Wann waren wir losgegangen, wie viele Tage war das her?
Ich weiß es nicht mehr. Habe es einfach vergessen.
Irgendwann hatte ich aufgehört die Stunden, die Tage, die Wochen zu zählen.
Nur meine Füße hätten mir wohl sagen können, wie lange wir schon unterwegs waren. Aber hätten sie sprechen können, so würden sie sich doch nur beklagen. Würden sich beschweren über die
Wunden, die ich ihnen in all der Zeit zugefügt hatte. Über die Schmerzen, die mir ihre aufgerissene Haut verursachte und die ich versuchte, nicht in meinen Kopf zu lassen. Die ich versuchte zu
verdrängen. So wie ich vergeblich versuchte, Hunger und den Durst, die mich oft plagten und die Ewigkeit unserer Wanderung zu verdrängen.
"Alles, alles wird besser werden!" hatte Großvater versprochen und wir, wir hatten ihm geglaubt. Waren ihm gefolgt auf diesen Weg, der uns ein besseres, sichereres, schöneres Leben verheißen sollte.
Europa. Welch wundervolles Wort!
Eine Göttin, das hatte Großvater gesagt und wenn ich auch mit meinen elf Jahren noch nicht allzu viel über die Welt dort draußen wusste, so hatte auch ich ihm gelauscht. Hatte seine Worte in mich aufgenommen und seine Begeisterung zu der meinen gemacht.
Europa, welch wunderbarer Klang!
"Wir gehen fort!", hatte Großvater bestimmt und alle Erwachsenen hatten zustimmend genickt.
Ja, wir würden fortgehen. Dorthin wo es sicherer war. Dorthin wo man uns haben wollte. Dort, wo es keine Schüsse, keine herabfallenden Bomben mehr gab. Wo man sich nicht mehr verstecken musste. Dorthin, wo man keine Angst mehr haben musste.
Europa. Welch wundervolles Versprechen!
Mama und Papa hatten zu beginn noch gezweifelt, aber dann, als mein Bruder nicht mehr nach Hause kam, aber dafür dann diese Männer, die meine Schwester aus dem Haus zerrten, sie draußen zu Boden drängten, sich grölend über sie warfen und versuchten, ihr den Mund zuzuhalten, weil sie so schrie, dass ich selbst ihren Schmerz zu spüren glaubte. Erst als das geschah, hatten auch Mama und Papa zugestimmt fortzugehen.
Ich verstand das alles nicht. Wo war mein Bruder, warum weinte Mama, als er nicht mehr
heimkam?
Was hatten diese fremden Männer meiner Schwester angetan?
Warum hatte sie so sehr geschrien?
Warum hatte sie erst aufgehört, als auch diese Männer aufhörten, und warum schweigt sie bis
heute? Warum waren ihre Augen nun so leer und warum sah es so aus, als wenn sie durch mich
hindurchschaut, wann immer ich den blick in ihre Augen suche?
Warum weinte Mama in letzter Zeit so oft und warum saß Vater einfach nur da. Schweigend, mit zusammengepressten Lippen. Die Hände vor sich auf den Küchentisch gelegt und zu Fäusten
geballt?
Ich verstand das alles nicht und spürte nur die Angst, die wie ein Parasit unter den Menschen in unserem kleinen Dorf umherging und das einst fröhliche Lachen erstickte und die selbst aus dem licht der Sonne, die hoch über unserem Ort stand, bedrohliche Dunkelheit machte.
Wo war all das Lachen geblieben?
Ich begriff es nicht und wenn ich fragen stellte, bekam ich immer nur die gleiche, seufzende
Antwort "Ach, es ist Krieg mein Junge".
******
Wie lange war es her?
Die Zeit war zerronnen, hatte sich aufgelöst in den müden schritten unserer Wanderung.
Zu beginn hatte Großvater uns noch immer ermuntert. Hatte uns von diesem wundervollem Europa erzählt, in dem es Frieden und Glück für uns alle geben würde.
Zu Anfang hatte er uns immer wieder aufs neue angespornt, einen Schritt vor den anderen zu tun. Bis aus vielen dieser kleinen schritte Kilometer um Kilometer wurden.
Großvater. Hatte ihn je irgendwer gefragt, warum er all das über dieses uns unbekannte Europa wusste?
