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Nachgetragene Liebe

 

 

 

Schon einmal habe ich über dich geschrieben. So lang schon ist das her. Ich muss damals wohl etwa 24 Jahre alt gewesen sein, als ich versuchte, das, was ich für dich empfand und immer noch empfinde, in Worte zu fassen.

Nun sitze ich wieder hier. Schreibe über dich, versuche, die richtigen Worte zu finden, und zweifel doch, dass mir dieses wirklich gelingen wird.

 

Wir waren uns so ähnlich, sehr viel ähnlicher, als Mutter es je wahrhaben wollte. Du und ich, wir hatten beide denselben, leicht vorgebeugten Gang. Besaßen die gleiche Schlagfertigkeit, die die Menschen in unserer Umgebung oft verwunderte, immer aber zu Heiterkeitsausbrüchen verleitete. Waren wir beide doch eigentlich für unsere Ruhe und Gelassenheit bekannt.

Wir wurden auch beide oft Opfer unserer Gutmütigkeit, die uns das ‘Nein‘ sagen so schwer, fast unmöglich machte und die häufig von anderen ausgenutzt wurde. Ja, sogar denselben Tag unserer Geburt, den achtzehnten Oktober, haben wir uns ausgesucht, um auf die Welt zu kommen.

In so vielen Dingen waren wir uns gleich, und trotzdem waren wir so unterschiedlich, wie es zwei Menschen nur sein können.

 

Nie haben Worte zwischen uns eine Bedeutung gehabt. An so viele Dinge kann ich mich erinnern, wenn ich an dich zurückdenke. Doch an gemeinsame Gespräche entsinne ich mich nicht. Wie ich, warst auch du niemand, der gerne viele Worte verliert. So waren es Gesten und Taten, die uns zusammenschmiedeten und das Fundament für unsere Liebe bildeten.

 

Ich entsinne mich, dass du es warst, der mir mein erstes, eigenes Werkzeug schenkte und mir damit meine Leidenschaft für das Schaffen mit eigenen Händen übergab. Ein kleiner Junge war ich damals noch, als ich mit staunenden Augen, all die wunderbaren Gerätschaften erblickte. Viele von ihnen wusste ich nicht einmal beim Namen zu nennen.

Geduldig zeigtest du mir, wie diese gehandhabt wurden und als ich dir das erste Mal meine, noch mit ungeschickter Hand aus Holzabfällen angefertigte Bastelei vorführte, legtest du mir deine Hand auf die Schulter, lächeltest mich an und beteuertest, noch nie zuvor etwas so Wundervolles gesehen zu haben.

Stolz und glücklich machtest du mich damit und selbst heute, wenn wieder einmal etwas nicht ganz so gelingt wie gewollt, denke ich an diesen Augenblick zurück und weiß, dass es nicht immer die Perfektion ist, die aus selbst geschaffenem etwas besonderes macht.

 

Immer wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass du Stolz auf mich bist. Immer blickte ich zu dir hoch und wollte so sein wie du.

 

Wenn du mit dem schweren Einachspflug die Felder unserer Erdbeerplantage umpflügtest, dann lief ich hinter dir her. Das eine Bein immer im Graben, den die frisch aufgeworfene Erde hinterließ und das andere fest auf den noch harten, unbehandelten schwarzen Boden gestemmt, humpelte ich dicht hinter dir. Immer bemüht, den gleichen abstand zu dir einzuhalten. Oft über Stunden, nur um dir nahe zu sein.

 

In den langen Wintern zogen wir gemeinsam in den Wald, den schweren Handwagen hinter uns herziehend. Zu der Zeit wurde unser Haus noch ausschließlich mit Holz beheizt. Die Winter waren angefüllt mit dem Fällen von Bäumen, dem Sägen und Hacken von Holz, sodass immer ein ausreichender Vorrat an Brennmaterial im kleinen Schuppen hinter dem Haus lag.

