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Ein unerwarteter Gast

 

 

 

 

Es war kein besonders schöner Tag. Am Himmel jagten schwere, dunkelgraue, fast schon schwarze Wolken entlang und jeder zog unwillkürlich den Kopf ein, so als müsste man befürchten, sich den selbigen an den tief hängenden Wolken anzustoßen. Diese zum Platzen zu bringen und damit Auslöser für das unvermeidliche, sicher aber schon sehr bald einsetzende Sauwetter zu werden.

Auch ich zog meinen Kopf zwischen die Schulterblätter, schlug meinen Mantelkragen hoch und schaute zum Himmel empor, bevor ich dann doch, hastig und als hätte ich die Befürchtung, es mir im letztem Augenblick doch noch anders zu überlegen, die Haustür hinter mir zuzog und auf die Straße hinaustrat.

Lange würde es nicht mehr dauern, bis der Himmel seine Schleusen öffnete. Schon jetzt roch der unangenehm kalte Wind nach Regen und wirkte der Asphalt unter meinen Füßen feucht und glänzend.

Nein, kein wirklich schöner Tag. Kein Sonntag, wie man ihn sich nach einer arbeitsreichen Woche wünscht.

Vielleicht sollte ich ja doch lieber umkehren? Nach Hause gehen, bei einem gutem Buch und einer heiß dampfenden Tasse Kaffee die Beine hochlegen und die Welt aussperren?

Aber ich liebte es viel zu sehr, als das ich hätte umkehren können und ich wusste, gerade bei solch einem Wetter könnte ich die besten Schnäppchen machen. Die Händler wären mürrisch, würden keine Anstrengung machen, um großartig zu feilschen, weil die meisten Kunden sowieso ausblieben, und der ganze Flohmarkt würde mir alleine gehören, weil es kein Geschuppse und Gedränge gab.

Ich kaufte nur selten etwas, aber ich liebte es, in all diesem Trödel herumzuwühlen. Durch abgegriffene Bücher zu blättern, die eine oder andere angestoßene Vase zu begutachten. Spielzeug, das durch viele Kinderhände gegangen ist, zwischen meinen Fingern zu halten, alte Fotoalben aufzuklappen und mir Menschen und Gesichter aus lang schon vergessener Zeit zu betrachten.

Ich liebte es und jedes Mal, wenn ein Flohmarkt angekündigt wurde, freute ich mich wie ein Kind auf den Weihnachtsabend darauf.

 

Viele Händler waren gar nicht erst gekommen oder hatten ihre Stände schon vor dem drohendem Unwetter in Sicherheit gebracht. Nur etwa dreißig harrten immer noch aus. Wind, sicher bald einsetzendem Regen zum Trotz und vielleicht darauf hoffend, dass durch mangelnde Konkurrenz das Geschäft doch besser laufen würde, als das Wetter befürchten ließ.

Kaum hatte ich den Marktplatz betreten, wo unter der Woche Blumen und Gemüsehändler ihre Waren anpriesen, nun aber lange Tische, angefüllt mit allerlei Gerümpel lockten, vergaß ich das Wetter und fühlte den kalten Wind nicht mehr.

Ich war in meinem Element!

Ich schaute, tastete, berührte. Verzog manchmal skeptisch, manchmal belustigt meine Mundwinkel und spürte die hoffnungsvollen Blicke der jeweiligen Händler auf mir, die sich sogleich in lethargische Gleichgültigkeit verwandelte, sobald ich den in meinen Händen haltenden Gegenstand wieder an seinen Platz zurückstellte und mich dem nächsten Verkaufstisch zuwandte.

 

Beinahe hätte ich ihn übersehen! Halb verdeckt von unterschiedlichen Kleidungsstücken lag er dort, und wenn dieser dunkle Fleck nicht gewesen wäre, ja dann wäre ich wohl tatsächlich achtlos an ihm vorübergegangen. So aber zog ich ihn hervor.

„Ein schöner Schirm, nicht wahr?“, fragte der Händler und beugte sich über seinen Tisch hinweg zu mir vor. Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Der Schirm war nicht schön, er war schmutzig gelb, fast schon mehr grau als Gelb. Der einstmals dunkel lackierte Holzgriff war abgegriffen und stumpf und tiefe Kerben zogen sich durch das Holz. Ich betrachtete den blass blauen Fleck auf dem Tuch des Schirms. „Den Fleck sieht man kaum!“, fügte der Händler lockend hinzu.

