Ganz da vorne ging sie. Ich beschleunigte meine Schritte und erst, als ich sie erreicht hatte, wurde ich wieder langsamer. Wortlos gingen wir nebeneinander her und ich fragte mich, warum hatte ich mich eigentlich so beeilt, um sie einzuholen? Warum wollte ich unbedingt neben ihr hergehen? Hier, mitten auf der Straße, wo uns jeder sehen konnte.
Sie bedeutete mir nichts, sie war mir völlig egal und doch trabte ich nun neben ihr her und wusste eigentlich Nichteinmal warum.
Nur wenige Minuten später, dann standen wir vor meiner Gartenpforte. Ich murmelte ein „Tschüss!“, riss die Tür schneller, als nötig gewesen wäre auf und lief auf die Eingangstür zu.
So ging das nun jeden Tag.
Schweigend liefen wir nebeneinander her. Hin und wieder drehte ich mich dabei verstohlen um und hoffte, niemand von unseren Klassenkameraden würde uns sehen. Cordula schien das egal zu sein. Sie blickte stur auf den Weg vor ihren Füßen, schaute weder mich an, noch sagte sie irgendein Wort.
Ich wusste, sie misstraute mir. Ich wusste nur noch nicht, wie recht sie damit haben sollte.
Ich weiß nicht mehr, wann sie in unsere Klasse kam. Irgendwann war sie einfach da.
Sie war schlank, wirkte fast jungenhaft und trug ständig eine alte, ausgewaschene blaue Jeans und einen hellblauen Pullover. Ich kann mich nicht erinnern, sie irgendwann einmal in anderen
Klamotten gesehen zu haben, als in dieser Jeans und diesem Pullover.
Blaue Jeans, blauer Pullover. Langweilig. Aber das passte zu ihr, diese zur schaugestellte
Langeweile. Alles an ihr war irgendwie langweilig - ihre Klamotten, ihre Statur, die nichts
Mädchenhaftes an sich hatte. Ihre dunklen, kurz geschnittenen, braunen Haare und selbst ihre Schultasche aus irgend einem billigem Material in einer so langweiligen Farbe, dass ich diese schon längst vergessen habe.
Am wenigsten aber kann ich mich an ihr Gesicht erinnern.
Die Welt war nie gut zu ihr gewesen und so hielt sie ihren Kopf ständig gesenkt. Wollte wohl nicht dorthin schauen, woher ihr nur Ablehnung und Feindschaft entgegengeflogen kamen und trug
vielleicht die Hoffnung in sich, dass, wenn sie nichts und niemanden anschaute, man auch sie nicht beachten würde.
Selbst wenn man sie direkt ansprach, hob sie ihren Kopf nicht. Blickte auf ihre Schuhspitzen oder ihre Hände, die sie, sobald irgendwer das Wort an sie richtete, nervös knetete und stockend und
einsilbig mit leisen, monotonen Lauten antwortete. Nein, die Welt war nie gut zu ihr gewesen und wir, die Jungs und Mädchen aus der achten Klasse, in die man sie gesteckt hatte, würden es auch nicht sein.
Es dauerte nicht lange, bis ihr irgendwer den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Echse“ gegeben hatte.
Wir alle trugen damals Spitznamen und die meisten von uns haben diesen wohl ihr Leben lang
behalten. Aber unsere Spitznamen hatten alle irgendetwas mit unseren Körper oder
Charaktereigenschaften zu tun, aber „Echse“ passte eigentlich überhaupt nicht zu ihr und sollte wohl vor allen Dingen nur eines bewirken – sie verletzen.
Cordula, sie saß immer alleine an ihrer Schulbank, weil niemand sich neben sie setzen wollte „Die stinkt!“, hieß es naserümpfend. Auch wenn jeder wusste, dass das nicht stimmte.
