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Als er fort ging

 

 

 

 

 

Als er einfach so ging, war es wohl das, was mein Leben am nachhaltigsten beeinflusste.

All meine Träume, meine Sehnsüchte, die Pläne, die ich mir für meine Zukunft gemacht hatte, all das löschte er einfach aus, wischte es, wie etwas bedeutungsloses, fort und ich fragte mich, ob er das wohl gewusst hat, damals, als er fortging.

 

Es ging uns nicht wirklich gut, auch wenn meine Mutter versuchte, alles irgendwie

zusammenzuhalten. Aber es war zu offensichtlich, Geld fehlte an allen Ecken und Enden und ich wusste, es war unser Vater, dem sie die Schuld daran gab.

Dabei gab es einmal eine bessere Zeit, in der es uns an nichts fehlte, in der es genug von allem gab. Genug Geld, reichlich zu essen, viele glückliche Momente und ein Haus, in dem es keine dunklen Ecken gab, weil fröhliches Lachen jeden Schatten vertrieb.

 

Alles änderte sich, als ich 12 Jahre alt war und unser Haus abbrannte.

Für mich und ich glaube auch für meine drei Geschwister, war das fast wie ein Abenteuer. Plötzlich standen wir im Mittelpunkt. Wurden von allen Seiten verwöhnt und verhätschelt und selbst die

Lehrer in der Schule hatten Nachsicht mit uns. Die Noten der Zeugnisse, die wir in diesem Sommer bekamen, bezeugten das, denn sie waren besser als eigentlich verdient.

Nein, ich glaube nicht, dass es einer von uns, meine beiden jüngeren Geschwister, ich und meine, nur wenig ältere Schwester, begriffen, was es für unsere Eltern, was es für uns alle bedeutete, unser Heim zu verlieren.

Dass es da etwas dunkles, bedrohliches gab, spürten wir wohl erst, als wir unseren Vater weinen

sahen.

 

Zuerst, gleich nach dem brand, hieß es, das Haus wäre noch zu retten, nur der Dachstuhl müsse

erneuert werden. Doch nach näherer Überprüfung ergab sich, dass das ein Trugschluss war.

Das Löschwasser der Feuerwehr und ein schweres Gewitter, dass nur wenige Tage nach dem Feuer über das Gebäude gefegt war, hatte auch das zerstört, was zuvor noch verschont geblieben war.

Ich kann mich nicht daran erinnern, meinen Vater jemals zuvor weinen gesehen zu haben, und ich fühle noch heute den Schmerz, den ich empfand, als ich ihn sah, wie er bei unserem Nachbarn in der Küche auf dem einfachen Holzstuhl saß, die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn mit der Hand abstützte, und vergeblich versuchte dem Fluss seiner Tränen Herr zu werden.

Unser Haus, von dem nicht viel mehr übrig geblieben war, als eine qualmende, nach Ruß riechende, verkohlte Ruine, war viel mehr sein Heim gewesen als das unsere. Seit vielen Generationen schon hatte es seiner Familie gehört und es war so unweigerlich mit seinem Leben, seiner Vergangenheit, seiner Zukunft verbunden, dass wir Kinder es nicht einmal erahnen konnten, was die Zerstörung all dessen für ihn bedeuten musste.

Nur unsere Mutter begriff wirklich, was in ihm vorging und wir Kinder spürten ihre Furcht, vor

etwas, dass wir noch nicht in der Lage waren, in Worte zu fassen.

Erst viel später begriff ich, dass sie damals Angst hatte, unser Vater könnte sich in seiner

Verzweiflung etwas antun.

 

So stimmte sie, wenn auch widerwillig, irgendwann zu, dass das Haus, welches einmal unser Heim gewesen war, wieder aufgebaut werden sollte.

Sie ahnte wohl schon damals, dass der Wiederaufbau uns in finanzielle Schwierigkeiten bringen würde, und nur aus Angst um ihren Mann gab sie seinem Drängen schließlich nach.

 

Es dauerte lange, bis der erste Spatenstich getan war und der erste Stein des Mauerwerks endlich seinen Platz fand. Bis die Ruine verschwand und einem Neubau wich, der nichts mehr gemein

hatte, mit dem Fachwerkhaus, welches einmal an seiner Stelle stand.