Oder waren wir nur dem klang des Wortes gefolgt?
Europa. Ein Versprechen. Hoffnung auf eine Zukunft für uns alle. Hoffnung darauf, leben zu
dürfen. Nie wieder angst haben zu müssen.
Großvater. Er schien so stark, so unzerbrechlich und als er sich dann, eines Morgens, einfach nicht mehr aus dem Schlaf erhob, wussten wir alle, selbst ich, dass für ihn dieser Weg zu Ende war.
Ohne Großvater war es nicht mehr dasselbe. Ohne Großvater schienen die Erwachsenen kraft und mutlos zu werden.
Und doch gingen wir weiter, so als wenn seine aufmunternden Worte uns auch über seinen Tod
hinaus noch antreiben würden.
Niemals war ich so weit von zu Hause fort gewesen. Die Landschaft um uns herum wechselte ihr aussehen. Wir gingen durch glühende Wüste, über steiniges Geröll. Durchquerten fast märchenhaft anmutende, grüne Oasen und manchmal kamen wir durch andere Dörfer, die alle dem unserem
glichen.
Viele dieser Orte waren verlassen.
Die Menschen waren auf der Flucht, so wie auch wir flüchteten vor der unbarmherzigen
Grausamkeit des Krieges.
Dort, wo wir noch auf Menschen trafen, blickten wir in Gesichter voller Schatten und in Augen, aus denen jede Fröhlichkeit verschwunden war.
Und doch gab man uns überall bereitwillig zu essen, ließ uns an den Brunnen trinken und uns unter den schattigen Bäumen eine kleine weile zur ruhe kommen.
Nur selten wurden wir gefragt, woher wir kamen und niemals fragte man uns, wohin wir gingen, denn jeder wusste, wo unser Ziel lag. Wir wollten dorthin, wohin es auch all die anderen hintrieb, die wie wir auf der Flucht waren. Weit weg, ans Meer und dann, so hatte es uns Großvater
versprochen, würden wir alle gemeinsam über das große Wasser fahren. Es würde lange dauern, fast so lange wie unsere Wanderung, aber dann, hinter dem Meer, würden wir es sehen, dieses Europa, welches durch die Worte des alten Mannes einen Glanz bekam, der uns alle blendete.
Auch das Meer hatte ich noch nie gesehen. In der Schule hatte uns unser Lehrer einmal ein Buch mitgebracht, in diesem waren Bilder vom Meer. Ich kann mich noch gut an diese Bilder erinnern. An die hohen Wellen, an die scheinbare Unendlichkeit. An die Schiffe, die so klein und
nichtsbedeutend auf dem Wasser umhertrieben.
Ich wollte es sehen, dieses Meer. Damals schon, als ich die Bilder in dem Buch sah, wollte ich es sehen und ein bisschen freute ich mich darauf, es bald erblicken zu dürfen. Aber ein wenig hatte ich auch angst. Wusste ich doch, dass wir es überwinden müssten, um dorthin zu gelangen, wo es
Frieden gab.
Wo Brüder nicht einfach so verschwinden und nie mehr nach Hause kamen und wo man
Schwestern nicht wehtut und ihnen die Seele bricht.
Mit der Zeit wurde unsere Gruppe kleiner. Viele der Erwachsenen waren der endlosen Wanderung müde geworden. Die Alten waren die ersten, die nicht mehr konnten, die nach einer kurzen Rast einfach nicht mehr bereit waren aufzustehen und mit uns den Weg fortzusetzen.
Wenn ich in diese alten, hoffnungslosen Gesichter sah, musste ich an Großvater denken und daran, dass er sich vielleicht genauso gefühlt hatte wie sie und er uns deshalb alleine ließ. Nicht mehr
aufgestanden war vor so vielen, nicht gezählten Tagen, weil er seinen eigenen Worten nicht mehr geglaubt hatte.
Die Menschen, die wir zurückließen, blieben in den verlassenen Dörfern, welche auf unserem Weg lagen. Versuchten, dort ein neues Leben zu beginnen oder dem Ende ihres Daseins mit erschöpfter Gelassenheit entgegenzublicken. Denn ein zurück gab es nicht.
Unsere Heimat hatten wir verlassen, hatten alles zu Geld gemacht, was nur irgendeinen Wert gehabt hatte, um die Überfahrt über das Meer bezahlen zu können, das, je näher wir ihm kamen, je
unerreichbarer für uns schien.
