Cover

Mit Schraubenzieher, Schulterklopfen und einer Schippe Mehl

 

 

 

 

 

Jede Erzählung beginnt mit ihrem ersten Satz.

Nein, jede Erzählung beginnt mit ihrem Titel!

Warum dann „Mit Schraubenzieher, Schulterklopfen und einer Schippe Mehl?“ Höre ich dich

fragen.

Warum dann nicht besser „Erinnerungen an meinen Lehrer?“

Nun, da es mir schwerfällt mich an ihn, den ich zwei Jahre lang zum Klassenlehrer hatte, nur als Lehrer zu erinnern.

Es wird ihm einfach nicht gerecht, wo er doch für uns, seine Schülerinnen und Schüler, sehr viel mehr wurde, als „nur“ der Lehrer.

Weil er uns allen zum Freund, zum Kameraden, zum ewig brüllenden, tapsigen Bären wurde.

 

Diese kleine Erzählung ist ihm gewidmet, Axel Schaub, dessen Namen ich hier nicht geändert habe, denn ich denke, er hat es verdient, hier und jetzt mit seinem richtigen Namen genannt zu werden.

„Mit Schraubenzieher, Schulterklopfen und einer Schippe Mehl“.

Liebe Leserin, lieber Leser, am Ende, wenn du dieses Büchlein zuklappst, wirst du mir sicher

zustimmen, einen passenderen Titel hätte es nicht gegeben.

 

 

 

******

 

 

 

 

Wann war er aufgetaucht?

Seit wann war er hier?

So genau wusste das keiner, aber sicher war, er war an unserer Schule gelandet und hatte es

geschafft, schon nach kurzer Zeit in aller Munde zu sein.

 

"Schaub prügelt!"

"Schaub ist brutal!"

"Der Schaub, der ist ein riesen Arschloch!"

So ging es schnell in der Schule herum und wurde sich in den Pausen auf dem Schulhof

zugeflüstert. Dabei immer vorsichtig um sich schauend, denn es könnte ja sein dass Er, Schaub,

gerade hinter einem stand und diese, nicht für ihn bestimmten Worte mitbekam.

 

Schon spürten die Flüsterer seine kräftige Hand in ihrem Nacken. Sahen sich fortgezerrt, in die Mitte des Pausenhofs geschleppt und fühlten schon die schmerzhaften Ohrfeigen, die es hageln würde. Das alles unter den schadenfreudigen Blicken ihrer Mitschüler.

 

Geflüstert wurde viel in diesen Tagen. Auch empört wurde sich, doch etwas tun gegen diesen Schaub, sich gar offiziell über ihn beschweren, nein, dazu fehlte allen der Mut.

 

Ich wusste nicht so recht, was ich von all dem Gerede halten sollte.

Angst hatte ich nicht vor Schaub, war ich doch in der Zwischenzeit der Großmeister im sich

unsichtbar machen geworden. Hatte es geschafft, in den sieben Jahren meiner Schulzeit, die schon hinter mir lagen, viel dazu gelernt zu haben. In erster Linie, sich unbemerkbar zu machen und den Kopf einzuziehen.

Nein, ein Schaub war für mich ungefährlich. Er würde mich überhaupt nicht bemerken und sollte ich, rein zufällig, doch einmal unter seine Augen geraten, sobald sein Blick sich von mir

abgewendet hätte, so schnell hätte er mich auch schon wieder vergessen.

Nur vorsichtiger musste ich sein, was meine Geschäfte anging.

Dank des "Tante Emma" Ladens meiner Eltern, kam ich billig an Zigaretten und, wenn ich auch selbst nicht rauchte, so hatte ich mir in den letzten ein bis zwei Jahren ein kleines, aber

regelmäßiges Einkommen gesichert, in dem ich diese einzeln an meine Mitschüler vertickte.

Reich wurde ich zwar nicht dabei, aber es langte, um mein bescheidenes Taschengeld ein wenig aufzubessern.

Ja, vorsichtiger musste ich sein, durfte mich gerade von diesem Schaub nicht erwischen lassen. Aber sonst? Sonst hatte ich nichts weiter zu befürchten. War ich doch schon längst der Großmeister des ... aber ich wiederhole mich.

 

Ein wenig imponierte mir auch der Ruf dieses Schaubs, trauten sich doch selbst die, die sonst eine so große Klappe hatten, nur unter vorgehaltener Hand über ihn zu sprechen, und zogen, so wie alle anderen, den Kopf ein, wenn er in ihre Nähe kam.

Schaub, dachte ich mir, Schaub. Nichts weiter müsste ich tun, als ihm aus dem Weg zu gehen.

 

Doch dann geschah etwas, mit dem weder ich noch meine Klassenkameraden je gerechnet hatten.

 

Seit ein paar Monaten waren wir als Klasse ohne wirkliche Führung.

Unsere letzte Klassenlehrerin war mitten im Schuljahr verstorben und so gaben sich seit geraumer Zeit die Lehrer unserer Schule gegenseitig die Klinke der Klassentür in die Hand, um irgendwie

dafür Sorge zu tragen, dass wir von Bildung nicht allzu sehr verschont blieben.

Nun, uns hatte dieser Zustand eigentlich recht gut gefallen. Garantierte er doch eine gewisse

Narrenfreiheit und abwechslungsreichen, wenn auch nicht besonders gelehrigen Unterricht.

Es hätte gut so weitergehen können, war unsere einhellige Meinung und wir wunderten uns darüber, dass die Schulleitung unsere Ansicht nicht so wirklich teilen mochte.

Wir wussten schon, irgendwann würde diesem Zustand der allgemeinen Zufriedenheit ein Ende

gesetzt werden.

Dass aber dieses Ende, ein Ende mit drohendem Schrecken sein würde, nein, daran hatte niemand von uns auch nur im (Alb) Traum gedacht.

 

"Nach den Sommerferien werdet ihr Herrn Schaub zu eurem neuen Klassenlehrer bekommen", ließ es sich der Direx nicht nehmen, uns persönlich zu verkünden.

Ich wette, kaum hatte er unseren Klassenraum wieder verlassen und stand draußen vor unserer Tür auf dem Flur, hieb er sich vor Schadenfreude kräftig auf die eigenen Schenkel.

Schluck!

Schaub?

Diesen prügelnden, rabiaten Tyrannen?

Diesen von allen gehassten Unmenschen?

Diesen, diesen ...

Mir, uns allen fehlten die Worte.

Wo blieb Amnesty International, wenn es mal gebraucht wurde?

Wo blieb der Elternbeirat?

Wo, bitte schön, blieb das Mitleid mit uns armen geschundenen Menschenkindern? Keine Gnade!

 

Aber ein Trost blieb mir und meinen Klassenkameraden dennoch.

"Nach den Sommerferien", hatte es geheißen.

Nach den Sommerferien. Nach sechs Wochen endloser Freiheit.

Nach den Sommerferien, in denen alles mögliche geschehen konnte und, so hatte es unsere letzte Klassenlehrerin bewiesen, schließlich waren auch Lehrer nicht unsterblich.

Nach den Sommerferien, also erst nach schier unendlich langer Zeit, sollte das Unheil zu uns in die Klasse ziehen.

Es konnte so viel passieren und wir alle wünschten, hofften, dass etwas geschehen würde, was uns diesen Tyrannen vom Leibe halten würde.

 

Doch nichts geschah.

Kein Wort drang an meine Ohren, dass ein gewisser Herr Schaub unbekannt verzogen oder gar das Zeitliche gesegnet hätte.

Zu Beginn der Ferien machte ich, machten wir uns, seine zukünftigen Schüler und Schülerinnen, darüber noch keine Gedanken, aber spätestens, als die letzte Ferienwoche anbrach und uns allen klar wurde, dass das Unheil kaum mehr abzuwenden war, zogen dunkle Wolken in unsere Gemüter.

 

Wie ein Lauffeuer hatte es sich unter der Schülerschaft verbreitet. Wir, die 7 C würden diesen

Unmenschen zum Klassenlehrer bekommen.

Wir würden geopfert werden, damit der ganze Rest der Schülerschaft in Frieden weiterleben könne.

Heroisch hätten wir uns fühlen müssen. Wir, die wir dem Feind tapfer, wenn auch nicht freiwillig, entgegentraten.

Heldenhaft und mutig, mit vor Stolz geschwellter Brust, hätten wir dem kümmerlichen, ängstlichen Rest der Schülerschaft zeigen sollen, was es heißt, ohne Murren dem kommenden Untergang

entgegenzusehen.

Die gesamte Schülerschaft stand Schlange, um uns ihr Beileid auszusprechen.

Froh, dass wir es waren und nicht die eigene Klasse, die nun unter tyrannischer Herrschaft zu leiden hätte.

Unwillig beantwortete ich immer dieselben Fragen: "Stimmt es das ...?"

Ja, es stimmte, dieser Schaub würde unser Klassenlehrer werden. Unvermeidbar, unabänderlich.

 

Ich hatte nichts zu befürchten, redete ich mir selbst ein.

Ich war unscheinbar, unauffällig, unsichtbar.

Was könnte mir schon geschehen?

Doch innerlich verfluchte ich meine Körpergröße, die mir schon vor langer Zeit den Spitznamen "Der Lange" eingehandelt hatte und mit der ich alle um so ziemlich genau einen Kopf überragte.

Bis jetzt hatte es trotzdem immer geklappt, mich unauffällig zu verhalten und dafür zu sorgen, dass alle Lehrer durch mich hindurchschauten.

Ich war sicher, hätte man einen meiner Lehrer danach gefragt, wer denn wohl in der vierten Reihe auf dem zweiten Platz von rechts saß, nachdem dieser gerade zuvor den Klassenraum verlassen

hatte, so hätte dieser Lehrer stirnrunzelnd mit der Schulter gezuckt. Hätte vielleicht in seinen

Erinnerungen gewühlt und sich an nichts weiter als an einen leeren Stuhl erinnert. Vielleicht gerade noch an das verschwommene Bild eines etwas, von dem er nicht zu sagen wusste, war dieses etwas nun eigentlich männlicher oder weiblicher Natur.

Ja, fast war ich mir sicher, auch bei Herrn Schaub würde mir das unsichtbar machen gelingen.

 

Sechs Wochen Ferien lagen hinter uns, doch keine Plaudereien über die Erlebnisse und Abenteuer, welche uns in den vergangenen Wochen das Leben beschert hatte, durchflutete unseren

Klassenraum.

Ungewöhnlich still war es.

Noch ungewöhnlicher, alle saßen gebannt auf ihren Plätzen und starrten auf die geschlossene

Klassentür.

