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Engelstränen

 

 

 

 

Leise lächelnd ging er die Straße entlang. Es war das erste Mal, dass allererste Mal in seinem

Leben, dass er sich so frei, so leicht, so unbeschwert fühlte.

Heute, heute endlich würde er es tun.

 

Die letzten Jahre waren die Hölle gewesen, und wenn er so recht darüber nachdachte, war denn sein ganzes bisheriges Leben nicht eigentlich die Hölle?

Nein, früher einmal, bevor das alles begann, musste es besser gewesen sein, glaubte er sich zu

entsinnen.

Er konnte sich doch daran erinnern, an sein Lachen, an glückliche, fröhliche Tage. Tage, in denen er geglaubt hatte, nichts könnte ihm geschehen und es würde immer so weitergehen.

Aber früher einmal, das war so lange her.

Früher einmal. Da war er noch ein Kind gewesen.

 

Wann hatte es begonnen?

Wann war es das erste Mal, das sie ihn verspottet hatten?

Über ihn lachten, ihn in den Pausen, auf dem Schulhof drangsalierten oder, wenn es für ihn gut lief, einfach nur mieden.

Selbst während des Unterrichts spürte er ihre Häme. Fühlte ihre Ablehnung, den Spott in ihren

Stimmen und die Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten und so weh taten.

Ja, war er sich sicher, selbst seine Lehrer hassten ihn.

Sie mussten es doch merken, wie man sich über ihn lustig machte, wie sie, die anderen, über ihn

redeten. Aber sie taten nichts, schauten weg weil, so glaubte er, sie ihn genauso verabscheuten, wie alle anderen es taten.

 

Und er, er wusste nicht warum.

Wie oft hatte er es sich gefragt.

Warum nur?

Warum hassten ihn alle nur so sehr?

Er hätte es so gerne gewusst, damit er sich hätte ändern können.

Alles anders machen, Freunde finden und einer von ihnen werden.

 

Manchmal hatte er sich zu Hause im Badezimmer eingeschlossen, sich vollständig entkleidet, um sich im Spiegel zu betrachten.

War er hässlich?

Hässlicher als die anderen?

War das der Grund dafür, dass sie ihn nicht mochten?

Er hatte sich betrachtet, seinen Körper mit den Augen abgetastet. Zentimeter für Zentimeter war er an ihm entlanggewandert.

Solange bis er zu erkennen glaubte, dass nichts schönes an ihm war.

 

Wann hatte es begonnen?

War es nicht gleich, mit beginn seines Schuleintrittes gewesen, dass sie ihn mieden?

Oder war es erst später, als er das dritte Schuljahr wiederholen musste und deshalb in eine neue Klasse kam.

Älter als die anderen, größer und eigentlich auch stärker, traute er sich doch nicht, sich gegen sie zur Wehr zu setzen.

"Sitzenbleiber!", riefen sie ihm nach.

"Sitzenbleiber!"

Und er? Er schwieg.

Er war der Neue unter ihnen. Schüchtern und still setzte er sich an seinen zugewiesenen Platz.

Spürte, wie sie ihn heimlich betrachteten, hörte das leise Tuscheln und merkte, wie sie ihn

abzuschätzen, zu taxieren versuchten.

"Sitzenbleiber, Versager, Loser!", riefen sie ihm dann irgendwann nach, als sie sich einig darüber waren, wie er wohl darauf reagieren würde und sich endlich trauten, in dem wissen, er, er würde es sich gefallen lassen.

Ja, er ließ es sich gefallen.

Senkte den Blick, hörte ihre Worte und tat so, als würden sie nicht ihm gelten.

Versuchte seine Ohren taub, seine Augen blind und sein Herz frei von Schmerz zu machen.

Vielleicht hätte er damals noch eine Chance gehabt, sich ihnen entgegenzustellen. Hätte schreien und zuschlagen sollen um dem allem ein Ende zu setzten, bevor es noch so richtig beginnen konnte.

Doch er traute sich nicht, ließ es sich einfach gefallen und schimpfte sich selbst einen Feigling.

Er hatte Angst.

