Nach einer wahren Begebenheit
1988
"Alexandro, Alexandro, sie überfallen deine Mutter!"
Verwirrt schaut Alexandro in Richtung Fenster, in dem eine transparente Plastikfolie die schon vor Jahren zerbrochene Glasscheibe notdürftig ersetzt und hinter dem das kleine Mädchen steht, dass nun zum wiederholten Male seinen Namen ruft. "Alexandro, Alexandro!"
Überfall?
So wirklich begreift Alexandro nicht, was dieses Mädchen von ihm will und doch, ein Anflug von Angst macht sich in seinem Herzen breit. Mutter, irgendetwas war mit seiner Mutter.
Eilig springt er von der abgewetzten Couch auf, sucht mit seinen nackten Füßen nach den billigen Sandalen und rast, sobald er diese gefunden hat, auch schon los.
Springt aus der Hütte, die ihm und seiner Mutter eine armselige Behausung bot, und stürmt die
Straße hinunter. Vorbei an all den anderen, ebenso ärmlichen Unterkünften. Vorbei auch an den
kleinen Gangstern und Ganoven, die hier in einer der größten Favelas Brasiliens versuchen mit Diebstählen, Betrügereien und Drogenhandel über die Runden zu kommen.
Fast niemand beachtet ihn oder schaut ihm auch nur einen Augenblick hinterher, als er an ihnen vorbei die Straße hinunterläuft. Nur eine der unzähligen Frauen, die hier, in der Dunkelheit der Nacht, dass einzige anboten, was sie besaßen, ihren Körper, wundert sich ein wenig darüber, dass Alexandro ihren Gruß nicht erwidert. War sie doch seine Tante, die Schwester seiner Mutter.
Doch Alexandro hat keinen Blick für diese Menschen. Nimmt auch all den Unrat nicht wahr und selbst der stechende Geruch nach menschlichen Fäkalien dringt heute nicht zu ihm durch.
Er läuft, rennt die dunkle Straße entlang, an deren Ende das Ziel seiner Hast liegt - Der kleine
Laden seiner Mutter.
Es war nicht nur der eilige Lauf, der ihm die Luft zum Atmen nimmt. Es waren nicht nur seine nackten Füße, die in rasendem Tempo die Distanz zwischen ihm und seiner Mutter zurückgelegt hatten und sein Herz zum Rasen und Zerbersten zu bringen drohten.
Etwas war passiert und aus der bedrohlichen Ahnung wurde Gewissheit, als Alexandro schon von weitem sieht, wie viele Menschen sich vor der Baracke, dem Laden seiner Mutter, versammelt
hatten und miteinander tuschelten.
Als Alexandro zu ihnen tritt, wird es still. Einige blicken ihn nur wortlos an, andere wenden sich schweigend von ihm ab.
Wie auf ein stillschweigendes Übereinkommen hin, bilden die Menschen ein Spalier. Mit zitternden Knien geht Alexandro zögernd auf die nur angelehnte Holztür zu, die in das Innere des kleinen
Ladens führt.
Ein schmaler Lichtschein, der von dort drinnen auf die staubige Straße zu seinen Füßen fällt, weist ihm den Weg. Ein Weg, von dem er weiß, dass er ihn zurücklegen muss und vor dem er doch so furchtbare Angst hatte.
Vorsichtig drückt Alexandro die Tür auf und spürte dabei die Blicke der Menschen hinter ihm, die sich fast schmerzhaft in seinen Rücken bohren. Es gab kein Zurück. Nicht in diesem Augenblick, nicht morgen, niemals mehr.
Es ist die Berührung seiner Tante, als diese ihm sanft durch die Haare streicht, die Alexandro als erstes wieder wahrnimmt.
Seine Tante, die ihren angestammten Platz einem der anderen Mädchen überlassen hatte und von ihm unbemerkt, ihm hinterher geeilt war, als er so grußlos an ihr vorbei hastete.
