Mut, so denke ich, Mut ist die Überwindung von Angst.
Dort wo es keine Angst gibt, fehlt auch der Keim, aus dem Mut erwachsen kann.
Wenn ich mein bisheriges Leben überschaue, in all den vergangenen Jahren wie in einem Buch
zurückblättere dann, so glaube ich, gab es nur ein einziges Ereignis, bei dem ich so viel Angst hatte, dass mir nichts anderes übrig blieb, als mutig zu sein oder alles zu verlieren.
Davon möchte ich jetzt erzählen:
Ich war frei!
Das erste Mal in meinem Leben, das ich mich wirklich frei fühlte, dass mich die enge unseres
kleinen Dorfes nicht länger störte, weil ich sie überwinden konnte. Meine kleine Welt, in der ich bis jetzt gelebt hatte, schien plötzlich größer, ja unendlich groß geworden zu sein.
Der Horizont reichte nicht länger als nur bis zum Dorfausgang. Er war weit, unendlich fern und
allein das Wissen darum, ihm entgegenjagen zu können, gab mir das Gefühl, endlich frei sein zu dürfen.
Dabei hatte sich eigentlich gar nicht so viel geändert.
Das Dorf war immer noch dasselbe, die Straßen immer noch holprig und schienen nur im Kreis zu führen. Auch die Menschen waren dieselben geblieben. Immer die gleichen Gesichter, dieselben Geschichten und Tage, von denen einer dem anderem so sehr glich, dass es einem angst wurde, bei dem Gedanken, dass das schon das Leben wäre - eine Anhäufung von Eintönigkeiten.
Nein, das Dorf hatte sich nicht verändert und doch war alles anders, denn in meiner Brusttasche trug ich endlich den noch druckfrischen, schweinchenrosafarbenen Führerschein, auf dessen
Innenseite mein Bild prangte.
Aber der eigentliche Grund meines Hochgefühls war nicht der nigelnagelneue Führerschein. Es war das Auto, über dessen glänzenden Lack ich hin und wieder, in unbeobachteten Momenten, mit
zärtlichen Bewegungen meine Finger streichen ließ.
1800 DM. Ein kleines Vermögen für einen Lehrling, der nur etwa 360 DM im Monat hatte, von denen er auch noch zu Hause Kostgeld abliefern musste.
VW Passat, Baujahr 1974. 50 PS, die mich über jede Grenze hinwegtragen würden.
Orange Lackierung, die ich liebevoll an jedem Wochenende auf Hochglanz polierte.
Obwohl, mein Kumpel Manne meinte, dass die Farbe nicht einfach Orange heißen würde,
sondern Phönixrot.
Er musste es wissen, er war Autolackierer und kannte sich aus.
Phönixrot. Das gefiel mir, weil es irgendwie zu mir, meinem Leben und all meiner Sehnsucht
passte.
Auch wenn ich erst dabei war, das Fliegen zu lernen und meine Flügel noch nicht gestutzt
bekommen hatte und, davon war ich überzeugt, sowieso niemals abstürzen könnte.
Ich liebte es, mich hinter das Lenkrad meines Autos zu setzen und einfach loszufahren. Ziellos über Landstraßen, Autobahnen und mir bis dahin unbekannte Ortschaften zu düsen.
Wen wundert es da, dass ich bei einer dieser Ausfahrten meine zukünftige Stammdisco entdeckte?
„Dolce Vita“, eine kleine, nicht besonders moderne Diskothek, gleich rechts, wenn man in Schwarmstett über den unbeschrankten Bahnübergang fuhr, an dem heruntergekommenen Bahnhof vorbei und rauf auf das Gelände eines ehemaligen Fabrikgebäudes aus roten Backsteinziegeln.
Dort, in einem der baufällig wirkenden Seitengebäude der Fabrikhallen, führte eine steile,
abgetretene steinerne Treppe hinauf zu einer Stahltür, über dessen Eingang in rot-grünen,
beleuchteten Buchstaben der geschwungene Schriftzug „Dolce Vita“ prangte, ohne den niemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, dass es hier, zwischen Ruinen aus rotem Backstein,
eingeschlagenen Fenstern, alten Abfallkübeln und Unkraut, das aus jeder Ritze spross, noch so
etwas wie Leben gab.
Warum ich ausgerechnet diesen Schuppen zu meiner Stammdisco erklärte?
