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Herbstleben

 

 

 

 

 

"Hallo mein Freund!"

"Mein Freund?" lese ich in deinen fragenden Augen und schaue dabei auf deine skeptisch in die

Höhe gezogenen Augenbrauen und die Stirn, die du zweifelnd in Falten legst.

"Ja, mein Freund!" versuche ich dich überschwänglich von der Ehrlichkeit meiner Worte zu

überzeugen.

Ich gebe zu, es war nicht immer so. Früher einmal hätte ich abwehrend meine Hände erhoben, hätte dich unwillig von mir fortgestoßen und es nicht glauben wollen, dass wir es jemals werden könnten - Freunde.

Aber früher einmal, da war ich jung und war mir sicher, es für ewig bleiben zu können. Doch heute, nach all den von mir gelebten Jahren weiß ich, du bist wie ich. Ich bin wie du.

Bin ich traurig darüber, dass wir uns nun so ähnlich geworden sind?

Macht es mir gar Angst?

Ja, manchmal tut es das, stimmt mich der Gedanke, so geworden zu sein, wie du es schon immer warst, traurig, macht mir das Wissen darum, das nach dir nur noch der Winter auf mich wartet Angst. Es ist eigentlich nicht einmal Angst vor dem Ende, meinem Ende. Dem Tod der mich mit dem beginnendem Winter zu locken versuchen wird. Vor ihm habe ich schon lange jede Angst

verloren.

Schon als ich geboren wurde, stand er an meiner Seite und fast wäre das Licht der Welt, das ich

gerade im begriff war zu erblicken, in Dunkelheit erloschen.

Mit 14 hatte ich ihm dann die Tür geöffnet und habe ihn zu mir hereingebeten. Ein Gefühl der

Traurigkeit, vermischt mit sehr viel Wehmut war es, als ich feststellen musste, dass er meine

Einladung nicht anzunehmen gedachte. Als er fortblieb und mich alleine ließ, als ich einsehen musste, weder das Leben noch er, der Tod wollten mich haben.

Damals, als er sich weigerte, zu mir zu kommen, wusste ich ja noch nicht, das er nur nicht durch diese von mir geöffnete Tür schritt, weil er dem Leben nicht im Wege stehen wollte.

Als ich ungefähr 20 Jahre alt war, stand er dann plötzlich einfach da. Ungebeten und fordernd

rüttelte er an meiner Tür, die ich mit aller kraft zuzudrücken versuchte. Nur mit Mühe gelang mir dies und er ging unverrichteter Dinge fort, um sich viele Jahre lang nicht mehr blicken zu lassen.

Dann, mit ungefähr 30 Jahren, stand er wieder vor mir. Dieses Mal gab es keine Tür zwischen uns. Ich erwartete ihn und war bereit, mich ihm hinzugeben. Doch auch damals wollte er mich noch nicht. Schaute nur auf mich herab, berührte mich sanft und runzelte, so wie du mein Freund, die Stirn und schüttelte fast unmerklich mit dem Kopf. "Nein" schien er zu sagen: "Es ist noch nicht so weit".

Danach hat er mich nie wieder berührt und war doch immer an meiner Seite.

In den Wald meines Lebens schlug er so einige Breschen, ließ so manche Lichtung zurück und wer als unbekannter diesen Wald betritt, dem werden diese Lücken nicht weiter auffallen, scheinen gar normal und naturgegeben zu sein.

Nur ich weiß, welche Bäume einst dort standen.

Nicht jeder Mensch ist wirklich ersetzbar.

Nein, es ist nicht der Gedanke an den Tod, der mir furcht bereitet. Wie könnte er auch, denn ohne Frage besitzt er Humor.

Nicht er ist es, es ist das Leben, welches mir manchmal Schauer über den Rücken laufen lässt.

 

Der Frühling, er ging so schnell vorüber. Ich habe es nicht einmal begriffen, als er da war. Doch es muss ihn gegeben haben, denn in meinem Innerem spuken Bilder von ihm herum. Fast verblichene Erinnerungen in einem, mit Staub bedecktem Fotoalbum.

Nur selten noch greife ich zu diesem Album und schaue mir die Fotos darin an. So lang ist das alles schon her. Gedankenbilder, die mir selbst fremd vorkommen. Zweifel daran, dass sie wirklich zu mir gehören und dem Wissen, dass ich, bei all meinen Zweifeln, doch aus ihnen erwachsen bin.

