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Bonjour mon Fils

 

 

 

Burkina Faso, Westafrika.

Die Erinnerung an mein dortiges Leben spiegelt sich in so vielem wieder. In meiner Frau, meinem Sohn. In unseren gemeinsamen Freundschaften, in den vielen Kontakten die wir nach dorthin

haben.

Aber auch in all meinen Erzählungen und kleinen Geschichten und wenn mich jemand fragt: "Wie war es dort, wie sah Dein Leben damals aus?", dann plappere ich los, ohne Punkt, ohne Komma, voller Begeisterung, aber auch voller Liebe zu diesem Land und seinen Menschen.

So wundert es nicht, dass ich dann auch oft gefragt werde: "Wenn es so großartig war, warum bist Du dann nicht dortgeblieben, oder zumindest irgendwann dahin zurückgekehrt?"

Als Antwort auf diese Frage erzähle ich dann immer dieselbe Geschichte. So oft habe ich sie schon erzählt und es wundert mich selbst, dass ich sie noch nie aufgeschrieben habe, was ich nun

nachholen möchte.

Es ist die Geschichte eines Tages, den ich am liebsten nie erlebt hätte. Ein Tag, angefüllt mit

Stunden voller Angst, voller Zweifel, voller bitten an einen Gott, an den ich mich zu glauben

weigere.

Es ist die Geschichte eines Tages, der mein Leben veränderte, denn es ist auch die Geschichte

meines Vaterwerdens.

 

 

******

 

 

 

Es waren seine Schreie, die uns aus unserem Schlaf aufschrecken ließen.

Schweißgebadet öffnete ich meine Augen. Es war heiß, heiß und stickig, und das, obwohl der

Morgen noch nicht einmal richtig erwacht war.

Den Tag über brannte die Sonne auf unser kleines Haus nieder. Heizte die Wände und das, mit Wellblech gedeckte Dach auf.

In der Nacht gaben diese dann diese Hitze wieder frei. Vermischten sich mit der Wärme unserer Körper, brachte die Luft um uns zum erlahmen, ließ den Sauerstoff zu einer dicken klumpigen

Masse werden, dessen überlebensnotwendiges Einatmen zu schwerster körperlicher Arbeit wurde.

Die heißeste Zeit in diesem Land und die Zeit, in der die Weißen sterben, so sagten die

Einheimischen, die selbst unter dem glühenden Feuerball litten, der dort oben am Himmel stand und jedes Leben zu verbrennen drohte.

Nein, so schnell stirbt man nicht. Auch nicht die Weißen und doch ahnte ich, wenn viele Weiße, die sich in dieses, vom Tourismus ausgeschlossene Land verirrten, auch mit all dem elend das sie

erblicken mussten, mit hunger und Tod und all den unsäglichen Krankheiten, die um sie herum

wüteten noch fertig wurden. So war es diese, fast unerträgliche Hitze, die sie dann doch noch aus diesem Land flüchten ließen.

Es schien fast, als hätte das Leben selbst seine Existenz aufgegeben.

Pflanzen verdorrten, Tiere magerten zusehends ab, lagen apathisch dort, wo ihre geschwächten

Körper sich geweigert hatten, sie weiterzutragen.

Menschen scharrten sich an den wenigen Schattenplätzen zusammen. Schwiegen und blickten hin und wieder hoffnungsvoll zum Himmel empor. Suchten diesen nach Wolken ab, die es nicht gab und sehnten erwartungsvoll die kommende Nacht herbei, die mit ihrer Dunkelheit wenigstens eine kleine Abkühlung versprach.

Das Land litt und nur ein einziges Lebewesen gab es, das diesen Zustand zu genießen schien.

Die Moskitos, deren stetiges Summen die Luft zum schwirren brachte und die nur darauf warteten auf einen jeden herniederzustürzen, ihren Rüssel durch die Haut zu bohren um einem, Vampiergleich, Blut, Kraft und Energie zu rauben.

Niemand, der schon längere Zeit in diesem Land lebte, wehrte sich noch dagegen. Gegenwehr war zwecklos und kostete nur noch mehr Energie. Jeder unterdrückte das stetige Jucken der Einstiche. Ertrug es in dem Wissen, nur wenige Wochen würde es andauern, dann wären diese aggressiven Tiere wieder verschwunden.