Der einzige Grund dafür war wahrscheinlich, dass Schwarmstett weit weg von meinem Zuhause lag und ich hier mit Sicherheit andere Gesichter treffen würde als die, die mich an jedem anderen Tag unter der Woche umgaben.
So warf ich mich an jedem Samstagabend in schale - enge Jeans mit glitzernder, viel zu grosser Gürtelschnalle, auf der ein goldener Adler, Zeuge meiner gerade erst errungenen Freiheit, der Welt seine Krallen entgegenstreckte. Schwarzes Oberhemd und grau meliertes Jackett, dass mir mein
älterer Bruder geschenkt hatte.
Dann zwängte ich mich in meine Stiefeletten. Cowboystiefel, die an den Füßen drückten und
vernünftiges gehen gleich von vornherein unmöglich machten, die aber die Krönung der
Männlichkeit waren und die ich deshalb zu meinen Lieblingsschuhen erwählte.
So machte ich mich an jedem Samstagabend auf zur Dolce Vita, wo man mich bald kannte und wo ich ziemlich schnell zum Inventar gehörte.
Es hatte sich unter den Jugendlichen in unserem Dorf bald herumgesprochen, dass ich an den
Samstagen nicht die nahe gelegene Kleinstadt ansteuerte, wo die dortigen drei Diskotheken nichts anderes, als verstaubte Langeweile verbreiteten und so kam es bald, dass schon montags das
Telefon klingelte, weil sich jeder für den kommenden Samstag einen Platz in meinem Auto sichern wollte.
Natürlich, es gab auch noch andere Jugendliche in unserem Dorf, die ein Auto hatten und sich an den Wochenenden auf Achse begaben. Aber niemand steuerte meine kleine, unmoderne Diskothek an, die viel zu weit weg war und, was wohl der eigentliche Grund dafür war, dass mein Auto an
jedem Samstag voll besetzt über die nächtlichen Landstraßen brauste, ich nahm von niemandem Geld für meine Dienste.
Ich glaube nicht an Schicksal und so muss es wohl Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet an
diesem einen Samstagabend mein Auto fast leer war.
Neben mir saß mein jüngerer Bruder Claus und hinten, auf der Rückbank, hatte Flocke seine Beine gemütlich auf der Sitzfläche ausgestreckt und döste vor sich hin.
Flocke war ein netter Kerl, etwas jünger als ich und der Freund meines Bruders.
Warum man ihn Flocke nannte, wusste ich nicht, aber ich mochte ihn und hatte deshalb auch
eingewilligt, als mein Bruder mich darum bat, ihn mitzunehmen.
Ich glaube, jeder mochte Flocke. Man musste ihn einfach mögen, denn wo immer er auftauchte, verbreitete er gute Laune, was ausschließlich seinem Aussehen zu verdanken war.
Seine leuchtend roten Haare standen immer wirr von seinem Kopf ab und trotzten jedem Kamm,
jedem Haargel und auch seinen Händen, mit denen er ständig versuchte, irgendwie Herr über diese Pracht zu werden, die immer aussah, als hätte gerade ein Schwarm Vögel darin genistet, welche durch drohendes Unheil in Panik ihr Nest verlassen hatten.
Aber selbst wenn es Flocke geglückt wäre, sein explodiertes Vogelnest im Zaum zu halten, genützt hätte es wenig. Denn auch die Fortsetzung dieses Naturschauspiels spiegelte sich in seinem Gesicht wieder, dass von leuchtenden Sommersprossen übersät war, die auf seiner auffällig blassen Haut wirkten, als würden sie sich sogleich lösen und einem ins Gesicht springen. Flocke wusste nur
allzugut um sein Aussehen und vielleicht schauten seine großen blauen Augen deshalb immer ein wenig verlegen in die Welt hinaus und umspielte sein Mund ein immer ebenso verlegen wirkendes lächeln.
Selbst jetzt, wo wir über die Landstraße durch verschiedene, am Weg liegende Dörfer fuhren und ich im Rückspiegel seinen ausgestreckten Körper und sein Gesicht mit den geschlossenen Augen betrachtete, lächelte er.