Frühling. Nur Fragmente sind es, die mir sagen, dass es ihn gegeben hat.

All die Bilder, die durch meine Gedanken schwirren und darauf warten, von mir sortiert zu werden:

Meine Eltern, auch diese haben in meinem Wald eine Lücke hinterlassen. Geschwister, Freunde,

Familie. So viele Bilder. Wer ist noch da, wer schon gegangen?

Großmutter, die mit verschmitztem Lachen vor dem Haus auf der Bank sitzt. Purzel, ihr Dackel, zu ihren Füßen liegend.

Großmutter, sie war die Erste, die mir zeigte, dass das Leben endlich ist. Die Erste, die Abschied nahm.

Das Bild von meinem ersten Schultag. Von Rüdiger, meinem ersten richtigen Freund, der so stark war, so stark wie ich es gerne hätte sein wollen und der mich immer beschützte, wann immer mich jemand ärgern wollte.

Meine erste Freundin, von der mir nur die Erinnerung an ihre langen blonden Haare blieb und ihr bezauberndes Lächeln. Die Erinnerung daran, wie ich ständig ihre Nähe suchte und es so sehr

genoss das auch sie mich mochte. Aber auch wie klein und unbedeutend ich mich neben ihr fühlte.

Meine erste Freundin. Wir waren beide kaum 9 Jahre alt, als auch sie ging und mich alleine ließ.

In dem Wald meines Lebens suche ich manchmal ihre Lichtung und kann sie doch nicht finden.

War es denn so unbedeutend, dass es dich gab?

 

So viele Bilder die, wenn ich beginne sie zu sortieren, alle vor mir liegen. Drapiert rund um dieses eine Foto, dass den kleinen Jungen zeigt, der ich einmal war.

Ich erkenne mich selbst in ihm nicht wieder.

Gedanken, Gefühle, ängste, Sehnsüchte sehe ich in seinen Augen. Gab es sie wirklich, oder bilde ich mir diese nur ein?

Frühling. Ja, es muss ihn wohl gegeben haben.

So schnell ging er vorüber. War schon entschwunden, noch bevor ich ihn berühren konnte.

 

Der Sommer. An ihn erinnere ich mich sehr viel besser. Doch auch hier fällt mir das Sortieren all der Bilder schwer. Es sind so unendlich viele, die mir aus meinen Gedanken heraus vor die Füße fallen.

Der Sommer meines Lebens.

Rock`n`Roll und Löwenzahn.

Die erste Liebe. Das Mädchen in Bluejeans und rotem Shirt, das mich mit herausfordernden

braunen Augen anschaute und mir zeigte, wie schön es ist, warme weiche Haut zu spüren und sich in sich selbst zu verlieren.

Das Dorf in dem ich aufwuchs und in dem ich mich wie ein Gefangener fühlte. Sehnsucht nach Freiheit.

 

Meine Freunde und die Bank dort unten am Fluss, an der wir uns an jedem sonnigen Tag trafen. Auf der wir herumlungerten, diskutierten und unsere Worte in Bier ertranken.

Iron Maiden, Motorhead, Slayer und AC/DC. Der Soundtrack eines jeden Tages. Der Soundtrack eines jeden Sommers. Der Soundtrack meines Lebens.

 

Die nächsten die gingen. Mein ältester Bruder, nicht einmal so alt geworden, wie ich es heute bin.

Einer meiner Freunde, der mit seinem alten Manta in den Tod raste.

Die Ermordung von John Lennon, die mich wirklich erschütterte und von der ich wusste, dass auch sein Tod eine weitere Lichtung in meinem Wald hinterlassen würde.

Doch was mir heute schwer wird, fiel mir im Sommer umso leichter. Alles von mir wegzuschieben und mich auf den Mittelpunkt des Lebens zu konzentrieren. Auf mich selbst, der ich davon

überzeugt war, die Welt besiegen zu können.

 

Auch mit meinem Sommer verbinde ich Träume, Sehnsüchte und Illusionen, doch kommen mir

diese nicht fremd vor, wie die des Frühlings, sondern fühlen sich auch heute noch lebendig und zu mir gehörend an.

Der Sommer. So viel ist geschehen. So viele Hände berührt, so viele Augen geschaut. So viele

Seelen gestreichelt.