 

Tick, Tick, Tick ...

Unbarmherzig schritt der Sekundenzeiger der Schuluhr dem kommenden Unheil entgegen.

Tick, Tick, Tick ...

Nur noch wenige Minuten.

Und dann?

 

Da wurde die Tür aufgerissen und fiel auch sogleich krachend wieder ins Schloss.

Herr Schaub war ins Klassenzimmer gestürmt. Ohne uns anzusehen, schoss er vorwärts, dem

Lehrerpult entgegen, wo er achtlos seine Aktentasche fallen ließ.

"Schaub mein Name!", brüllte er kurz, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen beugte er sich sogleich über das Klassenbuch das, in rotes Leder gebunden, auf dem Pult lag.

Ohne sich erst zu setzen, blätterte er langsam eine Seite nach der anderen durch. Stockte hier und da ein wenig, las das vielleicht eben noch kurz überflogene etwas genauer, um dann, ohne ein Wort zu verlieren, weiter Seite um Seite zu studieren.

 

Gewitterwolken bildeten sich über unseren Köpfen. Die Beklemmung war spürbar geworden. Das drohende Unheil greifbar nahe.

Hatten wir es uns doch zum Spaß gemacht, in der Zeit ohne festen Klassenlehrer, all die anderen Lehrer, welche durch unsere Klasse wanderten und mehr schlecht als recht den Unterricht zu

bewerkstelligen versuchten, das Leben möglichst schwer zu machen.

Ein Wettkampf war entbrannt. Ein Wettkampf darüber, wem es wohl gelingen mochte, bis zum Schuljahresende die meisten Klassenbucheinträge zu erhalten.

 

Eigentlich hätte ich aufatmen können, denn, so wusste ich, kein einziger Eintrag würde sich über mich in diesem Buch befinden. Es hätte nicht gepasst, hätte im Gegenteil die entgegengesetzte

Wirkung gezeigt, wenn ich unangenehm aufgefallen wäre. Es hätte meinem Ziel, der absoluten

Unsichtbarkeit widersprochen, wäre ich auch nur mit einem einzigen, noch so kleinen Eintrag in diesem Buch gelandet.

Doch das Aufatmen wollte mir nicht so recht gelingen. Das unangenehme Schweigen, die tief

hängenden dunklen Wolken, die drohend über unseren Köpfen hingen, hatten auch mich längst in ihren Bann gezogen. Hatte mir das Aufatmen unmöglich und das Luftholen alleine schon schwer genug gemacht.

 

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, klappte Herr Schaub das Klassenbuch zu. Richtete sich auf, überkreuzte seine Arme über der Brust und schaute uns an.

"Bei mir wird es keine Klassenbucheinträge geben", meinte er mit donnernder Stimme. "Bei mir gibt es gleich Ohrfeigen!"

Stille.

Keiner von uns wusste so recht, wie mit dieser Ankündigung umzugehen sei.

War sie ernst gemeint oder etwa eine art morbidem Humor geschuldet?

Wir alle schauten Herrn Schaub an und suchten die Antwort auf diese Frage in seinem Gesicht lesen zu können. Doch dieses blieb uns jede Antwort schuldig.

Ungerührt schaute er uns entgegen. Kein Zucken um seine Mundwinkel zeigte, dass es sich um einen Scherz handeln könnte, und in seinen Augen konnten wir schlecht lesen, da er immer eine selbsttönende Brille trug.

 

Immer noch eisiges Schweigen.

Endlich unterbrochen durch die Worte von Thomas, den wir alle nur `Eike´ nannten.

"Das versuchen Sie mal", kam es leise, aber herausfordernd aus seiner Ecke.

Trotz seiner Brille konnten wir alle sehen, wie sich die Augen von Herrn Schaub langsam zu

Schlitzen verengten. Fester verschränkte er seine Arme über der Brust und für einen Moment sah es fast so aus, als würde er Eike direkt ins Gesicht springen wollen. Stattdessen ging er

gemächlichen Schrittes auf Eike zu, der hinter seinem Tisch sitzend, immer kleiner zu werden

begann.

Dann stand er vor Eike und fragte leise aber bestimmt: "Was hast Du gesagt? Ich glaube, ich habe Dich nicht richtig verstanden."

Die Drohung hinter diesen Worten war unmissverständlich.

"Ähh, ähhm, nichts", kam es kleinlaut aus Eike hervor.

"Na, dann ist es ja gut, ich dachte schon, ich hätte etwas gehört".

Schnell wandte sich Herr Schaub wieder dem Lehrerpult zu und die erste Schulstunde nach den Sommerferien begann.

Kein "Wie waren eure Ferien?", kein sich gegenseitiges Vorstellen. Kein Wort darüber, dass er nun für unbestimmte Zeit unser Klassenlehrer sein würde und wir seine Schüler und Schülerinnen.

Die Sommerferien waren zu Ende.

Schlagartig!

 

In meinen Erinnerungen gab es keinen Satz, kein Wort, keinen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, welches das Eis schließlich zum Schmelzen brachte und es musste wohl erst geraume Zeit vergehen, bis das schier Unmögliche wirklich geschah.

Aber so unwahrscheinlich es auch nach dieser ersten Schulstunde schien, er wurde mit der Zeit unser Freund.

Sicher, niemand zu dem man hinaufschaut, den man sich für das eigene, spätere Leben zum Vorbild nimmt, aber doch jemand, an den man noch nach Jahrzehnten mit einem Lächeln zurückdenkt.

Ein Freund, ein Kamerad, ein Kumpel.

Einer von uns.

 

Vielleicht sehen es meine ehemaligen Schulkameraden anders, vielleicht verbinden wir andere

Erlebnisse mit ihm und vielleicht mag für jeden von uns das eine, entscheidende Ereignis, welches uns zu Freunden werden ließ, ein anderes gewesen sein. Für mich war es wohl die allererste

Sportstunde, die wir bei Herrn Schaub hatten, die die Barriere zwischen uns zusammenbrechen ließ.

Es mag sein, dass dieses auch nur daran lag, dass ich selbst nie besonders sportlich war und es nichts gab, außer Schwimmen, in dem ich mich besonders hervortun konnte.

Genau das aber traf auch auf Herrn Schaub zu.

 

Trotz seiner zwölf Jahre Bundeswehrzeit, von denen keiner so recht wusste, mit welchem

Dienstgrad er diese abgeschlossen hatte, obwohl wir uns alle einig darin waren, dass es mindestens zum Feldwebel gereicht haben musste, so polternd und dröhnend befehlsgewohnt, wie er immer vor uns auftrat, hatte er keinerlei Ahnung von Sport. So wie er auch scheinbar von all den anderen

Fächern, in denen wir von ihm unterrichtet wurden, keinerlei Ahnung hatte und jede Begabung

vermissen ließ.

Es gab nämlich kaum ein Schulfach, in dem wir nicht von ihm unterrichtet werden sollten.

Aus Lehrermangel hieß es offiziell.

Ich glaube aber, eher damit man ihn an uns loswurde und sich weiter keine Gedanken darüber

machen musste, ob es wohl dem Ruf der Lehrerschaft und nicht zuletzt auch der Schule schaden würde, ihn weiter unterrichten zu lassen.

Die Schulleitung überließ uns ihm und ihn an uns und niemand brauchte sich weiter um

irgendetwas zu kümmern.

So kam es, dass wir nicht nur Mathematik, Deutsch und Englisch bei ihm hatten, sondern auch

Biologie, Arbeitslehre bis hin zu Kunst, Werken und eben Sport.

Uns auch in Religion die Köpfe zu verdrehen, dazu war der Mut der Schulleitung zu gering und so war dieses der einzige Unterricht, den wir bei einem anderem Lehrer absitzen mussten.

 

Aber ich wollte ja von der ersten Sportstunde berichten.

Nun, dass mir jedes sportliche Talent fehlte, habe ich ja schon erwähnt. So sah ich dann auch jeder Sportstunde, wenn auch nicht mit Schrecken, so doch mit erheblichem Argwohn entgegen.

Und Sport, ausgerechnet bei einem so ungeliebten, nicht abschätzbaren und für seine Brutalität

bekannten Lehrer?

Meinen Satz von gerade eben muss ich wohl revidieren.

Doch, ich gebe es zu, dieser allerersten Sportstunde sah ich mit Schrecken entgegen.

 

"Geräteturnen!", kommandierte Herr Schaub.

Schlimmer konnte es gar nicht kommen!

Geräteturnen, das hieß Überschlag am Reck, Knochen verrenken am Barren und brennende

Handflächen am Seil.

Geräteturnen. Wenn ich etwas an der Schule ganz besonders hasste, so war es Geräteturnen!

 

Hatte ich heute Morgen nicht einen scharfen Schmerz im Knöchel verspürt?

War mein Arm nicht von plötzlicher Taubheit fast gelähmt?

Dafür aber mein Kopf voll des pochenden Schmerzes?

Und was bedeutete dieses flaue Gefühl in der Magengegend?

Konnte ich eines dieser Symptome nicht vielleicht zu plötzlich auftretendem dahinsiechen

hochstilisieren?

Aber das hätte bedeutet, Herrn Schaub unter die Augen zu treten, um ihm klagend und

bemitleidenswert mein baldiges Ableben zu verkünden.

Feuerrot würde ich werden und was noch viel schlimmer war, mein bestreben, unsichtbar zu sein und auch bleiben zu wollen, hätte ich dafür aufgeben müssen.

Nein, nichts anderes blieb mir übrig, als mich in mein Schicksal zu fügen und darauf zu hoffen, dass dieses möglichst gnädig mit mir verfahren würde.

 

Die Geräte wurden aufgebaut, Matten ausgelegt und eigentlich hätte es nun beginnen können. Doch keiner rührte sich.

"Na los!", kommandierte Herr Schaub.

"Aber was sollen wir genau machen?", kam die schüchtern hervorgebrachte Frage.

"Ähm ja", stotterte Herr Schaub. Kratzte sich kurz am Kopf, zog dann seine Trainingshose noch einmal kräftig hoch und gab Befehl ihm ganz genau zuzusehen, denn er würde uns nun das

vorführen, was wir anschließend nachmachen sollten.

Beherzt schritt er auf das Reck zu, griff einmal kurz in den daneben stehenden Behälter mit

Talkumpuder, rieb sich die Hände damit ein und griff auch schon über sich, fest die Stange über

seinem Kopf umfassend.

Ächzend zog er sich an der Stange empor, bis sein Oberkörper für einen kurzen Moment über dieser zum halten kam.

Was und welche Turnübung er uns auch immer da vorzuführen gedachte, es misslang!