Meine Füße hörten irgendwann auf sich zu beklagen. Die blutigen Risse in der Haut schlossen sich. Die Schmerzen wurden irgendwann erträglicher und hörten schließlich ganz auf. Der Weg durch die unendliche Weite schien für mich nun bezwingbar zu werden.
******
Eine seltsame Nacht war es, die Nacht, in der ich zwölf Jahre alt wurde.
Nur wenige waren übrig geblieben von der anfänglich großen Gruppe Menschen, die wir noch
waren, als wir unser Dorf verließen.
Fast alle hatten aufgegeben, waren erschöpft zurückgeblieben oder vertrautem dem lang schon
verklungenem klang des Wortes Europa nicht mehr.
Großvater fehlte mir, fehlte uns allen.
Ich wusste, in der langen Zeit unserer Wanderung hatte ich mehr, als nur all die vielen, endlosen
Kilometer zurückgelegt. Ich war durch ein ganzes Leben gewandert, hatte nicht nur mein Dorf,
sondern auch meine Kindheit zurückgelassen.
Ich war erwachsen geworden und verstand nun, mit dem Tod meines Großvaters, war nicht nur er selbst gestorben. All die vielen Menschen, die zu beginn noch mit uns gingen, waren mit ihm
gestorben. Waren zu fast leblosen hüllen mutiert, die sich nur noch vorwärts bewegten, weil es kein zurück mehr für sie gab. Die ihre Füße nur noch einen vor den anderen setzten, weil diese
Bewegung ihnen die Illusion gab, noch immer am Leben zu sein.
Ich war erwachsen geworden und hatte nun eine Lebensstation erreicht, die ich vor erst so wenigen Monaten herbeigesehnt hatte und die mich jetzt mit schrecken erfüllte.
Ich wäre so gerne noch ein unwissendes Kind geblieben, würde mich so gerne wieder an mein nicht Verstehen klammern.
Doch ich verstand nun. Hatte die Grausamkeit des Wortes Krieges und das, was er den Menschen antat, begriffen.
Hatte verstanden, warum mein Bruder nicht mehr heimgekommen war, und konnte vor mir seinen blutigen Leib sehen, ohne ihn je erblickt zu haben.
Ich verstand den ohnmächtigen Zorn meines Vaters, begriff die Tränen meiner Mutter und wenn ich in die leeren, traurigen Augen meiner Schwester schaute, konnte ich die Narben auf ihrer Seele
erkennen. Verstand warum ihr einst fröhliches Lachen erstickt war. Wusste, ohne das es mir jemand hätte sagen müssen, was diese fremden Männer ihr angetan hatten.
Ich war erwachsen geworden.
Doch so gern wäre ich für immer ein Kind geblieben.
Die Nacht war warm und sternenklar, war ruhig und trostspendend. Die niedrigen Flammen des
Lagerfeuers tanzten auf unseren Gesichtern. Vertrieben die tiefen Schatten, die davongejagt wurden, um anheimelnder, trügerischer Sicherheit platz zu machen.
Mama, Papa, meine Schwester. Ich schaute in ihre Gesichter und erkannte mich selbst in dem
Spiegelbild des tanzenden Feuer in ihren Augen.
Ich spürte, wie Vater mir leicht seine Hand auf den Arm legte. Ich schaute zu ihm hin und sah, wie er um Worte rang.
Zitternd bewegten sich seine Lippen und endlich flüsterte er „Du bist nun zwölf Jahre alt mein Sohn und Allah ist mein Zeuge, dass ich Dir ein besseres Leben gewünscht habe. Das ich euch allen ein besseres Leben wünschte“ dabei schaute er fast ängstlich zu meiner Schwester und zu Mama
hinüber, die ihn schweigend betrachteten. Dann schob er ein kleines Bündel in meine Hand und
ohne das ich es öffnen musste, wusste ich, was darin enthalten war. „Du bist stark mein Junge, Du wirst es schaffen!“.
Ich ahnte, dass es ein Abschied war, und eigentlich, ganz tief in mir, wusste ich, dass wir schon seit damals, als wir die ersten Schritte aus unserem Dorf taten, abschied voneinander nahmen.
