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Reise zum roten Stern

 

 

 

 

Es gibt so viele Länder, die ich noch niemals sehen durfte, so viele Menschen, denen ich noch

niemals in die Augen schaute, so viele Stimmen, deren Klang ich niemals hörte. So viel Sehnsucht, die auf Erfüllung wartet, und manchmal habe ich angst, mir läuft die Zeit davon. Dass ich alt werde, ohne es zu merken, und eines Tages aufwache, in den Spiegel schaue, die Falten in meinem Gesicht betrachte, mit den Fingern durch mein grau gewordenes Haar streiche und weiß, es ist zu spät.

Und wann immer ich davon erzählte, erntete ich nur verständnisloses Kopfschütteln.

„Dorthin willst Du?“

„Warum ausgerechnet nach Russland und dann auch gleich nach Sibirien“?

„Nein, Du must echt verrückt sein!“

 

Ja, mag sein, vielleicht bin ich das - verrückt. Denn selbst die Frage nach dem Warum, konnte ich nicht beantworten.

Wie sollte ich erklären, dass meine Sehnsucht nur einem vagen Gefühl entsprang, entflammt durch das wenige, das mein Vater über Sibirien erzählte, als er dort, noch als ganz junger Mann, drei Jahre in Kriegsgefangenschaft verbringen musste.

Ein unwirklicher, riesiger Landstrich. Gnadenlos unter der glühenden Hitze des Sommers und

ebenso lebensfeindlich im Winter, wenn für viele Monate Schnee und Eis von ihm Besitz ergreift und selbst Gedanken zum Erfrieren bringen.

Nur wenige kleine Dörfer gibt es hier. Viele Kilometer voneinander entfernt und nur schwer zu

erreichen.

Menschen, die sich der sie umgebenden Natur angepasst haben. Wettergegerbte Gesichter.

Wortkarg, aber mit freundlichen Augen.

Sibirien - unendlicher Himmel, der sich über eine Landschaft wölbt, deren Weite mit den Augen nicht zu erfassen ist. Die in ihrer Kargheit so fremd und feindlich scheint und doch so lebendig, weil sie einen tief einatmen und mit jedem Atemzug die Freiheit spüren lässt.

Sibirien - so, wie ich es mir vorstellte.

 

Ja, mein Vater war es wohl, der mir diese Sehnsucht in mein Herz pflanzte. An meinem Vater lag es wohl auch, dass ich bald zu den russischen Klassikern griff und diese verschlang - Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Gogol und nicht zu vergessen Alexander Puschkin. Der erste, der nicht nur schrieb, sondern in seinen Texten auch die russische Sprache benutze. Die Sprache seiner Väter und Vorväter. Die Sprache seines Volkes und der Kinder Russlands und der damit nicht nur russischer Dichter und Idol von Millionen wurde, sondern die Stimme Russlands und somit selbst zum Vater.

Sie alle zeigten mir Russland. Malten mir Bilder in meinen Kopf und verliehen meiner Sehnsucht Flügel.

 

Doch Russland schien so weit. Fast Nachbar und doch unerreichbar. So viele Jahre hatte der Kalte Krieg Russland zu unserem Feind gemacht. War dieses Land weiter von uns entfernt, als es die

Planeten waren, die die Erde umkreisten.

Später dann wirtschaftlicher Bankrott, politische Zerwürfnisse, Kriege. Russland, fast ebenso

entfernt wie einst und die eisernen Tore blieben für uns weiterhin verschlossen.

Als ich dann diesen Brief in der Hand hielt, schienen sich für mich diese Türen einen spaltbreit zu öffnen und ich wusste, wollte ich je dieses Land entdecken, dann jetzt.

„Erster Preis!“, schrie es mir aus diesem Brief, den ich mit aufgeregt zitternden Händen immer und immer wieder las, entgegen.

Ich konnte es kaum glauben. Drehte die Blätter in meinen Händen und betrachtet die Rückseiten. Hielt sie gar ängstlich gegen das Licht, um zu schauen, ob ich nicht doch etwas übersehen hatte. Ob nicht doch noch irgendwo Kleingedrucktes zu entdecken war, dass meine aufflammende Freude grausam ersticken würde.

Aber nein, ich hatte wirklich gewonnen!

Erster Preis, eine Reise nach meiner Wahl. Wo immer ich hin wollte, wie teuer es auch kommen mag, alles wird bezahlt!

 

Noch nie hatten mich teure Luxushotels, hatten mich Kreuzfahrtschiffe oder von Touristen

überlaufende Strände gelockt und so stand mein Ziel fest.