Seine Tante Alena die wenige Minuten nach ihm, den kleinen Laden betrat, während sich draußen die Menge verteilte und die Menschen sich davonmachten, bis nichts mehr daran erinnerte, was vor nur kurzer Zeit hier geschehen war.
Vieles hatte Alena schon in ihrem Leben gesehen. Sie hatte früh begreifen müssen, dass es hier in den Favelas keine Hoffnung gab, weder für sie, noch für sonst irgend jemanden, der dazu verdammt war, hier geboren zu werden.
Sie hatte schon als Kind gelernt, dass Gewalt das einzige Geschäft war, um über den Tag zu
kommen und das ihr als Mädchen nur das zum Leben blieb, was Männer bereit waren, für sie zu
bezahlen.
Als Minderjährige hatte sie noch Schmerz, Abscheu und Ekel empfunden, wenn sich die Männer über sie beugten und ihr mit heftigem Keuchen ihren, nach billigem Fusel stinkenden Atem
entgegenschleuderten, während sie sie nahmen. Doch mit den Jahren hatte sie gelernt, alles von sich abzustreifen. Hatte sie den Widerwillen und mit ihm, jede Illusion auf ein besseres Morgen
Abgestreift, so wie man ein altes, zerschlissenes Hemd ablegt und es für immer vergisst.
Und doch, als sie in den Laden trat und ihren 10-jährigen Neffen erblickte, der fast nackt, nur mit einer dünnen Shorts bekleidet, halb auf dem sterbendem Leib seiner Mutter lag und diesen mit
geschlossenen Augen umklammerte, so als wollte er nicht loslassen, was doch längst schon
verloren war, spürte Alena einen Stich im Herzen, der ihr für einen Augenblick Liebe, Zärtlichkeit und Mitleid aus lange vergessenen Tagen zurückbrachte.
Völlig reglos und mit fest zusammengepressten Lippen ruht der Kopf Alexandros auf der Brust
seiner Mutter, während sich unter dem Leichnam eine Blutlache weiter und weiter ausbreitet und fast schon die Schuhe Alenas berührt. Das Messer, nach der Tat achtlos beiseite geworfen, lag
unmittelbar neben dem leblosen Körper. Auf seiner blutigen Klinge spiegelt sich blitzend das Licht der nackten Glühbirne. Die einzige, spärliche Beleuchtung des Ladens. Auf groteske Weise schön, wirkte das sich auf dem blutigen Stahl brechende Licht, und Alena braucht einen Moment, um sich von dessen Anblick loszulösen.
Dann beugt sie sich herunter, hebt fast zögernd ihre Hand und legt diese sanft auf den Kopf des
Jungen. "Alexandro, Sandro" flüstert sie zärtlich. "Komm mein Junge, du kannst nicht hierbleiben". Dabei zieht sie den Jungen zu sich heran, legte ihm die Arme um den schmalen Körper und beginnt ihn sanft hin und her zu wiegen, während Alexandro noch immer seine Augen geschlossen hält.
Wer es tat?
Wessen Messer es war, dessen Klinge sich in den Leib von Alexandros Mutter bohrte?
Niemand hat es je erfahren.
Das Leben, hier in den Slums von Brasilien ist nicht viel wert.
Welchen wert hätte dann der Tod haben sollen und die Beantwortung nach der Frage nach dem wer und dem warum?
1993
Nein, es war nicht einfach gewesen für Alexandro, hier in dem riesigem Schmelztiegel Rio de
Janeiro Fußzufassen.
Doch wohin hätte er, nach dem Tod seiner Mutter, gehen sollen?
Die Favela war so etwas wie sein zu Hause gewesen. Gangster, Zuhälter, Prostituierte und
Drogenabhängige waren fast schon Familie und doch, nach dem Mord an seiner Mutter gab es dort keinen Platz mehr für ihn.