 

Seine Schreie hatten uns aus unserem unruhigem und nur wenig Erholung bietendem Schlaf

aufgeschreckt. Es war meine Frau, die zuerst aufsprang um nach Antoine, unserem zwei Monate

alten Sohn zu schauen, der, in Ermangelung eines Kinderbettes, zwischen uns lag und uns nun mit fiebrig glasigen Augen anschaute.

Schweiß rann in strömen über seinen kleinen Körper und versickerte in den schon feuchten Laken unter ihm.

Kraftloses Röcheln entrang seinen halb geöffneten Lippen, wechselte sich ab mit gellenden

Schmerzensschreien.

Florence, meine Frau, wollte Antoine hochnehmen, doch ihre Berührungen ließen seine Schreie nur noch quälender klingen.

Sie ließ von ihm ab und Angst, Panik und Verzweiflung rannen ihr in dicken Tränen das Gesicht herunter.

“Ralf, was ist mit ihm?” schrie sie mich an und es kostete einige Mühe, sie wenigstens ein wenig zu beruhigen.

Es ist wohl eine besondere Gabe, dass ich in Momenten, in denen andere sich von ihren Emotionen forttragen lassen, ganz besonders ruhig bleibe und niemals die Kontrolle verliere.

Ja, ich befürchte sogar, dass man mein Verhalten dann fälschlicherweise als gefühllos und kalt

einschätzen könnte.

Eine Gabe, die ich nicht antrainiert oder die mich das Leben gelehrt hatte. Die ich wohl schon in die Wiege gelegt bekam und von der ich nicht weiß, ob es nicht ein eher zweifelhaftes Geschenk ist.

Wie dem auch sei, ich blieb ruhig. Beruhigte zuerst meine Frau, so gut mir das gelang. Dann

entfernte ich das Moskitonetz, unter dem wir die Nacht verbracht hatten, und schließlich wandte ich mich unserem Sohn zu.

Als auch meine Berührungen ihm starke Schmerzen zu bereiten schienen, versuchte Florence, mich daran zu hindern und trotzdem gelang es mir, Antoine völlig zu entkleiden.

Langsam, Zentimeter um Zentimeter suchte ich seinen kleinen Körper ab. Aber nein, kein

Schlangen- oder Spinnenbiss, kein Einstich eines Skorpions konnte ich entdecken. Nicht die

kleinste Verletzung. Nur viele kleine Erhebungen auf der Haut - Spuren von Moskitostichen, die uns alle drei, trotz Moskitonetz, in jeder Nacht plagten, waren zu erkennen.

 

Antoine. Ein Zufallsprodukt unserer Liebe. Nie geplant und doch entstanden.

Fast eineinhalb Jahre war ich schon in diesem Land, als ich Florence kennen und lieben lernte.

Die ersten Monate waren die schlimmsten gewesen.

Eine völlig andere Welt, die sich mir da offenbarte. So fern der unseren, so andersartig, dass ich viel Zeit brauchte, um mich einzuleben. Mich daran zu gewöhnen, dass das Leben hier, mit dem Tod Hand in Hand ging. Das Schönheit oft ein hässliches Gesicht trägt und Krankheit, Hunger und Leid die Geschwister von Liebe, Herzlichkeit und Freundschaft waren.

Ich brauchte Zeit und diese Zeit war angefüllt mit mir selbst.

Ich vermisste nichts.

Aber dann, als ich nach Monaten all die Wunder die dieses Land mir vor die Füße legte erkannt

hatte. Als ich Bekanntschaften geknüpft und Freundschaften geschlossen hatte und ich irgendwann begann, mich zu Hause zu fühlen, spürte ich auch, dass ich unter all diesen Menschen alleine war.

Ich begann einsam zu werden, sehnte mich nach Liebe und warmer Haut, nach Augen, die mich

betrachteten und in die ich versinken konnte.

Als Florence und ich uns dann begegneten, war es für mich, als hätte ich das Ziel meiner Suche

erreicht. Als wäre ich nur in dieses Land gekommen, um zu finden.