Die Dolce Vita war wie erwartet voll, als wir dort eintrafen. Voll, aber nicht überfüllt, was ich
besonders mochte, denn man musste nie um Getränke anstehen und bekam auch meistens noch einen Sitzplatz, an einem der kleinen quadratischen Tische, die am Rande der Tanzfläche
herumstanden und fest mit dem Boden verankert waren.
Die Disco war so unmodern, dass sich selbst manche Gruftis, also Leute über vierzig, hierher
trauten. Manchmal sah man sogar hier und da ein noch viel älteres Pärchen über die Tanzfläche gleiten, welches versuchte, bei den aus den Boxen schallenden, dröhnenden klängen und unter den auf der Tanzfläche herumspringenden jugendlichen Discofox, Walzer oder Cha-Cha-Cha zu tanzen.
Die meisten hier waren, so wie ich, Stammgäste und so begrüßte ich zuerst ein paar Leute, bevor wir dann einen der kleinen Tische in beschlag nahmen.
Kaum das wir es uns bequem gemacht hatten, huschte auch schon die Bedienung heran, denn einer der Vorteile, wenn man einen der Tische erbeutet hatte war, dass man nicht selbst anstehen musste, sondern bedient wurde.
Flocke bestellte sogleich U-Boot, was nichts anderes war als Fanta mit Korn und dessen einziger Sinn darin bestand, sich möglichst schnell niederzubügeln und der Welt für Stunden Adieu zu
sagen.
Nach dem sechsten U-Boot krachte sein Kopf dann auch auf die Tischplatte. Leise murmelnd
Beteuernd, dass er noch völlig fit sei, zog er seine Arme unter den Kopf, schloss die Augen, schmatzte noch ein wenig und verabschiedete sich erst einmal vom Diesseits.
Mein Bruder war bald verschwunden und tobte in irgendeiner anderen Ecke der im Schummerlicht versunkenen Disco herum und nur selten liefen wir uns zufällig über den Weg.
Ich selbst hatte bald ein paar Leute entdeckt, zu denen ich mich gesellte, und nur Flocke blieb an unserem Tisch. Seinen Kopf auf den Armen, leise vor sich hin lächelnd, seine Haare, die selbst bei dieser spärlichen Beleuchtung noch zu leuchten schienen, wie ein Mopp über die Tischplatte
ausgebreitet und selig träumend.
Die Dolce Vita schloss um drei Uhr morgens und kurz vor drei tauchte mein Bruder wieder auf. Zwei Mädchen im Schlepptau. „Können wir die beiden mitnehmen?“, fragte er. „Sie wohnen in Südwinsen und wissen nicht wie sie nach Hause kommen sollen.“
Südwinsen war ein Ortsteil unseres Dorfes, welches aus den Teilen Winsen, Südwinsen und seit ein paar Jahren, Neuwinsen bestand.
Ich wusste nicht, wie mein Bruder es immer wieder schaffte, aber obwohl er drei Jahre jünger war als ich, hatte er es drauf. Immer wieder gelang es ihm, Mädchen herumzukriegen, und, wenn ich es auch damals niemals zugegeben hätte, war ich deshalb ein wenig neidisch auf ihn. Denn mir gelang so etwas nie. Meine Unsicherheit Mädchen gegenüber, versuchte ich mit coolnes zu übertünchen und dort, wo er es mit großer Klappe weiterbrachte, war ich nur schüchtern, ängstlich und stumm.
Ich lehnte mich an die Theke, an der ich gerade stand, betrachte die beiden, mir
gegenüberstehenden Mädchen, von denen mein Bruder die eine an der Hand hielt, während die
andere, ebenso stumm wie ich, wie unbeteiligt danebenstand.
Das Mädchen neben meinem Bruder löste sich von dessen Hand und streckte mir diese entgegen „Ich bin Manuela“, grinste sie mich an. Auch das andere Mädchen kam nun ein wenig näher, hielt mir ebenso ihre Hand entgegen und meinte leise „Ich bin Heike“.
Ich glaube, ich hielt ihre Hand wohl etwas länger, als unbedingt nötig gewesen wäre, denn
irgendwann hob sie ihren Kopf, schaute mich fragend an, nur um sogleich ihren Blick wieder zu senken.
Ein komisches Gefühl durchfloss meinen Körper, als ich da stand, ihre Hand in der meinen fühlend. Seltsame Wärme stieg in mir auf und ich glaube, wäre es in der Disco nicht so dunkel gewesen,
hätte man sehen können, wie ich begann rot zu werden.