Er hatte mit der Zeit erlernt, seine Fäuste zu gebrauchen, hatte selbst mit dem Messer umzugehen gelernt und lange schon begriffen, wenn man hier überleben wollte, so griff man nach dem, was man brauchte, ohne zu fragen, ohne zu zögern, ohne Mitleid.
Er hatte sich, nach anfänglicher Ablehnung all der anderen verlorenen Kinder in dieser Stadt,
irgendwann durchgesetzt und war einer von ihnen geworden.
Aber hier gab es keine Freundschaften, keine kameradschaftlichen Gefühle oder Sympathien für den anderen. Jeder war jedermanns Feind. Nur die Not hatte die Kinder zusammenwachsen lassen, denn war man alleine, so ging man unter, doch zusammen, da war man stark und all die Menschen in dieser Stadt, ganz vorne dabei die Kaufleute, denen sie ein Dorn im Auge waren, trauten sich nur sehr selten, gegen sie, die zerlumpten Kinder, vorzugehen.
Den Tag über verbrachten sie auf der Straße, nahmen billige Drogen, lebten von Taschendiebstählen und kleinen Gaunereien oder überfielen die, die noch schwächer waren als sie selbst.
Die Mädchen verkauften ihre Körper und schlossen sich den älteren Jungs an, bezahlten den Schutz, den diese ihnen boten mit lieblosem Sex und dem wenigen Geld, dass ihnen blieb. Denn all zu oft wurden sie um ihren Lohn betrogen, bekamen statt der wenigen Münzen für ihre Dienste, Tritte und Faustschläge.
Für die Nacht rotteten sich die Kinder zusammen, sammelten sich im Zentrum der Stadt und
schliefen, mit ärmlichen Lumpen bedeckt, unter den zahllosen Vordächern der Läden und
Kaufhallen, die am Tag Schutz vor der Sonne boten und nur in der Nacht ganz alleine ihnen
gehörten.
23. Juli 1993
Alexandro schreckt aus dem Schlaf hoch. Gerade als er seine Augen öffnet, um in die Nacht
hineinzublicken, schlägt die Uhr der nahe liegenden Candelaria Kirche 23:45 Uhr.
Irgendetwas war anders als in all den anderen Nächten und doch wusste er nicht zu sagen, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.
Ein beunruhigendes Gefühl macht sich in seinem Magen breit. Alexandro schaut um sich, versucht die ihn umgebende Dunkelheit mit seinen Augen zu durchdringen und doch kann er nichts
entdecken, das irgendwie ungewöhnlich zu sein scheint.
Langsam schließt er seine Augen wieder und kann doch nicht zurück in den Schlaf finden.
Alexandro lauscht den Atemzügen der anderen Kinder, die hier, so wie er, unter dem Vordach eines der größten Kaufhäuser Rio de Janeiros, Schutz vor der Nacht gesucht hatten und nun friedlich neben ihm lagen und schliefen.
Er versucht, das unangenehme Gefühl beiseite zu wischen, schob es gar auf den Hunger und seine Innereien, die nach Nahrung gierten. Seine innere Unruhe widersteht seinen Bemühungen. Sie ließ sich nicht einfach fortwischen und irgendwann begreift er, dass er Angst hat.
Alexandro richtet sich auf, lauscht wieder angestrengt in die Nacht hinein und bevor er sie sieht, hörte er sie.
Das Geräusch der Motoren ihrer Autos klingt zu ihm herüber und einen Augenblick später
durchschneiden die Scheinwerfer mehrerer Wagen die Dunkelheit.
Das quietschen der Reifen, als diese abrupt zum Stoppen gebracht werden, zerreißt die ihn
umgebende Stille. In diesem Augenblick begreift Alexandro, dass es diese Männer waren, welche nun aus ihren Autos drängen und auf sie zustürmen, die ihn um seinen Schlaf gebracht hatten.