Dabei war es gerade dieser Fleck, weswegen mir der Schirm überhaupt aufgefallen war.

Ich ging auf seine Ausführungen nicht weiter ein und fragte stattdessen „Woher haben sie den Schirm?“, „Der Schirm, ach, der gehörte meinem Großvater“ und setzte sogleich beteuernd nach „Ist ein sehr guter Schirm!“

„Ihrem Großvater?“, hakte ich nach. „Ja, meinem Großvater. War ein netter Kerl, wurde nur in seinen letzten Jahren etwas wunderlich. Den Schirm trug er immer bei sich, egal ob es regnete oder die Sonne schien. Wenn es regnete, schwang er ihn hoch über seinem Kopf und wenn es trocken war, steckte der Schirm immer seitlich in seinem Gürtel. Ich sag ja, war schon ein wenig wunderlich der alte Knabe“, dann schaute mich der Händler fragend, und wie mir schien ein wenig misstrauisch an „Warum wollen Sie das alles wissen?“, „Ach, nur so“, meinte ich und um weiteren Fragen auszuweichen schob ich sogleich ein „Was soll er kosten?“ hinterher.

„Zehn Euro!“, kam es wie aus der Pistole geschossen, wobei der Typ einen mahnenden Blick auf die dunklen Wolken über unseren Köpfen warf.

„Mhmpf“ machte ich stirnrunzelnd. „Okay, okay, fünf Euro, aber tiefer kann ich echt nicht gehen!“ grummelte der Verkäufer ein wenig missmutig. 

Schweigend wühlte ich in meiner Hosentasche herum und zog schließlich einige Geldstücke hervor, die ich in die geöffnete Hand des Händlers fallen ließ. Zufrieden steckte dieser die Münzen ein und bevor wir uns verabschiedeten, beteuerte er noch schnell „Da haben sie wirklich einen guten Kauf getan, der Schirm ist wirklich sehr gut und schön ist er auch noch!“

 

Ich fühlte mich seltsam beschwingt, als ich, den Schirm in meiner rechten Hand hin und her schwingend durch die Stadt schlenderte. Ich wollte mich meinen Gedanken hingeben, wollte die Zeit viele Jahre zurückdrehen und erkunden, ob ich mich noch an alles erinnern konnte.

Irgendwann fand ich mich im Stadtpark wieder, der bei diesem Wetter völlig verlassen vor mir lag. Das Grün der Rasenflächen wirkte unfreundlich und trostlos. Die Wege braun und einsam, und obwohl diese scheinbare Traurigkeit nicht zu meiner Stimmung passte, ließ ich mich auf eine der umher stehenden Parkbänke nieder.

Selbst als die ersten Tropfen auf mich herabfielen, blieb ich sitzen, und als der Regen heftiger und vom Wind gepeitscht auf mich niederprasselte, spannte ich schließlich den Schirm auf und schaute hinauf in das gelbe Dach, welches ich nun über meinem Kopf balancierte. Ich sah auf die Verstrebungen, die dem Schirm Spannung verliehen und beobachte den Tropfen, der sich genau an der Stelle bildete, wo diese sich in der Mitte des Schirms trafen und als sich der Tropfen löste, herabfiel und meine Nasenspitze berührte, dachte ich lächelnd, dass der Verkäufer wohl doch recht gehabt hatte. Der Schirm war auf seine ganz eigene, wundersame Weise doch schön.

 

... „Bäääh, ein Mädchenschirm!“, schimpfte ich lauthals, als meine Mutter mir den gelben Schirm mit den Worten „Den habe ich für Dich gekauft, damit Du auf dem Schulweg nicht nass wirst“, in die Hand drückte.

„Nee, den will ich nicht! Ich trag doch keinen Mädchenschirm!“, rief ich empört.

„Erst einmal ist das kein Mädchenschirm, sondern einfach ein Schirm und zweitens, allemal besser als nass zu werden!“

Warum waren Mütter nur so begriffsstutzig, fragte ich mich selbst, ohne aber eine Antwort zu erhalten.