Angst vor ihnen, Angst auch vor seiner eigenen Wut, Angst davor, einem anderem wehzutun.

Angst, bis es irgendwann zu spät war, sich noch zu wehren.

Bis er irgendwann alle gegen sich hatte.

Bis es für ihn keinen Weg zurück mehr gab.

 

Die Zeit verging, er wurde älter und mit ihm wurden auch die anderen älter.

Irgendwann begannen sie ihn nicht nur mehr mit Worten zu verletzten. Schubsten ihn in den Pausen auf dem Schulhof umher. Bildeten einen Kreis um ihn. Stießen ihn hin und her, verhöhnten ihn,

bespuckten ihn gar und irgendwann traf ihn die erste Faust.

 

Ab da gab es keine Ruhe mehr für ihn, ab da, als er sich auch nicht getraute, sich gegen die Schläge zur Wehr zu setzen, lauerten sie ihm selbst außerhalb der Schule auf.

Fuhren spottend mit ihren Rädern an ihm vorbei, spien ihn an, ließen ihre Räder achtlos fallen, um sich dann über ihn herzumachen.

Faustschläge, Tritte, Ohrfeigen.

Ihr Speichel, auf seiner Kleidung, auf seinem Gesicht.

Ihre Worte, die wie Messer waren.

 

Zu Hause erzählte er nichts von alledem.

Er wollte nicht auch zu Hause noch der Versager sein.

Waren seine Verletzungen doch einmal nicht zu verstecken, suchte er nach Ausreden.

Gestolpert, gestürzt, hingefallen.

Und sie, seine Eltern glaubten es.

Ein Tollpatsch eben.

Die wenige male, die er es doch nicht zu vertuschen vermochte, dass sie ihn geschlagen hatten, nahm seine Mutter ihn in die Arme.

Versuchte ihn zu trösten. Sagte ihm, es sei gut das er gegangen war, ohne sich zu wehren.

"Wer Charakter hat, dreht sich um und geht. Man schlägt sich nicht, nur die Dummen tun dieses".

Verstand sie doch nicht, wie weh es in der Seele tat.

 

So oft träumte er davon. Sah sich selbst stark und selbstbewusst, wie er den anderen entgegentrat.

Sah, wie seine eigene Faust hervorschoss, wie diese das Gesicht traf, welches ihn eben noch

hämisch angegrinst hatte, aus dem gerade all die verletzenden Worte hervorgesprudelt waren.

Sah das Blut seines Gegners, blickte in dessen überraschte, ungläubige Augen, die nicht begreifen konnten, dass er endlich kämpfte.

Spürte das Schulterklopfen und hörte die bewunderten Worte der anderen, die ihn gestern noch

gemieden hatten und heute seine Freundschaft suchten.

So oft träumte er vom Sieg und wusste doch, nur die Straße der Verlierer stand ihm offen.

 

Auch Angst war es wohl, die ihn vor wenigen tagen hat mitgehen lassen. Angst Nein zu sagen und die Gewissheit, sie würden ihn ja doch kriegen.

Neulich, zu diesem alten Haus, welches schon längst abgerissen sein sollte, dass aber immer noch stand. Verlassen, eine leere Ruine.

Als ihn die Jungs aufforderten, ihnen zu folgen, traute er sich nicht Nein zu sagen und bald schon standen sie alle unten, vor dem Eingang.

Eine schwere Kette versperrte die Tür, doch oben, gleich im erstem Stock, war ein Fenster

zerbrochen. Sicher eingeworfen, von herumstreunenden, gelangweilten Jungs, wie sie selbst welche waren.

Gemeinsam strichen sie um das Gebäude herum, auf der suche nach einem weiterem Eingang,

vielleicht einem Fenster, in dem das Glas zerborsten war.

 

Beinahe hätten sie die Leiter übersehen.

Gras hatte sie schon fast vollständig überwuchert und beinahe wären sie über sie hinweg gestolpert.

Die Leiter schien alt und im erstem Moment glaubten sie, nicht nur alt, sondern brüchig, morsch und unbrauchbar. Aber schon ein kurzer Blick genügte, um zu wissen, sie würde ausreichen um in den ersten Stock, bis hinauf zu dem zerbrochenem Fenster zu gelangen.