Langsam ließ er sich nach vorne fallen, immer noch die Stange krampfhaft mit den Händen

umgreifend.

Dann hing er da, seinen Körper in der Waagerechten. Nicht vorwärts, nicht rückwärts könnend.

Ich glaube nicht, dass es wirklich zu seiner geplanten Übung gehörte, aber plötzlich zog er sein

linkes Bein an und es gelang ihm irgendwie, es über die Stange zu hieven.

Jetzt ließ er seine Hände los und unter starkem Schnaufen kippte sein Körper nach vorne.

Nun hing er vor uns. Baumelte an einem Bein an der Stange hin und her und uns, uns blieb der Mund offen stehen.

In diesem Moment hatte er selbst wohl noch nicht begriffen, was wir sahen und das, was wir sahen, war deutlich mehr, als ihm lieb sein konnte, denn als er sich nach vorne kippen ließ, hatte sich seine Sporthose irgendwie um die Stange des Recks gewickelt und nun hing er da, fast so, wie Gott ihn erschaffen hatte, nur um einiges lächerlicher.

 

Er ließ sich einfach fallen und sprang, wieder auf dem Boden aufgeschlagen, umgehend in die

Höhe, riss sich seine Hose hoch und bedeckte schnell das, was gar nicht aufgedeckt werden sollte.

Dann stemmte er die Arme in die Hüften und schaute uns mit ernsten Augen an.

 

Waren wir es, die so lächerlich ausschauten, die Hände vor die Münder gepresst, um jedes Lachen im Keim zu ersticken.

Oder wurde ihm bewusst, wie es ausgesehen haben musste, als er da, mit nacktem Hinterteil,

schaukelnd am Reck hing?

Ich weiß nicht, welcher Anblick der Komischere gewesen war, aber ein leichtes Zucken umspielte seine Mundwinkel. Mit einem Räuspern versuchte Herr Schaub noch in seinen gewohnten Ernst

zurückzufinden. Doch statt des geplantem Räuspern drang ein gutturaler Laut aus seiner Kehle, einem unterdrückten Lachen nicht ganz unähnlich.

Beabsichtigt war es sicher nicht, aber aus diesem ersten Laut wurde ein glucksen, das erst leise, dann aber immer lauter wurde, bis er in schallendes Lachen ausbrach.

Lachen über uns, die wir da standen wie begossene Pudel. Lachen aber auch über sich selbst, seine Ungeschicklichkeit, seine mangelnde sportliche Begabung und seinen Hintern, den er uns allzu

freizügig entgegengestreckt hatte.

Und wir, wir trauten uns endlich, nahmen die Hände herunter, um sie uns jetzt gegen den Bauch zu pressen, der vor Lachen schon richtig wehtat.

 

Meine, unsere erste Sportstunde bei unserem neuen Lehrer.

Für mich war diese Stunde der Moment, an dem die Angst wich, um der Freundschaft Platz zu

machen.

 

Geräteturnen?

Nein, nie wieder haben wir dieses bei Herrn Schaub gehabt.

Stattdessen hatte er sich auf Rugby und Karate verlegt. Beides konnte er augenscheinlich besser und besonders Rugby war es, dem ich es zu verdanken hatte, dass ich zum ersten Mal in meinem Schulleben ein guter Sportschüler wurde.

Rugby, ich liebte es!

 

Rugby war wohl eines der wenigen Dinge, die er, außer seinem dröhnenden Organ, von der

Bundeswehr mitgebracht hatte.

Ein Sport, damals in Deutschland noch wenig beliebt und noch weniger bekannt, war etwas, was ich für mich entdeckte.

Ein Spiel, von außen betrachtet roh und brutal, aber wenn man es spielte, nur kaum gefährlich,

sogar ungefährlicher als Fußball.

Meine Körpergröße machte endlich einmal Sinn. Ich schnappte mir den Ball, hielt ihn mir hoch über dem Kopf und stürmte los, rannte alles über den Haufen, was mir den Weg zum Tor zu

versperren gedachte.

Ich war gut. In diesem Sport war ich wirklich einmal gut.

Endlich kein Geräteturnen und kein Fußball mehr, endlich etwas, was ich wirklich konnte. Endlich etwas, bei dem ich mich nicht lächerlich machte, sondern ganz am Schluss als Sieger dastand.

Endlich nicht mehr unsichtbar!

 

Und dann Karate.

Einer meiner Klassenkameraden konnte Karate, hatte es sozusagen von der Pike auf gelernt.

Seinen Vornamen habe ich über die Jahre vergessen, sein Nachname aber lautete Cocker und so wurde er auch von uns allen genannt `Cocker´. Mit solch einem Nachnamen bedarf es keines

Spitznamen mehr.

Meine Erinnerungen an ihn sind nur sehr vage und blass. An eins aber kann ich mich noch sehr

genau erinnern. Das war, als ich ihn das einzige Mal in meinem Leben zu Hause besuchte, denn das, was ich dort zu sehen bekam, bekommt man nicht alle Tage zu sehen.

"Soll ich Dir meine Tiere zeigen?", fragte er mich, kaum dass ich bei ihm im Hausflur stand.

"Ähm, ja, warum nicht", antwortete ich ihm wohl.

Ich hatte wohl an so etwas wie Hamster, Meerschweinchen oder Hasen gedacht. Auch ein

Aquarium, voll mit lauter bunten Fischen, wäre für mich noch infrage gekommen. Nicht aber, dass es sich bei seinen „Tierchen“ um solche Tiere handeln würde.

 

Er ging mir voraus, schritt zielstrebig zu der Tür, welche in den Keller führte. Öffnete sie und sofort kam mir ein Schwall heißer, unangenehm riechender, feuchter Luft entgegen.

Der Geruch erinnerte mich an irgendetwas, doch vermochte ich ihn in diesem Moment noch nicht einzuordnen.

Neonröhren flammten auf und mein Blick fiel auf weiße Fliesen.

An der nach unten führenden Kellertreppe - weiße Fliesen. An den Wänden, selbst an der Decke, nur weiße Fliesen, die jetzt, unter dem kaltem Neonlicht bläulich schimmerten.

"Komm!", forderte er mich auf, ihm zu folgen, und nahm auch schon die ersten Stufen hinab.

"Hier stinkt's!", meinte ich naserümpfend, folgte ihm aber trotzdem. Meine Neugier war viel zu groß, als das ich wieder hätte umkehren können.

Je weiter wir in den Keller hinab stiegen, desto heißer wurde die Luft und je unangenehmer dieser eigentümliche Geruch, der mir so bekannt und doch so fremd vorkam.

Endlich hatten wir die letzte Stufe hinter uns gebracht und standen in einem kleinen Vorraum. Auch dieser von oben bis unten mit weißen Kacheln gefliest.

Er trat dicht an eine, wie könnte es anders sein, weiße Stahltür. Legte sein Ohr an diese, lauschte einen Moment, griff schließlich zu einem großen, verchromten Hebel an der Tür und legte diesen mit beherztem Schwung um.

"Vorsicht!", meinte er leise und ich gebe zu, in diesem Moment überkam mich so etwas wie ein

leiser Hauch von Furcht, den ich aber nicht bereit war, zu zeigen.

"Mach schon!", drängte ich stattdessen.

Langsam öffnete er die schwere Tür erst nur einen kleinen Spaltbreit. Schaute vorsichtig in den Raum dahinter, stieß dann endlich die Tür vollends auf.

 

"Wow!" Ich weiß nicht, ob ich das wirklich gesagt habe, gedacht habe ich es aber gewiss - "Wow!"

Vor mir erstreckte sich ein Raum, ebenfalls weiß und steril. Unterschiedlich große Wasserbecken waren in dem Raum verteilt und überall, ja wirklich überall, krabbelten Krokodile herum.

Sechs oder vielleicht auch acht ausgewachsene Tiere tummelten sich in den Wasserbecken oder

krochen vor unseren Füßen auf dem glatten Boden entlang.

Beherzt ging Cocker zu einem der größten Tiere, beugte sich herunter und gab ihm einen

ordentlichen Klaps auf den Rücken.

"Komm, die kannst'e anfassen, die tun nichts", spornte er mich an, es ihm gleichzutun.

Nur zögernd kam ich einem der Tiere etwas näher, streckte einen meiner Zeigefinger aus und

berührte es vorsichtig auf dessen gepanzertem, schuppigem Rücken. Zu mehr fehlte mir der Mut und ich eilte augenblicklich wieder zurück zu der Tür, durch die wir in den Raum gelangt waren.

Man konnte ja nie wissen, ich jedenfalls wollte bereit sein, wenn es galt die Beine in die Hand zu nehmen.

Ich stand da und beobachtete wie Cocker erst einem, dann einem anderen der Tiere fast zärtlich erst über deren Rücken, dann über die riesigen Mäuler strich.

In der Zwischenzeit hatte ich auch begriffen, woher ich diesen eigentümlichen Geruch kannte. Aus dem Terrarium im Zoo natürlich. Und zugegeben, im Zoo, in sicherer Entfernung, waren mir diese Tiere dann doch lieber als damals im Keller von Cocker.

 

Natürlich waren es nicht "seine Tiere", die da im Keller herumkrabbelten. Die Tiere gehörten seinen Eltern und diese traten mit diesen in irgendeinem Zirkus auf.

Aber das erzählte mir Cocker erst später, als wir die weiße Stahltür schon längst wieder hinter uns geschlossen und den Keller verlassen hatten.

 

Tja nun, Karate konnte er, der Cocker.

Karate konnte auch Herr Schaub und so beschlossen beide, uns in diese Kunst der

Selbstverteidigung einzuweihen.

 

In der nächsten Sportstunde sollte Cocker den Anfang machen.

Wir alle standen in Reih und Glied und schauten gespannt zu ihm hin.

Er trat ein paar Schritte vorwärts, wandte sich dann uns zu, legte einen seiner Arme über die

Bauchgegend und verbeugte sich vor uns, als auch schon die Stimme von Herrn Schaub, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte, erklang.

"Ach Quatsch!", brüllte dieser. Setzte aber sogleich hinzu: "Nein, natürlich kein Quatsch, aber so viel Zeit haben wir nicht, den anwesenden Damen und Herren auch noch die Höflichkeitsformen beim Kampfsport beizubringen. Lass uns gleich richtig loslegen!"

Tja, und so erlernten wir innerhalb kürzester Zeit Handkantenschläge, Kehlkopfschläge und Tritte in Körperregionen, wo es besonders wehtat.