Die Hände auf dem Rücken, den Griff der Deichsel fest umfassend, stemmten wir uns gegen das Gewicht des Handwagens. Hinter uns, im Schnee, verloren sich unsere Spuren in der weite der Landschaft. Gleichmäßig und parallel zueinander, die Abdrücke der Reifen des Wagens in die weiße Pracht gedrückt. Die anderen unregelmäßig in den Schnee gestampft. Die eine groß und schwer, daneben meine. Klein und immer zwei, wo deine, weit ausholenden Schritte, nur eine hinterließ.

In der klirrenden Kälte wurde unser Atem zu weißen Wolken aus Dampf, die hinauf in den Himmel stiegen und sich dort, weit oberhalb unserer Köpfe, zu einer einzigen vereinte, um sich dann zwischen dem Geäst der Bäume zu verlieren.

Oft ging mein Atem stoßweise und brannte in der Lunge. Die Anstrengung ließ mich die Kälte vergessen und Schweiß über mein Gesicht strömen. Doch wann auch immer du mich aufgefordert hattest, mich auf den Handwagen zu setzen, um mich zusammen mit dem schweren Holz durch den Wald und über die unebenen Wege zu ziehen, lehnte ich ab. In nichts wollte ich dir nachstehen, wollte so sein wie du und niemals Schwäche zeigen.

 

Ich erinnere mich an die Weihnachtsabende, an denen du das große, schwere Buch hervorholtest, das Oma, deine Mutter, kunstfertig mit einem farbigen, selbst gestickten Umschlag verziert hatte und dir auf den Schoss legtest.

Immer war es dieselbe Seite, die du dann aufklapptest und vorzulesen begannst, während wir Kinder zu deinen Füßen auf dem Fußboden hockten und deiner ruhigen, uns alles andere vergessen machenden Stimme lauschten: "Und es begab sich aber zu der Zeit…"

 

Mir fällt da auch der eine, ganz bestimmte 24. Dezember ein. Es war schon Nachmittag und draußen begann es allmählich dunkel zu werden. Wie jedes Jahr zu Heiligabend war es an dir, den Christbaum aufzustellen, ihn zu schmücken, mit festlich leuchtenden Kerzen zu bestücken, um ihn dann unserer Mutter zur Begutachtung vorzuführen, die durch ihre Sehbehinderung nicht selbst beim Schmücken teilhaben konnte.

Wie du beim Aufstellen der Tanne feststelltest, war sie für unser Wohnzimmer etwas zu groß geraten. Eine Säge ward schnell besorgt und ruck zuck fehlte dem einstmals so schön gewachsenen Baum die Spitze. Übrig blieb eine kerzengerade Säule, die, ihrer Schönheit für immer beraubt, nun einen recht traurigen Anblick bot.

Auch Mutter blieb dies nicht verborgen und so kam, was kommen musste. Fuchsteufelswild explodierte sie. Machte dir Vorwürfe, hielt dir vor, ihr das ganze Weihnachtsfest verdorben zu haben, drohte gar damit, umgehend das Haus zu verlassen und erst nach den Feiertagen wieder zurückzukehren.

Du, wütend und von Gewissensbissen geplagt, schnapptest dir deine Säge und schworst, nicht ohne einen neuen Baum zurückzukehren. Mutters zweifelnde Worte überhörtest du geflissentlich. Auch ihre Einwände, dass jetzt, am Nachmittag des Heiligen Abends, nirgends mehr ein Weihnachtsbaum aufzutreiben wäre, ließen dich kalt.

Stur schlugst du den Kragen deines Mantels hoch, klemmtest die Säge unter Deinen Arm und gingst aus dem Haus. 20 Minuten später standest du wieder vor der Tür – mit einem ebenso prächtigen Baum, wie der vorherige einer gewesen war. Den fragenden Blicken von uns allen bist du ausgewichen und erst Tage später warst du bereit zu erzählen, woher dieser Baum stammte.