Ich bin aus meinem Dorf ausgebrochen, nach dem ich mich heute, unverständlich für mich selbst, manchmal wieder zurücksehne und bin hinaus in die Welt gezogen. Habe so viel gesehen, erlebt, entdeckt und doch so wenig von alledem verstanden.

Zurückgeblieben ist tiefe Dankbarkeit, für das erlebte in all den vergangenen Jahren. Dankbarkeit für all die Freundschaft, die mir entgegengebracht wurde. Dankbarkeit auch für all die, oft

unverdiente Liebe, die ich erhalten habe und ich glaube nur darum, aus dieser Dankbarkeit heraus, ist es möglich, dass ich dir heute meine Hand reichen kann um dich zu begrüßen, den Herbst

meines Lebens.

"Hallo, mein Freund!"

 

"Too Old to Rock`n`Roll, too Young to Die", fällt mir da der Titel eines Songs von Jethro Tull ein.

Ja, ich weiß, noch ist es nicht so weit. Noch haben wir uns erst ganz vorsichtig berührt und es wird noch ein kleines Weilchen dauern, bis du mich umarmen wirst.

Indian Summer. Altweibersommer.

Und wenn auch schon die ersten Blätter fallen, so leuchten diese doch noch in lebendigen Farben. Noch gab es die ersten Nachtfröste nicht. Noch strahlt die wärmende Sonne auf mein Gesicht.

Noch fühle ich das Blut rauschend durch meine Adern fließen, kann in das blau des Himmels

schauen, meinen Träumen nachhängen und an deren Erfüllung glauben.

Wenn das Leben auch trügerisch ist, so wie die leuchtenden Farben des fallenden Laubes. Wenn mein Haar auch dünner wird und das, welches zurückbleibt, immer grauer und die Haut in meinem Gesicht der Borke an den Bäumen in meinem Lebenswald immer ähnlicher, so fühle ich doch, dass der Herbst nicht das beginnende Ende, sondern nur ein neuer Anfang ist.

Dahin ist die Jugend. So viel hab ich verloren und doch, so viel hab ich dazugewonnen.

Muss nichts mehr beweisen, niemandem mehr etwas vormachen. Darf sein, so wie ich wirklich bin.

 

Mein Freund, der Herbst meines Lebens. Unsere Berührungen sind noch zaghaft, abwartend und

zögerlich. So als wollten wir unserer beginnenden Freundschaft selbst nicht über den Weg trauen. Doch eines Tages wirst du mich fest an dich ziehen, werde ich in dir versinken, werden wir eins werden.

Und dann, an einem noch ferneren Tage, wirst du meine Hand nehmen und mich hinübergeleiten. Dann wirst auch du mich verlassen, um mich dem Winter zu übergeben, und eigentlich weiß ich, es warst niemals du, der mir Angst machte. Immer war es nur der Gedanke an meinen eigenen Winter, der mir Furcht einflößte.

Was wird dann auf mich warten?

Nicht die Erwartung von Krankheit und Schmerz ist es, was mir angst macht.

Nicht der Tod, der doch schon ein viel älterer Freund ist, als du es jemals sein wirst. Nicht der

Gedanke an das Leben macht mir Angst. Es ist die Furcht vor seiner Abwesenheit, vor der ich

erschauere.

Wird der Winter einsam werden? Oder darf ich auch dann noch fröhliches Lachen um mich herum hören?

Wird das Leben, mein Leben, dann noch irgendeine Bedeutung haben, oder wird es nur noch in all meinen kleinen Geschichten stattfinden?

Werde ich dann noch in den Himmel schauen können, die Sonne auf meiner Haut spüren dürfen. Dort oben das unendliche Blau erblicken, all die Wolken sehen und noch träumen können?

Mein Freund, ja, ich gebe es zu, der Gedanke an den noch fernen Winter macht mir Angst.

Darum ist es so wichtig, dass wir Freunde werden. Dass du mich ein Stück meines Weges begleitest und es mir leichter machst, diesen Weg zu gehen, um Spuren zu hinterlassen und Gedanken zu streuen. Weil ich weiß, wenn wir Freunde sind, auch ich einmal eine Lücke in einem Lebenswald sein werde.

Ein Wald, der dann nicht mehr mein eigener sein wird.

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2016

Alle Rechte vorbehalten

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