Ich stieß mit aller Kraft die eisernen Tore für mich auf.

Russland würde es werden!

 

„Du bist verrückt!“, sagte man mir.

Wann immer man mich fragte, warum ausgerechnet Russland, deutete ich mit einer Handbewegung auf all die Bücher in meinem Regal und antwortete: „Lies und Du wirst verstehen".

Doch niemand machte sich diese Mühe und so spürte ich nur verständnislose Blicke in meinem

Rücken, als ich das Flugzeug bestieg, das mich nach Moskau tragen würde.

 

Nichts schien sich hier verändert zu haben. Ich war schon einige Male, während einiger

Transitflüge, auf dem Moskauer Flughafen gewesen und konnte mich noch gut daran erinner, wie verwundert ich beim ersten Mal war, dass dieser Flughafen mir so klein erschien.

Nein, nichts hatte sich verändert. Vielleicht waren es andere Menschen an der Abfertigung. Aber doch waren es die gleichen mürrischen Gesichter, dieselben unwilligen Handbewegungen, wie ich sie auf meinen anderen Reisen erlebt hatte, wann immer mich diese über Moskau führten.

Dann schlossen sich hinter mir die Türen des Flughafengebäudes und ich stand auf der Straße.

Auch hier hatte ich schon einmal gestanden. Lang schon war das her. Nur damals war es ein

Versehen gewesen, welches mich den Weg für die Transitreisenden verfehlen ließ und ich mich plötzlich auf Moskaus Straßen wiederfand.

Ich musste lächeln, als ich daran dachte, welch ein Akt es damals gewesen war, wieder in das

Flughafengebäude zu gelangen. Durch den Zoll, die Abfertigung und an all den Beamten vorbei, die mich unkontrolliert hatten passieren lassen und mich nun ziemlich ratlos anstarrten.

Nun, aber es gelang und jetzt stehe ich wieder hier, auf der Straße vor dem Moskauer Flughafen. Doch dieses Mal gewollt.

Ich schaute mich um. Blickte an der langen reihe Taxis entlang, die mit ihrer schmutzig gelben

Farbe, den Himmel lügen strafte, der in strahlendem Blau auf die Stadt hinunterschaute.

Der Taxifahrer schreckte auf, als ich an die Seitenscheibe seines Fahrzeugs klopfte. Es schien nicht so, dass er tatsächlich Kundschaft erwartet hätte, und doch faltete er eiligst die Zeitung zusammen, in der er bis jetzt gelesen hatte. Gab mir dann mit einer Handbewegung zu verstehen, die Tür zu

öffnen und sprang selbst dienstbeflissen aus dem Wagen, um mein weniges Gepäck im Kofferraum zu verstauen.

Als er wieder neben mir saß, hielt ich ihm verlegen lächelnd eine Visitenkarte unter die Nase, auf der die Adresse meines Hotels stand, dessen Namen ich nicht aussprechen und geschrieben in

Buchstaben, die ich nicht lesen konnte.

Ich wusste selbst nicht, was mich erwarten würde, und hatte mir dieses Hotel nur deshalb

ausgesucht, weil es in der Innenstadt lag und keinen klangvollen Namen trug, bei dem ich

befürchten musste, in einer Touristenabsteige zu landen.

 

Für einen Moment wurde ich in das abgenutzte Polster seines Moskwitsch gedrückt, als er abrupt das Gaspedal durchdrückte und sich in den fließenden Verkehr einfädelte.

Obwohl ich dem Fahrer einige Male zu verstehen gab, dass ich seine Sprache nicht verstand, redete er ohne Unterlass. Wedelte dabei mit seinen Händen in der Luft herum und deutete hin und wieder auf an uns vorbeisausende Gebäude, Brücken oder andere Sehenswürdigkeiten, während ich

versuchte, seinen Erläuterungen zu folgen und aus all den unverständlichen Worten vielleicht doch das eine oder andere mir bekannte herauszuhören.

Schließlich bog er in eine der zahllosen Seitenstraßen und mit quietschenden Reifen hielten wir endlich vor meinem Hotel, welches sich nur als solches zu erkennen gab, weil die abblätternden, ehemals goldenen Buchstaben über dem Eingang, mit denen auf meiner Visitenkarte

übereinstimmten.

Kaum hatte er den Wagen zum Stehen gebracht, schon sprang er hinaus, eilte zum Kofferraum, wo er beflissen mein Gepäck hervorholte.