Schnell ließ ich ihre Hand wieder los und um irgendetwas zu sagen meinte ich „OK., aber wir
müssen Flocke noch wecken“, der immer noch tief schlummernd, über seiner Tischplatte
dahinfloss.
Es kostete einige mühe, bis wir ihn endlich wach hatten und er uns schließlich mit glasigen Augen anstarrte und nicht wusste, wo er sich befand und warum zum Teufel, man ihn aus seinen Träumen hochriss.
Nach einer kurzen Drohung von mir, mir ja das Auto nicht vollzukotzen und seiner Beteuerung, dass das bestimmt nicht passieren würde, denn er sei ja schließlich topfit, ließ er sich von uns
mitschleppen und ins Auto bugsieren, wo er auf der Rückbank sofort wieder einschlief.
Mein Bruder und seine Eroberung quetschten sich mit auf die Rückbank und Heike wurde von mir, in Ermangelung weiterer Sitzplätze, auf den Beifahrersitz bugsiert.
Es war still während unserer nächtlichen Fahrt. Aus dem Radio plärrte leise Musik und wenn ich in den Rückspiegel blickte, konnte ich erkennen das Manuela und mein Bruder mit sich selbst genug zu tun hatten. Miteinander knutschend und an sich herumfummelnd, blieb ihnen keine Zeit für
Gespräche.
Heike saß still neben mir, und wenn ich hier und da ihren Blick suchte, lächelte sie, senkte ihre
Augenlider und versuchte, in eine andere Richtung zu schauen.
Ich saß da und war froh darüber, meine Hände um das Lenkrad legen zu können, weil ich sonst wohl vor Verlegenheit nichts mit ihnen anzufangen gewusst hätte.
Ich weiß nicht, was ich dachte, als ich das Auto durch die Dunkelheit steuerte oder ob ich überhaupt irgendetwas dachte. Aber ich fühlte die wärme in mir, die von diesem Mädchen auszugehen schien und von mir besitz ergriffen hatte und wusste, das irgendetwas mit mir geschah, dass ich nicht unter Kontrolle hatte und das mich deshalb verwirrte.
Es war kurz vor vier Uhr morgens, als wir Südwinsen erreichten, und nun musste Heike endlich
etwas sagen, denn sie musste mir den Weg zu ihrem Zuhause weisen.
Bald schon standen wir vor einem kleinen Haus, dessen Fenster alle im dunkeln lagen. Eine kleine grüne Pforte grenzte das Haus von der Straße ab und ein schmaler Weg aus Betonplatten führte zur Haustür.
„Schlafen schon alle“, stellte ich fest, nur um etwas zu sagen.
„Es ist keiner da, meine Großeltern sind übers Wochenende weggefahren und kommen erst am Montag wieder".
„Mhm“, murmelte ich, "Und deine Eltern?“
„Gibts keine“, antwortete sie und öffnete dabei die Beifahrertür.
Manuela und mein Bruder hatten sich notgedrungen voneinander gelöst und auch Flocke war
halbwegs wach geworden.
„Wollt ihr noch mit reinkommen?“, fragte Heike und setzte sogleich hinzu: „Ich kann Kaffee
machen".
Wir folgten ihr auf dem schmalen Weg bis zur Haustür. Schnell hatte sie diese aufgeschlossen, im Flur das Licht angeknipst und wies uns den Weg ins Wohnzimmer, während sie selbst in der Küche verschwand, wo man schon bald das glucksen der Kaffeemaschine hören konnte.
Das Wohnzimmer war klein, so wie das ganze Haus klein zu sein schien.
Die Möbel wirkten alt und wie aus einer anderen Zeit. Man sah ihnen an, dass hier alte Leute
lebten, die wohl nicht allzu viel übrig hatten für modernen Schnickschnack.
Das einzig moderne war eine Stereoanlage, die gleich neben der großen, ausladenden braunen Couch stand und die ich neidvoll betrachte, weil sie genau das war, was ich mir seit Jahren schon für mein eigenes Zimmer wünschte.
Manuela und mein Bruder warfen sich sogleich auf das Sofa, wo sie sofort da weitermachten,
wobei sie im Auto, durch unser ankommen, unterbrochen worden waren.