Nach jeder solchen Sportstunde fühlten wir uns stärker, Selbstbewusster und einen Kopf größer. Selbst ich, der ich doch sowieso schon der Größte in der gesamten Schule war.

Wir alle hatten furchtbar viel Spaß!

 

Wir alle?

Nein, nicht wir alle, denn den Mädchen in unserer Klasse behagte dieser Unterricht nun überhaupt nicht.

Weder waren sie für Rugby noch für Karate zu begeistern.

Viel lieber hätten sie Brennball gespielt oder Gymnastik gemacht. Doch wir, die Jungs, waren in deutlicher Überzahl und so wurden die Mädels mit überwältigender Mehrheit jedes Mal

überstimmt, wenn es galt zu entscheiden, wie der Sportunterricht der folgenden Stunde abzulaufen hatte.

So saßen alle Mädchen während des Sportunterrichtes am Rande der Sporthalle auf den Bänken, schauten uns zu und langweilten sich.

Nicht, dass Herr Schaub dieses einfach so geduldet hätte, aber ihren Ausreden gegenüber, warum es ihnen zurzeit unmöglich war, am Sportunterricht teilzunehmen, war auch er, als Mann, nicht

gewachsen.

"Wir haben unsere Tage", hieß es einhellig aus der Reihe der Mädchen.

"Wir haben unsere Tage". Dreimal die Woche, vier Wochen im Monat: "Wir haben unsere Tage“.

Nun, eine Weile lang ließ Herr Schaub diese Ausrede gelten.

Eine Weile lang, bis ihm dann endlich einfiel, wie er den Mädchen beikommen konnte.

 

Wieder einmal saßen die Mädchen am Rande der Halle auf den Bänken und bluteten gelangweilt vor sich hin.

Die Hand sorgenvoll an die Stirn gelegt, schritt Herr Schaub vor ihnen auf und ab. Blieb dann

plötzlich stehen, wandte sich an die Mädels, betrachtete eines nach dem anderen, legte dann ebenso sorgenvoll wie zuvor die Hand an seine, in Falten gelegte Stirn. Begann umgehend wieder damit, vor ihnen auf und ab zu schreiten, murmelte irgendetwas Unverständliches und schien angestrengt nachzudenken.

Dann hatte er scheinbar endlich einen Entschluss gefasst.

"Meine Damen", begann er seine Ansprache an die, wie Hühner auf der Stange sitzenden Mädchen, die seinem eindringlichen Blick nicht standhalten konnten, ihre Köpfe senkten und merklich rot wurden.

"Meine Damen", wiederholte Herr Schaub.

"Sie alle wissen, ich bin nicht einfach nur ihr Lehrer, mir obliegt auch für sie alle eine gewisse

Aufsichtspflicht und eine damit verbundene soziale Verantwortung".

Gebannt lauschten wir Jungs seinen Worten. Schon seine förmliche Anrede an die „Damen" ließ uns erahnen, dass die Pointe noch auf sich warten ließ. Auch die Mädchen, mit gesenkten Köpfen vor uns sitzend, ahnten, dass für sie nun nichts gutes folgen würde. Ich konnte fast am eigenen

Leibe spüren, wie ihnen die Ohren brannten.

"Meine Damen, es liegt mir fern, ihnen irgendwelche unlauteren Absichten unterstellen zu wollen".

Auf den Gesichtern von uns Jungs, begann sich ein fettes Grinsen auszubreiten.

"Nein, ganz sicher nicht", fuhr Herr Schaub in seinen Ausführungen fort.

"Auch liegt es mir ebenso fern, über gewisse Probleme junger Damen urteilen zu können".

Erstes leises, unterdrücktes Lachen ward von uns, den Jungs, zu hören, das aber sogleich

verstummte, als Herr Schaub uns einen ernsten und nur scheinbar bösen Blick zuwarf.

Dann wandte er sich wieder den "Damen" zu. "Aber!", setzte er seine Rede, mit deutlich

gesteigerter Lautstärke fort.

"Aber, selbst ich, als Mann, weiß, wenn eine ganze reihe junger Damen, drei Mal die Woche und vier Wochen im Monat gewissen weiblichen Zyklen unterworfen ist, kann das nicht normal und auf keinen Fall gesund sein. Deshalb habe ich beschlossen, nicht gewillt zu sein, mir dieses länger mit anzuschauen. Schon meine Verantwortung Ihnen gegenüber verbietet mir dieses. So habe ich den Entschluss gefasst, sie, meine Damen, einer unserer weiblichen Angestellten zu überantworten,

damit diese sich um sie kümmern und sie alle gegebenenfalls zum Arzt begleiten wird".

 

Nein, unmöglich, unmöglich das Lachen, das in unseren Hälsen zuckte und rumorte, noch länger zu unterdrücken. Wir prusteten los.

"Ruhe!", rief uns seine donnernde Stimme zur Ordnung.

"Ich werde jetzt mit den Damen die Halle verlassen und ihr, Jungs, werdet euch ruhig verhalten. Verstanden?"

"Verstanden!", riefen wir wie aus einer Kehle. Dann sahen wir zu, wie Herr Schaub voranschritt, die Sporthalle zu verlassen, während alle Mädchen im Gänsemarsch, ziemlich bedeppert, hinter ihm her trabten.

 

Mögen es fünf, vielleicht auch zehn Minuten gewesen sein. Jedenfalls, nach nur kurzer Zeit, riss Herr Schaub die Hallentür wieder auf, brüllte "weiter gehts!" Hinter ihm kamen, fröhlich plaudernd, auch die Mädchen wieder herein.

Was sich dort, außerhalb unserer Hör- und Sichtweite, zwischen ihnen und Herrn Schaub abgespielt hatte, blieb für uns immer ein Geheimnis.

Herr Schaub musste sich jedenfalls als wahrer Wunderheiler herausgestellt haben, denn die

Mädchen waren nicht nur augenblicklich völlig genesen, sondern hatten auch in der Zukunft kaum mehr damenhafte Probleme jedweder Art.

Wenn ihnen auch das Rugby spielen, aus verständlichen Gründen, wenig behagte und sie deshalb von Herrn Schaub davon freigestellt waren, Karate machten sie in der Folgezeit nicht nur mit,

sondern legten sogar eine wahre Begeisterung für diesen Sport an den Tag.

 

Tja, nur sehr lange kamen wir nicht in den Genuss, unsere Kampfkünste zu trainieren und zu

verfeinern.

Der Schulleitung war es irgendwann wohl zu Ohren gekommen, dass wir im Sportunterricht

lernten, wie man einem imaginären Gegner ordentlich wehtat oder ihn gar unter die Erde schaffte.

Kurzerhand wurde Karate für die Zukunft verboten.

Na ja, das Rugbyspiel ist uns aber wenigstens geblieben.

 

Seine Fähigkeiten als Wunderheiler konnte Herr Schaub einige Zeit später noch einmal unter

Beweis stellen.

`Bussi´ oder richtiger Jörg Bußmann wurde das Opfer, ähm, gelang in den Genuss dieser

wundersamen Heilung.

Bussi hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, pünktlich nach Ende der vierten Stunde, unter

fürchterlichen Kopfschmerzen zu leiden.

Migräne?

Ein Tumor gar?

Nein, eher wohl die galoppierende Schwenzelenzia war der Ursprung dieser imaginären, aber umso fürchterlicheren Schmerzen.

Auch hier zeigte Herr Schaub Geduld und Nachsicht und schickte den Bemitleidenswerten

regelmäßig nach Hause, welcher sich, wann immer er sich unbeobachtet fühlte, Grimassen

schneidend, von uns verabschiedete.

 

Nun, Geduld ist eine Tugend die, wenn zu stark beansprucht, den gleichnamigen Faden irgendwann zum Zerreißen zu bringen vermag.

Das `Plong´, als dieser Faden schließlich bei Herrn Schaub zerbarst, wurde von uns zwar nicht

vernommen, dessen auswüchse aber, nicht ganz ohne Schadenfreude, fröhlich zur Kenntnis

genommen.

 

"Ich habe solche Kopfschmerzen", klagte Bussi wieder einmal und ja, die vierte Schulstunde war gerade zu Ende gegangen.

"Herr Schaub, kann ich bitte nach Hause gehen, ich habe solche Kopfschmerzen" jammerte der

dahinsiechende.

Diese Sorgenfalten, die sich auf der Stirn von Herrn Schaub auszubreiten begannen, hatten wir alle schon einmal gesehen.

 

"Lieber Herr Bußmann, geht es Ihnen sehr schlecht? Kann ich irgendetwas für Sie tun? Sagen Sie es ruhig, ich werde alles in meiner Macht stehende veranlassen, damit es Ihnen bald wieder besser geht".

"Ach, äh, nein, es wird schon gehen, wenn ich mich zu Hause eine Weile hingelegt habe!", stotterte der Leidende.

"Aber nein, um Gottes willen, ich kann Sie doch in diesem Zustand nicht alleine nach Hause gehen lassen!", rief Herr Schaub aus.

Ein letzter Versuch, der Lage doch noch Herr zu werden, antwortete Bussi "Tja, ähm, mich kann ja jemand begleiten."

"Wie bitte stellen Sie sich das vor?", schoss es aus Herrn Schaub heraus. "Ich selbst, so leid es mir auch tut, kann hier nicht weg und es ist unmöglich, Sie ihren noch Minderjährigen

Klassenkameraden zu überantworten. Ich mag es mir überhaupt nicht vorstellen, was alles passieren könnte!"

Bussi merkte wohl, dieses Spiel hatte er endgültig verloren, denn das Leiden in seinem Gesicht, wirkte nun wirklich echt.

"Setzen Sie sich erst einmal, mein lieber, hoch geschätzter Herr Bußmann" forderte ihn Herr Schaub auf und so blieb Bussi nichts anderes übrig, als sich wieder auf seinen Platz zu begeben, den er soeben, in freudiger Erwartung des baldigen Schulendes, schon verlassen hatte.

Gequält ließ er sich nieder, während Herr Schaub ihm behutsam die Schulter tätschelte und ihm schließlich die Hand auf die Stirn legte. "Nein", meinte Herr Schaub beruhigend, "Fieber scheinen Sie nicht zu haben, aber ganz blass sind Sie, lassen Sie sich mal den Puls fühlen."

Ja, blass war er inzwischen tatsächlich geworden, der vermeintlich Kranke und so ließ er es zu, denn etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig, dass Herr Schaub seine Hand nahm, angestrengt auf die Uhr schaute und vorgab seinen Puls zu fühlen.

"Tz, tz, tz, ich kann nichts fühlen, es scheint schlimmer um Sie zu stehen, als befürchtet", flüsterte Herr Schaub, sich dabei erschrocken die Hand an den Mund legend.