 

Als sie dann zu mir zog, in das kleine Dorf, in dem ich lebte und arbeitete, wurde das für die

Menschen dort zu dem Gesprächsthema.

Ganz besonders interessant fand man es wohl, über unsere sexuellen Aktivitäten zu spekulieren.

Ich wusste schon lange, dass diese Menschen mit ihrer Sexualität sehr viel offener und natürlicher umgingen, als wir das wohl jemals tun werden.

Sex war so natürlich und überlebensnotwendig wie Essen und Trinken für sie und ich bewunderte diese Menschen für ihre Offenheit. Eine Offenheit, die ich niemals erreichen werde, da ich aus einem Kulturkreis komme und eine Erziehung genossen habe, die mir moralische Grenzen

aufgezwungen hatte, die ich niemals zu überschreiten in der Lage sein werde.

 

Die Menschen diskutierten also über uns und ich gab den Gesprächen immer wieder aufs Neue Zündstoff, indem ich im Dorf Kondome kaufte.

Kondome wurden, aus Familienplanungsgründen, staatlich subventioniert und waren daher für nur wenige Cent in jedem, auch noch so abgelegenem Dorf zu haben.

„Wann und wie oft kauft Ralf Kondome?“ - „Wie und was tut wohl ein Weißer alles so im Bett?“, das waren für die Einheimischen ganz normale Gesprächsthemen, über die ganz offen diskutiert und Getratsch wurde.

Für mich wurde das zu einem überaus peinlichen Spießrutenlaufen und so entschlossen Florence und ich uns dann eines Tages, es einfach darauf ankommen zu lassen, und ließen die Kondome weg.

So ist Antoine entstanden.

 

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich gefühlt habe, als mir Florence sagte, dass sie schwanger sei. Ich kann mich nur noch daran erinnern, was ich nicht empfunden habe - Freude.

Doch ich log. Tat so, als würde ich mich über unser werdendes Kind freuen. Auch als ich meinen Geschwistern und meiner Mutter in Deutschland von dem kommenden Ereignis berichtete, log ich und tat so, als wäre ich darüber überglücklich.

 

Irgendwer erzählte mir, welch ein Wunder es wäre, wenn man sein eigenes Kind nach der Geburt das allererste Mal auf dem Arm hielt.

So wartete ich ab. Hoffte auf den Tag der Geburt, hoffte auf den Moment des ersten Anblicks und der ersten Berührung. Hoffte darauf, dass es sich einstellen würde, dieses Gefühl überwältigenden Glücks.

 

Als Agathe, die einheimische Hebamme und schon seit langer Zeit mehr als das, eine Freundin, mir dann meinen Sohn in die Arme legte, empfand ich nichts. Oder vielleicht fühlte ich doch etwas,

etwas unbestimmtes, aber Glück, Glück war es nicht.

 

In wenigen Monaten musste ich dieses Land verlassen, in das ich alleine gekommen war und indem nun eine Familie auf mich warten würde, in der Hoffnung mir bald folgen zu dürfen.

Was würde mich in Deutschland erwarten?

Würde ich dort Arbeit finden, eine Wohnung für uns alle?

Wie lange würde es dauern, bis meine Familie mir folgen durfte?

Wie wird unser Leben dort aussehen?

Es war ein Leichtes für mich, vor meiner Frau den starken, optimistisch in die Zukunft blickenden Mann zu spielen. Doch in Wirklichkeit machte ich mir Sorgen und je näher meine Abreise kam, je größer wurden diese.

Oft saßen wir zusammen, Florence und ich und ich erzählte ihr von unserem wunderbarem,

kommenden Leben in Deutschland. Erzählte von einer leuchtenden Zukunft, doch in Wahrheit sah ich, wenn ich in die Zukunft schaute, nur ein dunkles, bedrohliches Loch vor mir.

Ich begann an mir selbst zu zweifeln, und wenn ich Antoine auf dem Arm hielt, wenn ich ihn sanft hin und her wiegte oder ihm leise eine Melodie vorsummte, wenn ich in seine Augen blickte, dann fragte ich mich, warum ich keine Liebe für ihn empfinden konnte.