Wir schauten uns an, ich sah, wie mein Vater fast beschämt seinen Kopf senkte, sah das leise
zustimmende nicken meiner Mutter und fast war es mir, als wenn ich selbst in den Augen meiner Schwester den Hauch eines lächeln erblicken konnte.
Schweigend nahm ich das kleine Bündel mit all unserem Geld an mich, dass Geld, das uns allen eine neue Zukunft, neue Hoffnung und endlich Frieden bringen sollte und nun nur noch für mich bestimmt war.
Wortlos schob ich das Bündel unter mein Hemd.
Wenn nichts bleiben wird, die Nacht meines zwölften Geburtstages werde ich niemals vergessen.
Die Nacht, in der ich meine Vergangenheit, mein bisheriges Leben, hinter mir ließ.
Die Nacht, nach der nichts mehr zu sagen blieb.
„Du wirst es schaffen mein Sohn!"
So gern wäre ich für immer ein Kind geblieben.
******
Das Meer!
Endlich!
Wir hatten es wirklich geschafft.
Nach schier unendlich erscheinender Zeit breitete es sich vor uns aus.
Der kleine Hafen war voller Menschen. Ausgebrannte, abgekämpfte, erschöpfte Gesichter.
Gesichter, voller tiefer Falten. Gesichter, in denen noch immer Schatten lagen, in denen selbst die vermeintliche Jugend sich selbst Lügen strafte. Gesichter, in denen wir uns selbst erkannten.
Das kleine Bündel unter meinem Hemd wechselte den Besitzer. Der dann endgültige Abschied tat so unendlich weh und brennt noch heute in meinem Herzen.
Mein Vater, der mir sanft seine Hand auf den Kopf legte, um mich zu segnen „ Fi Ammanillah“, Gott schütze Dich!
Meine Mutter, die mich weinend an sich drückte und meine Schwester, die in dem Moment unseres Abschieds etwas wiedergefunden hatte, was für ewig verschollen schien. Ein sanftes
Lächeln lag in ihren Augen, als auch sie mich an sich zog und als wir uns wieder voneinander
lösten, schien mir, dass auch in ihrem Antlitz etwas von dem einst glücklichem Mädchen, das sie einmal gewesen war, zurückgekehrt war.
Als ich endlich in dem kleinen, völlig überfüllten Boot saß, welches mich über das Meer tragen sollte, schaute ich mich noch oft um.
Blickte dorthin, wo hinter mir der Hafen kleiner und kleiner wurde. Wo Mama, Papa und meine Schwester immer noch standen, um mir nachzuwinken.
Selbst als der Hafen schon lange hinter dem Horizont verschwunden war, schaute ich mich noch
immer nach ihnen um. Selbst heute blicke ich oft hinter mich, in der Hoffnung, sie noch einmal, nur ein einziges Mal noch sehen zu dürfen, ihnen ein einziges Mal noch nahe sein zu können.
******
Das Meer. Es war viel größer, als ich erwartet hatte.
Grau und bedrohlich lag es vor uns. Seine Wellen hoben unser kleines Boot empor, nur um es im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Das Wasser griff nach unserer Scholle, zerrte und riss an ihr, so als wolle es sich gegen uns zur wehr setzten und uns daran hindern, es zu
bezwingen. Als hätte es etwas dagegen, dass wir es erreichen könnten, dieses wundervolle,
Verheißung versprechende Europa, in dem es Frieden und Glück gab.
Es hätte fast etwas gespenstisches gehabt hier, auf diesem endlosem, grauen Wasser zu treiben, doch waren wir nicht alleine.
Mit sechs Booten hatten wir den Hafen verlassen. Jedes der anderen war ebenso überfüllt wie das unsere und mit nur wenigen Metern Abstand zueinander, trieben wir der Unendlichkeit entgegen.
Hatte ich schon unsere Wanderung als quälend empfunden, so war dieses dahintreiben fast
unerträglich.
Alles schien bewegungslos. Kamen wir dem fremden Kontinent wirklich näher? Oder waren wir
erstarrt, verdammt für immer auf der Stelle zu stehen, das hinter uns gelassene für ewig verloren, das vor uns liegende niemals erreichbar?
Bewegungslos, fast erstarrt saßen die Menschen in diesem kleinen Boot. Die Gespräche waren schon am dritten Tag verstummt und nur seltene, flüsternd hervorgebrachte Worte drangen
manchmal zu mir hindurch.