Wir Kinder begleiteten den Bau und es schien uns, dass jeder Tag verging, ohne das wir einen

Fortschritt erkennen konnten. Wir waren ungeduldig, denn anders als in unserem altem

Zu Hause, sollte in dem neuen jeder von uns sein eigenes Zimmer bekommen.

Wir freuten uns darauf und hatten uns unsere Zimmer schon ausgesucht, lange bevor man sie

innerhalb des Rohbaus als solche erkennen konnte. Wir malten uns aus, welche Farben die Wände bekommen sollten, welche Bilder wir aufhängen würden. Wo Schreibtisch, Schrank und Bett stehen werden und erwarteten mit unsäglicher Spannung den Tag, an dem wir das erste Mal unsere

Freunde zu Besuch haben würden. Die wir dann, ohne dass die Geschwister dazwischen quatschten würden oder anderweitig nervten, sie in unserem, ganz eigenem Reich empfangen könnten.

Ich weiß, damals freuten sich auch unsere Eltern auf unser neues Heim und auch wenn wir bis

dahin in einem kleinen Haus, welches wir angemietet hatten, nur sehr beengt lebten, waren wir

dennoch eine fröhliche Familie, in der es nur sehr selten zu Reibereien kam.

Wir alle freuten uns voller Ungeduld auf unser neues Zuhause, aber es sollten fast drei Jahre

vergehen, bis wir wirklich einziehen konnten.

Ja, auch die ersten Jahre, die wir in dem neuen Haus lebten, waren noch glücklich und ich weiß nicht, wann es begann, wann die ersten dunklen Wolken aufzogen, weil das Geld knapp wurde.

Ich denke, es gab nicht das eine Ereignis, welches dafür sorgte, dass wir in finanzielle Not gerieten. Ärger mit Handwerkern, die gepfuscht hatten, was zu unerwarteten Kosten führte. Die Gemeinde, in der wir lebten und die von unseren Eltern plötzlich Anliegergebühren in beträchtlicher Höhe

forderten, für eine Straße, die es nicht gab, was zu einem jahrelangen Rechtsstreit führte.

Die Zwangsenteignung einer Ackerfläche, die zuvor unsere Erdbeerplantage gewesen war und die plötzlich zum Bebauungsplan hinzugerechnet wurde, was meine Eltern nur hätten verhindern

können, wenn sie in der Lage gewesen wären, ihr eigenes Grundstück noch einmal zu kaufen. Was aber unmöglich war, denn die Hypothek, die auf dem neuen Haus lag, verhinderte das. So wurden wir nicht nur das Grundstück los, sondern auch die Einkünfte, die uns die Erdbeerplantage zuvor eingebracht hatte, fielen weg. Dann, dass mein Vater seinen drei Kindern aus seiner ersten Ehe etwa 45 Tausend DM schenkte und dieses meiner Mutter verheimlichte. Warum er das tat, obwohl er

wissen musste wie wichtig, ja überlebenswichtig dieses Geld für uns war, blieb für immer sein

Geheimnis.

Es begann schleichend und wenn unsere Mutter es auch versuchte, dieses vor uns Kindern zu

verheimlichen, so merkten wir bald, dass immer weniger Geld zur Verfügung stand. Dass

irgendwann jede Mark mehrmals umgedreht werden musste, dass das Essen einfacher und Ausflüge oder andere Vergnügungen gleich ganz gestrichen wurden.

Aber besonders merkten wir es daran, dass unsere Mutter nun kaum noch eine Nacht durchschlief. Wir hörten, wie sie nachts durchs Haus schlich, ruhelos und voller Sorgen und am Morgen mit rot geränderten Augen in der Küche saß. Wir wussten, dass sie in dieser Zeit viel weinte, aber ich

glaube meinen Geschwistern ging es so wie mir, wir fühlten uns hilflos.

Um es irgendwie erträglicher zu machen, und über die runden zu kommen, sammelten wir im

Sommer Blaubeeren und im Herbst Pilze, die wir verkauften, was aber nur für ein kurzes Aufatmen sorgte und unsere Lage nicht wirklich verbessern konnte.