Richard, über den ich in einer anderen Erzählung berichtet habe, hatte dieses kleine, neue Leben mit einer so umwerfenden Begeisterung empfangen. War mit seinem Kinderfahrrad durch das ganze Dorf geradelt und hatte immer und immer wieder „Baby, Baby, Baby!“ gerufen. Warum konnte ich nicht nur ein ganz kleines bisschen von dem in mir spüren, was er in seinem Herzen trug?

 

Und jetzt, jetzt war er krank und ich musste etwas tun.

Es kostete Überwindung, Antoine trotz der Schmerzen, die er bei den Berührungen zu haben schien, hochzunehmen, in ein dünnes Tuch zu wickeln und Florence in die Arme zu legen.

Ich wusste nicht, was er hatte, ich wusste nur, egal was es war, egal was wir auch tun müssten, es musste schnell gehen.

Wir sprangen in mein Auto und ich raste, so schnell es die holprige Piste erlaubte, Richtung Dorf, während Florence neben mir saß und unseren schreienden, weinenden Sohn in den Armen hielt.

Es war noch sehr früh am Morgen und ich wusste, dass wir Agathe zu Hause antreffen würden.

Vor ihrer einfachen Hütte, in der sie mit ihrem Mann lebte, drückte ich mehrmals auf die Hupe und als wir den Wagen verließen, öffnete sich auch schon die Tür und Agathe kam uns entgegen.

Mit wenigen Worten erklärte ich ihr die Situation.

Agathe strich sanft über die heiße Stirn Antoines, der noch immer in den Armen meiner Frau lag. Dann wollte sie ihn an sich nehmen, doch schon bei dem hauch ihrer Berührung, schrie Antoine vor Schmerzen auf.

Sofort ließ sie ihre Hände fahren und gab uns zu verstehen, dass sie nichts tun konnte, dass sie Angst davor hätte etwas falsch zu machen.

Für einen Augenblick verschwand sie in ihrem Haus, nur um sogleich wieder daraus aufzutauchen.

Sie drückte mir einen kleinen, in aller Eile beschrifteten Zettel in die Hand und gab uns die

Anweisung, umgehend nach Boromo zu fahren, einem etwas größeren Ort, als Piela es war, dem Dorf, in dem wir lebten.

Dort in Boromo, etwa 30 km von Piela entfernt, gab es eine kleine Buschklinik und dort würden wir auch einen richtigen Arzt antreffen, der uns sicher weiterhelfen konnte.

Den Zettel sollten wir dort in der Klinik, irgendeinem Pfleger in die Hand drücken. Ein

Empfehlungsschreiben, das uns garantierte, auch wirklich den Arzt sprechen zu können.

Nichts in diesem Land ging einfach nur so, nicht einmal der Besuch eines Arztes.

 

Eine knappe Stunde später standen Florence und ich vor der kleinen Buschklinik und ich war

dankbar für meine weiße Hautfarbe, die sofort Aufmerksamkeit erregte. So mussten wir nur kurz warten, bis der Arzt Zeit für uns hatte.

Ein freundlicher, schon etwas älterer Afrikaner stellte sich als verantwortlicher Arzt vor. Kurz ließ er sich erklären, um was es ging, dann nahm er meiner Frau unseren Sohn aus den Armen. Die Schreie von Antoine schien er dabei zu überhören.

Alles, was dieser Arzt tat, schien sehr professionell zu sein. Seine ruhige Art, wie er Antoine

abtastete, die kurzen und sachlichen Fragen, die er stellte. Er schien genau zu wissen, was er tat und ich fasste sofort Vertrauen zu ihm.

Als er mit seiner Untersuchung fertig war, richtete er sich auf, wandte sich uns zu und fragte, ob unser Sohn gestillt wird, was wir nickend bejahten.

„Es tut mir leid“, sagte er dann, „Aber ich befürchte, ihr Sohn hat Meningitis".

 

Es war, als hätte er mir seine Faust in die Magengrube gerammt. Meningitis, Hirnhautentzündung.

Hier in Afrika bedeutete es das Todesurteil.

Ich weiß nicht, was ich in diesem Moment dachte oder fühlte. Ich war nur froh darüber, dass meine Frau nicht wirklich begriffen zu haben schien, was er da gerade zu uns gesagt hatte.