Kurzerhand warst du nämlich zum Marktplatz marschiert und hattest dort die einzige Tanne gefällt, die dort herumstand. Wunderschön in der Mitte eines Beetes, welches sich wiederum genau in der Mitte des Platzes befand. Ob dich dabei jemand beobachtet hat? Wenn ja, niemand aus unserem Dorf hätte dich je verraten. Dir brachte ausnahmslos jeder Respekt, Achtung und vor allen Dingen Freundschaft entgegen.

 

Sehr viel später, als ich alt genug war, um alleine in die kleinen Kneipen unseres Dorfes zu gehen, durfte ich feststellen, es reichte schon, dein Sohn zu sein, um dieselbe Zuneigung zu erfahren.

 

Niemals hast du die Hand gegen mich und meine drei Geschwister erhoben, niemals habe ich auch nur ein böses Wort von dir gehört. Du hast uns niemals geschlagen oder auch nur mit uns geschimpft. Das nicht etwa aus antiautoritärer Überzeugung, sondern wegen deiner Unfähigkeit, uns böse sein zu können.

 

Viele schöne, glückliche und gute Jahre habe ich dir zu verdanken. Eine Kindheit frei von Sorgen und der Gewissheit, nie Einsamkeit oder Angst kennenlernen zu müssen. Weil du immer da warst, als Vater und Freund.

 

Erst als ich zwölf Jahre alt wurde, änderte sich vieles, jäh und unerwartet. Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass das, was damals geschah, unser aller Leben, aber ganz besonders deines, in andere Bahnen lenkte.

 

Unser Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder.

Dein Elternhaus, seit Generationen im Familienbesitz. Für dich viel mehr, als nur Wohnstätte. Für dich waren es deine Vorfahren, die Geschichte deiner Familie, Jahrhunderte alter Legenden und schließlich auch ein Großteil deines eigenen Lebens, das da in Flammen aufging.

Damals war es das erste und einzige Mal, dass ich dich habe weinen sehen.

 

Zu jung, um die Tragweite dieses Unglücks wirklich begreifen zu können, stürzte ich mich in ein aufregendes Abenteuer. Stand ich doch plötzlich im Mittelpunkt. Verwandte, Freunde, Schulkameraden, sie alle rissen sich schlagartig um mich. Ich wurde verwöhnt und von allen umsorgt. Wurde mit Geschenken überhäuft und schlief fast jede Nacht woanders.

Selbst in der Schule zeigte man Nachsicht. Drückte bei schlechten Zensuren auch mal beide Augen zu und ließ mir so manches ungestraft durchgehen.

Nein, nichts hatte ich davon begriffen, was wirklich geschehen war. War ich doch blind durch all die Begehrlichkeiten des Augenblickes, um zu sehen, was mit dir, meinem Vater geschah.

Auch für Mutter war die Zerstörung des gestrigen Lebens schlimm. Nur stand Mutter schon immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Sie war die praktischere und resolutere von euch beiden, und verlor auch in dieser Unglückszeit nie ihre Entschlossenheit. Sie war von uns allen wohl die einzige, die damals verstand, was in dir vorging und dieses Wissen machte ihr angst, wie sie uns später erzählte.

 

Die Zeit verging. Das wenige, was die Flammen von dem Haus, einem altem Fachwerkhaus, noch übrig gelassen hatten, wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Schon bald entstand auf dessen Grundmauern ein neues Gebäude, in das wir einzogen.

 

Du versuchtest wieder der alte zu werden, doch gelang dir das nicht wirklich. Mit den Flammen, die dein Haus zerstört hatten, war auch etwas in deiner Seele verbrannt. Die Jahre verstrichen und du wurdest alt. Viel älter, als es die dahin gegangenen Jahre geboten.

Lange versuchtest du noch, uns etwas vorzumachen. Versuchtest, für uns Kinder wieder der zu werden, der du früher einmal warst.