„Den will ich nicht, da lachen mich ja alle aus!“, versuchte ich es noch einmal. Doch vergebens „Den habe ich Dir gekauft, den nimmst Du jetzt, Basta!“

 

Mein Schicksal war besiegelt!

Ab da musste ich mich bei schlechtem Wetter mit diesem, eines Jungen nicht würdigem, Schirm herumplagen.

Ja, mein Freund Oliver, der hatte einen Schirm!

Dunkelblau mit einem aufgedrucktem Spinnennetz und auf der einen Seite ganz groß, so dass er weithin sichtbar war -Spiderman.

Ja, das war ein Schirm!

Kein solch ein scheußliches gelbes Etwas, wie ich es mit mir herumtragen musste.

Ich gebe zu, manchmal war ich neidisch auf Olli und seinen Schirm und manchmal fechteten wir mit unseren Schirmen. Insgeheim hatte ich immer die Hoffnung, dass mein Schirm irgendwann dabei kaputt gehen würde und ich ihn so los wurde. Aber Pustekuchen, das Ding hielt. Aus Wut habe ich ihn sogar einmal in der Schule auf die Tischplatte knallen lassen, aber das Einzige, was passierte, war, dass ich mein Federetui traf, den Füller in tausend Stücke schlug und sich dessen Tinte auf meinem Schirm ausbreitete. Seitdem hat der Schirm diesen dunklen Fleck, weil die Tinte nie ganz hinausging.

Einige Male vergaß ich den Schirm auch in der Schule. Meistens mit Absicht. Ich ließ ihn einfach an der Garderobe hängen, aber niemand nahm ihn. Alle fanden ihn wohl ebenso hässlich wie ich und so hing er auch am nächsten Tag noch dort, wo ich ihn hatte hängen lassen.

Ich wurde das Ding einfach nicht los und an jedem Schultag, wenn ich dadurch geweckt wurde, weil dicke Regentropfen an mein Fenster schlugen, stand ich missmutig auf und trottete noch missmutiger der Schule entgegen, wo ich meinen ungeliebten Begleiter achtlos an die Garderobe hing und hoffte, dass er sich bis zum Unterrichtsende in Luft auflösen würde ...

 

Ich saß auf meiner einsamen Parkbank, der Regen prasselte auf mich hinunter, schwere Tropfen sammelten sich an dem Rand meines Schirms und fielen dann auf meine Beine nieder, durchweichten meine Hose und zeichneten dunkle Muster auf meine Schuhe.

Ich bekam das alles nicht mit, saß einfach nur da und dachte an schon lang vergangene Zeiten.

Was wohl aus Olli, meinem Freund aus Kindertagen geworden war?

Wir hatten uns schon bald aus den Augen verloren und so sehr ich mich auch anstrengte, schaffte ich es nicht, sein Gesicht in meinem Inneren wieder lebendig werden zu lassen.

Warum hatte dieser Schirm die Zeit überdauert, nicht aber unsere Freundschaft?

 

Ich hielt den abgenutzten Griff des Schirms fest umschlossen und spürte die tiefen Kerben unter meinen Fingern. Hier hatte ich als kleiner Junge versucht, mit meinem Taschenmesser meinen Namen hinein zu ritzen, was mir aber misslungen war. Mein Messer war an dem glatten und hartem Holz abgerutscht und hatte mir den Daumen auf geritzt. Damals, als ich das Blut hervorquellen sah, hatte ich den Schirm noch mehr gehasst, als ich es davor schon tat.

Fünf Euro hatte ich dem Verkäufer in die Hand gedrückt. Fünf Euro für einen alten, abgenutzten Schirm, auf dessen Bespannung auch noch ein blasser, aber kaum zu übersehener blauer Fleck prangte.

Ein viel zu hoher Preis und doch waren all die Erinnerungen, die mir dieser Schirm nun schenkte, unbezahlbar.

 

 

Ich war allein zu Hause. Mama und Papa waren in die Stadt gefahren und ich wusste, es würde dauern, bis sie wieder zurückkommen werden.

