Es kam wohl nicht von ungefähr, dass sie vor uns stand und uns diese seltsame Frage stellte.
„Hat schon einmal von euch einen anderen gehasst?“ Wir schauten uns an, zuckten mit den
Schultern, schüttelten die Köpfe, nein, Hass, was ist das?
Seit Wochen wurde von nichts anderem berichtet. Die Zeitungen waren voll davon. Im Fernsehen gab es ständig Sondersendungen und Dokumentationen: „Die Flüchtlinge werden immer mehr, ein Strom, der nicht abreißen will. Eine Million sollten es bis jetzt schon sein und noch immer werden es mehr“, hieß es dort.
Anfänglich standen die Einheimischen noch auf den Bahnhöfen. Begrüßten die fremd aussehenden Menschen mit freudigem Lachen. Verteilten Geschenke an die Kinder, die, etwas ängstlich und ob der großen Masse an Menschen eingeschüchtert, diese mit leisem Lächeln und dankbarem Blick entgegennahmen.
Ein Gewirr aus vielen unterschiedlichen Sprachen drang da von den Bildschirmen in unsere
Wohnzimmer. Bahnhöfe voll von Menschen, unterschiedlichen Aussehens, die dort aus den Zügen kletterten und fast verlegen wirkten, wie sie da so auf den Bahnsteigen standen, kein Wort der ihnen unbekannten Sprache verstanden und nicht wussten, wie es jetzt mit ihnen weitergehen würde.
Nur das eine begriffen sie sofort - sie waren Willkommen, wurden herzlich aufgenommen und von so vielen mit Wärme und einem Lächeln empfangen. Dieses, so begriff auch ich, bedarf keiner Sprachkenntnisse.
Freude, Lachen, ein freundlicher Händedruck und das Gefühl, endlich angekommen zu sein, ist in jeder Sprache gleich. Dafür bedarf es keiner Worte. Ein Blick in die lächelnden Augen des anderen genügte.
Ein Wort machte die runde „Willkommenskultur“ und alle, wir, die Deutschen wohl am meisten, waren darüber überrascht, passte diese Herzlichkeit doch irgendwie so gar nicht zu uns, den kühlen und sonst immer distanzierten Menschen in unserem Land. Viele fühlten sich sogar erinnert an die Bilder des Mauerfalls, vor nun mehr als fünfundzwanzig Jahren.
Aber dann stahl sich etwas ein. Begann das Klima zu verseuchen. Wie ein Virus breitete es sich aus. Schleichend, still und heimlich griff es um sich.
Plötzlich sah man Menschen, die auf die Straße gingen, Plakate mit Parolen schwangen und immer wieder schrien „Ausländer raus!“ Selbst einige von der Presse stimmten ein, in diesen Kanon aus Feindseligkeit. „Ein Asylant bekommt im Monat höhere finanzielle Zuwendungen, als eine Familie mit vier Kindern“, hieß es da. Oder: „Der Kriminalitätsanteil unter den Ausländern ist dreimal so hoch, wie unter Deutschen“ und: „Zwölfjähriges Mädchen von mehreren Asylanten vergewaltigt“. Diese und viele weitere Schlagzeilen sprangen uns von den Titelseiten entgegen. Schlagzeilen, die sich, bei näherer Betrachtung, schnell als Lügen entlarven ließen. Und als wenn das alles noch nicht schlimm genug wäre, gab es auch Gerede. Viele wollten etwas gehört haben, von Ausländern,
insbesondere Flüchtlingen, die hier und dort stahlen, prügelten, vergewaltigten, mordeten. Vieles davon angeblich im Namen Allahs.
Alles Lügen!
Auch diese waren schnell als solche zu entlarven und doch, viele nahmen all das dankbar auf.
Sogen es in sich hinein und sahen es als Bestätigung ihrer eigenen Feindseligkeit allem Fremden gegenüber.
Hatten sie doch immer schon gewusst das …
So griff der Virus um sich, steckte an, verteilte sich weiter. Machte sich in den Hirnen breit und
explodierte in Wut.
Jetzt verging kein Tag, an dem nicht von brennenden Flüchtlingsunterkünften berichtet wurde. Über siebenhundert Brandanschläge, alleine in diesem Jahr. Wie viele werden es bis Jahresende sein?
Nein, selbst vor unseren Politikern machte dieser Virus nicht halt. Neben „Wir schaffen das!“
wurden immer mehr Stimmen laut, die nach einer Obergrenze schrien.
Eine Obergrenze für die Würde des Menschen?
