Wie erklärt man etwas, das sich nicht erklären lässt?
Wie soll man etwas erzählen, wenn man doch schon vor dem niederschreiben des ersten Wortes weiß, am Ende werden keine Antworten, sondern nur Fragen zurückbleiben.
Wie beschreibt man etwas, ohne zum Schluss als Spinner, oder schlimmer noch, als Lügner dazustehen, weil das, was man zu erzählen hat, unglaublich und nicht durch Beweise belegbar ist?
Warum schreibe ich es dann doch auf und liefere mich der Gefahr aus, nicht mehr ernst genommen, gar
verlacht zu werden?
Ich habe keine antworten auf all diese Fragen. So wenige wie meine Erzählung sie hat.
Vielleicht weil ich darauf hoffe, dass es dort draußen andere gibt, die ganz ähnliche Erlebnisse mit sich
herumtragen. Die aus Furcht schweigen, weil sie in unserer nüchternen Welt nicht als Einzelgänger dastehen wollen, als jemand, auf den man höhnisch mit dem Finger deutet, weil man ihm den Stempel des Irrsinns
aufdrückte.
Vielleicht aber auch, weil ich, auch nach all den Jahren, immer noch nach Antworten suche.
Ich weiß nicht mehr, wann es begonnen hat. In meiner Erinnerung verschmilzt diese Zeit, wird komprimiert zu einer einzigen Nacht voller Schrecken. Wie Schmerz, den man erlitten hat. Den man ertrug. Der in Schüben kam und doch in der Erinnerung an das gewesene zu einem einzigen, glühendem Feuerball wird, weil die Augenblicke ohne Schmerz angefüllt waren, mit der Angst vor der scheinbar unvermeidlichen Wiederkehr des Leids.
Nein, wann es begonnen hat, dass weiß ich nicht mehr. Nur, wann es endete, daran erinnere ich mich noch genau.
Doch bis dahin waren die Nächte voller Angst und die Tage angefüllt mit Gedanken an die vor mir liegenden Nächte und der Furcht vor der Angst.
Ich war noch ein Kind, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, als ich das erste Erlebnis dieser Art hatte.
Was mich aus dem Schlaf aufgeschreckt hatte, wusste ich nicht. Nur das ich plötzlich, aus unerfindlichen gründen, hellwach war.
Um mich herum war es Dunkel. Das Federbett, unter dem ich in meinem Bett lag, fühlte sich warm und schwer an. Ich starrte zur Zimmerdecke, ohne diese in der mich umgebenden Dunkelheit erkennen zu
können. Dann lauschte ich in die schwärze hinein, konnte die gleichmäßigen Atemzüge meines jüngeren Bruders hören, der sich das Zimmer mit mir teilte.
Alles schien wie immer. Völlig normal und doch, etwas war anders als sonst.
Damals, als Kind, hätte ich für dieses "andere" noch keinen passenden Ausdruck gewusst. Heute weiß ich, dass es Beklemmung war, die ich fühlte und die mich wahrscheinlich auch wach werden ließ.
Die Gardinen an den beiden, meinem Bett gegenüberliegenden Fenstern waren zugezogen. Kein Lichtstrahl fiel von außen hinein. Ich versuchte, mit den Augen das dunkel zu durchbohren, doch erkennen konnte ich nichts. Nur weil ich mich in diesem Zimmer auskannte, wusste ich, wo sich das Bett meines schlafenden Bruders befand. An welcher Wand der mächtige Kleiderschrank stand, den ich mir mit ihm teilte. Wo die Kommode und die Truhe mit unserem Spielzeug war. Erkennen konnte ich nichts von alledem.
Ich hob meinen Kopf vom Kissen, denn nur so konnte ich über den großen Eichentisch hinweg schauen, der uns am Tag als Schreibtisch für die Schularbeiten diente und in der übrigen Zeit als Spieltisch und der mir den Blick zur Zimmertür verwehrte, neben der sich gleich rechts der Lichtschalter befand, den ich so gerne erreicht hätte, welcher aber unendlich fern schien.
Es kam mir zuerst nicht ungewöhnlich vor, als ich nun, nachdem ich meinen Kopf vom Bett erhoben hatte und über den großen Tisch Richtung Tür schaute, drei Frauen erblickte, die, direkt neben der Zimmertür
stehend, sich angeregt zu unterhalten schienen.
Wir waren eine sehr große Familie und ständig gingen bei uns Leute aus dem Dorf ein und aus. Vielleicht war es ja gar nicht mehr mitten in der Nacht, wie ich zu glauben wusste, sondern schon früh am Morgen und eine der Frauen war meine Mutter, die gekommen war, um mich für die Schule zu wecken?
