wochenweise besuchte. Klassenkameraden, deren Namen ich keinen Gesichtern zuzuordnen vermochte.
Trotzdem hatte ich irgendwann gelernt, mit meinen Schmerzen zu leben, und war in der Lage, mich selbst in eine art Trancezustand zu versetzen, in dem es weder den Schmerz, noch mich selbst gab. Autosuggestion nennt man das heute wohl. Ein Begriff, den ich damals nicht kannte und der auch keine Bedeutung für mich hatte, denn niemand hatte es mir beigebracht, mich in diesen Zustand des Nicht - Existieren zu versetzen. Irgendwie gelang dieses von ganz alleine.
Wie lange das so ging, kann ich nicht wirklich sagen. Vielleicht zwei Jahre. Erst dann kamen die Lähmungen hinzu. Auch diese traten plötzlich und ohne Vorwarnung auf.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, an das erste Mal. Mutter hatte mir, so wie an jedem
Morgen, meine Schulkleidung zurechtgelegt. Sie schimpfte ein bisschen, weil ich herumzutrödeln schien und auch, nach dem sie schon einige Zeit mit dem Frühstück auf mich gewartet hatte, immer noch nicht angezogen war. Ich mochte ihr nicht sagen, dass es einfach nicht ging, weil ich meinen rechten Arm nicht bewegen konnte.
Meine Eltern hatten immer vermieden, in meiner Gegenwart über mich zu sprechen, aber trotzdem wusste ich, dass sie es taten und welche Sorgen sie sich um mich machten. Und Mutter, so oft hatte sie an meinem Bett gesessen, wenn es mir schlecht ging, hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen und ich, wie oft hatte ich sie angelogen, hatte behauptet, es würde mir schon viel besser
gehen, weil ich instinktiv fühlte, wie sie litt, vielleicht mehr als ich selbst.
An diesem Morgen wusste ich nicht, was mit meinem Arm nicht in Ordnung war und warum er sich einfach nicht bewegen wollte, sosehr ich es auch versuchte. Aber ich wusste, dass ich es Mutter
verheimlichen musste, damit sie sich nicht noch größere Sorgen machen würde.
Aber natürlich, es gelang mir nicht. Mutter stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir, um ihrer Aufforderung, mich endlich fertig anzuziehen, Nachdruck zu verleihen, und musste mit anschauen, wie ich versuchte, mich in meine Kleidung zu quälen.
Es folgten andere Ärzte, mehr Ärzte und wieder Krankenhäuser, weitere und vermutlich ebenso
falsche Diagnosen, denn meine Lähmungen wurden nicht besser, sondern schlimmer. Meistens war es nur der rechte Arm, den ich nicht bewegen konnte, manchmal aber auch die ganze rechte
Körperhälfte und nur selten auch mal die linke.
Auch damit wusste ich mich zu arrangieren, denn wenn mein Körper mir nicht gehorchen wollte, hatte ich keine Schmerzen. Niemals trat beides zugleich auf.
Vielleicht klingt all das, was ich bis jetzt niedergeschrieben habe, schlimm, aber in meiner
Erinnerung ist es das nicht mehr. Wenn ich mich heute an diese Zeit zurückerinnere, kommt es mir vor, als würde das Erlebte nicht mehr zu mir gehören. Sondern als wenn ich es in einem Film
gesehen oder in einem Buch gelesen hätte und dessen Inhalt ich nur wiedergebe. All das ist so lange her und viel weiter von mir entfernt, als die Jahre die dazwischenliegen, und dann gab es ja auch noch die Zeit, die frei von allen Beschwerden war. Zeiten, in denen ich als ganz normaler Schüler zur Schule ging, obwohl ich die ersten Jahre meiner Schulzeit mich nie als richtiger Bestandteil einer Klassengemeinschaft fühlte. Es gab all die viele Zeit, die ich mit meinen Freunden verbrachte, in denen ich Unsinn trieb und ein ganz normaler Junge sein durfte.
Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ja, das behaupte ich auch heute noch. Es gab damals Wolken an meinem Himmel und vielleicht waren diese Wolken ein wenig dunkler und schwerer als woanders, aber unter meinem Wolkenhimmel durfte ich glücklich sein.
Schlimm, wirklich schlimm wurde es erst später.