„Es gibt noch eine kleine Chance“, meinte der Arzt dann beruhigend zu mir und legte mir bei

diesen Worten seine Hand auf den Arm, „vielleicht irre ich mich auch und es ist nicht Meningitis, sondern Malaria. Aber normalerweise sind Säuglinge durch die Muttermilch vor der Malaria

geschützt.“

„Und jetzt?“, fragte ich leise.

„Nur eine labortechnische Untersuchung kann Klarheit darüber verschaffen. Aber diese können wir hier nicht machen. Wir haben hier kein Labor“, antwortete er mir.

„Wo dann?“, fragte ich ihn. Er sah mich an, zuckte dann bedauernd mit der Schulter und sagte: „Ich weiß es nicht“.

Um den Tag zu überstehen, verabreichte er Antoine irgendein Medikament, das ihn ruhigstellen sollte. Dann verabschiedete er uns; „Viel Glück!“

 

Wir rasten zurück nach Piela. Vielleicht wusste Agathe ja, wo wir ein Labor finden würden?

Doch auch sie zuckte ratlos mit der Schulter, bis ihr ein Gedanke kam.

„Vielleicht gab es in Fada `N` Gourma eines“. Fada `N`Gourma, ich war noch nie dort gewesen, wusste aber, dass es ein relativ großer Ort sein musste und in etwa einer Kreisstadt in Deutschland entsprach.

Agathe wusste, dass es dort eine größere Klinik gab, und vielleicht verfügte diese ja, sogar über ein Labor.

Das Problem, von Piela aus gab es keine Straße dorthin. Um auf die Straße nach Fada, wie der Ort von den Einheimischen genannt wurde, zu gelangen, müssten wir erst ein ganzes Stück in die

entgegengesetzte Richtung fahren, was einen Weg von fast 300 km bedeutet hätte.

Doch, so meinte Agathe, es gäbe auch noch eine andere Möglichkeit. Wir könnten über offenes

Gelände fahren und hätten so nur etwa 100 km vor uns.

Der Pickup, den ich hatte, war für das Gelände gebaut und so stellte sich die Frage nicht, welchen Weg wir nehmen würden.

Agathe begleitete uns und so saßen wir zu dritt, eingeengt auf den Vordersitzen und rasten der

Wüste entgegen.

 

100 km unebenes Gelände. 100 km nur roter Sand und wenige, verkümmerte Sträucher und Büsche. 100 km glühende Hitze.

Niemand, der noch niemals 100 km mit dem Auto in Afrika durch offenes Gelände gefahren ist, kann auch nur erahnen, wie unendlich weit 100 km sein können.

 

So viel ging mir durch den Kopf, während ich versuchte, das Fahrzeug in der Spur zu halten. Unterspülungen der letzten Regenzeit auszuweichen, um größere Büsche herum zu manövrieren und die tiefsten Löcher und Unebenheiten zu umschiffen.

 

Das Medikament hatte gewirkt. Antoine lag leise röchelnd in den Armen meiner Frau und schien zu schlafen. Immer wieder schaute ich zu ihm hinüber.

Was, wenn mir nun hier in der Wüste ein Reifen platzte? Ich hatte nur einen Reservereifen dabei, was wenn auch dieser dann irgendwann kaputt gehen würde?

Was, wenn der Motor, hier mitten im Nirgendwo, seinen Geist aufgeben würde?

Was, wenn es am Ende des Weges doch kein Labor gab?

Was, wenn es wirklich Meningitis war?

Was, wenn Antoine jetzt, in den Armen meiner Frau sterben würde?

Ich hatte Angst und ganz plötzlich begriff ich, dass ich Angst um das Leben meines Sohnes hatte und dass es diese Angst nur deshalb gab, weil ich ihn liebte.

 

Es lässt sich nicht beschreiben, dieses Gefühl, dass mich plötzlich übermannte. Es war wie ein

brennen in meiner Brust, dass sich explosionsartig in mir ausbreitete und für einen Moment

verschleierte sich die unendliche Wüste vor meinen Augen.

Ich hatte bis dahin geglaubt, nie mehr weinen zu können, aber in diesem Moment der Erkenntnis, schossen mir Tränen in die Augen, die ich beschämt wegwischte.