Aber warum konnte ich dann in keine der Frauen, die ich nur als Silhouetten wahrnahm, meine Mutter
erkennen?
Warum konnte ich nicht einmal ein Flüstern hören, obwohl sich die Frauen doch ganz offensichtlich zu
unterhalten schienen?
Und warum hörte ich auch keinerlei andere Geräusche, obwohl die Frauen sich bewegten und eifrig mit ihren Händen gestikulierten, wo ich doch wusste, gerade an dieser Stelle, direkt beim Zimmereingang, knarrte der Holzfußboden besonders stark?
Warum konnte ich die Frauen überhaupt erkennen, wo ich doch noch nicht einmal den Tisch und die Stühle, die zwischen ihnen und mir standen, wirklich sehen, sondern nur erahnen vermochte?
Woher kam dieses Licht, dass sie, wie ein leuchtender, unförmiger Kranz zu umgeben schien und dessen schwaches leuchten die übrige Dunkelheit in meinem Zimmer nicht einmal berühren konnte?
Wie konnte es schließlich sein, dass diese Frauen gerade dort, an dieser Stelle standen, wo ich doch wusste, direkt an dieser Stelle stand der große Schreibtisch, dessen Arbeitsplatte mit Spielzeug übersät war und der viel zu schwer war, um ihn mal eben und das völlig geräuschlos, beiseitezuschieben?
Ich starrte auf das, was ich dort vor mir sah und wusste, das, was ich sah, konnte nicht wirklich sein.
Die Zeit blieb stehen, ich war gelähmt vor Angst.
Ich schaute, konnte den Blick von dem, was sich da vor mir abspielte nicht abwenden, obwohl ich am
liebsten gerannt wäre. Fort von dem, was mir solche Angst machte.
Unfähig den Blick abzuwenden, starrte ich auf den schwachen Lichtschein, der die Frauen umgab. Die keine Notiz von mir nahmen und mit sich selbst beschäftigt waren und die noch immer aufeinander einzureden schienen, wobei das grau ihrer Körper sich im schwachen Licht hin und her wiegte und zeitweise
miteinander verschmolz.
Eis rann mir durch die Adern. Mein Kopf war leer und ich sah, ohne verstehen zu können.
Dann legte sich eine Hand auf meinen rechten Unterarm. Es war kein Greifen nach mir. Kein fester druck, nichts forderndes und doch konnte ich die einzelnen Finger dieser Hand spüren, die mich für einen
Augenblick berührten, um dann weggezogen zu werden.
Angst. Wie beschreibt man Angst? Das Wort alleine reicht nicht aus, um zu beschreiben, was ich empfand.
Ich schrak bei der Berührung zurück, drückte mich mit meinem Körper dicht an die Wand, an der mein Bett stand. Ich hätte am liebsten aufgeschrien, nur war es mir unmöglich, meinen Mund zum Schrei zu öffnen. Selbst das Atmen versuchte ich zu unterdrücken aus furcht, dass aus dem, was ich sah, Bedrohung werden könnte.
An das nächste, an das ich mich erinnere ist die Sonne, die durch die Fenster in mein Zimmer schien.
Die Nacht war vorbei.
War alles nur ein böser Traum gewesen?
Ich selbst hätte es wohl geglaubt. Allzu gerne hätte ich mich daran festgehalten.
Doch in den nächsten Jahren hatte ich immer wieder ganz ähnliche Erlebnisse. Nicht immer waren es Dinge, die ich sah. Manchmal waren es nur Berührungen oder Geräusche, die mir die Nächte zur Tortur machten.
Schweres Atmen, das Geräusch, als wenn jemand sein steif gewordenes Bein über den Boden schleift.
Stühle, die über den Fußboden gezogen wurden.
Immer erwachte ich dann aus dem Schlaf, fühlte die gleiche Beklemmung wie schon bei meinem ersten
Erlebnis dieser Art. Lauschte und starrte in die Dunkelheit. Fühlte, hörte, sah und war unfähig mich zu
bewegen, erstarrt vor Angst.
Nicht in jeder Nacht hatte ich solche Erlebnisse. Manchmal passierte wochenlang gar nichts, um mir dann wiederum in aufeinanderfolgenden Nächten den Schlaf zu rauben und die Dunkelheit in furchteinflößendes Grauen versinken zu lassen.
Ich hätte gerne um Hilfe gebeten und mich an meine Eltern gewandt und darauf gehofft, dass sie all dem ein Ende setzen.