„Die Echse, die ist so blöd und dämlich, die würde beim Milchholen noch das Geldstück
verbiegen!“, wurde gekreischt, während man ihr die Schultasche auf den Kopf stellte und johlend dabei zusah, wie Cordula auf dem Fußboden krabbelnd versuchte, zwischen den Beinen ihrer
Mitschüler den Inhalt wieder aufzusammeln. Die sich aber einen Spaß daraus machten, ihr die
gerade mit den Händen ergriffenen Gegenstände wieder aus der Hand zu schlagen und mit dem Fuß fortzukicken oder das, was schon in der Schultasche seinen Platz gefunden hatte, einfach wieder auszukippen.
Während des Sportunterrichts saß Cordula meistens alleine auf der Bank, denn niemand wollte sie in seiner Mannschaft haben und wurde dann doch einmal von unserem Sportlehrer bestimmt, sie in eine der Mannschaften aufzunehmen, so dauerte es nicht lange und es wurde ihr „versehentlich“ ein Bein gestellt oder ein Ellbogen in die Rippen gestoßen. Schmerzstöhnend ging sie dann zu Boden, rappelte sich wieder auf und ließ sich schwer auf eine der Bänke fallen, die immer am Rande des Spielfelds standen.
Ich glaube, nur hier fühlte sie sich wirklich sicher.
„Echse, Echse!“, wurde ihr in den Pausen auf dem Schulhof hinterhergeschrien und Cordula tat so, als könnte sie die Schimpfwörter nicht hören. Als würden sie nicht ihr gelten und verdrückte sich still in eine der Gebäudeecken, abwartend, bis das klingeln sie erlösen würde.
Irgendwann war es dann nicht nur mehr unsere Klasse, von der sie Spott und Hohn über sich ergehen lassen musste. Es hatte sich bald in der Schule herumgesprochen, dass da eine war, mit der man es machen konnte. Eine, die nichts wert war, Abschaum und überflüssig. Eine die sich nicht wehrte. Menschlicher Abfall, auf dem man herumhacken konnte, weil niemand es einem verbieten würde. Auch nicht die Lehrer und Lehrerinnen, die all das, was man Cordula antat, wissen mussten, wenn sie nicht völlig blind und taub waren.
Aber ich glaube, sie waren es - blind und taub.
Weil sie es sein wollten. Weil ihnen Cordula egal war, so wie sie jedem egal war.
Und ich?
Ich sah zu.
Ich sah zu, wenn man sie hänselte.
Sah zu, wenn ihr irgendwer ein Bein stellte und sie unter Hohngelächter auf den Asphalt des
Schulhofs stürzte.
Ich sah zu, wenn man sie beschimpfte, schubste, anspuckte.
Ich sah zu.
Nicht weil es mir gefiel, sondern aus Feigheit.
Manchmal, nein eigentlich ständig, hatte ich das Gefühl, ich wäre der einzige in der Schule, der wusste, wie gemein, wie falsch und verabscheuungswürdig all das war, was man Cordula antat.
Doch ich tat nichts, um daran irgendetwas zu ändern.
In meinen Gedanken stellte ich mich oft vor die Klasse. Fand die richtigen Worte, mit denen ich die Gewissen und Seelen berühren konnte. Alles würde sich ändern und aus Cordula würde eine von uns werden.
Aber in die Wirklichkeit zurückgekehrt wusste ich, dass ich zu feige war das zu tun, was eigentlich irgendwer schon lange hätte tun müssen.
So beschränkte ich mich damit, nicht mitzumachen, sie auch niemals Echse zu schimpfen, sondern die wenigen Male, die ich mit ihr sprach, sie bei ihrem Vornamen zu nennen.
Ich wusste, dass ich irgendetwas tun musste, dass ich nicht länger zuschauen durfte. Dass ich es schuldig war, nicht ihr, sondern mir, weil mein Mitleid mich fast umbrachte und es einfach falsch war, was man ihr antat.
Dann fand ich mich plötzlich neben ihr. Ich hatte sie auf dem Nachhauseweg von der Schule
eingeholt und wunderte mich selbst darüber, als wir nun, fast wie selbstverständlich, nebeneinander hergingen.