Alexandro schreit auf und um ihn herum wird es plötzlich lebendig, als die anderen Kinder, durch seinen Schrei aus dem Schlaf gerissen, hochspringen.
Keiner stellt Fragen. Ihr Leben, hier in dem Moloch der Stadt, hatte sie gelehrt, dass es besser war, weniger zu fragen und stattdessen lieber zu handeln.
Eilig raffen sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, als auch schon die ersten Schüsse durch die Nacht hallen.
Neben Alexandro bricht der erste Junge unter dem einsetzendem Kugelhagel tot zusammen. Schreie aus Angst, Schmerz, Verzweiflung und dem unbedingtem Willen, leben zu wollen, zerfetzen die Dunkelheit.
Blut spritzt auf. Körper fallen getroffen zur Erde. Augen, leblos und starr, blicken in die
Unendlichkeit des Firmaments. Nur wenigen gelingt die Flucht, einer von ihnen ist Alexandro.
Die Nacht vom 23. Juli 1993 ging in die traurige Geschichte Brasiliens ein, als Massaker von
Candelaria.
Für einen Augenblick stockte der Welt der Atem. Einen winzigen Moment lang, nahm die
Menschheit Notiz von ihnen, den verlorenen Kindern Brasiliens, die den Todesschwadronen so wehrlos ausgeliefert waren.
Für den Hauch eines Atemzuges bekamen sie Bedeutung, nur um sogleich wieder vergessen zu
werden.
Wer sie waren, diese Männer, die Jagd auf die Straßenkinder machten? Auch das blieb für immer ungeklärt.
2000
Wer als unbeteiligter Zuschauer hinabblickt auf diese Stadt, auf dieses Land. Wer sie betrachtet,
diese Kinder Brasiliens. Wer zuhörte, als ihr letztes Lachen verklang, sah, wie ihnen die Hoffnung, die Zukunft, die Kindheit geraubt wurde.
Wer dabei war, wie aus 12-jährigen Mädchen Dirnen wurden, die mehr als nur ihren Körper, die ihre Seele verkauften und die mit 20 Jahren schon alte, gebrochene Frauen wurden. Wer zuschaute, wie aus kleinen Jungs erst Diebe, dann Mörder wurden, der wird sich vielleicht wundern, dass trotz alledem, der verlorenen Hoffnung, des nie gelebten Lebens. Trotz verlorener Zukunft, trotz all der erlebten Gewalt noch Träume erwachen können.
Einer dieser Träume gehörte Alexandro.
Er hatte längst andere gefunden, mit denen er durch die Straßen zieht. Mit denen er bettelt und raubt und mit denen er nachts den Schlafplatz teilt, wenn es auch nie wieder der in der Nähe der
Candelaria Kirche sein sollte.
Des Nachts bleibt er meistens abseits all der anderen Kinder und Jugendlichen, mit denen er am Tag dasselbe Schicksal teilte.
Oft schaut er in den Himmel empor und fast schien es den anderen, als würde er dort oben etwas
suchen.
"Was betrachtest du dort?", fragt das dunkelhäutige Mädchen, als sie sich neben ihm nieder ließ.
Alexandro hatte sie nicht kommen hören und ließ es nur unwillig zu, dass sie sich so dicht neben ihn setzte, sodass er sie fast schon berühren konnte.
"Ich schaue nach den Sternen" murmelt er.
"Den Sternen?", bohrt sie weiter.
"Ja, ich muss wissen, ob sie noch da sind" antwortet Alexandro "Und, und ich muss suchen ..."
"Was suchst du denn?", wundert sie sich.
"Meine Mutter" und ohne dass er es eigentlich will, beginnt er diesem unbekannten Mädchen alles zu erzählen. Berichtet von der Favela, von seiner Mutter, die man so grausam ermordet hatte und von seiner Tante Alena, die ihm einst erzählte, dass aus jedem Menschen ein Stern wird, sobald er stirbt.