Doch schon als Kind wusste ich, wie unglaublich das klingen musste, was ich zu erzählen hatte. Dann
fehlten mir auch die Worte, um meine Angst zu beschreiben, und schließlich, ja das war das schlimmste, hatte ich Angst davor, nicht nur für verrückt erklärt zu werden, sondern es tatsächlich auch zu sein.
Zu beginn meiner Erzählung erwähnte ich, ich wüsste nicht genau, wann es begonnen hat. Nur wann es
endete, könnte ich ganz genau sagen.
Als ich 12 Jahre alt war, brannte unser Haus nieder und damit endeten meine Nächte voller Furcht.
Das Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht habe, war ein Jahrhundertealtes
Fachwerkhaus.
Niemand wusste zu sagen, wann es überhaupt erbaut war, nur dass es eines der ältesten, vielleicht auch das älteste Haus in unserem Dorf sein musste.
Noch heute bin ich überzeugt davon, dass alles, was ich als Kind dort erlebte, irgendwie mit diesem Haus
zusammenhing.
So viele, ungezählte Menschen hatten einmal dieses Haus bewohnt. Hatten Freude und Leid erlebt. Geburt und tot und ich glaube, jeder von diesen Menschen hat einen kleinen Teil von sich zurückgelassen, als er ging.
Ich weiß, das, was ich hier niedergeschrieben habe, ist zu unglaublich, als das man nicht an dessen
Wahrheitsgehalt zweifeln könnte. Ja, zweifeln muss, wenn man sich selbst für einen aufgeklärten, halbwegs intelligenten Menschen hält.
Und doch, alles ist wahr!
Später, als ich ganz sicher war, dass meine Erlebnisse endgültig der Vergangenheit angehörten und mir auch die Erinnerung an das erlebte keine furcht mehr einflössen konnte, habe ich versucht, Erklärungen dafür zu finden.
Unzählige Bücher über Parapsychologie habe ich gelesen, doch Erklärungen fand ich nicht. Im Gegenteil, all die Bücher warfen noch mehr Fragen auf, die alle unbeantwortet blieben. Das Einzige, was ich in Erfahrung bringen konnte, war, dass gerade Kinder für solche Erlebnisse besonders empfänglich sein sollen.
Besonders die Bücher eines Professor Benders aus Freiburg im Breisgau, damals der einzige Parapsychologe Deutschlands, habe ich verschlungen, da er als einziger versuchte, all solche Dinge wissenschaftlich zu
erklären.
Ihm war bewusst, dass Erlebnisse dieser Art in den Menschen Angst verursacht, mit der sie alleine nur schwer fertig werden können, und eröffnete deshalb in Freiburg eine Art Notaufnahme für all die, die
Ähnliches erlebt hatten wie ich. Noch heute existiert diese.
Ich bin kein nüchterner Mensch. Ich kann träumen, kann mit meinen Gedanken umherschweifen und in eine Welt aus Fantasie eintauchen. All zu oft, wenn ich vor einer Entscheidung stehe, lasse ich nicht meine
Intelligenz, sondern meine Intuition entscheiden.
Ich kann nicht sagen, ob dieses immer richtig war, aber mit Gewissheit kann ich behaupten, niemals war es falsch!
Trotzdem, in meiner Erzählung habe ich bewusst versucht Worte wie „Übernatürlich“, „Unerklärlich“ oder gar „Geister“ zu vermeiden.
Wenn ich gefragt werde, ob ich an all diese Dinge glaube, dann werde ich immer aus Überzeugung mit „Nein!“ antworten. Denn nur weil ich, weil wir, nicht alles Erklären können, heißt das nicht, dass es dafür keine Erklärung gibt.
Vielleicht mag es seltsam klingen, aber trotz meiner Erlebnisse in unserem Haus, habe ich dort eine
wunderschöne und sehr glückliche Kindheit verbringen dürfen.
Auch wenn mir viele der erlebten Nächte Furcht einflößten, weiß ich heute, dass ich niemals einer
wirklichen Bedrohung ausgesetzt war. Dass es nur eine einzige Bedrohung gab - die Angst, die aus mir selbst herauskam.
Später habe ich mich oft gefragt, ob ich wohl der einzige Mensch unter all den anderen, die in diesem Haus lebten, war, der solche Erlebnisse hatte, oder ob es andere gab, die, so wie auch ich, nur nicht den Mut und die Worte fanden, um darüber sprechen zu können?
... von Unglauben vertrocknet und verbrannt.
Das Unerträgliche hat er durchlitten.
Den eignen Untergang hat er erkannt.
Nach Glauben dürstend - will er nicht drum bitten ...
F. Tjutćev (Aus „Unser Jahrhundert“)
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2016
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