 

Damals, irgendwo mitten in der Wüste zwischen Piela und Fada, bin ich Vater geworden.

 

Es war früher Abend, als wir Fada erreichten.

Das Krankenhaus war ein dreistöckiges, ziemlich heruntergekommenes Gebäude.

Wir sprangen aus dem Auto und ich lief voraus, um irgendwo einen Arzt aufzutreiben.

Ich stürzte auf den erstbesten Afrikaner zu, der mir in einem weißen Kittel entgegenkam und

erklärte ihm eilig, was ich wollte.

Er hielt mir seine ausgestreckte Hand entgegen und im ersten Moment dachte ich, er wolle Geld von mir.

Aber er bedeutete mir, dass ich zurück zum Eingang müsste und zuerst einmal, in der kleinen

Wellblechhütte, die dort stand, 500 CFA, etwa 75 Cent, bezahlen müsste. Eine Art Kaution, für die ich dann einen Beleg bekommen würde. Erst mit diesem Beleg in meiner Hand, würde ich auch einen Arzt zu sprechen bekommen.

Ich stürmte zurück, nur um mich wenige Minuten später wieder auf ihn zu stürzen, ihm den Beleg unter die Nase zu halten und jetzt endlich mein Anliegen vorbringen zu dürfen.

 

Ziemlich ungerührt gab er mir zu verstehen, dass er kein Arzt sei, sondern nur Pfleger und wies mit der Hand in Richtung einer Treppe. Dort würde ich irgendwo einen Arzt finden.

Es blieb mir nichts anderes übrig als weiterzustürmen, die Treppe hinauf.

Agathe und Florence, mit Antoine auf dem Arm, folgten mir, so schnell ihnen dieses gelang.

 

Überall lagen Menschen herum. Es gab kaum Betten hier und so waren auf jedem freien Platz

dünne Strohmatten ausgebreitet worden, auf denen stöhnende Menschen lagen.

Kinder, Frauen, Männer. Alte und Junge. Viele trugen notdürftig angelegte Verbände, andere lagen dort mit offenen Wunden, weil das Verbandszeug ausgegangen war, oder man einfach noch nicht dazu gekommen war, sich um sie zu kümmern.

 

Seit vielen Jahren schon war Burkina Faso ein ruhiges Land. Schon lange hatte es hier keinen Krieg mehr gegeben und doch sah es hier so aus, als würden wir mitten in einem Kriegslazarett stehen.

Vorsichtig gingen wir um all die Menschen herum oder, wo dieses nicht möglich war, stiegen

einfach über sie hinweg, bis wir endlich einen Arzt vor uns hatten.

Schnell erklärte ich ihm die Situation und es ist seltsam. Ich kann mich an keines der Gesichter all dieser Menschen erinnern, die hier herumlagen. Nicht einmal an das Gesicht des Arztes kann ich mich noch erinnern und wüsste noch nicht einmal zu sagen, ob er alt oder jung war. Aber ich sehe es noch genau vor mir, wie er auf seine Armbanduhr schaute und weiß noch heute, dass das Glas dieser Uhr gesprungen war.

„Ja, ein Labor haben wir“, meinte er „Aber“, fuhr er fort „Da müssen sie wohl bis morgen warten, heute ist dort sicher keiner mehr“.

Der Blick auf seine Uhr hatte ihm ganz offensichtlich gezeigt, dass schon längst Feierabend war.

Ich bettelte ihn regelrecht an, doch wenigstens einmal nachschauen zu dürfen, ob dort wirklich

niemand mehr war und ich glaube, wieder war es meine weiße Hautfarbe, durch die er sich dazu

bereit erklären ließ.

 

Wir gingen mehrere Treppen hinunter, bis wir in einem dunklen Keller standen.

Hier war die Luft besonders stickig. Draußen waren es an die 50 Grad während es hier unten wohl an die 60 sein mussten.

Der Arzt ging zielstrebig auf eine der Türen zu, von denen es mehrere hier gab und riss diese, ohne anzuklopfen, auf.