Viele stimmten auch in dieses Lied mit ein und doch, keiner traute sich zu sagen, was denn
geschehen solle, wenn diese Obergrenze erreicht sei.
Sollen wir dann schießen?
Den Grenzübergang mit tödlichen Kugeln schützen?
Wer wirft den ersten Stein?
Minenfelder anlegen, Selbstschussanlagen, Stacheldraht?
Wieder wurden wir erinnert.
An eine Zeit, längst vergangen geglaubt.
Eine Zeit vor dem Mauerfall.
Ich verstand das alles nicht und wenn ich Fragen stellte, hieß es nur „Du bist mit Deinen zehn
Jahren noch zu klein, um es zu verstehen“.
Ich sah die Wohncontainer, die man eilig am Rande unserer Stadt aufgestellt hatte und wusste, dort lebten nun Menschen, die geflüchtet waren. Geflüchtet vor Krieg, Hunger und Terror. Aber ich
verstand nicht, warum man all diesen Fremden, dieses nun übel zu nehmen schien, dass sie in
Frieden leben möchten. Ein besseres, schöneres Leben haben wollten, als das, welches sie hinter sich ließen.
War ich wirklich noch zu klein, um all das zu verstehen?
Und nun stand unsere Lehrerin vor uns und stellte diese seltsame Frage „Hat einer von euch schon jemals einen anderen gehasst?“
Ja, wir alle kannten das Wort, ahnten seine Bedeutung, aber empfunden, so wirklich Hass
empfunden hatte wohl noch nie einer von uns und so schüttelten wir alle nur unsere Köpfe.
„Nun, dann stelle ich euch eine andere Frage“, setzte unsere Lehrerin fort. „Was ist Hass
eigentlich?“
Es gab Dinge, die ich nicht mochte, Hausaufgaben zum Beispiel oder in der Schule still sitzen zu müssen, und manchmal sagte ich auch „Ich hasse das!“ aber wirklichen Hass habe ich nie gefühlt. Sicher hat diese komische Frage irgendetwas mit Weihnachten zu tun, dachte ich und fühlte mich ein wenig unbehaglich, dass ich auf eine, doch eigentlich so einfache Frage, keine Antwort geben konnte. Ich versuchte mich, hinter meiner Schulbank ein wenig kleiner zu machen, befürchtete ich doch, dass sie ausgerechnet mich aufrufen würde, um diese Frage zu beantworten.
Heimlich schielte ich zu meinen Freunden hinüber, aber Ali, David, Kurt und Alexis drückten sich genau wie ich in ihren Bänken herum und wussten augenscheinlich ebenfalls keine Antwort. Auch der Rest der Klasse blieb ruhig und außer leisem Räuspern und dem Knistern von Papier war es still in der Klasse.
Seltsam, aber ganz gegen ihre Gewohnheit, zeigte unsere Lehrerin nicht die Spur von Verärgerung darüber, dass ihre Frage unbeantwortet blieb. Ganz im Gegenteil, mir schien es, als würde ein leises Lächeln über ihr Gesicht huschen, als sie da so vor uns auf und ab schritt.
Dann begann sie zu erzählen. Berichtete von den vielen unterschiedlichen Ländern, die es auf der Welt gab. Von unterschiedlichen Kulturen, Festen und Gebräuchen und darüber das wir, je nachdem aus welchem Teil der Erde wir stammen würden, alle ein wenig anders aussehen, ganz tief in unserem Inneren aber alle gleich wären. Wir alle dieselben Wünsche, Träume und Sehnsüchte in uns haben, wie alle Menschen der Welt sie mit sich herumtragen. Ja, dass selbst die
unterschiedlichen Religionen uns nicht trennen würden, sondern uns erst zu einer Gemeinschaft werden ließen.
Während sie so erzählte und die Klasse gebannt ihren Worten lauschte, betrachtete ich heimlich meine Freunde.
Komisch, bis jetzt war es mir nie aufgefallen, dass an meinen Freunden irgendetwas anders sein sollte als an mir. Klar, Ali kam aus der Türkei, das wusste ich schon und Alexis war eigentlich
Grieche. David war Jude, Kurt war Christ und ich, na ja, ich war halt einfach ich, aber anders war niemand von uns.
ch war froh, dass die Schulstunde vorüberging, ohne dass unsere Lehrerin ihre seltsame Frage noch einmal wiederholte, sondern uns bat, am nächsten Tag das Buch mit in die Schule zu bringen, das für unsere jeweilige Religion am wichtigsten wäre, bevor wir dann, alle gemeinsam, in der Schulaula den Weihnachtsbaum schmücken würden.