"Es wird wohl besser sein, gleich einen Krankenwagen für Sie zu rufen. Am besten ist es wohl, ich rufe auch gleich Ihre Eltern an, damit sie bei Ihnen sind, in Ihrer schweren Stunde des Abschieds".

War es jetzt doch das Fieber, dass die Blässe aus Bussis Gesicht vertrieb und glühender röte Platz geschaffen hatte?

Schon wollte Bussi den Mund aufmachen, aber Herr Schaub fuhr, ohne dieses weiter zu beachten fort, "Nein, danken Sie mir nicht, ich tue nur meine Pflicht" sagte er.

 

Peinlich, ja peinlich wurde dieses Schauspiel für Bussi, aber Herr Schaub wäre nicht Herr Schaub gewesen, hätte er dem ganzen nicht noch etwas obendrauf zu setzen gewusst.

Kurzerhand befahl er, vier Tische zusammenzuschieben, was umgehend, unter einigem Gelächter, geschah.

Nun forderte er Bussi dazu auf, auf diesen Tischen Platz zu nehmen, seinen völlig entkräfteten

Körper in die Horizontale zu bringen und das Leiden erträglicher zu machen.

Nur schwache Gegenwehr kam von Bussis Seite, der genau wusste, dass Widerstand zwecklos und das Spiel für ihn vollends verloren war.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich tatsächlich lang auf diese Tische zu legen, welche in der Mitte des Klassenraumes standen.

Sobald er lag, orderte Herr Schaub ein Glas Wasser, welches er höchstpersönlich dem Sterbendem einflößte. Gleich danach begab er sich zu seinem Pult, wo über einem Stuhl, der hinter diesem stand, sein Jackett hing.

Dieses nahm er, eilte sogleich zurück zu dem Patienten und drapierte es unter dessen Kopf, damit dieser es in seinen letzten Lebensstunden möglichst bequem hatte.

Ja, so musste Bussi nun die letzten zwei Schulstunden und wohl die längsten seines Lebens, liegend auf diesen Tischen verbringen. Immer unter den strengen, wachsamen und sorgenvollen Augen von Herrn Schaub. Begleitet von unserem Gelächter.

 

War es nun wirklich Migräne, eine unbekannte Seuche oder gar ein Geschwür?

Nun, egal, auch dieser Patient ward für immer geheilt.

 

Aber auch ich wurde nicht ganz verschont davon in die besondere Gunst Herrn Schaubs zu

Gelangen:

Kunstunterricht.

Wie von allen anderen Dingen auch, schien er davon ebenfalls keine Ahnung zu haben.

Was tun, mit einer Horde halbwüchsiger Schüler und Schülerinnen, die danach trachteten, der Welt neue, imposante Meisterwerke zu vermachen?

Was tun, wenn man selbst aber seine Ruhe haben wollte?

Kurzerhand pflanzte er sich auf seinen Stuhl hinter dem Lehrerpult, legte die Füße auf diesen,

kramte eine Zeitung aus seiner Aktentasche hervor und befahl, unsere Aufgabe sei es nun, ein

Porträt von ihm zu zeichnen.

Unwillig murrend holten wir unsere Malsachen hervor und begannen, ein jeder für sich, uns auf dem Zeichenblatt, das vor uns lag, auszutoben.

Ja, auch ich begann.

 

Völlig untalentiert, jeden Strich schon falsch setzend, bevor mein Stift noch das Papier berührt

hatte, begann ich einen großen runden Kreis auf das Blatt zu malen. Nun ja, Kreis wäre

geschmeichelt, aber es wurde immerhin etwas, was zumindest ich als solchen erkannte.

Dann legte ich erst richtig los. Begann Haare, Mund, Nase, Ohren um diesen Kreis herum und

innerhalb des Kreises anzuordnen, immer in der Hoffnung, die stellen, an denen diese sich in

Natura befanden, zumindest annähernd getroffen zu haben.

Ach ja, die Brille, fast hätte ich die Brille vergessen und so malte ich, ganz zum Schluss, noch zwei große dunkle Gläser über die mir nur mäßig gelungenen Augen.

Ja, ich musste zugeben, zumindest die Brille war mir doch recht gut gelungen.

 

Die Stunde war noch nicht ganz herum und so hatte ich noch etwas Zeit hier und da mein

Kunstwerk ein wenig zu verfeinern.

Dort ein paar Haare mehr, hier ein paar weniger. Die Nase etwas dünner, oder doch lieber etwas

dicker?

Die Ohren, mhm, so richtig gelangen mir diese nicht, aber nach einigen Versuchen konnte man sie, mit etwas gutem Willen, als solche erkennen.

Noch einmal betrachtete ich mein Gesamtkunstwerk und eigentlich war ich mit mir und meinem

Ergebnis auch ganz zufrieden, als plötzlich Herr Schaub neben mir stand.

Er blickte mir über die Schulter, riss das eben noch so kunstvoll von mir bearbeitete Blatt vom Block, betrachtete es ein wenig genauer, schüttelte dann den Kopf und ich zog schon, so ganz aus alter Gewohnheit, die Schultern ein, als er mir kräftig auf die selbigen klopfte.

Ich blickte hoch zu ihm, nicht so richtig wissend, welche Bedeutung ich diesem recht

freundschaftlichen Klaps, zuzuweisen hatte.

Ich blickte also hoch und schaute in sein breit grinsendes Gesicht.

"Junge, junge, da ist Dir aber ein ganz besonderes Meisterwerk gelungen!", rief er aus. Hielt sich mein soeben vollendetes Kunstwerk noch etwas dichter an die Nase und lachte.

Ja, er lachte. Nicht einfach so, kein kleines leises, beifälliges Lachen, nein, lauthals lachte er heraus.

Dann legte er das Meisterwerk wieder zurück auf meinen Tisch, räusperte sich kurz und zog dann den von allen Schülern der Welt so gefürchteten roten Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche,

beugte sich herunter und mit schwungvoller Handschrift verewigte er sich unterhalb meines, seines Bildes. Anschließend hieb er mir noch einmal kräftig auf die Schulter.

Ein Schlag, der mich fast vornüberkippen ließ. Umgehend wandte er sich der Klasse zu und brüllte, so wie wir es nicht anders von ihm gewohnt waren: "Ihr bleibt ruhig, verstanden? Ich bin gleich wieder da", und stürzte auch schon hinaus, raus aus dem Klassenraum, hinaus auf den Flur.

 

Jetzt erst getraute ich mich, vorsichtig auf das herunterzublicken, was er gerade erst so schwungvoll unter meine Zeichnung geschrieben hatte.

Ich musste zweimal hinschauen, um es auch nur einmal glauben zu können. Tatsächlich stand es da 1/Schaub.

Eine glatte Eins hatte er mir für das, was vor mir lag, gegeben!

Die Erste und so weit ich mich erinnere, auch die letzte eins, die ich jemals im Kunstunterricht

bekommen hatte.

Nun, ich wusste, es handelte sich bei dieser Eins eher um eine, sagen wir mal, zweifelhafte Zensur. Denn nicht meinem eben entdeckten Zeichentalent, meiner mir selbst unbekannten Kunstfertigkeit galt diese Eins, sie war wohl einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass ich ihn, Herrn Schaub, zum Lachen gebracht hatte.

Mhm, sollte ich mich nun freuen oder ärgern?

 

"Zeig mal, zeig mal her", drängelten meine Mitschüler flüsternd. "Nun mach schon, zier Dich nicht so!", kam es von der anderen Seite und gerade hatte ich beschlossen, dass es nun wohl auch egal sei, wer mein zweifelhaftes Kunstwerk betrachtete und wer sich alles darüber lustig machen würde, als die Klassentür auch schon wieder aufgerissen wurde und Herr Schaub hereinstürmte.

"Oh nein!", Durchfuhr es mich. Ich hätte es mir aber auch gleich denken können, dass es mit dem Gelächter noch nicht abgegolten war, was ich da, in der mir peinlichsten Kunstunterrichtsstunde meiner gesamten Schulzeit, fabriziert hatte.

Ja, denn Herr Schaub kam nicht mit leeren Händen.

In der einen Hand hielt er einen Bilderrahmen, in der anderen Hammer und Nägel.

Sogleich kam er auf mich zugestürmt, zog mein Zeichenblatt geschwind von meinem Tisch

herunter, flitzte zurück an sein Pult und war nun fünfzehn Minuten damit beschäftigt, diese

Peinlichkeit einzurahmen.

Dann, es hätte nicht schlimmer kommen können, schnappte er seinen Stuhl, schleifte diesen

Richtung Klassentür, stieg hinauf und schlug, direkt oberhalb der Tür, einen Nagel in die Wand, an dem er sogleich dieses, dieses etwas aufhängte.

Dort blieb es hängen. Nicht tage-, nicht wochenlang, sondern es blieb dort hängen, bis ich ein paar Jahre später meinen Abschluss machte.

Und wenn es bis heute keiner abgehängt hat, dann hängt es wohl noch immer dort.

 

Nun, eine ähnliche Peinlichkeit ist mir später noch einmal passiert, nur wurde diese nicht ganz so breitgetreten und blieb ein stillschweigendes Geheimnis zwischen Herrn Schaub und mir.

Ich bin ihm bis heute noch dankbar dafür.

 

Sexualkunde.

Endlich sollten auch wir in dieses kribbelnde Geheimnis eingeweiht werden.

Schon ein paar Wochen zuvor wurde uns dieser, von uns allen mit Spannung erwartete Unterricht angekündigt.

Das wenige, dass wir über Sex wussten, hatten wir einzig und alleine der "Bravo", insbesondere aber einem gewissen Dr. Sommer zu verdanken.

Gab es da vielleicht noch mehr zu erfahren, gar zu entdecken?

Gab es Geheimnisse, die wir nicht einmal erahnten?

Und wenn diese, uns unbekannte Welt der Erwachsenen, vor uns ausgebreitet wird, würden wir dann rot werden?

Fragen über Fragen.

Schon Tage vor diesem großen Ereignis, der allerersten Sexualunterrichtsstunde, tuschelten wir

darüber, was uns wohl erwarten würde.

 

Langweilig.

Ja, das umschreibt es wohl am besten.

Langweilig und öde wurde dieser, von uns so heiß herbeigesehnte Unterricht.

Hatte Herr Schaub denn etwa selbst davon keine Ahnung?

Nun, er war ein etwa 45-jähriger Mann. Eine gewisse Ahnung sollte man deshalb schon

voraussetzen können.