Erst als der Wind aufkam, wurden die Menschen aus ihrer Lethargie herausgerissen.
Nie hätte ich geglaubt das es so etwas geben könnte und trotzdem war der Sturm mit einem mal da. Wie aus dem nichts hatte er sich auf uns gestürzt. Riss und zerrte an unserem Boot. Schleuderte es empor, ließ es sogleich wieder hernieder stürzen. Regen wurde peitschend in unsere Gesichter
geschleudert, Wellen, so hoch wie Häuser stürzten sich auf uns und brachen über unseren Köpfen
zusammen. Wasser prasselte schmerzhaft auf uns nieder, schlug auf das Boot ein, nahm Besitz von ihm und breitete sich zu unseren Füßen aus.
Schreiende, weinende, betende Menschen die verzweifelt versuchten dem Wasser Herr zu werden und es mit bloßen Händen auszuschöpfen. Es wieder dem Meer zu übergeben, nur damit es einen Augenblick darauf, wieder und mit noch wilderer Gewalt zu uns zurücksprang.
Auch ich schöpfte Wasser. Hatte meine Hände zu trichtern geformt und ließ sie ein ums andere Mal eintauchen und wieder aus dem Wasser hervorschnellen. Immer und immer wieder.
Verzweifelte Schreie drangen zu uns und als ich mich umsah, erkannte ich, dass von den anderen Booten nur noch zwei in Sichtweite waren.
Die Menschen auf diesen Booten hatten den Kampf verloren. Ihre Boote waren gekentert. Hilflos trieben die Menschen im Wasser, schrien, flehten, bettelten und ein paar von ihnen schafften es
tatsächlich, unser Boot zu erreichen.
Ihre Finger krallten sich verzweifelt an den Außenwänden fest. Ihre Körper zog uns noch weiter hinunter, als es schon das Gewicht unserer eigenen Körper tat und ließ weitere Wassermassen in unser schwankendes Boot dringen.
Einige Männer sprangen auf, versuchten die ertrinkenden, verzweifelten Menschen wegzustoßen. Doch in ihrer Todesangst klammerten diese sich um so mehr an der Außenwand fest. Die Männer griffen zu den Rudern, schlugen auf Hände und Finger ein. Blut spritzte auf, dass sofort von den, auf uns herab prasselten Regenmassen fortgespült wurde. Doch auch das konnte die wimmernden, flehenden Menschen nicht abdrängen. Erst als die Männer zu Messern griffen, sich über die nur niedrige Außenwand beugten und zustachen, hob sich unser Boot langsam wieder aus dem Wasser.
Ich schaute den davontreibenden Körpern nach. Sah wie sich noch immer einige wenige in
verzweifeltem Kampf gegen das Meer zu stemmen versuchten, bis auch sie versanken. Hörte ihre schreie, ihre bettelnden, bittenden Worte und erschrak über mich selbst, als ich erkannte, dass ich kein Mitleid für sie empfand und nur froh und dankbar dafür war, keiner von ihnen sein zu müssen.
******
Als ich es das erste Mal erblickte, war ich enttäuscht.
Europa, so wundervoll sollte es sein.
Durch Großvaters Erzählungen hatte ich nur eine sehr wage und verschwommene Vorstellung von diesem Europa, trotzdem hatte ich mir irgendetwas warmes und glänzendes vorgestellt.
Doch das erste, was ich sah, war ein grauer Strand und das erste was ich von diesem Europa
wahrnahm, war der Regen, der noch immer auf uns niederprasselte, als unser kleines Boot endlich, nach ungezählten Tagen, an Land gespült wurde.
Ja, ich war enttäuscht und doch war ich zugleich glücklich darüber, wieder festen Boden unter
meinen Füßen zu spüren.
Glücklich auch, weil ich das Meer besiegt hatte.
Hatte Großvater uns belogen oder sich gar von seinen eigenen Worten blenden lassen?
Ein unüberwindlich hoher Zaun, oben mit scharfkantigem Stacheldraht bestückt, versperrte uns den Weg.
Männer in fremden Uniformen, mit Stahlhelmen auf dem Kopf und Maschinengewehren in ihren Händen, schauten uns von der anderen Seite des Zaunes an.