Und tatsächlich, am nächsten Tag kam jeder meiner Klassenkameraden mit einem dicken Buch unter dem Arm zur Schule.
Ali legte den Koran vor sich auf den Tisch. David den Talmud, Kurt und Alexis hatten die Bibel
dabei und ich, nun ja, ich hatte, um nicht ganz ohne etwas zu kommen und weil mir nichts besseres einfiel, ein paar meiner Comichefte unter den Arm geklemmt.
Auf jedem Tisch lagen schon bald dicke Bücher, zum Teil wunderschön in schwarzem, braunem oder rotem Leder eingebunden und mit goldenen Lettern beschriftet, so das ich mir mit all meinen Comics schon ein wenig komisch vorkam.
Unsere Lehrerin ging wortlos durch die Reihen der Tische, betrachtete hier und dort ein besonders schönes Buch und nahm auch das eine oder andere zur Hand, um darin ein wenig herumzublättern, bevor sie ihren Weg durch die Klasse fortsetzte.
Schließlich nahm sie Alis Koran an sich, den Talmud von David, die Bibel von Alexis und ja, sogar eines meiner Comichefte nahm sie an sich und verschwand damit zum Lehrerpult.
Alle drei Bücher und mein bescheiden dünnes Heftchen, breitete sie vor sich auf dem Pult aus. Dann hob sie nacheinander eines der drei Bücher auf und zeigte sie der Klasse.
„Bald feiern wir Weihnachten, die Geburt Jesu“, sagte sie dabei.
Ich hatte es ja gewusst, irgendetwas musste das alles mit Weihnachten zu tun haben.
„Und wisst ihr, was alle diese Bücher gemeinsam haben?“
Doch auch auf diese Frage bekam sie keine Antwort und so setzte sie ihren Monolog fort: „In all diesen Büchern wird über Jesus berichtet, nicht immer hat er dieselbe Rolle, wie er es in der Bibel hat, aber immer ist er Prophet und Gesandter Gottes“.
Nein, das hatte wohl keiner von uns gewusst.
Lächelnd setzte unsere Lehrerin fort: „Ja, und nicht nur das, in all diesen unterschiedlichen Büchern geht es eigentlich immer um dieselben Dinge. Um die Regeln unseres Zusammenlebens. Um Menschlichkeit und Nächstenliebe und darum, wie unterschiedlich wir auch sein mögen, unsere Seelen alle den gleichen Wert haben“. Dann legte sie die Bücher beiseite und griff zu meinem
Comicheft und zeigte auch dieses der Klasse „Selbst dieser Comic hat etwas mit den Büchern
gemeinsam“ setzte sie an und schaute dabei lächelnd in meine Richtung, während ich spürte, dass ich rot zu werden begann und froh war, als sie sich endlich wieder der Klasse zuwendete. „Geht es darin nicht um einen Superhelden?“, fragte sie weiter.
Ein bejahendes Nicken ging durch den Klassenraum „Und ist dieser Held nicht jemand, von dem wir uns Hilfe erhoffen, wenn wir selbst am hilflosesten sind?“, mehr als Feststellung, denn als
wirkliche Frage gedacht, denn ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort „Dasselbe steht auch in all euren anderen Büchern, egal ob es nun die Bibel, der Koran oder der Talmud ist, es ist eine Art Versprechen, welches uns Menschen, allen Menschen, gegeben wurde. Irgendwo wird es immer
jemanden geben, der da ist für uns. Der uns hilft weil er uns liebt, ohne dafür etwas von uns zu
verlangen. Was Hass ist? Hass ist die Liebe, die man sich weigert anzunehmen. Hass ist die Liebe, an der man gescheitert ist.“
******
Eine seltsame Schulstunde, die wir da hinter uns gebracht hatten. Nun aber durften wir endlich in der Aula den Weihnachtsbaum schmücken. Die ganze Adventszeit würde er in der Schulaula stehen und an jedem Morgen, kurz vor Unterrichtsbeginn, bis zum beginn der Weihnachtsferien, würden sich alle Schüler und Lehrer in dem großem Saal einfinden, um einige Minuten miteinander zu
verbringen und in denen Weihnachtslieder gesungen oder Gedichte vorgetragen wurden. In den
wenigen Minuten des Zusammenseins würde jeder von uns spüren können, dass diese
Vorweihnachtszeit etwas ganz besonderes an sich hatte. Auch diese ein Versprechen war, wie
unsere Lehrerin es vor wenigen Minuten gesagt hatte.
