Lautlos löst sich das Blatt, fällt dann langsam der Erde entgegen. Noch einmal wird es vom Windhauch erfasst und wenige Meter davongetragen, bevor es dann den Boden berührt und zur Ruhe kommt. Liegen bleibt auf dem vertrocknetem Gras, am Fuße des Baumes, der ihm einst Leben einhauchte.
Der alte Mann fühlt sich ertappt, fühlt sich an sein eigenes Leben erinnert und ein leichtes Stirnrunzeln legt für einen kurzen Moment sein, durch die Jahre grau gewordenes Gesicht, noch mehr in Falten, als es die Jahrzehnte seines langen Lebens schon taten.
Reglos sitzt er da, so wie an jedem Tag. Wie an so vielen, ungezählten Tagen. Schaut hinaus durch das Fenster. Blickt in das Grau der diesigen Luft und für einen Moment möchte er aufstehen. Seinen Platz verlassen, um hinauszugehen und dieses Blatt aufzuheben. Es mit seinen Händen umschließen. Das trockene, hart gewordene Braun spüren. Dass leise Knistern hören, wenn er es in seinen Handflächen verreibt und wieder zu Boden fallen lässt.
Doch er bleibt sitzen. Reglos. Schaut hinaus durch das Fenster, betrachtet die grau gewordene Welt dort draußen und fragt sich, woher dieser leise Schmerz wohl kommt, der ihn plötzlich übermannt, der ganz tief in seiner Seele brennt. Wie ein Feuer, dass er doch schon lange erloschen glaubte.
Ein kurzes Aufflammen, welches seine Augen glasig und feucht werden lässt.
Eilig hebt der alte Mann seine Hand von der Lehne des Sessels, auf dem er sitzt. Wischt sich damit über die Augen. Schaut dann, fast ein wenig verwundert, auf seinen Handrücken, der nass glänzend, Zeuge dieses heimlichen Schmerzes wurde.
Unwillig schüttelt der alte Mann seinen Kopf. Warum jetzt? Fragt er sich. Nie hatte er Zeit für Tränen gehabt. Sein ganzes, langes Leben nicht. Warum jetzt?
Ein Windhauch fegt durch die Bäume vor seinem Fenster. Reißt die wenigen Blätter ab, die noch an den dunklen, knorrigen Ästen sitzen. Treibt sie vor sich her. Führt einen wirbelnden Tanz mit ihnen auf, bevor er sich von ihnen abwendet und sie achtlos zu Boden fallen lässt.
Ob es wohl noch dort liegt, sein Blatt? Fragt sich der alte Mann. Oder ist es mit fortgetragen worden um noch einmal, ein letztes Mal, durch die Luft zu Segeln und der Täuschung zu unterliegen, dass das Leben noch nicht zu Ende ist.
Woher kommen all diese Gedanken? Woher dieses Fühlen? Woher diese plötzliche Sehnsucht?
Er schaut um sich. Durchstreift mit seinen Augen das kleine Zimmer, dass nun seit fast zwei Jahren sein zu Hause ist und indem er sich trotzdem nie angekommen fühlte.
Sein Blick verharrt bei dem Nachtschränkchen, auf dem die Fotografien stehen.
Seine Augen sind in all den gelebten Jahren schwach geworden. Nur undeutlich kann er die Bilder erkennen. Doch er steht nicht auf, um sie sich zu betrachten. So oft schon hat er sie in seinen Händen gehalten. Er braucht sie nicht zu erkennen, um sie sehen zu können.
Die Fotografien seiner Kinder und Enkelkinder, die lächelnd in sein Zimmer schauen. Die, so scheint es ihm, an ihm vorbei blicken.
Manchmal, wenn er eines dieser Bilder in die Hand nahm, war er versucht die Schublade des Nachtschranks aufzuziehen, um sie hineinzulegen. Sie zu vergessen, so wie auch sie ihn vergessen hatten.
Wie lange ist es her, seitdem sie ihn das letzte Mal besucht hatten?
Er konnte die Monate nicht zählen.
Der alte Mann hatte oft versucht, darüber wütend, ärgerlich oder wenigstens traurig zu sein. Doch er konnte nicht. Schaffte es einfach nicht, sich von ihnen abzuwenden. Konnte nicht vergessen und ja, wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er auch nicht vergessen.
So blieben die Fotografien stehen. Erinnerungen an ein Leben, das nicht mehr zu ihm gehörte.