Wir redeten nicht und als wir an meiner Gartenpforte ankamen, verabschiedete ich mich mit einem kurzem Gruß und verschwand so schnell, dass ich es nicht einmal gehört hätte, selbst wenn sie noch irgendetwas zu mir gesagt hätte.
Ab da gingen wir jeden Tag gemeinsam von der Schule nach Hause und wie an jedem Tag zuvor, musste ich sie zuerst einmal einholen, damit wir schweigend nebeneinander hergehen konnten.
Irgendwann, als ich wie gewohnt „Tschüss!“ sagte, als wir an meiner Gartentür angekommen
waren, antwortete sie mir mit einem gemurmeltem „Bis morgen!“
Fortan wartete sie auf mich, wenn die Schule zu Ende war, und ich musste mich nicht weiterhin
abhetzen, um sie einzuholen.
Ich weiß nicht, warum ich ihre Nähe suchte. Ich glaube, ich wollte nur, dass sie weiß, dass ich
anders bin, als all die anderen Schüler, die sie verachteten. Dass ich nichts gegen sie hatte, dass sie mir leidtat und dass ich auf ihrer Seite stand.
Ich glaube, dass ich nur neben ihr herging, weil ich nicht wusste, wie ich ihr das mit Worten hätte sagen können.
Auch in den Pausen standen wir nun in „Ihrer“ Ecke zusammen und redeten über
Belanglosigkeiten.
Cordula, sie war mir eigentlich weiterhin egal. Vielleicht weil ich wusste, wir würden niemals
wirklich Freunde werden, denn Mitleid ist kein gutes Fundament für Freundschaft.
Es hatte sich etwas verändert in der Schule. Die Hänseleien hatten nicht ganz aufgehört, aber es war bei Weitem nicht mehr so schlimm wie früher und in den Pausen wurde Cordula nun völlig in Ruhe gelassen.
Ich fühlte mich wohl in meiner Rolle als Beschützer und genoss es, die Dankbarkeit dieses
Mädchen zu spüren, dass ich manchmal sogar zum Lachen bringen konnte.
Vielleicht, wenn dieses nun eine erfundene Geschichte oder ein kitschiger Film gewesen wäre,
wäre an dieser Stelle Schluss.
Alles wäre gut und Schüler und Lehrer hätten ihre Dummheit eingesehen. Der Abspann würde
laufen und zum Schluss würde „Happy End“ in großen weißen Buchstaben auf schwarzem Grund flimmern und am Ende würde nur das lächeln in den Gesichtern der Zuschauer, an das zuvor
gesehene erinnern.
Doch diese Geschichte ist nicht erfunden und niemand wird daraus einen kitschigen Film machen können.
Ich glaubte, ich hatte gewonnen. Hatte erreicht, wozu mir die Worte gefehlt hatten, und alles würde gut werden.
Ich ahnte nicht, dass es weitergehen würde und es nur die Ruhe vor dem Sturm war, die mich in
Sicherheit wiegte.
Es war fast, als hätten sich alle miteinander gegen uns verschworen. Als wäre beschlossen worden sich an einem ganz bestimmten Tag solidarisch gegen uns zu stellen.
Gestern war alles noch wie immer und dann, ganz plötzlich, wurde auch ich Opfer.
„Echse, was treib’ste Dich mit dieser Schlampe rum?“
„Boah, ausgerechnet Echse. Ich würde das Kotzen kriegen!“
„Fick’ste vielleicht auch mit der? Dann pass mal auf, dass Dir dein Ding nicht abfällt, so versifft wie die Alte ist!“
„Echse, ausgerechnet Echse? Na ja, was sich sucht - das findet sich!"
Plötzlich standen wir beide, Cordula und ich, im Kreuzfeuer. Zu Beginn war es noch nicht so schlimm, denn ich hatte Freunde und konnte mich auch allein zur Wehr setzten. Doch mit der Zeit wurden die Pöbeleien zahlreicher, lauter, schlimmer und begannen schließlich wehzutun.