Während meine Geschwister weiter die Schule besuchten, verließ ich diese mit siebzehn und

begann meine erste Ausbildung zum Glaser.

Aber die kleine Ausbildungsvergütung war nur ein Tropfen auf den heißen Stein und konnte unsere Situation nicht wirklich verbessern.

Gleich nach Beendigung meiner Ausbildung, ich war gerade 20 Jahre alt geworden, wurde ich arbeitslos. Ich empfand das zuerst nicht als besonders schlimm, denn ich hatte genug

Zukunftspläne, von denen ich überzeugt war, diese auch verwirklichen zu können.

Irgendwann, so hatte ich mir geschworen, würde ich ins Ausland gehen. Irgendwohin, wo es ganz anders als bei uns war, und mein Sprungbrett sollte die Bundeswehr sein. Ich hatte mit 18 Jahren die Musterung hinter mich gebracht, hatte den Tauglichkeitsgrad Eins erhalten und mit 19 Jahren den Eignungstest zum Fallschirmjäger bestanden.

Für mich stand fest, zuerst ein paar Jahre Bundeswehr und danach irgendwie ins Ausland. Wohin, das war mir egal, nur weit weg sollte es sein. Wichtig war nur, dass es ein Land mit einer völlig

anderen Kultur und anderen Menschen sein musste, die mein, schon seit Kindheit brennendes

Fernweh stillen würden.

Inwieweit mir die Bundeswehr dabei helfen könnte, war mir noch unklar, aber alleine der Gedanke daran, Fallschirmjäger zu werden, schien mir an sich schon ein riesiges Abenteuer.

Mit Beendigung meiner Ausbildung, meldete ich mich beim Kreiswehrersatzamt und bat darum, möglichst bald eingezogen zu werden.

Doch es dauerte und als ich mehrmals nachfragte, sagte man mir, dass man zwar Leute benötigte, die bereit wären, Fallschirmjäger werden zu wollen, aber es nun einmal seine Zeit benötigte bis zur Einberufung, weil die Ausbildungsplätze nur in geringer Stückzahl verfügbar währen.

Die Zeit verging und schließlich trat ich einen Job in einem Landschaftsbaubetrieb an, bereit diesen hinter mich zu lassen, sobald die Bundeswehr sich bei mir melden würde.

 

So wurde ich 22 Jahre alt. Meine jüngere Schwester ging noch zur Volksschule, mein jüngerer

Bruder war arbeitslos, meine ältere Schwester besuchte die Handelsschule und mein Vater war in der Zwischenzeit in Pension gegangen. Auch wenn ich nun endlich Geld verdiente, da mein Vater jetzt Rentner war, wurde und wurde es finanziell einfach nicht besser.

Ich glaube, mit der Zeit gewöhnten meine Geschwister und ich uns ein wenig daran, dass es nur

wenig Geld gab, welches wir zur Verfügung hatten. Es war nicht mehr schlimm, dass unsere

Mahlzeiten einfach waren und die Zeit, als wir noch viele Ausflüge und andere Unternehmungen gemacht hatten, war schon so lange her, dass wir uns kaum noch daran erinnerten und mir half

besonders, dass die meisten meiner Freunde fast genauso wenig Geld besaßen wie ich.

Nach wie vor schlich unsere Mutter nachts schlaflos und voller Sorgen durchs Haus, saß mit rot

geränderten Augen am Küchentisch, drehte jede Mark um. Nur noch selten hörte man ein lachen bei uns, obwohl es sie gab, die Augenblicke, in denen wir gemeinsam lachten und der Anflug von Fröhlichkeit durch unser Haus zog, fast als wäre alles wie früher, als wir noch Kinder waren und es keine Sorgen zu geben schien.

Das Schlimmste für mich und wohl auch für meine Geschwister war aber, dass sich unsere Eltern voneinander entfernten. Nur selten gab es Streit, schlimmer war das Schweigen zwischen ihnen, das nicht einvernehmlich und harmonisch war, sondern dessen Kälte die Luft zum Erstarren brachte.