Das fremde Mädchen hört ihm schweigend zu und rückt, ganz unbemerkt von ihm, noch dichter an ihn heran.
Als Alexandro dann still wird, legt sie ihren Kopf an seine Schulter. Eine Weile schweigt auch sie und gemeinsam schauen sie zum dunklen Nachthimmel empor.
Plötzlich reißt sie einen ihrer Arme empor. Deutet damit irgendwohin, Richtung Firmament und
ruft: "Da, dort ist sie. Das ist deine Mutter!"
"Wo?", fragt er ungläubig, "Welcher Stern ist es?". "Der da!" ruft sie und wedelt wieder mit ihrem Arm in der Luft herum "Ich weiß es ganz genau, der da ist es!"
Nein, Alexandro weiß, dieses fremde Mädchen meint nicht einen bestimmten, den einen ganz
besonderen Stern. Dieses Mädchen will nur seine Traurigkeit vertreiben. Leise lächelnd wendet er sich ihr zu.
Sie schlingt die Arme um ihn, nähert ihr Gesicht dem seinen und als sich ihre Lippen berühren, schließt er die Augen.
Als sich beide voneinander lösen, flüstert sie "Du gehörst jetzt mir. Ich habe deine Mama gefunden, darum gehörst du jetzt mir!"
Ab da gehören sie zusammen, Gabriela und er. Alexandro beginnt zu träumen, glaubt wahrhaftig an eine gemeinsame, glückliche Zukunft.
Dass auch Gabriela nur eines der vielen Tausend Mädchen ist, die sich des Nachts verkauften, schiebt er beiseite. Dass es für sie beide so etwas wie Zukunft nicht gab, auch das will er nicht wahrhaben und als er sie schließlich bat, seine Frau zu werden, brach eine Welt für ihn zusammen, als sie ihm antwortet, dass sie das nicht könne. "Ich kann nicht dir alleine gehören, ich gehöre allen"
War es das, warum er am Nachmittag des 12. Juni 2000 in diesen Bus stieg?
War es ihre abschlägige Antwort oder war es die Verzweiflung darüber, dass Gabriela ihm dadurch bewusst gemacht hatte, was er wirklich war - ein Bettler, ein Dieb, ein Taugenichts, ein Niemand?
Keiner wird es je erfahren.
Auch nicht, woher er den Revolver hatte, als er den Bus der Linie 174 bestieg.
Vielleicht war es Wut, vielleicht Zorn über sein verlorenes Leben. Vielleicht wollte er sich auch nun mit Gewalt das holen, was man ihm so lange verwehrt hatte, die Chance auf ein Morgen, auf ein wenig Glück und die Möglichkeit, doch noch eine Zukunft haben zu dürfen?
Sicher ist wohl nur, das Alexandro mit der Absicht in den Bus stieg, die Fahrgäste zu berauben.
Einer der zusteigenden Passagiere entdeckte jedoch die Waffe unter Alexandros Hemd und konnte die Polizei verständigen, die kurze Zeit später den Bus stoppte.
Doch Alexandro ergab sich nicht. Stattdessen nahm er die Passagiere als Geiseln.
„Nein, ich will niemandem wehtun!“ ruft er immer wieder, als schon bald darauf der Bus von der Polizei umstellt ist, als Presse und TV-Übertragungswagen die Straßen blockieren. Als Hunderte Schaulustige diesem Schauspiel mit gespannter aufmerksam folgen.
„Ich will niemanden töten!“, schreit er aus dem Bus heraus auf die umstehende Menge. Aber er will auch nicht nachgeben. Fordert Waffen, Geld und freies Geleit.
Alexandro läuft nervös in dem Bus auf und ab. Ob er weiß, dass es keine Chance für ihn gibt?
Weiß er, dass er dort draußen keine Freunde hat?
Unruhig und unsicher, mit zusammengepressten Lippen, läuft er den schmalen Gang entlang.