Unbeteiligte, unberührte Blicke. Gleichgültig und desinteressiert richteten sie ihre Waffen auf uns.
Großvater, hast du all das gewusst?
Eine Göttin sollte es sein, dieses Europa, hast du gesagt. Freundlich, voller wärme. Eine Mutter für uns alle. Doch stattdessen blickten wir in das hässliche, abweisende Gesicht einer alten, zahnlosen Frau, welche sich, angewidert von unserem Anblick, von uns abwendet.
Viele Hundert Menschen drängten sich mit uns an diesem Zaun. Nicht von jedem verstand ich die Sprache, nur unsere Verzweiflung schenkte uns so etwas wie Gemeinsamkeit.
Ich wurde gestoßen, und umhergezerrt. Ließ mich dann einfach mit der Masse treiben und
irgendwann hatte ich Glück. Wurde mir eine warme Decke, ein Becher mit heißem Tee und etwas zu essen in die Hand gedrückt.
So viele unterschiedliche Gesichter, so viele fremde Worte die ich nicht verstand. So viele fragen, die man mir stellte und deren Sinn ich nicht begriff.
Wann immer mich jemand anschaute, wann immer mir irgendwer seine Hand auf die Schulter oder den Kopf legte, versuchte ich zu lächeln und nach sehr, sehr langer Zeit fühlte ich mich wieder wie damals. Als ich noch in meinem Dorf lebte und fragen stellte und statt einer Antwort nur das
seufzende „Ach Junge, es ist halt Krieg“ zu hören bekam.
******
So lange ist das alles her. Ich habe versucht die Tage, die Wochen, die Monate zu zählen,
vergeblich.
Wann hatte meine Reise begonnen, eine Reise durch ein ganzes Leben.
Ich habe es vergessen.
Manchmal denke ich an Großvater zurück und an seine Worte. Heute weiß ich, dass er nicht
gelogen hatte, als er uns von Europa erzählte, denn in der langen Zeit, die ich nun schon hier bin, habe ich sie manchmal sehen können, diese Göttin, von der Großvater so oft und gerne sprach.
Ich konnte sie erkennen in dem warmen lächeln mancher Menschen, die mir halfen, wenn ich
traurig war, konnte sie sehen in den Händen, die die meinen hielten, wenn Heimweh mich zu
zerreißen drohte und wenn ich auch immer noch nicht die Worte verstehe und selbst die Sprache
beherrsche von all den unbekannten Menschen, so konnte ich sie doch manchmal auch in ihrem klang erkennen.
Und doch habe ich angst, denn ich weiß, auf meiner Wanderung habe ich eine Grenze überschritten.
Als ich den ersten Schritt aus meinem Dorf nahm, war ich auf der Flucht vor Feinden. Als ich den ersten Schritt auf diesen Kontinent tat, war ich für viele selbst zum Feind geworden.
Wo war es, als ich diese Grenze überschritten habe?
Ich verstehe noch immer diese fremde Sprache nicht und doch erahne ich in vielen Gesichtern Hass. Ich sehe ihnen in die Augen und erkenne ihre Ablehnung. Ich erblicke Wut und Abscheu und auch wenn die Gesichter andere sind, die Augen dieser Menschen sind dieselben, wie die der fremden Männer, die in unser Dorf kamen und meine Schwester aus dem Haus zerrten.
Manchmal drehe ich mich um. Starre in eine der dunklen Ecken meines kleinen Zimmers und dann, wenn ich die Dunkelheit durchdrungen habe, sehe ich ganz weit dort hinten diesen kleinen Hafen. Sehe meine Mutter, meine Schwester und meinen Vater.
Heimlich winke ich ihnen dann zu und kann wieder die Stimme meines Vaters hören: „Du bist stark mein Junge, Du wirst es schaffen!“
„Ja!“, möchte ich dann schreien „Ja, ich bin stark. Ich werde es schaffen!“
Irgendwann einmal werde ich all diese Menschen vielleicht verstehen. Irgendwann werde ich ihre Sprache erlernt haben und wenn es auch nur dazu dient, ihnen sagen zu können „Ich bin nicht euer Feind!“ Und vielleicht, ja vielleicht werden sie mir dann zuhören und beginnen, auch mich zu
verstehen.
Inschallah, so Gott will!
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2016
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