Dann steht er doch auf. Das Gehen bereitet ihm Mühe. Ein leises, fast unhörbares Stöhnen entfährt seinen Lippen, als er mit kleinen, schlurfenden Schritten dem Nachtschrank entgegen wankt.
Dort nimmt er die Fotografie seiner Frau zwischen die Hände. Berührt den einfachen dunklen Holzrahmen. Streicht dann sanft mit seinen Fingern über das lächelnde Gesicht, das ihm entgegen schaut.
Das Bild fest mit der Hand umschließend lässt er sich wieder in seinen Sessel fallen.
Abermals erklingt ein leises Stöhnen. Doch ist es nicht körperlicher Schmerz der ihn dieses Mal aufstöhnen lässt. Viel mehr ist es das Brennen in seiner Brust, welches er sich nicht erklären kann. Dass er so gerne einfach fortwischen möchte und das ihn doch mit sich fortträgt. Gegen das er sich nicht wehren kann, wenn er es auch noch so möchte.
Warum? Fragt sich der alte Mann.
Warum jetzt?
Draußen hatte es angefangen zu nieseln. Der leichte Regen lässt die Blätter feucht und schwerfällig werden. Der Wind streicht über sie hinweg. Lässt achtlos liegen, was ihm gerade noch zum Spiel diente.
Der alte Mann schaut hinaus. Er sieht den Regen nicht, spürt nicht den Wind und doch erschauert er für einen Moment.
Sanft streicht er mit dem Daumen über das Foto seiner Frau, welches nun auf seinem Schoß liegt. Blickt in dieses lächelnde Gesicht, das ihm so nah und doch so unendlich fern ist.
Seine Gedanken verdrängen die Jahre seines Lebens. Tauchen ein, in eine lang schon vergangene Zeit.
Wie ein Schatten taucht sie vor seinem Innerem auf, doch nach und nach wird das Bild klarer und je deutlicher er sie sehen kann, je lebendiger wird es.
Er sieht den dunklen Hauseingang vor sich, in den er sie heimlich hineinzog, als sie vom Kino auf dem Heimweg waren. Wieder spürt er diese Unsicherheit in sich wühlen, fühlt die Angst vor ihrem Nein. Sieht das Lächeln in ihren Augen, als sie ihn fragend anschaut. Spürt die Wärme ihrer Lippen, als er ihr den ersten Kuss raubt. Sieht das Erstaunen in ihrem Gesicht, welches einen kurzen Augenblick seine Furcht vor ihrem Nein ins Unermessliche steigert.
Dann fühlt er ihre Hand, die zaghaft sein Gesicht ertastet. Ihren Finger, der seine Lippen berührt. Den Duft ihrer Haare, als sie sich schließlich an ihn schmiegt.
Glück, warum erkennt man es erst, wenn es vergangen ist?
Ihre Eltern mochten ihn nicht, diesen rebellischen jungen Mann, der niemals Ja sagen konnte. Der niemals seinen Kopf senkte. Der in all seiner Unwissenheit stolz der Welt entgegenblickte. Der ihre Tochter nur ins Unglück treiben würde.
Er glaubte zu wissen, dass es nicht so kam. Das haben sie ihm am wenigsten verziehen.
Trotz aller Widerstände heirateten sie. Später sagten die Leute, sie hätte ihn gezähmt. Doch sie beide wussten, dass es nicht so war.
Sie musste ihn nicht zähmen. In ihrem Glück, in ihrer Liebe zueinander war nur kein Platz mehr für rebellisches Aufbegehren.
Der alte Mann hob seinen Kopf von dem Bild auf seinem Schoß. Schaute wieder hinaus in das Grau hinter seinem Fenster. Sah, wie der Regen an der Scheibe herunterlief und wusste, es war nicht das herablaufende Wasser, der ihm den Blick verschleierte.
Ihre erste eigene, kleine Wohnung, in der es immer zu zugig, zu feucht war. Die Nächte, in denen sie beisammen lagen und flüsternd ihre Zukunft planten. Das Glück aber auch das Nichtbegreifen darüber, dass er Vater werde, als sie ihm sagte, dass sie schwanger sei.
Das erste Mal, als er seine Tochter in den Armen hielt.
Warum kann man nicht festhalten?
Den Augenblick nicht einfrieren, die Zeit, die Jahre nicht zurückdrehen?
Warum begreift man erst so spät, dass man dem Glück nicht hinterherjagen muss, weil es schon längst ein Teil des eigenen Lebens geworden ist?
Die Zeit verging. Bescheidener Wohlstand bescherte ihnen eine größere, hellere und freundlichere Wohnung.