Ich drückte ihm ein paar Geldscheine in die Hand und hoffte, dass der Betrag ausreichend war. An seinem breiten Grinsen konnte ich erkennen, dass es nicht nur ausreichte, sondern ich ihm wohl zu viel gegeben hatte, wahrscheinlich viel zu viel.

Einige freundliche Worte, ein kurzer Wink mit der Hand und schon sauste er wieder davon, die

enge Straße entlang.

 

Einstmals war dieses Hotel wohl schön gewesen und hatte wohlhabende Gäste unter seinem Dach beherbergt.

Die weiträumige Eingangshalle mit dem abgetretenen Marmorboden, in den kunstvolle Ornamente eingelassen waren. Die aus dunklem Holz reich verzierten Säulen, in denen nun breite Risse zu

erkennen waren, die schweren, stumpf gewordenen roten Vorhänge an den hohen Fenstern und die einzelnen, in der weiträumigen Halle verteilten Sitzecken aus rotem Samt, deren Sitzflächen

abgerieben und deren Ecken abgestoßen waren, zeugten von einer Zeit, die wohl schon sehr lange zurücklag und an die sich sicher nicht einmal der hinter dem langen Empfangstresen stehende ältere Herr erinnern konnte, der mir bei meinem eintreten neugierig entgegenblickte.

„Monsieur?“, lächelte er mich fragend an. Ich wusste, dass die französische Sprache tief in der

Geschichte Russlands verwurzelt war, war aber in diesem Moment eigentlich nur froh, dass ich

endlich auf jemanden traf, mit dem ich mich verständigen konnte. So nannte ich ihm meinen

Namen, vergas auch nicht zu erwähnen, dass hier für mich reserviert war und hielt schon kurze Zeit später meinen Zimmerschlüssel in der Hand.

Der Alte schlug mit der flachen Hand auf eine messingfarbene Glocke und augenblicklich sauste von irgendwoher ein Page herbei, der nur wenig jünger sein mochte als sein Kollege und in seiner Uniform wirkte, als hätte ihn die Zeit hier zurückgelassen, als sie all den Luxus und den einstigen Wohlstand mit sich forttrug.

 

Der Page ist fort, hat mein Gepäck auf das riesige Doppelbett gestellt und sich mit einer

Angedeuteten Verbeugung und einem Lächeln auf den Lippen verabschiedet.

Ich stehe mitten in diesem ehemals prunkvollen Zimmer, dem man ansehen kann, dass fleißige

Hände immer wieder verzweifelt versuchen, dem doch unaufhaltsamen Verfall entgegenzuwirken.

Der Boden aus einstmals teurem Parkett, wirkt abgeschliffen und grau. Die Tapeten stumpf und

unansehnlich. Die zierlichen Möbel ebenso abgestoßen, wie schon die Sitzecken in der

Eingangshalle. Das große Bett, mit der darauf ausgebreiteten Tagesdecke aus goldfarbenem Brokat wirkt trotz seiner Größe und dem massiven Holz, aus dem es einmal geschreinert worden ist,

brüchig und alt.

Dieses Zimmer ist niemals gemacht worden, um mich in seinen Wänden zu beherbergen, und doch fühle ich mich nicht fremd. All das, der Zerfall und die sinnlosen Spuren seiner Verhinderung,

haben etwas Anrührendes an sich und mit einmal öffnen sich vor mir all meine Bücher. Entsteigen ihnen die Heldinnen und Helden und tanzen wie Schatten um mich herum. Ich höre ihr Lachen, ihre heimlichen Tränen, fühle ihre Verzweiflung und lausche den Seufzern verbotener Leidenschaft.

Wie viele Geschichten könnte dieser Ort mir wohl erzählen?

 

Dann trete ich ans Fenster, schiebe den schweren Vorhang beiseite, öffne die beiden Flügel, die nur widerwillig meinen Bemühungen nachgeben und schaue auf die Stadt hinunter.

Es dämmert schon leicht. Unten auf der Straße gräbt der graue Asphalt sein Band durch die Stadt. Gehen Menschen entlang ohne ihren Kopf zu heben und Ausschau nach mir zu halten. Unbemerkt beobachte ich das Treiben, bevor ich meinen Blick über all die Gebäude wandern lasse, um

vielleicht mehr zu sehen, als man mit den Augen erkennen kann. Ganz weit dort hinten kann ich die Türme des Kreml entdecken und plötzlich begreife ich, dass ich wirklich hier bin, in Moskau, in Russland!