 

Er sollte der erste sein, der hinaufsteigen würde, befahlen sie ihm.

Langsam und vorsichtig erklomm er ängstlich eine Sprosse nach der anderen.

Knarrend und knarzend beschwerten sich diese, als sie sein Gewicht spürten. Aber sie hielten.

Der Geruch nach Staub und feuchter Luft zog ihm in die Nase, als er, oben angekommen, durch das Fenster ins Innere schaute.

Der Boden aus Holz, dessen Bretter sich im laufe der Jahre geworfen hatten.

An den Wänden Schmierereien, wie in Eile darauf gemalte Kritzeleien. Wörter und Sätze in

Fäkalsprache.

Ganz hinten, in einer Ecke des ansonsten leeren Raumes, eine schmutzige Matratze, um die sich herum allerlei Unrat angesammelt hatte - Papier, leere Flaschen, achtlos ausgedrückte

Zigarettenkippen.

 

Von unten kam die Anweisung hineinzuklettern. Sie, die den Befehl gaben, würden ihm schon

folgen. Nur er, er müsste erst einmal drinnen sein.

Er wusste es, doch trotzdem kletterte er durch das zerbrochene Fenster nach innen. Kaum hatte er dort den Fußboden berührt, hörte er ihr Lachen, hörte das schrammende Geräusch, als die Leiter weggezogen wurde. Ja, er hatte es gewusst, sie würden ihn hier alleine lassen wollen und doch war er ihnen gefolgt, war die Sprossen der Leiter hinaufgestiegen und hinein geklettert.

Warum?

Aus Angst und der Unfähigkeit, ihnen widersprechen zu können.

 

Nun stand er hier, in dem baufälligen Gebäude und atmete die nach Moder riechende Luft ein.

Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderem. Traute er den rissigen Fußbodendielen doch nicht und befürchtete, sie könnten unter ihm nachgeben.

Er durchquerte den Raum und gelangte schließlich an eine Treppe, die nach unten führte.

Auch hier morsches, brüchiges Holz, aber was blieb ihm anderes übrig als die Stufen zu betreten, wenn er hinaus wollte?

Vorsichtig mit den Füßen tastend, nahm er eine Stufe nach der anderen und gelangte schließlich

heile unten an.

Ehemals weiße, durch die Jahre, dass alter und den Staub, grau gewordene Türen gingen von hier ab.

Er ging auf die nächstbeste der Türen zu, legte eine Hand auf deren Klinke und drückte diese

nieder.

Nein, verschlossen war sie nicht und so öffnete er sie vollends.

Vor sich sah er eine weitere Treppe, welche ebenfalls nach unten führte.

Fahles Licht fiel von draußen durch die, mit dicker Staubschicht bedeckten Fensterscheiben. Nur schwach konnte er in diesem Licht die Stufen erkennen und trotzdem ging er sie hinunter.

Hier unten war die Luft noch feuchter, roch noch abgestandener als oben.

Er wusste, dass er sich nun im Keller befand.

Hier unten herrschte mehr Schatten als Licht und so tastete er sich langsam an den Wänden entlang.

Dort vorne, ein schwacher Lichtschein aus einem der Räume.

Er folgte diesem und stand nun im Kohlenkeller.

Er schaute um sich. Dort oben, eine kleine Luke, die nach draußen führte. Kein Fenster, kein Gitter versperrte diese. Nur hinaufkommen müsste er, um in die Freiheit zu gelangen.

Suchend schaute er sich um.

In einer Ecke des Raumes lagen noch Reste von Kohlen, daneben einige Holzscheite.

Er müsste nur das Holz unter die Luke stapeln, dachte er, und es würde gewiss ausreichen, um den Rand der kleinen Öffnung mit den Händen erreichen zu können und sich daran hochzuziehen.

Nach und nach nahm er die Scheite, trug diese dorthin, wo die Luke ihm die Freiheit versprach.

Hier stapelte er die Holzstücke an der Wand empor.

 

Beinahe hätte er das kleine Päckchen übersehen.