In der Erinnerung verschwimmt die Zeit, wird zu einem dicken, wabberndem Klumpen, verliert den Anfang und das Ende, sodass ich nicht wirklich sagen kann, wann es begann und was dann dazu führte, dass ich es irgendwann nicht mehr ertrug, nicht mehr ertragen wollte und konnte. Ich weiß nur noch, dass es mitten in der Nacht war und ich wieder einmal im Krankenhaus lag, als ich den ersten Anfall bekam.
Angst, niemandem ist es jemals wirklich gelungen, diese zu beschreiben.
Erlebte Angst macht es Soldaten unmöglich, über all das Grauen zu berichten, macht es unmöglich zu schildern, was mit einem geschah, wenn man Überlebender einer Katastrophe ist.
Angst ist wie ein Feuerball aus Eis, der das Blut erstarren lässt und die Seele verbrennt. Angst, der man nicht ausweichen kann, weil sie ständig um einen herum ist, das Denken und Fühlen bestimmt. Angst ist ein Monstrum, das selbst gleißendes Licht in Dunkelheit erstarren lässt, aus der es
hervorspringt um mit seiner kalten Hand das Ich zu umschließen und höhnisch lachend
zuzudrücken, um einen dann mit aller Wucht in die Welt eines Hieronymus Bosch zu schleudern, aus der es kein Entrinnen gibt.
Angst, wer sie nie erleben musste, wird nicht verstehen, weil das Leben ihm die Gnade der Freiheit schenkte.
In dieser Nacht im Krankenhaus musste ich sie das erste Mal spüren, sprang sie mich das erste Mal aus der Dunkelheit an und versuchte mir meine Seele aus dem Leib zu reißen.
Vergeblich versuchte ich, mich gegen sie zur Wehr zu setzen, bäumte mich auf und schrie.
Die Nachtschwester, die meine Schreie gehört hatte, holte Hilfe und nach kurzer Zeit kam eine zweite Schwester in mein Zimmer, die in ihrer Hand ein Ledergeschirr trug, um mich damit ans Bett zu fesseln, was meine Angst noch vergrößerte.
Danach kamen diese Anfälle regelmäßig in größeren und kleineren Abständen. Immer unvermittelt und immer voll unausweichlichem Grauen.
Selbst an den Tagen und Nächten, in denen ich keinen Anfall gehabt hatte, beherrschte sie mich, denn an nichts anderes konnte ich denken, als daran, dass sie unvermeidlich zurückkehren würde.
Ich hatte gelernt mit meinen Schmerzen und damit, dass mein Körper mir manchmal nicht
gehorchen wollte, zu leben. Doch mit der Angst und der Furcht vor ihr konnte ich nicht leben, weil ich es einfach nicht mehr ertrug.
Wir waren eine große Familie und so gab es nur selten Tage, an denen ich alleine sein konnte, aber dass ich alleine sein wollte und musste, um meiner Angst zu entkommen, wusste ich. So wartete ich ab und irgendwann im Spätsommer kam einer dieser seltenen Tage.
Medikamente wurden eigentlich bei uns so aufbewahrt, dass wir, meine Geschwister und ich, nicht an sie herangelangen konnten. Es gab nur diese Herztabletten in dem kleinen braunen
Glasfläschchen, das auch für uns Kinder immer griffbereit sein musste, für den Fall, dass meine Mutter diese dringend benötigte und unser Vater nicht da wäre, um sie ihr zu geben.
Eindringlich hatten uns unsere Eltern vor diesen Tabletten gewarnt und davor, wie gefährlich diese seien und dass es kein Spaß sei, mit ihnen herumzuspielen oder gar eine von ihnen einzunehmen.
Ich ging ins Bad, wo das Fläschchen oberhalb des Waschbeckens in einem Spiegelschrank immer griffbereit stand. Nahm es und schluckte alle in ihm noch enthaltenen Tabletten mit viel Wasser
herunter. Dann setze ich mich auf den heruntergeklappten Toilettendeckel und wartete.
Ich weiß nicht, was ich damals dachte oder fühlte, doch Furcht hatte ich nicht vor dem, was nun mit mir geschehen würde. Ich wusste nur, dass es bald keine Angst mehr für mich gab und ich endlich frei sein werde.
Ich wartete, wie lange, kann ich nicht sagen. Ich saß da und horchte auf meinen Körper und das
Unvermeidliche.
Eine Stunde, vielleicht zwei vergingen, doch nichts geschah, und irgendwann begriff ich, dass auch weiterhin nichts geschehen würde.
Dann stand ich auf, ging zum Badezimmerfenster, öffnete es und schaute schließlich hinaus.