Doch auch wir wurden älter und hatten längst schon begriffen, dass es für dich keinen Weg zurück ins Gestern gab.

 

Du wurdest noch stiller, als du es sonst schon immer warst. Deine Bewegungen wurden fahriger und das Basteln hattest du schon lange aufgegeben. Deine Hände zitterten zu sehr.

 

Irgendwann einmal habe ich gelesen, wenn Kinder beginnen, mit ihren Eltern Mitleid zu empfinden, dann werden sie erwachsen. Wenn dieses stimmt, dann muss ich wohl sehr früh erwachsen geworden sein.

Ja, ich begann Mitleid mit diesem gebrochenen Mann zu haben. Wie ein Stich durchfuhr es mich, wann immer ich deine, nur noch schattenhafte und tief gebeugte Gestalt sah.

Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit für mich gewesen, mit dir zu reden. Doch waren Worte zwischen uns nie wichtig gewesen. Wir haben nie gelernt, miteinander zu reden.

So blieben wir still, versuchten auch jetzt nur durch taten, die Zuneigung zum anderen zu bekunden - und ist es nicht seltsam: Mit dem Mitleid, welches ich für dich zu empfinden begann, wuchs auch meine Liebe zu dir.

So ruhig und leise, wie du die letzten Jahre deines Lebens verbrachtest, so still war auch dein Abschied.

Dein Tod, den du selbst wähltest, blieb ohne Abschiedsbrief, ohne zu versuchen, mit Worten, etwas zu erklären. Wortlos gingst du dahin, wortlos und Still wie dein Leben es war.

 

Dein Tod hat mich damals nicht erschreckt und tat es auch später nie. Der Selbstmord meines Vaters bedeutete für Mutter das Ende ihrer Stärke. Bedeutete für sie, alleine gelassen worden zu sein, von dem Mann, mit dem sie so viele Jahre denselben Weg gegangen war. Bedeutete aber auch Schuldgefühle, Unverständnis, Ratlosigkeit und Verzweiflung, bis sie schließlich zusammenbrach.

 

Auch meine Geschwister rieben sich auf an ihren Schuldgefühlen und der Unfähigkeit begreifen zu können. Nur ich fühlte mich in all der Zeit wie ein Zuschauer. Empfand nicht, was in meiner Familie vorging.

Eine Zeit lang hatte ich Angst vor mir selbst, weil ich in dem fehlen von Schuld und mangel an trauer, meine eigene kälte zu entdecken glaubte. Viel später erst wurde mir bewusst, dass es nicht mein kaltes Herz war, dass sich diesen Gefühlen verweigerte, sondern das wissen um meinen Vater und seine Seelenqualen.

Es bedurfte keiner Worte, keines Abschiedsbriefes, um mich verstehen zu lassen.

 

Zweiundzwanzig Jahre war ich alt, als du dich heimlich davon geschlichen hast. Als du mir die Bürde auf die Schultern legtest, mich nun alleine um die Familie zu kümmern. Eine Last, an der ich fast selbst zerbrochen wäre, die für mich aber auch die letzten Schritte zum erwachsenwerden bedeuteten.

 

So wenig haben wir miteinander geredet.

So viele Fragen hätte ich noch an dich gehabt.

Und doch, würdest du jetzt neben mir sitzen, nicht eine würde ich dir stellen.

Würde dich nur ansehen und lächeln.

Vielleicht würde ich meine Hand auf die deine legen, würde die Wärme fühlen, die von ihr ausgeht und spüren, wie diese aufhört zu zittern.

Keinen Tag möchte ich missen von der kurzen Zeit, die wir uns kannten.

Nichts, was ich tat, gab mir Grund, zu bereuen.

Nur eines hätte ich gern noch getan, bevor du gingst: Dir nur ein einziges Mal gesagt, wie sehr ich dich liebte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2015

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