Ich genoss dieses Gefühl der Unabhängigkeit, weil ich mich in solchen Augenblicken schon fast erwachsen fühlte.

Auch wenn es erst früher Nachmittag war, war es schon dunkel draußen. Der Regen prasselte an die Fensterscheiben und der Himmel war grau und trübe. Wenn ich aus dem Fenster schaute, konnte ich eine Landschaft erblicken, die seltsam fremd wirkte. Alles was ich sah, war wie in einen dichten Schleier gehüllt. Die Luft schien still zu stehen und die Welt wirkte, als würde sie in sich selbst verharren.

Ich liebte solche Nachmittage und hatte es mir auf dem Sofa bequem gemacht. Der Fernseher flimmerte und ich schaute mir irgendeine Kindersendung an.

Doch etwas fehlte, um den Moment perfekt zu machen.

Ich ging in die Küche, zog mir einen der um den Esstisch stehenden Stühle heran, schob diesen vor den Küchenschrank, wo ganz oben die blaue Keksdose stand, die das Ziel meiner Anstrengungen war.

Ich kletterte auf den Stuhl, reckte mich und gerade in dem Augenblick, als ich die Dose mit meinen Fingern umgriffen hatte und langsam zu mir heranzog, klingelte es an der Haustür.

Vor Schreck ließ ich die Keksdose fallen. Mit lautem Scheppern landete sie auf dem gefliestem Küchenboden, der Deckel sprang auf und ihr Inhalt, all die leckeren Kekse, kugelte auf dem Boden herum.

Noch einmal klingelte es an der Tür. Ich hielt den Atem an und befürchtete, dass es vielleicht Mama und Papa wären, die ihren Haustürschlüssel vergessen hätten. Daran, wie Mama wohl mit mir schimpfen würde, wenn sie all die Kekse in der Küche auf dem Fußboden entdeckte.

Aber nein, schüttelte ich diesen Gedanken beiseite. Es ist noch viel zu früh, als das Mama und Papa schon aus der Stadt zurückgekehrt sein könnten.

Ein wenig aufatmend ging ich zur Haustür und öffnete diese zaghaft.

 

Draußen stand ein schon alter Mann in einem dunklem, vom Regen völlig durchnässtem Mantel. Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen und auf seinem Kopf trug er einen schwarzen Hut. Auch dieser war völlig aufgeweicht und an seinen Rändern hatten sich Tropfen gebildet die jetzt, wo er vor mir stand, herunterfielen und sich zu seinen Füßen auf der Matte sammelten, welche vor der Eingangstür lag.

„Hallo junger Mann, ist deine Mutter oder vielleicht Dein Vater zu Hause?“, fragte er mich.

„Ähm, nein, ich bin alleine“, antwortete ich zögernd.

„Schade“, meinte er. „Na ja, da kann man nichts machen“. Mit einem freundlichem „Auf Wiedersehen mein Junge“ wollte er sich gerade zum Gehen umwenden, als mir einfiel, ihn noch etwas zu fragen „Soll ich Mama und Papa etwas ausrichten?“

„Nein, nein, nett von dir, aber das ist nicht nötig“ wandte er sich mir zu.

Ich weiß nicht, warum ich ihn dann aufforderte hereinzukommen, obwohl es mir eigentlich streng verboten war, fremde Leute einzulassen, wenn ich alleine zu Hause war.

Vielleicht lag es daran, dass er irgendwie enttäuscht wirkte, als ich ihm gesagt hatte, dass weder Mama noch Papa zu Hause wären. Vielleicht war es auch, weil er so pudelnass vor mir stand und ich es einfach nicht übers Herz brachte, ihn wieder fortzuschicken, ohne das er sich wenigstens zuvor ein wenig aufwärmen konnte. Vielleicht lag es auch einfach nur an seinen Augen, die mich freundlich anschauten und den kleinen Lachfältchen, die sich um diese bildeten, wenn er mit mir sprach.

Jedenfalls forderte ich ihn auf, hineinzukommen und nach kurzem Zögern griff er zu einem großem Koffer, der neben ihm stand und den ich bis dahin völlig übersehen hatte.