Wir, meine Geschwister und ich wussten, reden hatte keinen Sinn mehr, denn wenn unsere Mutter mit unserem Vater sprach, dann klangen ihre Worte nur noch vorwurfsvoll und die einsilbigen

Antworten unseres Vaters klangen wie von jemandem, der sich schon lange ergeben hatte.

Wenn Worte nichts mehr ändern konnten, dann mussten Taten folgen und so kamen wir zu dem

Entschluss, unseren Eltern einen kleinen Urlaub zu bezahlen, den sie alleine, ohne uns antreten mussten.

Es war nicht einfach, das Geld dafür zusammenzukratzen, aber es gelang und so überreichten wir ihnen zu ihrem 25. Hochzeitstag, am 9. Dezember, den Umschlag mit der Buchung. Da wir

wussten, dass sich beide gegen diesen Zwangsurlaub wehren würden, behaupteten wir, dass alles schon bezahlt sei und, sollten sie die Reise verfallen lassen, nicht nur die Reise, sondern auch das Geld futsch wäre. Obendrein, um ihnen keine Zeit zu geben, lange zu überlegen, sollte die

einwöchige Reise schon am Montag, zwei Tage später, losgehen.

Unsere Mutter war stark sehbehindert, fast blind und wir wussten, wenn sie und unser Vater

miteinander verreisen würden, waren beide voneinander abhängig und mussten, auf Teufel komm raus, es irgendwie miteinander aushalten.

Wir überhörten geflissentlich das Gejammer unserer Mutter und das unwillige Murmeln unseres

Vaters, als wir die beiden am nächsten Montag in den Zug setzten und schauten noch lange

hinterher, als der Zug schon längst den Bahnhof verlassen hatte.

Es war geglückt und doch, ich glaube, wir fühlten uns alle ein wenig mulmig bei dem Gedanken, wie die beiden jetzt miteinander klarkommen würden.

 

Eine Woche später standen wir wieder auf dem Bahnhof, am selben Gleis und warteten darauf, dass der Zug endlich einfuhr und uns unsere Eltern zurückbrachte.

Dann endlich kam er, hielt und die Türen öffneten sich.

Zuerst sahen wir unseren Vater, wie er, einen Koffer in der Hand, die niedrige Stufe eines Waggons hinabstieg und den Bahnsteig betrat. Sich dann wieder Richtung Eisenbahnwaggon wandte und unserer Mutter vorsichtig beim Aussteigen half.

Wir konnten nicht verstehen, über was sich die beiden unterhielten, aber wir konnten hören, dass sie miteinander lachten und schließlich, Hand in Hand auf uns zukamen.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es hatte tatsächlich geklappt und diese beiden Leute dort, vor mir auf dem Bahnsteig, waren wieder zu denen geworden, die ich als Kind gekannt hatte.

Sie lachten über irgendeine komische Begegnung während ihrer Reise, hielten sich an den Händen und plapperten ohne Unterlass, beide durcheinander und, so konnte jeder sehen, endlich wieder glücklich.

Ja, so erzählten sie beide, zu Beginn ihrer Reise hatte es Reibereien gegeben. Sogar Streit und

einmal hatte mein Vater unsere Mutter auch irgendwo, in einer ihr fremden Stadt, einfach stehen

gelassen und war verschwunden, während sich unsere Mutter nicht von der Stelle zu rühren traute, unsicher durch ihre Sehbehinderung und ängstlich in dieser fremden Umgebung. Nach wenigen

Minuten war unser Vater dann wieder aufgetaucht, hatte sie an den Arm gefasst, irgendetwas

unverständliches gemurmelt, was vielleicht so etwas wie eine Entschuldigung sein sollte, und sie mit sich fortgezogen.

Vielleicht war es dieses Erlebnis, vielleicht auch irgendein anderes oder vielleicht waren es auch viele kleine, ganz ähnliche Erlebnisse, die sie beide begreifen ließen, dass sie sich noch immer brauchten.

Das nur wenige Tage später stattfindende Weihnachtsfest war eines der schönsten, an das ich mich erinnern kann. So friedlich, fröhlich und glücklich, wie schon seit vielen Jahren keines mehr

gewesen war.