Knutschend und eng umschlungen, ließen sie sich auch nicht von Flocke stören, der sich neben sie quetschte, während ich mich in einen der riesigen Ohrensessel fallen ließ.
Kurze Zeit später kam Heike mit einem Tablet herein, auf dem Unterteller, Tassen und eine Kanne duftender Kaffee standen.
Nachdem sie allen eingeschenkt hatte, ließ sie sich mir gegenüber in einen der anderen Sessel plumpsen, zog die Beine unter sich und es wurde beklemmend still.
Ich hätte gerne etwas gesagt, doch so sehr ich auch überlegte, mir fielen keine Worte ein.
Heike saß da, starrte auf ihre Hände und schien von deren Anblick völlig gefesselt zu sein.
Plötzlich sprang Manuela auf, zog meinen Bruder hoch und verkündete „Wir gehen hoch!“, und schon stürmten die beiden aus dem Wohnzimmer und, wie unschwer zu überhören war, irgendeine Treppe hinauf.
Flocke reckte sich, gähnte laut und mit offenem Mund und meinte dann „Ich muss nach Hause!“ Dann streckte er sich auf der Couch aus, zog eines der Sofakissen zu sich, drapierte dieses unter
seinem Kopf und gleich darauf konnte man sein leises Schnarchen, hier da nur unterbrochen von
seligen Seufzern, hören.
Heike und ich grinsten uns an, wussten aber nun um so weniger, was wir sagen sollten.
„Kennst Du Manuela schon lange?“, fragte ich schließlich, nur um die Stille zu durchbrechen. „Klar, schon seit einer Ewigkeit. Sie ist meine beste Freundin und hier praktisch zu Hause“.
Wieder Stille.
„Soll ich Musik machen?“, fragte Heike schließlich.
„Mhm, klar, was haste denn da?“, antwortete ich.
Sie deutete auf einen Schrank, der fast die ganze Seite einer der Wohnzimmerwände einnahm.
„Unten rechts sind meine Platten, kannst ja mal gucken".
Ich stand auf und war froh darüber, mich bewegen zu dürfen und damit irgendwie dieser
Unsicherheit zwischen uns, zumindest für einen Augenblick, zu entkommen.
Ich trat an den Schrank, öffnete die dunkelbraunen Türen, die sie mir gewiesen hatte und zog
wahllos eine der, säuberlich in Reih und Glied stehenden, Schallplatten hervor. Dann die nächste und übernächste und dann noch eine und noch eine. Bis alle auf dem Boden vor den geöffneten Schranktüren lagen.
„Wow!“, hörte ich mich ausrufen.
Nein, nicht die Anzahl der Platten hatte mich beeindruckt, denn es war nur ein Bruchteil von denen, die ich selbst besaß.
Es war die Musik selbst - Iron Maiden, ZZ-Top, Motorhead, Scorpions, Helloween, Metallica,
Warlock, Black Sabbath und all die anderen Scheiben, die ich selbst besaß, lagen schon bald um mich herum auf dem Fußboden verteilt.
Noch nie zuvor hatte ich ein Mädchen kennengelernt, dass dieselbe Musik liebte wie ich. Musik, die von jeder Radiostation, von jedem Fernsehsender boykottiert wurde, weil sie für die meisten als aggressiv, brutal und gewaltverherrlichend abgetan wurde und die für uns, die diese Musik liebten und verstanden, dass Leben selbst bedeutete.
Ja und plötzlich konnten Heike und ich miteinander reden und die Worte sprudelten nur so aus uns heraus.
Wir redeten über Musik, darüber, was sie uns bedeutete und wie schwer es uns gemacht wurde, an Informationen über unsere Lieblingsbands zu kommen oder nur zu erfahren, welche Platte wohl demnächst neu auf den Markt geworfen wurde.
Wir redeten über unser beider Leben, über unsere Träume und Sehnsüchte und ertappten uns
irgendwann dabei, dass wir dem anderem all das erzählten, was wir noch niemals jemanden anderes erzählt hatten und von dem wir wohl beide geglaubt hatten, es auch niemals irgendwem erzählen zu können.
Wir saßen uns gegenüber und ich schaute in ihre blauen Augen, die keine Scheu und Verlegenheit mehr in sich trugen, sondern mich anstrahlten und mit einmal wusste ich, dass Heike schön war. Vielleicht nicht wirklich und nicht für jeden, aber für mich war sie schön.