Obwohl, na ja, mir ist nie zu Ohren gekommen, dass er Kinder hatte.

 

Gespannt sahen wir dieser ersten Stunde entgegen. Ob er sich nun auf diese Stunde nicht vorbereitet hatte, ob es ihm vielleicht selbst zu peinlich war, uns Dinge näher zu bringen, über die es zu

sprechen etwas, äh, heikel werden könnte, oder ob er einfach keine Lust auf dieses prekäre Thema hatte?

Mhm, keine Ahnung.

Jedenfalls riss er, wie üblich, die Klassentür auf. Sauste seinem Platz entgegen, machte es sich dort erst einmal bequem und verkündete, wir sollten nun alle zu Beginn erst einmal einen nackten Mann und eine nackte Frau zeichnen.

Ganz so hatten wir uns diesen Unterricht nicht vorgestellt, aber was blieb uns anderes übrig, als

seinen Anweisungen zu folgen?

So kramte auch ich Schreibblock und Bleistift hervor und begann, in meiner bekannt kunstvollen Art, zwei Figuren aufs Blatt zu schmieren.

 

Gott sei Dank, mit den Gesichtern der beiden musste ich mich nicht allzu lange aufhalten. Ich war der Meinung, es würde auf gewisse andere unterschiede ankommen.

Zwei kugelähnliche Gebilde, Punkt, Punkt, Komma, Strich und schon waren beide Gesichter fertig.

Vorsichtshalber bekam das eine einen Bart, während ich dem anderem eine längere Haarpracht

verpasste. Das müsste schon einmal ausreichen, um sie geschlechtlich voneinander unterscheiden zu können.

Jetzt ging es an die Konturen des Körpers. Nun ja, nicht allzu schwierig und schnell fertiggestellt.

Nun noch das bestücken mit geschlechtsspezifischen Merkmalen und dann wäre ich theoretisch

fertig.

 

So begann ich bei der Frau, schien mir diese doch recht einfach.

Zwei Halbkreise, jeweils in der Mitte eines jeden einen Punkt gesetzt und schon strahlten mir ein paar wohlgeformte Brüste entgegen.

Mein Stift wanderte ein wenig herunter, traf dann die Körpermitte und Schwupps, auch der

Bauchnabel fand seinen Platz.

Noch ein wenig tiefer und ja, der Schöpfer hatte es uns Meisterschülern da ganz besonders einfach gemacht. Ein kurzer, senkrechter Strich zwischen den Schenkeln und schon war die Frau komplett.

 

Nun der Mann.

Auch er bekam ein paar, wenn auch deutlich flachere Halbkreise verpasst, auch diese wurden mit etwas kleineren Punkten versehen und schon hätte er, mit der Axt in der Hand, in den Wald stürzen können, um diesen von Bäumen zu befreien. Die Muskeln dazu hatte er jedenfalls schon einmal.

Auch bei ihm vergaß ich den Bauchnabel nicht und machte mich sogleich daran auch ihm das männliche etwas zu verpassen.

Dank sozusagen persönlichem Anschauungsmaterial fiel auch das mir nicht sonderlich schwer.

Nun ja, die Proportionen waren diskussionswürdig, aber was solls, Männern, und zu diesen zählte ich mich damals bereits, fiel es allgemein schwer, die Proportionen an dieser bestimmten Stelle in korrekte Relation zur Realität zu bringen.

So ward ich mit meinem Ergebnis eigentlich recht zufrieden.

 

Wäre diese Zeichnung nun in der Gegenwart entstanden, so hätte ich es dabei bewenden lassen

können und es hätte sicher noch für eine Vier, okay, eine vier minus gereicht.

Da ich aber zu einer Zeit Schüler war, in der Männlein und auch Weiblein noch züchtigen

Haarwuchs trugen, fehlte beiden noch die Schambehaarung.

Dieses Mal begann ich beim Mann.

Ein paar Punkte hier, ein paar Striche dort und schon stand er nicht mehr ganz so nackt vor mir.

Jetzt die Dame.

Ein paar Punkte dort, ein paar Striche hier und ...

Au Backe!

Wie auch immer es passierte, einer dieser kunstvollen Striche war mir deutlich verrutscht und vor mir stand eine nur leicht behaarte Dame die, ich wage es kaum zu sagen, im Stehen zu urinieren schien.

Mist!

Mist, mist, mist!

Das konnte ich so nicht abgeben, auf gar keinen Fall!

Nun gut, auch der noch so größte Künstler, ist nicht vor Fehlern gefeit und, wie schlau von mir, ich hatte schließlich mit Bleistift gezeichnet.

Also, dem Strich ist beizukommen, dachte ich mir und griff behände nach dem Radiergummi aus meiner Schreibmappe.

Warum, bitte schön, warum heißt ein Radiergummi nur Radiergummi, wo der korrekte Name doch eigentlich Verschmiergummi lauten sollte?

Hat es schon jemals irgendwer geschafft mit einem Radiergummi zu radieren?

Ich jedenfalls schaffte es nicht.

Stattdessen verwandelte sich der deplatzierte Strich in etwas, was ausschaute, als wäre der Dame soeben ein etwas, nennen wir es mal, stickiges Lüftchen entfleucht.

Nein, unmöglich, auch das konnte ich so nicht abgeben!

Doch die Stunde schritt erbarmungslos voran.

Vielleicht wäre es jemand anderem geglückt, doch mir, aus Mangel an zeichnerischem Talent,

sicher nicht, alles noch einmal von vorn zu beginnen.

So tat ich das einzige, was mir in diesem Moment als richtig erschien.

Ich malte der Lady dort vor mir eine Behaarung an, die alles überdeckte und der nur noch mit Hilfe einer Heckenschere beizukommen gewesen wäre.

Ob mir die Dame auf dem Blatt vor mir, dafür besonders dankbar gewesen ist?

Das war mir ehrlich gesagt völlig schnuppe. Für mich war dieser Fall erledigt und ich drückte

dieses, äh, Kunstwerk Herrn Schaub in die Hände.

Ein kurzer Blick von ihm, auf das von mir soeben Erschaffene.

Ein weiterer Blick.

Mundwinkel, die sich zu einem leichten Grinsen verzogen. Ein kurzes räuspern, ein leises hüsteln und ein paar Finger, die an seinem Kinn kratzten. Dann legte er das, was ich ihm gerade erst

ausgehändigt hatte, in seine Mappe und nie wieder, nie wieder wurde ein Wort darüber verloren.

Gott sei Dank, Zensuren verteilte er für diese Zeichnungen auch nicht.

Obwohl, vielleicht hätte die meine, mir dann doch wieder eine Eins einhandeln können?

 

Kopfschüttelnd, kopfschüttelnd und vielleicht ein wenig grinsend, sehe ich dich vor mir, liebe

Leserin, lieber Leser.

War es nicht auch ein wenig gemein von Herrn Schaub uns, oder zumindest einige von uns,

vorzuführen? Sich gar lustig über uns zu machen?

Nein!

Denn ich weiß nicht, wie dieser großgewachsene, etwa 45 Jahre alte Mann, dieser für den

Lehrerberuf völlig ungeeignete, tapsige, immer nur brüllende Bär es geschafft hatte. Aber aus uns, aus den einunddreißig Schülerinnen und Schülern, die wir damals waren, gelang ihm eine

Gemeinschaft zu machen.

Etwas, was nie einem Lehrer vor ihm gelungen war, hatte er erreicht.

Hatte das Ich aus unserem Klassenraum verbannt, um dem Wir einlass zu gewähren.

Nein, sicher war ihm das nicht mithilfe eines ausgeklügelten, pädagogischen Plans gelungen und war wohl eher dem Zufall zu verdanken. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass wir in ihm nicht wirklich den Lehrer sahen, sondern das, was er wohl tatsächlich war - ein großer Junge, der

erwachsen sein spielte. Aber geglückt war es ihm und selbst ich, bis dahin geübt im unsichtbar

machen, wollte nicht mehr unsichtbar sein, wollte gesehen und wahrgenommen werden.

Ja, wir lachten, lachten über unsere Mitschüler, lachten über unsere eigene Tollpatschigkeit, lachten auch über ihn, aber immer, immer lachten wir gemeinsam.

Keiner der anderen Schüler unserer Schule konnte es verstehen, warum wir ihn in Schutz

nahmen, warum wir uns vor ihn stellten, wann immer irgendwer schlecht über ihn redete. Vielleicht konnten nicht einmal die anderen Lehrer dieses verstehen und ja, vielleicht nicht einmal wir, die wir seine Schüler waren.

Denn eines hatte er sich in den zwei Jahren, die er an unserer Schule Dienst tat, bewahrt - seinen Ruf des brutalen, prügelnden und rabiaten Unmenschen.

Nicht weil er diesem Ruf wirklich entsprochen hätte, denn niemand wurde je wirklich von ihm

angerührt, sondern einzig und alleine, weil er es zu genießen schien, einen solchen Ruf zu haben und alles daransetzte, diesem Ruf so gut es ging zu entsprechen.

So machte er sich einen Spaß daraus, wenn es an ihm war, die Pausenaufsicht zu übernehmen,

ständig mit einer geladenen Wasserpistole in der Tasche seines Jacketts herumzulaufen, um

unangenehm auffallende Schüler damit zu bespritzen. Oder, wenn sich Schüler in die Wolle

bekamen, mit den anderen um diese einen Kreis zu bilden, und statt die sich raufenden Schüler

auseinanderzuzerren, diese Streithähne auch noch anzufeuern.

Auch er hatte keine Scheu, sich vor uns, seinen Schülern, lächerlich zu machen.

Beispiel gefällig?

 

Niemals, niemals schaffte er es, von der Schulleitung herausgegebene Informationsblätter einfach so an uns weiterzugeben.

Wann immer es solche Merkblätter zu verteilen galt, stürmte er in unsere Klasse, hielt den Packen mit losen Zetteln über seinen Kopf, wedelte damit herum und brüllte "Informäääschen, Informäääschen!", dann warf er den ganzen Stapel in die Luft und wir sahen zu, wie die einzelnen Blätter langsam hernieder rieselten.

"Bitte schön, meine Damen und Herren!", rief er dann, was für uns das Kommando war

aufzuspringen und uns lachend um die Blätter zu balgen.

 

Tja, und dann war ja da noch der Videorekorder.

Einen, einen einzigen von diesen Geräten gab es für die ganze Schule.

Dieser Apparat stand auf einem Rollwagen, auf dem obendrauf auch gleich ein entsprechendes Fernsehgerät montiert war.

Wer die 80er-Jahre erlebt hat, weiß in etwa, welch monströses Gerät ein solcher Videorekorder

damals noch war.