 

Es wurde Januar und ich, immer noch im Landschaftsbau beschäftigt, hatte Schlechtwetter, weil Frost und Schnee es nicht zuließen, draußen zu arbeiten.

Der Morgen war kalt und dunkel. Tiefhängende Wolken wurden vom Wind über den Himmel

getrieben und es sah aus, als würde es bald wieder schneien.

Ich wunderte mich ein wenig, dass unser Vater noch nicht wach zu sein schien, denn obwohl er schon Rentner war, hatte er es dabei bewenden lassen und stand, wie früher als er noch arbeitete, immer schon um 5 Uhr morgens auf.

Aber an diesem Morgen saß meine Mutter alleine in der Küche am Frühstückstisch, während meine Geschwister noch schliefen. Ich gesellte mich zu ihr, goss mir Kaffee ein und, weil ich ein

Morgenmuffel war, stellte ich keine Fragen.

Warum ich nach dem Frühstück auf den Dachboden ging, weiß ich nicht mehr. Dort oben war es kalt und ungemütlich, aber vielleicht wollte ich irgendetwas holen oder mir einfach nur die Zeit

vertreiben.

Nur fahles Licht fiel durch die Dachluken, und als ich auf den Lichtschalter drückte, flammte eine einzelne, nackte Glühbirne auf, die mehr Schatten, als Licht spendete.

Ich sah ihn sofort und noch heute wundert es mich, dass ich mich nicht erschrak, keine Furcht oder Panik empfand, und sehe mich selbst, wie ich minutenlang dastehe und ihn einfach nur anstarre.

Oben, an einem der Balken hatte er eine dünne weiße Nylonschnur befestigt und ich begriff nicht, wie eine solch dünne Schnur einen menschlichen Körper tragen konnte. Aber vielleicht, wenn die Sorgen und all die Last, die er mit sich herumgetragen hatte und wenn schließlich die Seele selbst ihr bisheriges Zuhause verlassen hat, vielleicht bleibt dann ja nichts mehr, was noch Gewicht hat.

Viele glaubten, dass es eine Kurzschlusshandlung meines Vaters war, aber ich weiß, dass es anders gewesen sein musste. Er hatte sich extra umgezogen, trug seinen besten Anzug und hatte seinen Ehering vom Finger gezogen und in die Hosentasche gesteckt.

Einen Abschiedsbrief hat er nicht hinterlassen. Vielleicht hatte er daran gedacht, aber keine Worte gefunden. Stattdessen trug er einen Brief in der Hosentasche. Einen Brief, den er abgefangen hatte und der einen Gutachter ankündigte, der den Wert des Hauses schätzen sollte, weil die

Zwangsversteigerung nicht mehr abzuwenden war.

 

Ich habe mich lange Zeit gefragt, warum er uns einfach alleine ließ. Warum er uns mit all dem im Stich gelassen hatte. Warum ich sein Fortgehen nie erschreckend fand und warum ich niemals

weinen konnte.

Mein Vater und ich, wir waren uns sehr ähnlich und vielleicht liegt darin die Antwort auf all meine Fragen. Vielleicht verstand ich, dass es für ihn nur diese eine Lösung gab.

 

Nach dem Tod meines Vaters änderte sich unser aller Leben.

Meine Geschwister klammerten sich an mich, dabei wäre ich selbst am liebsten alleine geblieben mit meinen Gedanken und Gefühlen, die ich mit niemandem teilen wollte.

Unsere Mutter hatte mehrmals einen Zusammenbruch und zweimal mussten wir sie mit dem

Notarzt ins Krankenhaus bringen. Besser wurde es erst, als man sie mit Psychopharmaka

vollpumpte und sie endlich wieder schlafen konnte.

Mein ältester Bruder, ein Sohn meiner Mutter aus ihrer ersten Ehe, zog für einige Wochen zu uns, um uns zu helfen. Aber auch er brach schließlich zusammen, als er auf dem Dachboden die weiße Nylonschnur erblickte, die unser Hausarzt und die Polizei dort hat hängen lassen, nachdem sie

unseren Vater abgeschnitten hatten.