Diese Nacht hätte nie vergehen sollen und doch tat sie es.
Draußen wurde es allmählich hell. Flocke rekelte sich auf dem Sofa und erwachte schließlich,
sichtlich erholt.
Auch Manuela und mein Bruder tauchten bald wieder auf und es war schon fast halb zehn, als wir uns von Heike verabschiedeten und in mein Auto stiegen.
Ich glaube nicht, dass ich damals, als ich mich auf dem schmalen Weg vor ihrer Haustür von Heike verabschiedete, schon wusste, dass ich mich verliebt hatte.
Sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sosehr ich mich auch anstrengte, musste ich doch fast
immer an sie denken.
Ich sah sie ständig vor mir, wie sie dort saß, in diesem großen Ohrensessel, die Beine
untergeschlagen und mich mit ihren blauen Augen anstrahlte. Ich sah ihre dunklen, fast schwarzen, kurz geschnittenen Haare vor mir und stellte mir vor, wie diese sich wohl anfühlen mögen und
fragte mich, ob ich wohl verbrennen werde, wenn ich über ihre Haut streicheln dürfte. Ich sah ihre Augen, selbst dann, wenn ich die meinen schloss, und hörte ihre Stimme, auch wenn ich den
Kopfhörer aufgesetzt hatte und harte Rockmusik durch meinen Schädel peitschte.
Ich konnte sie nicht vergessen und wusste nicht, ob ich das überhaupt wollte.
Es war der Mittwoch nach unserem Discobesuch. Ich kam gerade von der Arbeit heim, als mir Claus über den Weg lief. Unvermittelt blieb er vor mir stehen und fragte ganz beiläufig „Wie fin’ste eigentlich Heike?“
Ja, ich hätte jetzt sagen können, dass sie sich in meinem Kopf eingenistet hatte und das ich ständig an sie denken musste.
Ich hätte sagen können, dass ich mir vorstellte, wie es sei ihr Haar zu streicheln und ganz sicher bin, dass es sich wie Samt anfühlen musste. Das ich davon träumte ihre Haut zu berühren, ihre Hände in den meinen zu halten, in ihren Augen zu ertrinken. Ich hätte erzählen können, wie sehr ich mir wünschte das diese vergangene Samstagnacht nicht das Ende, sondern erst der Anfang war.
All das hätte ich sagen können, doch stattdessen murmelte ich nur „Äh, ich glaube, die ist ganz in Ordnung“ und schickte ein fragendes „Warum?“ hinterher.
„Na ja“, meinte Claus „Heike hat mich gefragt, ob Du wohl mit ihr gehen würdest, traut sich aber nicht, dich selbst zu fragen“
Ich spürte, wie meine Beine weich wurden, wie sich die Welt um mich zu drehen begann. Sollten denn wirklich all meine Träume in Erfüllung gehen, sollte es wirklich so einfach sein?
„Du guckst wie ein Pferd!“, grinste mein Bruder und unter anderen Umständen hätte ich ihm
bestimmt etwas passendes erwidert, doch damals, in diesem Moment, fiel mir nichts zu sagen ein und so begnügte ich mich damit, weiter wie ein Pferd zu gucken.
„Morgen Abend kommt sie jedenfalls und dann könnt ihr ja alles selbst bequatschen“, damit ließ er mich stehen, nicht ohne vor seinem verschwinden noch ein wieherndes Geräusch zu machen.
Gab es das wirklich, dass ein Mädchen sich vielleicht genauso nach mir sehnte, wie ich mich nach ihr? Dass sie sich wünschte, ich möge immer in ihrer Nähe sein? Träumte sie vielleicht auch von mir, so wie ich von ihr träumte?
Ich begriff es nicht und fragte mich immer wieder aufs neue, sollte das alles wirklich so einfach sein?
Um es gleich vorwegzunehmen, nein, es wurde nicht einfach. Es wurde alles andere als einfach!
Ja, Heike kam, im Schlepptau ihre Freundin Manuela und es war sicher kein Zufall, dass auch ein paar Freunde und Freundinnen von mir und meinem Bruder auftauchten und das sich selbst meine beiden Schwestern zu uns in das kleine Zimmer meines Bruders zwängten.
Es hatte sich wohl herumgesprochen, dass sich da etwas anbahnte, und jeder wollte Augenzeuge sein.