Mein erster Gedanke war es, ihn in die Küche zu bitten. Dann aber fielen mir all die Kekse wieder ein, die dort noch immer auf dem Fußboden verstreut umher lagen. So bat ich ihn ins Wohnzimmer zu gehen, wo er sich mit einem Seufzen schwer auf einen der Sessel niederließ.

Ich setzte mich ihm gegenüber, wobei meine Augen immer wieder zu dem großem Koffer wanderten, dessen Ecken abgestoßen und alt wirkten.

Der alte Mann hatte meine Blicke und meine Neugier wohl bemerkt und, ohne dass ich ihn erst fragen musste, sagte er „Ich verkaufe Dinge“

„Dinge?“, fragte ich, „Was für Dinge?“

„Nun ja mein Junge, alle möglichen Dinge, alles was der Mensch so braucht“.

Meine Neugier wuchs ins Unermessliche. Nur allzu gern hätte ich einen Blick in seinen Koffer geworfen, um zu schauen, welch Wunderdinge es darin zu entdecken gab.

Irgendwie musste ich es schaffen, dass er seinen Koffer für mich öffnete, doch traute ich mich nicht, ihn einfach darum zu bitten.

So sprang ich auf und fragte ihn „Möchten Sie vielleicht ein paar Kekse. Die sind wirklich sehr lecker, meine Mama hat die selbst gebacken!“

Lächelnd schaute er mich an und um seine Augen begannen wieder diese kleinen Fältchen zu zucken, die mir so gefielen und die mir sagten, dass er ein freundlicher ältere Herr war, vor dem ich niemals hätte Angst haben müssen.

„Ja gerne!“, antwortete er und kaum, dass er diese Worte ausgesprochen hatte, sauste ich schon in die Küche, holte einen kleinen Teller hervor und sammelte einige Kekse vom Boden auf. Die ich sorgfältig auf dem Teller deponierte, nicht aber ohne sie zuvor noch ein wenig ab zu pusten, falls sich nicht doch das eine oder andere Staubkörnchen auf ihnen niedergelassen hatte.

Dann fiel mein Blick auf die Kaffeekanne, von der ich wusste, dass sich darin noch ein Rest vom Morgenkaffee befinden musste.

Schnell holte ich auch Tasse, Untertasse, Teelöffel, Milch und Zucker hervor, arrangierte alles auf einem Tablett, vergaß auch den Teller mit Keksen nicht und balancierte damit ins Wohnzimmer, wo ich alles auf dem großem Tisch nieder stellte.

„Du bist wirklich sehr nett, mein Junge“, meinte der Alte.

„Ich heiße Thorsten“, sagte ich, als ich mich wieder ihm gegenüber niederließ.

„Ich bin der Hannes“, lächelte er mich an, beugte sich vor und hielt mir seine Hand entgegen, die runzelig war und auf dessen Rücken ich blaue Äderchen erkennen konnte.

Zögernd ergriff ich sie und er meinte „Du kannst ruhig du zu mir sagen. Jetzt sind wir doch Freunde, oder?“

„Mhm“, nickte ich zur Bestätigung mit dem Kopf, ergriff seine Hand, deren Druck überraschend fest und stark war und schüttelte diese: „Freunde!“

 

Er nahm einen winzigen Schluck Kaffee und leckte sich über die Lippen. Entschuldigend, sagte ich schnell „Der Kaffee ist bestimmt nicht mehr warm, er ist noch von heute Morgen“

„Oh, der Kaffee ist wunderbar, genau richtig!“ Dann griff er zu dem Teller mit den Keksen, nahm sich einen, drehte ihn ein paar Mal zwischen den Fingern herum, bevor er schließlich ein großes Stück davon abbiss „Und die Kekse sind bestimmt die Besten, die ich in meinem ganzen Leben gegessen habe!“, beteuerte er, wobei ein schelmisches Lächeln die kleinen Fältchen um seine Augen erneut tanzen ließen.

Mama hätte dieses Kompliment bestimmt gefreut! Schade, dass ich es ihr nicht sagen durfte, welches Lob sie für ihre Kekse bekam, denn dann müsste ich auch gestehen, dass ich einen Fremden ins Haus gelassen hatte. Nein, das würde ich auf gar keinen Fall!