Drei junge Männer waren gerade damit beschäftigt, den Boden des Raumes zu wischen. Der uns

begleitende Arzt sprach auf sie ein. In einer Sprache, die ich nicht verstand, von der ich aber

annahm, dass es Moreè sein musste. Fada `N`Gourma war die Hauptstadt der Mossis, eine der über 60 unterschiedlichen Stämmen, die in diesem Land lebten und Moreè war ihre Sprache.

Auch wenn ich kein Wort von dem verstand, was die vier miteinander redeten, konnte ich daran, dass sie immer wieder in meine Richtung blickten, erkennen, dass der Arzt ihnen erklärte, um was es ging.

An ihren unwilligen Gesichtern konnte ich sehen, dass die drei Männer nur wenig erpicht darauf waren, Überstunden machen zu müssen. Dieses Mal war es nicht nur meine Hautfarbe, sondern auch mein Geld, das sie davon überzeugen konnte, es doch zu tun.

Als sie sich endlich bereit erklärten, doch noch länger zu bleiben und für uns diese Untersuchung vorzunehmen, hielt mir wieder einer von ihnen seine ausgestreckte, geöffnete Hand entgegen.

Auch dieses Mal wollte man nicht Geld von mir, sondern erwartete, dass ich eine Spritze zur

Blutabnahme in diese Hand legte.

Eine Spritze, die ich nicht besaß und von der ich auch nicht gewusst hatte, dass ich eine solche hätte mitbringen musste.

Das wenige Material, welches es in diesem Krankenhaus gab, war kostbar und viel zu knapp. Jeder der einer Behandlung bedurfte, musste das dafür nötige medizinische Material selbst mitbringen.

Lange genug war ich schon in diesem Land, eigentlich hätte ich es wissen müssen.

 

Nicht weit von der Klinik gab es eine Apotheke, bedeutete man mir. Dort würde ich bekommen, was nötig war.

Also stürmte ich schon wieder los.

Es war nicht weit und bald schon stand ich vor einer, aus groben Brettern zusammengenagelten Hütte, die, wie fast alle Gebäude in diesem Land, ebenfalls mit Wellblech bedeckt war.

Die Apotheke.

Ich musste mir keine Sorgen darüber machen, dass diese vielleicht ebenfalls schon geschlossen

hätte, denn alle Läden, Werkstätten und was es sonst noch so gab, hatten grundsätzlich 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche geöffnet.

Im Inneren der Apotheke sah es nicht viel anders aus, als es der äußere Anschein erahnen ließ.

Regale aus groben Brettern zusammengenagelt und überladen mit allen möglichen Schachteln,

Plastikröhrchen und Glasbehältern, deren Inhalt einem jeden Kranken Heilung versprach, standen hinter einem wackligen Tisch, der als Ladentheke diente.

Eine freundliche, etwa 40 Jahre alte Frau, die ihre Begeisterung kaum zu unterdrücken vermochte, dass ein Weißer sich in ihren Laden verirrt hatte, fragte mich mit strahlendem lächeln, was sie für mich tun könne.

Zum, ich weiß nicht wievieltem Male wiederholte ich meine Geschichte und bat schließlich um die Spritze.

Zielstrebig griff sie hinter sich und legte mir, als wenn es das selbstverständlichste der Welt wäre, das gewünschte vor mir auf den wackligen Tisch.

Dann nannte sie mir den Preis und ich kramte meine Brieftasche hervor und legte einen 5000 CFA Schein vor sie hin. Etwa 7,50 Euro.

Die Spritze sollte nur wenige Cent kosten, aber kleiner hatte ich es nicht.

Nein, das könne sie nicht wechseln, beteuerte mir die Frau.

Es war mir egal und ich sagte ihr, dass sie den Rest behalten könne, aber auch das wollte sie nicht, denn, so meinte sie, wenn irgendwer diesen Geldschein bei ihr entdecken würde, würde sie noch in den Verdacht geraten, diesen gestohlen zu haben.

Niemand hier in diesem Ort hätte je einen so großen Geldschein besessen und nein, als Diebin

wollte sie auf keinen Fall gelten.

Wieder einmal war es meiner weißen Hautfarbe zu verdanken, dass sie mir die Spritze trotzdem gab.

Sie vertraute mir, oder besser gesagt nicht mir, sondern meiner hellen Haut. Ich könnte ja

irgendwann später vorbeikommen, wenn ich das Geld kleiner hätte und die Spritze bezahlen.