Der Hausmeister hatte die mannshohe Tanne schon vor ein paar Tagen aufgestellt. Auch all der
bunte und glitzernde Baumschmuck stand schon in großen Kartons bereit und wartete nur darauf, seinen Platz an dem Baum zu finden.
Fröhlich schnatternd machten wir uns daran, all die Kartons auszupacken, und nach und nach
verwandelte sich die Tanne in ein leuchtendes, glitzerndes Weihnachtswunder.
Schon bald lagen leere Kartons achtlos auf dem Boden der Aula verstreut herum oder stapelten sich in irgendeiner Ecke übereinander. Die letzte Weihnachtskugel, der letzte Weihnachtsstern prangte endlich zwischen all den grünen Nadeln. Manch arg dünner Zweig bog sich ächzend, durch all das Gewicht, dem Boden entgegen und schien doch zufrieden und stolz mit all seiner Pracht. So wie auch wir zufrieden und stolz waren über unser Werk.
Um unsere Leistung angemessen beurteilen zu können, entfernten wir uns ein paar Schritte von dem Baum.
Ja, da stand er vor uns. Glitzerte, leuchtete, nein, er strahlte uns entgegen und versprühte den Hauch der Vorweihnachtsfreude.
'Wunderschön', dachte ich, als ich auch schon Kurts Ellbogen in meinen Rippen spürte.
„Was ist?“, flüsterte ich ihm zu, denn irgendwie schien es mir in diesem Moment unangemessen, laut und empört herauszuplatzen.
„Schau, da oben!“ Kurt deutete dabei direkt auf die vor uns stehende Tanne oder nein, besser gesagt auf deren Spitze.
„Oh Mist!“, raunzte ich, denn nun hatte ich es auch gesehen. Wir hatten das wichtigste Teil
überhaupt vergessen.
Die Spitze des Weihnachtsbaums fehlte!
Diese musste noch irgendwo in einem der zahlreichen Kartons herumliegen.
Niemand von uns hatte daran gedacht. Selbst unserer Lehrerin war das Fehlen der Spitze bis jetzt nicht aufgefallen.
Geschwind machten wir uns daran, die wahllos herumliegenden großen und kleinen Kartons zu durchstöbern.
„Ich hab sie!“, triumphierend schwang Alexis die rotglänzende, aus dünnem Glas gefertigte
Weihnachtsbaumspitze über seinem Kopf hin und her. Fast schon hatte ich Angst, er würde sie
zerbrechen, noch bevor wir sie auf dem Baum befestigt hatten.
Nun, die Spitze hatten wir gefunden, doch schon standen wir vor dem nächsten Problem. Keiner von uns war auch nur annähernd so groß, als das es jemandem von uns gelingen könnte, die Spitze anzubringen. Selbst unsere Lehrerin versuchte es vergeblich.
Doch da hatte David die rettende Idee.
Schnell holte er seinen Talmud und legte diesen unter die Tanne. Schon hatten wir begriffen, ohne das Worte dafür gewechselt werden mussten.
Ali lief los, kam mit seinem Koran wieder und legte diesen auf den Talmud, schließlich landeten auch Kurts und Alexis Bibel auf dem Stapel und ja, selbst meine Comichefte taten ihr Übriges, um die Spitze des Baums für uns erreichbar zu machen.
Schließlich, weil er sie gefunden hatte, durfte Alexis auf den Stapel steigen, während wir anderen ihn gemeinsam festhielten, damit er nicht das Gleichgewicht verlor und doch noch die
Weihnachtsbaumspitze zerbrach, und er steckte ganz vorsichtig das zerbrechliche Glaskunstwerk ganz oben auf den Baum.
Endlich, endlich hatten wir es geschafft!
Unsere Lehrerin sah uns zu, und als die filigrane Spitze oben auf dem Baum prangte und ihre Pracht von dort auf uns alle herunter strahlte, deutete sie lächelnd auf den Stapel Bücher, den wir gemeinsam gebaut hatten, um etwas zu erreichen, was bis dahin unmöglich für uns schien „In Worten habe ich versucht, euch zu erklären, was ihr doch längst schon wusstet".
Niemand wird mit Hass auf andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ethnischen Herkunft oder
Religion geboren.
Hass wird gelernt.
Und wenn man Hass lernen kann, kann man auch lernen zu lieben.
Denn Liebe ist ein viel natürlicheres Empfinden im Herzen eines Menschen als ihr Gegenteil.
Nelson Mandela
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2016
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