 

Ich rutschte ungeduldig auf meinem Sessel hin und her, raffte dann meinen Mut zusammen und fragte ihn schließlich „Darf ich sie sehen?“

„Sehen?“

„Nun ja, all die Dinge die sie... ähhh, die du verkaufst“

Statt einer Antwort, zog der Alte seinen großen Koffer zu sich heran, ließ dann mit flinken und geübten Fingern die messingfarbenen Verschlüsse aufschnappen und zog schließlich den zweigeteilten Deckel beiseite.

Ich hatte mich währenddessen tief über den schweren Koffer gebeugt und konnte es kaum erwarten, all die Wunderdinge nun gleich zu Gesicht zu bekommen, die bis eben noch meinen neugierigen Blicken verborgen waren.

Doch meine Enttäuschung war groß, als ich sah, dass nur lauter Kästchen mit kleinen und großen Knöpfen, Pappschachteln mit Rasierklingen, viele Rollen Garn unterschiedlicher Farben, Haushaltsmesser, Nähnadeln, Reißverschlüsse, kleine und große Scheren und viele andere, ähnlich langweilige Sachen, zum Vorschein kamen.

Hannes wühlte ein wenig in all dem Kram, vergrub schließlich seine Hände in den Untiefen seiner Schätze, richtete sich dann wieder auf und hielt mir eine Hand entgegen: „für dich!“

Ich schaute auf meine eigene Hand, in der ich nun ein paar schwarze Schnürsenkel hielt.

„Sehr solide und garantiert reißfest!“, beteuerte der alte Mann mit einem Lächeln.

 

Hätte mir irgendwer Anderes ein paar Schnürsenkel geschenkt, ich wäre wohl enttäuscht, vielleicht sogar ärgerlich gewesen. Aber komisch, Hannes gab mir das Gefühl, dass dieses Geschenk wirklich etwas Besonderes war und so bedankte ich mich nicht nur bei ihm, sondern empfand ehrliche Freude über das kleine Geschenk und umschloss dieses fest mit meinen Fingern.

 

Ja, ich mochte diesen alten Mann, der mir dort gegenübersaß und mich lächelnd anblickte. Ich mochte das spitzbübische Blitzen in seinen Augen, die Lachfalten in seinem Gesicht und selbst die grauen Stoppeln auf seinem Kinn, über das er hin und wieder mit der Hand strich, so dass ich das leise Kratzen hören konnte, mochte ich.

Trotzdem, fast wäre ich doch noch ärgerlich geworden, als mich Hannes, so in der schönsten Plauderei, plötzlich nach der Schule fragte.

Warum müssen alle Erwachsen unbedingt fragen, was die Schule macht, ob man gut war und ob die Schule einem Spaß machte?

So antwortete ich auf seine Fragen ein wenig trotzig „Nein, die Schule macht keinen Spaß, sie ist langweilig und man muss tausend Sachen lernen, die man eigentlich gar nicht wissen will und die bestimmt für nichts gut sind, außer dazu, die Schule noch langweiliger zu machen!“

Der alte Mann ließ sich in seinem Sessel nach hinten fallen, fing an zu lachen und musste sich sogar ein paar Mal über seine feucht gewordenen Augen wischen, was mich nicht gerade freundlicher stimmte.

Als er sich ein wenig gefasst hatte, setzte er sich wieder auf, sah mich an und fragte: "Was möchtest du denn stattdessen gerne machen?“

„Na, reisen will ich, reisen und viele Abenteuer erleben!“, sprudelte es aus mir hervor.

„Oh, das wirst du, das wirst du ganz bestimmt. Da bin ich ganz sicher!“, meinte mein neuer Freund, noch immer leise vor sich hin glucksend.

„Aber, was werden dir all die Reisen nutzen, wenn du die Länder nicht kennst, in die du reisen wirst. Wenn dir die Menschen fremd sind und wenn du nicht einmal die Entfernungen zu berechnen weißt oder welche Richtung die richtige ist? Erst muss man lernen, um auch begreifen zu können!“

Ich wusste, dass der alte Mann recht hatte, aber es gefiel mir nicht, belehrt zu werden.