Fuchtelt dabei unentschlossen mit seinem Revolver in der Luft herum.
Dann beugt er sich aus einem der zerbrochenen Fenster des Fahrzeuges, zielt mit der Waffe in
seiner Hand auf eine der umherstehenden Frauen und drückt ab.
Der Knall zerreißt für einen Moment die zum Schneiden angespannte Atmosphäre.
Ein Raunen geht durch die Menge, doch der Schuss traf nicht. Alexandro schoss vorbei, so als
wollte er sagen, „Ich hätte dich töten können, wenn ich es nur gewollt hätte“.
Vier Stunden vergehen. Quälende, schleichende Sekunden und endlich, endlich fasst Alexandro einen Entschluss.
Er zerrt eine der weiblichen Geiseln, die in dem Bus sitzen, hoch. Legt der Frau den Revolver an den Kopf und begibt sich mit ihr zur Tür.
Langsam steigt er die Stufen der kurzen Treppe hinab, den Hals der Frau mit festem Arm
umklammert, die Waffe schussbereit gegen ihre Schläfe gedrückt.
Wieder wird die Menschenansammlung unruhig. Kameras surren, Blitzlichter flammen auf.
Alle Augenpaar sind auf die Frau und Alexandro gerichtet, der nun langsam vorangeht. Sein Blick wirkt ängstlich und angespannt. Seine Lippen sind zu einem schmalen Schlitz zusammengepresst.
Langsam tastet er sich vor. Meter um Meter bringt er zwischen sich und den Bus.
Ein Polizist, der ganz in der Nähe steht, wittert die Gelegenheit. Vorsichtig hebt er seine
Maschinenpistole.
Wieder zerfetzt ein Schuss die angespannte Stille.
Die Frau in Alexandros Armen bricht tot zusammen.
Der Schuss, eigentlich Alexandro gegolten, traf sie mitten ins Gesicht.
Noch während die Frau in seinen Armen zusammensackt, feuert Alexandro drei Schüsse auf sie ab.
Während die Menge auf Alexandro zudrängt, lässt er den Revolver sinken. Steht nur da, ungläubig, bewegungslos. Starr vor Angst.
Polizisten drängen vor, werfen sich auf Alexandro, reißen ihn zu Boden um ihn gleich darauf
wieder hochzuzerren. Sie schleifen ihn zu einem der umstehenden Streifenwagen, dessen Türen sich nur Augenblicke später hinter Alexando schließen.
Der Tod Alexandros wurde nie aufgeklärt. Eine spätere Obduktion ergab, Alexandro ist erstickt.
War es die Rache der Polizisten, die ihn in den Streifenwagen zerrten?
Niemand weiß es.
Alexandro starb am 12. Juni 2000.
Er wurde 22 Jahre alt.
Nachwort
Sollte sie erzählt werden, die Geschichte Alexandros?
Eine Geschichte über eine nie gekannte Kindheit, ein nie gelebtes Leben?
Brasilien ist so weit, ein anderes Land, ein anderer Kontinent und Alexandro, Alexandro ist schon längst vergessen.
Aber ist Brasilien wirklich so weit von uns entfernt?
Liegen die Favelas, die Slums, denn nicht direkt vor unserer Haustür?
In unserem eigenen Land müssen fast 3 Millionen Kinder in Armut leben.
Kinder, deren Gesichter, wir nicht sehen, deren Namen wir nicht kennen wollen.
Kinder, vor deren Existenz wir die Augen schließen.
Die heute noch stumm sind, aber schon morgen eine Stimme haben.
Kinder, die älter werden, aus denen bald schon Erwachsene geworden sein werden und die dann
erkennen, wer ihnen das angetan hat.
Die heute noch Kinder, morgen aber Kläger und Richter sind.
Was, wenn sie uns schuldig sprechen?
Denn wer den Wind sät ...
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2016
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