Oh Mann, wie hasste ich sie alle an diesem Abend!
Wieder war da diese schweigende Beklemmung zwischen mir und Heike. Wie weggewischt all das, was wir uns schon gesagt hatten.
Das ganze Zimmer meines Bruders war belegt. Auf der kleinen Couch knutschten er und Manuela herum. Auf dem Bett saßen ein paar seiner Freunde, neben ihnen Heike, die angestrengt in einer
alten Bravo blätterte und so tat, als würden sie die darin enthaltenden Artikel brennend interessieren und dabei übersah, das sie die Zeitschrift falsch herum in den Händen hielt und jeden Blick zu mir scheute.
Auf dem einzigen Stuhl im Zimmer saß meine jüngere Schwester, von der ich genau wusste, egal was nun geschehen würde, sie wäre die erste, die es jedem brühwarm erzählen würde.
Auf dem Fußboden, auf der Sofalehne und überall, wo noch ein kleines Plätzchen zu ergattern war, saßen Mädels und Jungs, die darauf warteten, dass etwas passierte und dabei angestrengt so taten, als wäre das genaue Gegenteil der Fall.
Ich hatte mich neben Manuela und Claus gezwängt und schaute immer wieder verstohlen zu Heike hinüber, die mir auf dem Bett schräg gegenüber saß und sich nicht traute, mich anzusehen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, was ich sagen sollte, und wünschte alle im Raum, außer Heike und mir, zur Hölle.
Die Zeit verging quälend langsam und doch rasend schnell. Tick, tick, tick.
Niemand ging, niemand verabschiedete sich und ich fragte mich, hatte denn niemand am nächsten Tag etwas zu tun, dass es ihnen egal war, wie spät es wurde?
Je weiter die Zeit voranschritt, je verzweifelter wurde ich.
Ich konnte Heike nicht einfach so gehen lassen, denn wenn sie ging, ohne ein Wort von mir, dann war das für immer.
Ob ich mir die Worte vorher überlegte?
Oder ob ich das, was geschehen würde, in Gedanken schon durchgespielt hatte?
Ich bezweifle es.
Ich hatte Angst, Angst das Heike einfach so gehen würde und das ich sie dann für immer verloren würde.
Wie ich es schaffte, meine Angst zu bezwingen, weiß ich nicht. Ich muss wohl sehr verzweifelt
gewesen sein.
Ich stand auf, drückte mich an all den Leuten vorbei, die ich plötzlich nicht mehr wahrnahm. Mein Herz raste und meine Hände fingen an zu schwitzen, und je näher ich Heike kam, umso schlimmer wurde es.
Als ich es dann geschafft hatte, diesen unendlich weiten Weg bis zu ihr hinter mich zu bringen, beugte ich mich hinunter, drückte ihr einen unbeholfenen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Entschuldige, aber ich musste das einfach tun. Wenn Du möchtest, kannst Du mir jetzt aber eine
runterhauen".
Das war das Mutigste, dass ich je in meinem Leben getan habe!
Nein, Heike erwiderte meinen Kuss nicht. Sie ließ sich auch nicht in meine Arme fallen, aber das Eis war gebrochen und als ich in ihr Gesicht schaute, ihr warmes Lächeln erblickt und in ihren
strahlenden Augen versank, fragte ich mich erneut „Konnte wirklich alles so einfach sein?“
Heike und ich, wir waren nur wenige Monate zusammen. Für mich war diese Zeit, eine Zeit voller glücklichsein. Für Heike aber wohl nicht, denn irgendwann kam sie, um mit mir Schluss zu
machen.
Sie brachte fadenscheinige Gründe dafür vor und erst ein paar Tage später erfuhr ich, der
wahre Grund war, dass sie einen anderen Typen kennengelernt hatte.
Ich hätte sie erwürgen, erschlagen, anflehen, anbetteln und heulen können.
Stattdessen rasierte ich mir meinen Vollbart ab, den ich auch damals schon trug. Ich weiß, das klinkt verrückt. Aber so war es und erklären kann ich es nicht.
Heike war die große Liebe meines Lebens und noch heute, nach all den vielen Jahren, die seit
damals vergangen sind, frage ich mich hin und wieder, was wohl aus uns wäre, hätte sie uns nur eine ganz kleine Chance gegeben.
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2017
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