Vielleicht hatte Hannes meine Missbilligung bemerkt, vielleicht wollte er aber auch nicht wie ein Oberlehrer wirken und so setzte er nach einer kurzen Pause hinzu: „Nun, aber wenn ich ehrlich bin, mir hat die Schule auch nie besonders Spaß gemacht“, was mich wieder ein wenig versöhnte.

 

So saßen wir noch eine ganze Weile beisammen. Ich erzählte von der Schule, von meinem besten Freund Oliver, von meiner Lehrerin Frau Mangels, die ich eigentlich sehr gerne mochte, von Klassenausflügen und den Spielen, die wir in den Pausen auf dem Schulhof spielten .Und Hannes berichtete aus seiner Schulzeit, in der man noch still auf harten und unbequemen Holzbänken sitzen musste und Zahlen und Buchstaben mit einem Griffel auf Schiefertafel malte und, hatte man irgend etwas ausgefressen, der Lehrer einem mit dem Lineal auf die ausgestreckten Finger schlug.

Ja, ich konnte mir gut vorstellen, dass diese Schule wohl niemandem wirklich Spaß gemacht hatte.

 

„Manchmal“, meinte Hannes unvermittelt „Manchmal wäre ich auch noch gerne so jung wie du und hätte mein ganzes Leben noch vor mir, aber dann wiederum bin ich auch froh, schon so alt zu sein“ und sein Blick fiel auf den Koffer, der wieder verschlossen zu seinen Füßen stand „. Immer weniger Leute sind noch bereit, mir von all meinen Dingen etwas abzukaufen. Alles gibt es im Supermarkt zu jeder Zeit zu kaufen und es interessiert niemanden, dass das Zeug dort zwar billiger ist, aber auch nicht viel taugt. Ich glaube, wäre ich jünger, so müsste ich mich wohl bald nach einem neuem Beruf umsehen. Tja, aber so... ich bin schon alt und bald kann ich aufhören, von Haus zu Haus zu gehen“

 

Der alte Mann tat mir leid. Ich sah ihn vor mir, wie er mit seinem schwerem Koffer von Tür zu Tür ging und all die Menschen ihn nur kopfschüttelnd wieder fortschickten.

Gern hätte ich ihm etwas abgekauft, doch hatte ich mein letztes Taschengeld für Fußballsticker und Kaugummi ausgegeben, so das mir nichts anderes übrig blieb, als ein wenig traurig zu schauen und mit den Händen eine hilflose Geste zu machen.

Als hätte mein neuer, alter Freund meine Gedanken lesen können, stand er auf, klopfte mir mit der Hand auf die Schulter und meinte: „Du bist ein guter Junge, Thorsten. Mach dir nichts draus, bald habe ich es geschafft und muss nie wieder an fremden Türen klingeln“

Dann knöpfte er seinen Mantel zu, zupfte ein wenig daran herum, nahm seinen Hut, der bis eben auf der Sessellehne neben ihm gelegen hatte, setzte diesen auf und sagte mit schelmischem Lächeln: „Aber jetzt muss ich wieder los und wer weiß, vielleicht ist ja heute mein Glückstag, immerhin habe ich ja schon einen neuen Freund gefunden“

 

Noch immer fiel der Regen in dicken Tropfen vom Himmel.

Hannes schlug seinen Kragen hoch, zog seinen Hut noch tiefer ins Genick und wollte sich gerade von mir verabschieden, als mir etwas einfiel.

Ich nahm meinen ungeliebten Begleiter vom Haken an der Garderobe neben der Haustür und drückte ihn dem alten Mann in die Hand.

„Nein, nein mein Junge, den kann ich nicht annehmen“, wehrte Hannes ab.

„Doch, bitte nimm ihn, es ist ein guter Schirm und du kannst ihn mir ja zurückgeben, wenn du das nächste Mal kommst“

Mit einem Lächeln klopfte mir mein Freund noch einmal auf die Schulter, spannte den Schirm auf, nahm seinen schweren Koffer und verabschiedete sich von mir.

Ich sah ihm noch lange hinterher, als er dort durch den fallenden Regen marschierte, den gelben Schirm hoch über seinem Kopf leicht hin und her schwingend und immer kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich um eine Straßenecke bog und vollends verschwand.