Ich blickte über die Wiese, die hinter unserem Haus lag, und dessen Gras schon lange nicht mehr gemäht worden war. Trockene Halme bewegten sich leicht im Sommerwind und ich hörte das
zirpen von Grillen. Über allem erstreckte sich der blaue Himmel und die Hitze der
Nachmittagssonne ließ die Luft unwirklich flirren.
Traurigkeit und Wehmut überkam mich. Trauer über das Leben, welches ich nun weiterführen musste, und Wehmut über das dort draußen vor dem Fenster, dass ein Teil dieses Lebens war und dessen Schönheit ich gerne in mich aufgenommen hätte, um einfach ja zu ihm sagen zu können.
Dann kam das Begreifen darüber, dass ich meinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Ich hatte es nicht nur versucht, ich hatte es getan. Das mein Herz immer noch schlug und mein Blut immer noch durch meine Adern rauschte, lag nicht an meiner Unfähigkeit oder mangelndem Mut, sondern wohl nur daran, dass meine Eltern uns, was die Wirkung dieser Tabletten anging, belogen hatten.
Und mit dem Begreifen kam die Erkenntnis darüber, dass ich es konnte, dass ich wirklich und
wahrhaftig Herr über mein Leben war und das nur ich bestimmte, wann es zu unerträglich wurde, um darin weiter ein Gefangener zu bleiben.
Diese Erkenntnis gab mir kraft und ich glaube noch, heute zerre ich von ihr. In allem was ich jemals tat, alles was ich je erlebte, mein unverbesserlicher Optimismus, meine Liebe zum Leben, meine Freundschaften und nicht zuletzt die Empathie, zu der ich fähig bin, liegen darin, weil ich als nicht einmal Vierzehnjähriger begreifen durfte, dass ich mein Leben selbst bestimmen kann und diesem Leben noch einmal eine Chance gab.
Ich war in einer Zeit krank, in der man noch nicht begriff, was in Kindern vorgeht. In der kaum einer verstand, dass das Erwachsensein nichts mit den gelebten Jahren zu tun hat. Ich war ein Ding, welches nicht funktionierte, und niemand redete mit mir darüber. Reden und mich ernst zu nehmen hätte für mich wohl vieles leichter gemacht.
Ich mache niemandem einen Vorwurf daraus, denn man wusste es ja nicht besser und dann, ja, kann ich noch immer sagen, dass ich trotzdem ein glückliches Kind war, weil es um mich herum voll der Liebe war.
Ich weiß nicht, was ich damals als Kind gehabt habe. Diagnosen gab es wohl viele, Hilfe hingegen nur wenig.
Irgendwann wurde ich gesund und das ist wohl weniger ärztlicher Kunst zu verdanken, sondern vielmehr der Pubertät, die mich und meinen Körper veränderte.
Wann ich gesund war, auch das kann ich nicht sagen, denn es geschah langsam und ganz
allmählich. Zuerst hörten meine Anfälle auf, dann irgendwann verschwanden auch die zeitweisen Lähmungen. Die Kopfschmerzen wurden zuerst heftiger, aber deren Abstände, wann diese
auftauchten, wurden immer länger, bis auch die Schmerzen vollends verschwanden.
Ich weiß nicht, wer du bist, der dieses gerade liest, was du denkst oder fühlst, ich kenne dich nicht und noch viel weniger dein Leben. Zu Beginn habe ich dir gesagt, dass diese meine Erzählung nichts trauriges in sich trägt. Und wenn du nun vielleicht doch so etwas wie Traurigkeit empfindest, dann liegt es daran, dass so viele Dinge ungesagt blieben und mir für das, was ich erzählten wollte,
vielleicht die richtigen Worte fehlten.
Ich habe mir niemals Gedanken darüber gemacht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich weiß nur, sollte es dieses Leben geben, so wird es körperlos sein und so viele wunderbare Dinge bleiben uns dann verwehrt - die wärmenden Strahlen der Sonne auf unserer Haut, die Berührung zärtlicher
Finger, der Wind, der mit unseren Haaren spielt und so viel anderes, das wir nur erleben dürfen, weil wir in unserem Körper leben.
Als Kind musste ich erleben, wie unerträglich vieles sein kann, als nicht einmal vierzehnjähriger durfte ich erkennen, wie wichtig es ist, diesem Leben eine Chance zu geben, weil jeder von uns nur dieses eine hat und dieses eine Leben ist schön, denn es steckt voller Wunder !
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Uschi Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2020
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