Geschätzte 20 kg schwer, groß, klobig und vor allen Dingen, wahnsinnig kompliziert.

Schon allein einen solchen Apparat zum Laufen zu bringen, setzte mindestens fünf Semester eines technischen Studiums voraus.

Es gar fertigzubringen, eine Fernsehsendung zur Aufnahme zu programmieren, bedurfte schon eines ausgewachsenen Studiums der Raumfahrttechnik.

Mir ist zwar mal zu Ohren gekommen, dass es tatsächlich jemandem gelungen sein sollte, die

letzten zweieinhalb Minuten eines Spielfilms, welcher eine Gesamtlaufzeit von über neunzig

Minuten hatte, völlig fehlerfrei aufzuzeichnen. Da mir persönlich aber eine solche Person niemals unter die Augen geraten ist, reihe ich dieses Gerücht irgendwo zwischen der Legende um Area 51 und Frankensteins Monster ein.

Nun, sei es, wie immer es sei.

Dieser Videoapparat wurde jedenfalls fleißig durch die Schule gerollt und jeder, wirklich jeder, ob Lehrer oder Schüler, machte sich daran zu schaffen. So wundert es nicht, dass dieses Gerät nur

selten in der Schule aufzufinden war, sondern die meiste Zeit seines Daseins in der Werkstatt

unseres örtlichen Radio- und Fernsehtechnikers verbrachte.

Herrn Knops, unserem Hausmeister, war die Aufgabe übertragen worden, dieses Zeugnis

modernster Ingenieurskunst ständig zwischen Schule und besagter Werkstatt hin und her zu

transportieren und so pendelte dieser zwei - bis dreimal die Woche, zwischen Lehranstalt und

Fernsehwerkstatt hin und her.

 

Hoch erfreut über eine Abwechslung, erwarteten wir die Vorführung eines Filmes und damit

verbunden eine angenehm zu verbringende Schulstunde, als Herr Schaub eines Tages, ganz gegen seine Gewohnheit, die Klassentür langsam und vorsichtig öffnete und den Wagen mit dem

besagtem Videorekorder vorsichtig vor sich her schiebend, in die Klasse trat.

Wortlos platzierte er das Gefährt neben seinem Pult, winkte dann zwei Schüler zu sich heran und zu dritt hievten sie das Gerät auf den Schreibtisch.

Dann griff er in die Innentasche seines Jacketts und nach und nach kamen diverse Schraubenzieher, Zangen und zwei Pinzetten unterschiedlicher Größe zum Vorschein.

Das alles legte er sorgfältig neben den Apparat.

Erst dann wandte er sich uns zu.

"Meine Damen und Herren", eröffnete er seine Ansprache, "mir ist es immer ein Rätsel

gewesen, warum niemand, wirklich niemand an der gesamten Schule, in der Lage zu sein scheint, ein solch simpel konstruiertes Gerät, wie dieser Videorekorder eines ist, ordnungsgemäß zu

bedienen", verkündete er mit erhobener Stimme und setzte sogleich hinzu, "noch unbegreiflicher aber ist mir, dass es unter all den scheinbar intelligenten Menschen an dieser Schule nicht

Einen, und ich betone, nicht einen einzigen zu geben scheint, der die Fähigkeit besitzt, einen

kleinen, unbedeutenden Defekt an Ort und Stelle zu beheben", donnerte er mit erhobenem

Zeigefinger.

"Nun, einen gibt es doch. Mich!" rief er triumphierend.

"Und damit auch Sie nicht ganz dumm sterben, habe ich beschlossen, Sie in das technische

Geheimnis, welches hinter dieser Kulisse von Blech liegt, einzuweihen"

 

Mathematik, Deutsch, Biologie?

Keine Ahnung, in welchem Fach er uns eigentlich in dieser Stunde hätte unterrichten sollen, aber welches auch immer es sein könnte, die konstruktionsweise eines Videorekorders passte irgendwie nicht so richtig in den Stundenplan.

"Nun schauen Sie her und geben acht, Sie können dabei nur lernen", schwadronierte er und griff auch schon zu dem Schraubendreher, welcher ihm am nächsten lag.

Entspannt lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Die Stunde war gelaufen, wusste ich und was auch immer Herr Schaub uns vorzuführen gedachte, es konnte nur schiefgehen!

Beherzt setzte er den soeben ergriffenen Schraubendreher an. "Das A und O ist es, sich immer zu merken, an welchem Platz jede Schraube und jedes der anderen Teile, die ich nun freilegen werde, ihren Platz haben" resümierte er weiter.

Schraube um Schraube löste er nun, entfernte dann endlich die Abdeckung des Rekorders und schon gab das Innere des Apparates sein Geheimnis preis.

"Et voìla!", rief er triumphierend, "so einfach ist das!"

 

Jetzt hätte er es dabei bewenden lassen können und die Sache wäre vielleicht noch gut gegangen, aber einmal in Fahrt gekommen, ließ ein Herr Schaub sich nicht mehr aufhalten.

Jetzt machte er sich daran, dem Gerät die Eingeweide zu entlocken. Er drehte dort, löste hier, nahm auch so manches Mal die Zange zur Hand, um Unwilliges davon zu überzeugen, das man ihm, dem Lehrer, nicht widerstehen konnte.

Nach und nach türmte sich ein immer größer werdender Haufen Schrauben, Zahnräder, losen

Kabeln und allerlei Dingen, deren Namen wir nicht zu benennen wussten, neben dem leer und

leerer werdenden Gehäuse des Schlachtviehs. Kurz vor ende der Stunde dann wieder ein

beglücktes: "Et voìla, es ist vollbracht!"

Grinsend hielt er, wie eine Trophäe, den größten seiner Schraubenzieher in die Höhe, fuchtelte

damit in der Luft herum und teilte uns mit: "Und in der nächsten Stunde werde ich Ihnen zeigen, wie einfach es ist, ein solches Gerät wieder zusammenzubauen", dann entließ er uns in die Pause.

 

Er hätte es gar nicht erst versuchen sollen, denn wir alle, vermutlich auch er selbst, wussten genau, das konnte nicht klappen.

Aber so etwas wie Jagdfieber, gepaart mit der Aussicht eines von allen bewunderten Triumphes, hatte ihn wohl gepackt.

Jedenfalls, gleich nach der Pause konnte er es kaum erwarten, das Werkzeug wieder zur Hand zu nehmen, um uns allen den Beweis seiner überragenden technischen Kenntnisse zu liefern.

"Hat sich einer von Ihnen die Reihenfolge gemerkt, in denen ich diese Teile dem Gerät entnommen habe?", dabei deutete er auf den großen Haufen neben sich.

Mehr als verneinendes Schulterzucken gab es für ihn nicht zur Antwort.

"Aber ich!", rief er, was von uns allen stark bezweifelt wurde, wir uns aber nicht getrauten, auch vorzubringen.

"Geben Sie gut acht, so einfach ist das!", forderte er uns auf und machte sich auch schon daran, an dem nackten Gehäuse herumzuwerkeln.

 

Zu Beginn schien es auch ganz gut zu laufen. Nach und nach wurde der Haufen neben ihm

zusehends kleiner, doch je weiter er voranschritt, je angestrengter murmelte er vor sich hin.

So ganz hatte es wohl noch nicht geklappt, denn nun wurde der Haufen, welcher eben noch deutlich an Höhe abgenommen hatte, allmählich wieder größer.

Schon begann seine Stirn zu glänzen.

Erste Schweißperlen bildeten sich, doch unbeirrt und verbissen verfolgte er weiter, was von

vorn herein zum scheitern verurteilt war.

 

Irgendwann schien er uns völlig vergessen zu haben und wir saßen da, beobachteten, wie der Stapel neben ihm mal kleiner, mal größer wurde. Mal abnahm, dann wieder zunahm.

Die Stunde schritt voran und noch immer hatte der Haufen nicht merklich abgenommen. Noch

immer sah das Gehäuse des Videorekorders einem Berg Elektroschrott ähnlicher, als dem, aus dem dieser einmal entstanden war.

Endlich richtete sich Herr Schaub auf, wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß vom

Gesicht, warf den Schraubendreher auf seinen Pult, blickte uns dann der reihe nach an und

donnerte: "So, meine Damen und Herren, heute haben Sie erfahren, wie man es nicht macht!"

Und wir alle fingen an zu lachen, lachten, bis uns die Tränen kamen und selbst Herr Schaub musste sich einen Moment lang setzen, wollte er nicht Gefahr laufen, vor Lachen umzufallen.

 

Als wir uns dann endlich alle wieder beruhigt hatten, orderte er zwei der Mädels heran, befahl

ihnen, zum Hausmeister zu gehen und sich bei diesem einen großen Karton aushändigen zu lassen.

Die Mädchen sausten lachend los und tauchten auch schon nach kurzer Zeit mit dem gewünschten wieder auf.

Herr Schaub nahm den Karton an sich, wischte sämtliche Eingeweide des Rekorders mit einer Handbewegung in den selbigen und legte, ganz oben auf, das Gehäuse. Dann kommandierte er zwei der Jungs zu sich und gab ihnen zur Aufgabe den, nun ordentlich gefüllten Karton, zurück zu Herrn Knops, unserem Hausmeister, zu transportieren.

"Und sollte dieser irgendwelche Fragen haben, sagt ihm, das Ding wäre einfach so, ganz plötzlich kaputtgegangen und er könne sich an mich wenden, wenn er nicht wüsste, wie es wieder zu

reparieren wäre", damit entließ er die beiden.

Nun, ob Herr Knops tatsächlich noch Fragen hatte, haben wir nie erfahren, aber so ganz ohne

unangenehme Fragen ging dieser Reparaturversuch sicher nicht ab.

 

Ich hatte es ja schon erwähnt, die Pausen dienten mir selten zur Erholung, sondern dazu, meinen Geschäften nachzugehen. So trug ich immer zwei oder drei Schachteln Zigaretten bei mir, von denen sich in der großen Pause gut die hälfte verkaufen ließ.

Meine Kundschaft zu finden, war nicht schwierig, denn ganz am ende des Schulgebäudes, in einer Ecke und nicht einsehbar, weder vom Lehrerzimmer aus, noch von der Pausenaufsicht, befand sich die "Raucherecke".

Einer großen Erklärung bedarf diese sicher nicht, denn eine jede Schule besitzt eine solche.

Und so, wie in jeder anderen Schule auch, kannte sie jeder, einschließlich der Lehrer.

Mir war es stets ein Rätsel, warum nie irgendjemand ernsthaft gegen diese "Raucherecken" vorging.