Erst dann schloss ich die Haustür, stürmte in die Küche und sammelte alle Kekse vom Fußboden auf, verstaute sie wieder in der Blechdose, und nachdem es mir gelungen war, diese wieder oben auf den Küchenschrank zu bugsieren ging ich in mein Zimmer, holte dort meine weißen Turnschuhe hervor, zog die ebenso weißen Schnürbänder heraus und fädelte stattdessen die schwarzen meines Freundes ein.

Ich wusste, das passte nicht, aber irgendwie gefielen mir die Schuhe nun viel besser.

 

Den alten Mann habe ich nie wieder gesehen und mit ihm, blieb auch mein Schirm verschwunden.

Mama war etwas verärgert, als ich ihr gestehen musste, dass mein neuer Schirm verschwunden war und behauptete, ihn irgendwo vergessen zu haben, mich aber nicht mehr daran erinnern konnte, wo das gewesen war.

Trotzdem, irgendwann kaufte sie mir einen Neuen. So einen dunkelblauen, mit einem aufgedrucktem Spinnennetz und so, dass man ihn schon von weitem sehen konnte, Spiderman in einer Ecke. Einen Schirm, wie mein Freund Olli einen hatte.

 

Ich begann, auf meiner Parkbank zu frösteln. Meine Hosenbeine waren in der Zwischenzeit vollends durchweicht und mit den Füßen stand ich in einer großen Pfütze, die sich allmählich auf dem Boden gebildet hatte.

Ich erhob mich und verließ den Park.

Die wenigen Menschen, welche mir auf meinem Heimweg begegneten, mögen sich vielleicht gewundert haben, über den Mann mit seinem gelben Schirm. Der, obwohl vom Regen fast völlig durchweicht, ihnen fröhlich pfeifend, mit leichten Schritten entgegenkam. Doch mir war das gleichgültig. Ich hatte etwas wiedergefunden, von dem ich eigentlich nicht einmal genau sagen konnte, was das eigentlich war und das ich bis vor kurzer Zeit nicht einmal vermisst hatte.

 

Vor der Eingangstür schüttelte ich den Schirm ab, so dass die Tropfen nur so durch die Gegend stoben. Als ich die Tür öffnete, kam mir meine Frau schon entgegen „Ist etwas passiert, du bist spät?“, fragte sie ein wenig ängstlich. „Nein, nein, alles in Ordnung“, antwortet ich, noch völlig in meinen Gedanken versunken.

„Und?“, wollte sie wissen. Ich wusste was ihre Frage bedeutete und dass sie wissen wollte, ob ich irgendetwas Brauchbares auf dem Flohmarkt gefunden hatte.

Fast triumphierend hob ich meinen Schirm empor und schwang ihn leicht in der Luft umher.

„Was, den hast du gekauft?“, schaute sie mich ungläubig an. Dann deutete sie auf den Schirmständer, der sich gleich neben der Eingangstür befand. „Da stehen schon vier Schirme und du kaufst noch einen und dann auch noch so einen hässlichen!“, empörte sie sich und als wollte sie ihrer Empörung Nachdruck verleihen, fügte sie hinzu: „Und einen Fleck hat er auch noch!“

Mit energischem Kopfschütteln drehte sie sich um und ging in die Wohnung zurück, nicht aber ohne noch leise „du musst verrückt sein“ zu murmeln.

 

Noch immer steht der gelbe Schirm mit dem blassen, aber gut Erkennbarem blauem Fleck, neben den anderen Schirmen im Schirmständer neben der Haustür. Manchmal streiche ich leicht über den abgegriffenen hölzernen Knauf, wo man, mit etwas Fantasie, die ersten beiden Buchstaben meines Vornamen erkennen kann und die lange Scharte, dort wo mir damals das Messer abgerutscht war und meinen Daumen auf ritzte und hin und wieder, wenn ich im Hausflur das Licht einschalte und dieses sich in der verchromten Schirmstange bricht, scheint es mir fast so, als würde er mir zublinzeln.

 

Ich trage den Schirm nie mit mir herum und so steht er, Tag um Tag, und nur von mir beachtet, an seinem Platz.

Bei mir trage ich dafür aber all die Erinnerungen, die er mir schenkte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 25.06.2017

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