Ihre beiden anderen Kinder, ein Junge und ein Mädchen, kamen auf die Welt.
Es hieß, die schweren Jahre seien nun vorüber. Aber warum kamen ihm diese schweren Jahre in seiner Erinnerung so leicht, leicht wie eine Feder, vor?
All die vielen Jahre. Wo sind sie geblieben?
Verronnen wie Sand, der zwischen den Fingern hindurch rieselt.
Nur einmal noch hätte er die Finger schließen mögen. Festhalten, um zu fühlen, zu sehen, zu begreifen.
Nur einmal noch in ihre immer neugierigen Augen blicken, ihr Lachen hören, ihr Haar berühren und den Duft ihrer Haut einatmen.
All die vielen Jahre. Warum hatte er nie begriffen, welch Geschenk sie waren?
Der alte Mann schaute hinaus. Sah in eine Welt, die jenseits dessen war, was dort draußen vor seinem Fenster lag und in der sich allmählich herbstliche Dunkelheit niederließ.
Er dachte an sein Blatt, das irgendwo dort draußen verdorrte. Das von der Welt unbeachtet, sein Leben aushauchte.
Erst als sie krank wurde, hatte er erkannt, welch Wunder sie in seinem Leben war.
Erst als es zu spät war, begriff er, was sie ihm bedeutete.
Als sie dann starb, war es Erleichterung. Für sie beide.
Nach ihrem Tod wurde er müde, wurde einsam. Fühlte sich allein gelassen in seiner Trauer um sie und ihr gemeinsames Leben.
So viel hätte er ihr noch sagen mögen. So viele Worte blieben ungesagt, so viele Berührungen ungelebt.
Erst als es sie nicht mehr gab, merkte er, dass er alt geworden war. Dass der Mann, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, nichts mehr von dem jugendlichem Rebellen hatte, der er einst war. Stattdessen schaute ihm ein, von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht entgegen in dem sich all die gelebten Jahre widerspiegelten. In dem das Glitzern in den Augen schon längst der Vergangenheit angehörte und in das Wehmut und Trauer eingezogen waren.
Der alte Mann lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er dachte an seine Kinder, die schon lange selbst erwachsen geworden waren und nun eigene Kinder hatten.
Du wirst es hier schön haben, hatten sie gesagt. Um nichts musst du dich mehr kümmern. Kannst nun die Jahre genießen, die Dir noch bleiben.
Sie hatten es gut gemeint, als sie ihm den Platz im Heim besorgten. Er glaubte nicht, dass sie ihn belogen hatten, als sie ihm versicherten, ihn so oft es möglich war zu besuchen. Doch auch ihr Leben verstrich unbemerkt in Augenblicken. Rann so schnell dahin wie sein eigenes. Auch ihre Jahre würden vergehen ohne dass sie es bemerkten.
Nein, sie hatten nicht gelogen. Sie hatten nur nicht gewusst, was er heute weiß. Dass die Zeit wie ein Wimpernschlag verrinnt.
Er fragte sich, ob er wohl ein guter Vater, ein guter Ehemann gewesen war. Was wäre ihre Antwort wohl gewesen, wenn er ihnen jemals diese Frage gestellt hätte?
Der alte Mann streckte seine müde gewordenen Beine aus. Noch einmal schaute er zum Fenster hinaus, hinter denen er in der Dunkelheit nur noch mühsam die fast schwarzen Äste der Bäume erkennen konnte.
Der Wind hatte aufgefrischt. Peitschte jetzt durch die Wipfel, schlug gegen die Scheibe und rüttelte an den wenigen Sträuchern, die unterhalb seines Fensters standen und ihre kahlen Äste emporstreckten.
Fast schien es ihm, als würde sich der Tag, obwohl selbst nur trüb und grau gewesen, noch einmal aufbäumen. Sich gegen die Nacht zur Wehr setzen, nicht wahr haben wollend, dass seine Zeit zu Ende ist.
Ein leiser Seufzer entrinnt seinen Lippen. Durchstreift den dunklen Raum, in dem der alte Mann sitzt und noch immer aus dem Fenster schaut.
War es das wert? Fragt er sich.
War es wert, dieses Leben gelebt zu haben?
Er legt die gefalteten Hände auf das Foto in seinem Schoß. Schließt dann langsam seine Augen. Lässt schließlich den Kopf auf seine Brust sinken und nur das leise Lächeln um seine Mundwinkel lässt erkennen, dass er die Antwort weiß, als er Abschied von ihm nimmt.
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2016
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