 

Eine Woche bin ich durch die Stadt geschlendert. Habe all die Orte besucht, die für Russlands

Geschichte so bedeutungsvoll sind. Bin durch Seitenstraßen gelaufen, habe all die großen Geschäfte und Restaurants zu meiden versucht und stattdessen die kleinen Läden und Kneipen aufgesucht, in denen sich die Menschen aufhalten, die das wahre Moskau ausmachen. Habe mir ihre Bewegungen, ihre Gesichter, ihre Augen angeschaut, um vielleicht etwas davon in mich aufzunehmen und es zu meinem eigenen zu machen.

Doch nun geht es endlich zum eigentlichen Ziel meiner Reise - Sibirien.

 

Der klapprige Kleinbus bringt mich und eine Handvoll anderer Reisender, von denen ich annehme das sie vielleicht geschäftlich unterwegs sind, an Moskaus Stadtrand zu einem kleinen Rollfeld. Hier wartet schon eine wenig Vertrauen erweckende Tupolew auf uns, die nur von mir argwöhnisch betrachtet wird. Die anderen Reisenden sind Russen, sie sind an diesen Anblick gewöhnt und haben lange schon begriffen, dass der Verfall das ganze, riesige Land ergriffen hat und auch vor den

Flugzeugen nicht haltmacht.

An die Maschine angelehnt, steht eine hölzerne Leiter. Auf ihr ein Mechaniker, unschwer an seinem ölverschmierten blauen Overall zu erkennen, und schraubt an irgendetwas herum. Aus einer nahe gelegenen Baracke kommt mit eiligen Schritten der Pilot auf uns zu. Auch er ist unschwer an

seiner, durch Wind und Wetter und über die Jahre ausgebleichten Uniform zu erkennen. Er stellt sich an den Fuß der Leiter, ruft etwas hinauf und ich kann sehen, dass der Mechaniker nur sehr

unwillig bereit ist, zu ihm hinunterzusteigen, es dann aber doch tut.

Der Pilot redet auf den Mechaniker ein, dieser zeigt ungerührt auf das Flugzeug, gestikuliert wild mit den Händen und schließlich stehen sich beide gegenüber und brüllen sich an.

Dann wendet sich der Pilot vom Mechaniker ab, kehrt ihm den Rücken zu und dreht sich mit einem triumphierenden Lächeln in Richtung unserer Gruppe. Ich kann noch sehen, wie der Mechaniker schulterzuckend seine Leiter schnappt und schimpfend Richtung Baracke verschwindet, bevor wir alle das Flugzeug betreten dürfen.

Nichts von dem, was da vorgefallen ist, habe ich begriffen, aber irgendwie überkommt mich doch ein mulmiges Gefühl.

 

Wider Erwarten gelinkt der Start ohne Probleme und schon bald erheben wir uns in den Himmel. Der Lärm der Propellermaschine dringt in unsere kleine Kabine und das unablässige Dröhnen

vibriert in meinem Schädel und breitet sich allmählich in meinem ganzen Körper aus und obwohl es eigentlich unmöglich ist, bei diesem Krach eine Unterhaltung zu führen, versuchen es die Russen trotzdem und schaffen es tatsächlich, mit ihren Stimmen den Lärm noch zu übertönen.

Russland ist groß, nein, nicht groß, es ist riesig und wie riesig, das begreife ich erst jetzt, während unseres stunden andauernden Fluges.

Der Flug von Deutschland nach Moskau dauert nur etwa zweieinhalb Stunden, aber hier, innerhalb des Landes, zieht er sich bis ins unendliche.

Das Dröhnen der Maschine, die brüllenden Russen und die Luft, die innerhalb der Kabine immer stickiger wird, lässt mich bald schon Kopfschmerzen bekommen. Ich lehne meine Stirn gegen die kühlende Außenscheibe des Fliegers und schließe meine Augen.

 

Endlich, nach schier endloser Zeit, bekommen wir die Anweisung unsere Sicherheitsgurte

anzulegen. Ich schaue hinaus, kann aber keine Landebahn erkennen und doch sinkt die Maschine unablässig, um endlich, mit einem kräftigem Ruck, der die Nähte des sowieso schon recht betagten Fluggerätes ordentlich knirschen lässt, auf dem Boden aufzusetzen.

Polternd und ruckelnd jagen wir auf der unebenen Erde entlang, bis der Flieger endlich langsamer wird und schließlich ganz zum Stehen kommt.

War die Temperatur in Moskau noch mild und angenehm, so ist hier die Luft heiß und schwer und der aufgewirbelte Staub unseres Flugzeugs brennt in der Lunge und auf der Haut.