In dieser Zeit fühlte ich mich wie ein Zuschauer. Ich konnte die Schuldgefühle nicht verstehen, die Verzweiflung nicht nachempfinden und wäre gern mit meiner Trauer und meinen Gedanken alleine geblieben.

Die ersten Wochen nach dem Tod meines Vaters waren furchtbar für uns alle und gehören zu den Dingen, die ich am liebsten vergessen würde und doch zu denen, von denen ich weiß, dass ich sie niemals vergessen kann.

 

Aber es musste weitergehen, und weil kein anderer es konnte, tat ich, was getan werden musste.

Ich setzte mich mit der Bank auseinander, besorgte schließlich einen Anwalt, der die ganze

Erbschaftsangelegenheit regelte. Die Zwangsversteigerung abwendete und stattdessen in einen Nachlasskonkurs überführte, was für uns, meine Mutter, meine Geschwister und schließlich auch für mich, dazu beitrug, dass man uns nicht alles wegnehmen konnte.

Schließlich wischte ich auch all meine Träume beiseite. Nahm Kontakt mit der Bundeswehr auf, die mich, nach einigem hin und her, schließlich als Alleinernährer freistellte. Auch meine Träume in fremde Länder zu reisen musste ich begraben und manchmal fragte ich mich, warum mein Vater mir das angetan hatte.

 

Ein paar Monate nach dem Tod meines Vaters konnten wir ein anderes Haus mieten und nach und nach wurde es finanziell besser und nach etwa zwei Jahren ging es uns gut genug, sodass ich

eigentlich hätte gehen können, um meine Träume wahr werden zu lassen und mein eigenes Leben zu leben.

Doch in der Zwischenzeit hatte ich eine Rolle übernommen, die ich niemals haben wollte. In der ich mich wie ein Gefangener fühlte und aus der ich mich nicht zu befreien traute, ohne das Gefühl zu haben, alle im Stich zu lassen.

Ein paar weitere Jahre vergingen, in denen ich eine weitere Ausbildung zum Landschaftsgärtner machte, und irgendwann fragte auch die Bundeswehr nicht mehr nach und ich musste mich nicht ständig aufs Neue freistellen lassen.

 

Doch je mehr Zeit verstrich, um so mehr fühlte ich mich wie ein Gefangener und irgendwann

bekam ich das Gefühl von meiner Familie so vereinnahmt zu werden, dass sie mich erdrücken

würde.

Dann aber nahm ich all meinen Mut zusammen und erzählte all das meiner Mutter. Berichtete ihr von meinen Träumen, die ich einmal gehabt hatte und an denen ich immer noch festhielt. Von

meinem Leben, das ich mir anders vorgestellt hatte, von meiner Sehnsucht nach Freiheit und

meiner Angst davor, dass mein Leben schon vorbei war, noch ehe es wirklich begonnen hatte.

Ja, und ich denke, als ich ihr das alles irgendwann erzählte, hatte ich nicht wirklich geglaubt, dass sie mich verstehen würde, und doch verstand sie und begriff wohl, wenn sie mich nicht gehen ließ, so würde sie mich irgendwann für immer verlieren.

 

Der Tod meines Vaters hatte mein Leben verändert. Als er sich das Leben nahm, musste ich lernen, Verantwortung zu tragen, Verantwortung, die ich nicht haben wollte.

Dass ich nie zur Bundeswehr ging und niemals Fallschirmjäger wurde, das habe ich nie bereut, denn ehrlich gesagt, ich glaube, es hätte mir nur wenig gefallen, Befehle entgegennehmen zu

müssen.

All meine anderen Träume durfte ich leben. Ich durfte irgendwann fremde Länder, andere Kulturen und Menschen kennenlernen und wenn ich auch mit 22 Jahren noch geglaubt hatte, der Selbstmord meines Vaters hätte mich in eine Sackgasse geführt, aus der es keinen Weg zurück gab, so begriff ich erst sehr viel später, dass es keine Sackgasse, sondern nur eine Umleitung gewesen war.

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2017

Alle Rechte vorbehalten

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