Das schlimmste war aber für mich - ich war keiner mehr von ihnen. Gehörte nicht mehr dazu und wurde zu einem ebensolchen Ausgestoßenen, wie Cordula es schon seit langer Zeit war.
Ich war damals kein kleiner Junge mehr. Mit fünfzehn, fast sechszehn Jahren wusste ich, was
richtig und was falsch war und tat genau das Falsche.
Wenn Cordula wie gewohnt nach der Schule auf mich wartete, schüttelte ich sie ab. Dachte mir
irgendeine Ausrede aus, warum ich nicht mit ihr gemeinsam den Heimweg antreten konnte.
In den Pausen vermied ich ihre Nähe und irgendwann begriff sie von alleine, dass ich sie loswerden wollte, und ab da blickte sie auch in meiner Nähe nur noch auf den Boden vor ihren Füßen.
Zum Lachen habe ich sie nie mehr gebracht.
Damals, als wir die ersten Male nebeneinander hergingen. Schweigend und sie stur auf den Weg vor ihren Füßen starrte, spürte ich, dass sie mir misstraute. Ich wusste nur nicht, wie recht sie damit
haben sollte.
Epilog
Für mich normalisierte sich das Verhältnis zu meinen Mitschülern ganz allmählich, bis es wieder so war, wie in der Zeit, bevor Cordula in unsere Klasse kam.
Für Cordula wurde es wieder so, wie es war, bevor sie mich kennenlernte und ich, ich schaute zu. So wie so viele auch heute noch einfach nur zuschauen.
Nach den nächsten Sommerferien kam sie nicht wieder zurück in die Schule und das letzte, was ich für viele Jahre von ihr hörte war, dass sie früh geheiratet hat und mit ihrem Mann in die Türkei
gezogen sei.
Erst vor wenigen Jahren traf ich sie dann, ganz zufällig, in einem Onlineportal wieder.
Ich hätte sie nicht erkannt auf dem Foto, das dort von ihr zu sehen war. Eine leicht übergewichtige Frau in einem geblümten Kleid und einem alten, mit Furchen durchzogenem Gesicht.
Nur ihr Name fiel mir auf und so schrieb ich sie an: „Hallo, ich bins, Ralf, kennst Du mich noch?“
Es war fast wie damals, als wir gemeinsam den Weg nach Hause zurücklegten. Ihre Antworten
kamen einsilbig und ich glaubte zu fühlen, dass sie mir noch immer misstraute.
Trotzdem schrieben wir uns eine Weile regelmäßig und irgendwann versuchte ich, ihr zu erklären, was damals, als wir für kurze Zeit gemeinsam zur Schule gingen, in mir vorging und mich all die Jahre über immer noch beschäftigte und schließlich, schließlich entschuldigte ich mich bei ihr.
„Ist doch schon so lange her. Mach Dir keinen Kopf mehr darüber. Ist doch schon alles vergessen“, antwortete sie mir.
Bis heute weiß ich nicht, ob sie mir verziehen hat.
Ich bin kein Held, auch wenn ich es gerne gewesen wäre. In meinem Leben gibt es nur wenige
Gelegenheiten, in denen ich Mut bewiesen habe. Auch damals hätte ich mutig sein müssen, doch stattdessen habe ich verraten.
Noch immer beschäftigt mich mein Verrat, den ich nicht einfach auslöschen kann und der mit zu dem schlimmsten gehört, was ich je tat.
Doch habe ich auch daraus gelernt. Ich habe meine ganz eigenen Ansichten über die Menschen und das, was sie tun und auch, wenn ich mit meiner ganz persönlichen Wahrheit oftmals anecke, so macht mir das nicht wirklich etwas aus, weil ich begriffen habe, dass es nicht darauf ankommt. Es kommt nur darauf an, niemals aufzugeben. Man muss nicht immer gewinnen, wichtig ist nur, dass man sich selbst niemals verliert.
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2017
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