Wieder kommt ein Kleinbus, ähnlich klapprig wie der in Moskau, auf uns zugerast, bremst vor uns und der Fahrer gebietet uns mit fröhlicher Stimme, einzusteigen.

 

Fast eine Stunde führt die Fahrt durch karge Landschaft. Vorbei an trockenem Gras, einzeln oder in Gruppen stehenden Birken und hier und dort einmal an einem kleinen Bach entlang. Eine

Landschaft, die ich niemals zuvor sah, die mir aber doch so vertraut vorkommt, als wäre ich schon oft hier gewesen.

Sibirien. Habe ich es mir so vorgestellt?

Ist es das, wovon mein Vater in seinen wenigen Erzählungen berichtete?

Unser Ziel ist eine Kleinstadt, so groß, dass sie bei uns höchstens noch als Dorf durchgehen würde.

Grobe Häuser, erbaut aus rohen Baumstämmen und sich vor der Hitze duckend, begrüßen uns, als unser Bus ratternd über die holprige Straße holpert, die in die Stadt hineinführt. Es ist die einzige Straße des Ortes, wie ich bald feststellen kann.

Wir halten vor einem Gebäude, dass sich nur durch seine Größe von all den anderen hier

unterscheidet und ich weiß, dieses ist das Hotel, in denen ich die letzten Wochen meines

Aufenthalts verbringen werde und von dem ich vorhabe, zumindest einen kleinen Teil dieses Landstrichs zu erkunden.

 

Nein, hier hat man nie versucht, vergangene Pracht zu erhalten. Hier in diesem Hotel, in dieser

kleinen Stadt, hat es sie nie gegeben.

Ein einfaches Zimmer, zweckmäßig eingerichtet und mit einem bequemen Bett, wird für kurze Zeit mein Zuhause sein. Auch wenn die Reise bis hierher anstrengend und ermüdend war, sind meine Kopfschmerzen, die mich vor nicht allzu langer Zeit noch plagten, verflogen und jegliche

Müdigkeit ist von mir abgefallen.

Es gibt so viel zu entdecken, so viel zu sehen, so viel zu erleben, und ich habe doch nur so wenig Zeit!

 

Lang schon ist meine Reise her. Der erste Preis längst schon vergessen und ich erzähle nur sehr

selten und wenig über meine Erlebnisse in Russland.

Die, die mich vor meiner Reise dorthin nicht verstanden, werden es auch heute noch nicht können. Worte werden sinnlos, wenn man die Sehnsucht dahinter nicht empfinden kann.

 

Ich frage mich heute oft, ob ich wohl sah, was mein Vater sah. Ob ich empfand, was er empfunden hatte.

Eine Frage, die ich niemals werde beantworten können.

Viele Stunden lang bin ich durch diese Landschaft gegangen. Habe mich unter Birken gesetzt und ihre glatte Rinde in meinem Rücken gespürt oder habe mich an der Böschung einer der kleinen

Bäche niedergelassen und versucht, alles um mich herum aufzunehmen. Die Weite, die Stille, den Geruch der Luft und das Singen der Vögel.

Ich habe sogar im Laufe der Zeit wenige Brocken Russisch gelernt und versucht, hinter die

Gesichter der Menschen zu schauen.

Nein, ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich das Land und die Menschen nun

kennen würde, aber ich habe begriffen, warum sie ihr Land liebevoll „Mütterchen Russland“

nennen.

 

Mütterchen Russland. Ja du bist alt geworden und hast viel erlebt. Die Jugend ist von dir

abgefallen, deine Hände sind faltig und deine Handflächen rau.

Mütterchen, das ein ganzes Volk gebar, welches dann nicht immer freundlich zu dir war. Nur wer sich wirklich die Mühe macht und in deine dunklen Augen schaut, kann erkennen, dass dort mehr zu finden ist als alter und Gebrechlichkeit.

Dass deine Augen, trotz allem, was dir widerfuhr, noch immer freundlich schauen und kleine

Lachfältchen schelmisch um deinen Blick herumtanzen.

Mütterchen Russland, für einen winzigen Augenblick durfte ich meine Hände in die deinen legen, durfte mein Blick den deinen kreuzen, berührten sich zwei Seelen.

Mütterchen Russland, vielleicht werden wir uns niemals wiedersehen, aber wann immer ich eines meiner Bücher aufschlage und in Gedanken zu dir reise, wirst du es vielleicht spüren, wie meine Finger ganz sanft die deinen streicheln.

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Pixabay/Bearbeitet
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2017

Alle Rechte vorbehalten

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