Unter dem Holzhaufen lag es und zuerst wollte er es mit dem Fuß wegkicken. Aber seine Neugier war stärker, so hob er das, was er gerade fast achtlos beiseitegestoßen hätte, mit den Händen auf.

Ein in dünnes Leinentuch gewickelter Gegenstand.

Vorsichtig wickelte er das wohl ehemals helle, nun aber grau und staubig gewordene Tuch von dem Gegenstand ab. Darunter kam Ölpapier zum Vorschein.

Irgendetwas fiel ihm vor die Füße. Er bückte sich danach. Ein weiteres, noch kleineres Päckchen hielt er in den Händen. Es musste aus dem größerem herausgefallen sein.

Langsam entfernte er zuerst das Papier von dem größerem Ding.

Selbst hier, im fahlem Licht, welches von draußen hereinfiel, konnte er erkennen, was er nun in der Hand hielt.

Noch nie hatte er eine in der Hand gehalten und es wunderte ihn, wie schwer sie war.

Langsam umschloss seine rechte Hand den Griff des Gegenstandes. Es fühlte sich gut an.

Schwarz und glänzend lag die Pistole nun in seiner Hand. Stärke, Glück und ja, Macht durchströmte ihn.

Ein Gefühl, so leicht, wie er es nie zuvor gekannt hatte.

Schnell wickelte er auch das kleinere Päckchen aus und, fast hatte er es geahnt, eine Handvoll

messingglänzernder Patronen kam aus diesem zum Vorschein.

Sein Herz schlug rasend gegen seine Brust. Hatte er jemals etwas ähnlich Schönes in den Händen gehalten?

Vorsichtig, fast zärtlich strich er mit den Fingern über das schwarz glänzende Metall. Andächtig, mit leuchtenden Augen, die selbst die ihn umgebende Dunkelheit nicht zu verbergen mochten,

betrachtete er das, was in seinen Händen lag.

Warum fühlte er sich mit einem Mal so glücklich?

Woher kam diese seltsame Leichtigkeit, die all die erlittene Pein der vergangenen Jahre fast

vergessen machte?

Die Antwort auf diese Fragen kam mit einer Gewissheit, die ihn wie ein heftiger Schlag traf.

`Freiheit! ´, dachte er `Freiheit und Frieden und das Ende aller Schmerzen´ durchfuhr es ihn.

 

 

******

 

 

Nie hat man ihn so glücklich gesehen. Selten ein so leises, sanftes Lächeln erblickt. Selten in Augen geschaut, die so tief und abgründig waren, wie die seinen.

Das würden die wenigen Leute später sagen, die ihm auf seinem kurzem Weg begegneten.

Er sah sie nicht, fühlte nichts, spürte nur den kühlen Stahl unter seiner Jacke.

Er hatte nichts beschlossen, hatte nicht selbst eine Entscheidung gefällt.

Er ging, weil ES wollte, dass er diesen Weg beschritt.

 

So oft hatte er den Schulhof schon betreten und doch war es, als wäre es das erste Mal in seinem Leben.

Er wusste nicht, dass er die Waffe lange schon gezogen hatte, als er durch die große schwere Tür schritt.

Er hörte die Schüsse nicht, nicht die Schreie. Sah die fallenden Körper nicht, roch nicht das

herausströmende Blut.

Erst den Blick in den Lauf der Pistole nahm er wieder war. Spürte dessen Wärme, als er sich diesen an die Schläfe setzte. Hörte das Rauschen, als er in die Dunkelheit fiel.

Tief und Jenseits allen Schmerzes.

 

Waren es die falschen Spiele, die er spielte, die falschen Filme, die er sah?

War es gar Musik, die ihm den Kopf verdrehte?

Es waren falsche Worte, falsche Taten, dass falsche Leben, welches ihn zum Täter machten.

Es war der Schmerz in seinem Herzen, das brechen seiner Seele, die Qual Tag ein, Tag aus, die ihn zum Opfer werden ließen.

Auch Engel können Weinen, Tränen rot wie Blut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat/Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2016

Alle Rechte vorbehalten

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