Dankbar lief ich zurück zum Krankenhaus und Gott sei Dank, man hatte tatsächlich auf mich

gewartet und sich nicht einfach davongemacht.

 

Nun hieß es warten.

Die Stunden vergingen. Nie ist die Zeit so elendig langsam verstrichen, wie in diesem stickigen Keller.

Agathe und Florence, immer noch mit Antoine auf ihren Armen, saßen schlafend auf den harten Stühlen und ich, ich saß einfach nur da.

Bestimmt habe ich irgendetwas gedacht, habe irgend etwas gefühlt, aber heute, aus der Erinnerung heraus, ist diese endlose Zeit, die ich dort mit Warten verbrachte, nur ein großes dunkles Nichts.

 

Es musste wohl schon mitten in der Nacht sein, als endlich die Tür zum Labor aufging und einer der jungen Männer auf mich zukam.

Ich sprang auf und schaute ihn an.

Er hielt ein Klemmbrett in seinen Händen. Betrachtete das Blatt Papier, das darauf befestigt war, blätterte dann die Seite um, obwohl er ganz genau wissen musste, dass es nur diese eine Seite gab. Dann schaute er wieder auf das Stück Papier, runzelte dann seine Stirn und spätestens in diesem Moment hätte ich ihn packen und durchschütteln mögen.

Endlich schaute er zu mir auf und sagte „Ihr Sohn hat Malaria".

Malaria, Malaria, Malaria!

Das schönste Wort der Welt!

Malaria. Oh Gott, was war ich dankbar und glücklich, damals in diesem dunklen, stickigen Keller!

 

Noch im Krankenhaus verkaufte man mir die nötigen Medikamente zu deutlich überteuerten

Preisen.

Aber das war mir egal, ich konnte endlich meinen großen Geldschein wechseln und die freundliche Apothekerin bezahlen.

 

Das Erste was wir taten, als wir mitten in der Nacht, aus dem Krankenhaus kamen war, uns

irgendein Restaurant zu suchen.

Schmutzig und mit dem Schweiß des ganzen Tages bedeckt, saßen wir dort an einem Tisch.

Selbst Antoine war irgendwann erwacht und es schien mir, dass er schon gar nicht mehr ganz so krank ausschaute, wie noch vor wenigen Stunden.

Agathe und Florence plapperten munter aufeinander ein und selbst ich, der ich sonst für meine

Ruhe bekannt war, beteiligte mich an diesem fröhlichen Gespräch, während wir hungrig unser

Essen verschlangen.

 

Noch in derselben Nacht machten wir uns auf den Rückweg nach Piela. Dieses Mal aber auf dem langen Weg, denn es war viel zu gefährlich, bei Nacht die Wüste durchqueren zu wollen.

Bald schon saßen die drei schlafend neben mir und eigentlich hätte auch ich, nach diesem

anstrengenden Tag, müde sein müssen. Aber ich war nicht müde, ich war einfach nur glücklich.

 

 

An diesem Tag, der einer der schlimmsten meines Lebens war und doch auch gleichzeitig einer der schönsten, die ich je erleben durfte, bin ich nicht nur Vater geworden, sondern habe auch begriffen, was es heißt, Verantwortung für eine Familie zu haben.

Nie wieder möchte ich einen solchen Tag erleben müssen und niemals darf es meine Schuld sein, dass einem anderen Menschen etwas zustößt.

Deshalb bin ich, sind wir, nie nach Afrika zurückgekehrt.

Antoine ist heute 21 Jahre alt. Von dem damaligen dramatischen Tag hat er natürlich nichts

mitbekommen. Fast ist er schon erwachsen, aber nur fast, denn in vielen Dingen ist er immer noch ein Kind, das man an die Hand nehmen muss, um es zu führen.

Und ich glaube, wie alt er auch werden mag, wie erwachsen er auch irgendwann einmal sein wird. Ein kleines bisschen wird er für mich immer noch der zwei Monate alte Säugling bleiben, der in den Armen seiner Mutter liegt und mich irgendwo dort draußen, mitten in der Wüste, zum Vater machte.

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2016

Alle Rechte vorbehalten

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