Ich nehme an, es war den Lehrern und der Schulleitung lieber, zu wissen, wo sich die Raucher

herumtrieben, anstatt befürchten zu müssen, dass sie verbotenerweise das Schulgelände verließen , was dann zu größeren Schwierigkeiten führen könnte, sollte einem Schüler einmal, außerhalb des Schulgeländes, etwas zustoßen.

So rotteten sich die einen in den Pausen in besagter Ecke zusammen, während die anderen so taten, als wäre dieser Teil des Schulgeländes noch unerforschtes Gebiet.

 

Nun, der Trick bei der Sache war nicht etwa die Beschaffung der Glimmstängel, denn zu der Zeit wurden sie noch jedem Vorschulkind, ohne Fragen zu stellen, ausgehändigt. Nein, der Trick lag

darin, dass Zigaretten schon damals recht teuer waren, sodass es sich ein durchschnittlicher Schüler kaum leisten konnte, gleich eine ganze Schachtel zu erstehen.

Ich sprang nun in diese Bresche, deckte mich in dem Laden meiner Eltern mit Zigaretten ein und verkaufte sie, mit Gewinn versteht sich, einzeln weiter.

Klar, es gab auch einzelne Schüler, die dasselbe versuchten, nur war mein Nachschub an Zigaretten schier unerschöpflich und wichtiger noch, ich war konkurrenzlos billig.

Von Vorteil war außerdem noch, ich selber rauchte nicht, musste also nicht mein eigener Kunde werden und meinen kleinen Gewinn durch die eigenen Lungen jagen.

So hatte ich nach kurzer Zeit den Markt fast vollständig an mich gerissen und die Kundschaft lief mir buchstäblich hinterher.

 

Wieder einmal stand ich also in der Raucherecke, hatte eine Packung Zigaretten in der Hand und feilschte gerade um den Preis, als plötzlich eine Hand von hinten hervorgeschossen kam und sich um die Packung schloss.

"Was wird das denn?", kam die drohende Frage. Ich blickte hinter mich und, ächz, vor mir stand Herr Hübner.

Dieser sonst recht beliebte Lehrer hatte gerade die Pausenaufsicht und wir alle wussten, wenn es

etwas gab, was Herrn Hübner auf die Palme brachte, dann war es das Rauchen.

Flugs scheuchte er alle, die sich in der Raucherecke herumgedrückt hatten fort. Nur ich musste

bleiben.

Ernst sah er mich an, dann gab er mir wortlos, nur mit einer Handbewegung Zeichen, ihm auch alle anderen Zigaretten zu übergeben, die ich noch bei mir trug.

Verlegen wühlte ich in meinen Hosentaschen herum und drückte ihm erst die eine, dann die andere Schachtel in die ungeduldig geöffnete Hand.

Ganz zum Schluss, sozusagen um meinen guten Willen zu zeigen, legte ich ihm auch noch das

Einwegfeuerzeug obendrauf, das ich, als guter Geschäftsmann, ebenfalls immer bei mir trug.

Eine halb volle, zwei ganz volle Zigarettenpackungen und schließlich noch das Feuerzeug waren ihm in die Hände gefallen. Ich sah mich schon, völlig verarmt, bettelnd in der Fußgängerzone

sitzend.

Vorsichtshalber legte ich schon einmal die Ohren an, erwartete ich doch nun eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Doch stattdessen ließ Herr Hübner meine Schätze in seiner Jackentasche

verschwinden, meinte noch kurz „Alles weitere wirst Du dann mit deinem Klassenlehrer

besprechen können", drehte sich um und ging.

Ließ mich dort einfach so, mit noch immer angelegten Ohren, in der Botanik stehen.

Lehrer sind komisch und nicht für diese Welt gemacht, kam mir nicht zum ersten Mal der Verdacht.

Mit unangenehmen Erwartungen sah ich dem Ende der Pause und dem Beginn der nächsten Stunde entgegen.

 

Wie könnte es auch anders sein, diese begann bald darauf.

Gewohnt schwungvoll betrat Herr Schaub unseren Klassenraum.

Trabte auch sogleich Richtung Pult und begann sich auch schon, wie fast immer, das Jackett

auszuziehen, als er noch einmal kurz in dessen Taschen griff und etwas daraus hervorholte, was er dann, ganz an den Rand auf eine der Ecken seines Schreibtisches drapierte.

Zwei volle, eine angefangene Schachtel Zigaretten und obenauf mein Feuerzeug.

Irgendetwas hatte ich nun erwartet, aber Herr Schaub war nicht der Typ, der irgendwelche an seine Person gerichteten Erwartungen auch gedachte, zu erfüllen.

So begann er den Unterricht, schrieb irgendetwas an die Tafel, erzählte etwas, stellte Fragen und hörte sich Antworten an.

 

Um was es ging?

Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Fast die ganze Unterrichtsstunde über starrte ich wie

gebannt auf das, was eigentlich, wenn auch verbotener maßen, mir gehörte und konnte mich nicht auch noch auf anderes konzentrieren.

Seltsam, denn seit langer Zeit wieder, schien ich unsichtbar zu sein.

 

Die Stunde war fast vorbei, nur noch wenige Minuten und das Klingeln würde mich erlösen, als endlich, endlich Herr Schaub an sein Pult schritt und fast so, als sähe er es zum ersten Mal, auf mein Geschäftsinventar blickte.

"Ach so, ja richtig, da wäre ja noch was", meinte er, griff sich den Packen und kam mit diesem

langsam auf mich zu.

"Tja, Ralf", meinte er und mir wurde klar, in irgendeiner Form nun von ihm verkackeiert würde ich nicht werden, denn dann, das wusste ich lange schon, hätte er mich mit "Herr" angesprochen.

"Tja, Ralf, Herr Hübner hat mir erzählt, er hätte dich beim Verkauf von Zigaretten erwischt, stimmt das?"

Nun, wieso sollte ich leugnen, die Beweise dafür hielt er schließlich in seiner der Hand.

So richtig wusste ich dennoch nicht, was ich dazu sagen sollte, so nickte ich nur mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.

"Ein einträgliches Geschäft?", wollte er wissen.

"Mhm, geht so", brachte ich kleinlaut hervor.

"Was kostet denn die Zigarette bei dir?"

"Fünfzehn Pfennige das Stück", erwiderte ich wahrheitsgemäß.

"Na ja, Reich kannst Du dabei aber nicht werden" und legte bei diesen Worten meine verbotene

Habe vor mir auf den Tisch.

Am liebsten hätte ich alles gleich an mich genommen und in Sicherheit gebracht, traute mich aber nicht, sie auch nur zu berühren, aus Angst mich zu verbrennen.

"Nun, in Zukunft nimmst Du zwanzig Pfennig und sollte sich jemand beschweren, sag ihm, fünf Pfennig wären ab sofort Gefahrenzulage und er könne sich ja an mich wenden, wenn es dazu noch irgendwelche Anmerkungen gäbe."

"Ähhh, mhm, ähhh, ja", mehr brachte ich beim besten Willen nicht heraus.

Herrn Schaub schien es jedenfalls zu genügen, denn er drehte sich um, schritt zu seinem

Schreibtisch und entließ uns in die Pause.

Ja, Lehrer, Lehrer waren wirklich komische Leute. Sie waren nicht für diese Welt gemacht und manchmal schien es mir, sie stammten nicht einmal von dieser.

 

Schulfest.

Oh man, gab es etwas Schlimmeres als Schulfeste?

Okay, ausgenommen Matheprüfungen vielleicht.

Schulfest.

Eine leidige Pflichtübung, die es galt, möglichst schnell und ungeschoren hinter sich zu bringen.

Dies war leider nicht nur als Gelegenheit gedacht, Eltern, Großeltern und Geschwistern zu zeigen, was man so das ganze Jahr über in den verschiedenen Unterrichtsfächern geleistet hatte, sondern es war auch gleichzeitig eine Möglichkeit für die Eltern, den Lehrern näher zu kommen, als uns

Schülern lieb sein konnte und auf neugierige Fragen, was denn ihre Sprösslinge so in der Schule trieben, für uns oft sehr unangenehme Antworten zu erhalten.

Ich war ja der festen Überzeugung, Eltern dürften den Lehrern ihrer Schutzbefohlenen nicht näher als, sagen wir mal, zwei Kilometer kommen. Zumindest sich aber außerhalb der Sicht und -

wichtiger noch - Hörweite aufhalten zu dürfen. Ein Gesetz, welches beim Zusammendrechseln des Grundgesetzes eindeutig sträflich vergessen wurde.

Nun ja, aber damals blieb uns nichts anderes übrig.

Schulfest - und jeder war verpflichtet mitzumischen.

 

Erfreut verkündete uns Herr Schaub den Termin für die bevorstehende Festivität und erwartete

umgehend begeisterte Vorschläge, wie wir, als Klasse, diese zu gestalten gedenken. Denn, so sah es die Schulordnung vor, jede einzelne Klasse müsste sich daran beteiligen und ihren Beitrag zum

gelingen dieser zur schaustellgestellten schulischer Leistungsfähigkeit leisten. Von Begeisterung konnte unsererseits konnte keine Rede sein und so kamen nur zögerlich und halbherzig

vorgetragene Vorschläge zustande.

Sollten wir vielleicht ein Lied singen?

Wie wäre es mit dem aufsagen von Gedichten?

Oder aber die Aufführung eines kurzen Theaterstückes?

Mhm, auch nicht?

Na, dann vielleicht ein paar witzige Sketche vortragen?

Oder nein, wir könnten ja alle miteinander musizieren.

Ach nein, geht nicht, das setzte ja zumindest voraus, dass der eine oder andere von uns ein

Musikinstrument beherrschen müsste.

Kuchen Backen und diesen an die Gäste verkaufen?

Auch nicht?

Egal, was wir auch vorbrachten, Herrn Schaub gefiel nichts davon.

"Zu langweilig, zu uninteressant", kommentierte er unsere Ideen. Oder aber "Nein, dass machen die anderen schon und außerdem wäre viel zu wenig „Wumms“ in unseren Vorschlägen".

Ja, eine Idee mit „Wumms“ wollte er von uns.

Am besten etwas, was einschlug wie eine Bombe.

Etwas noch nie dagewesenes.

Etwas wovon noch ganze Generationen von Schülern und Lehrern sprechen würden. Man konnte Herrn Schaub sicher vieles nachsagen, Bescheidenheit aber sicher nicht.

Egal, was wir auch vorbrachten. Herr Schaub winkte ab, schüttelte unwillig mit dem Kopf, und wenn ihm ein Vorschlag überhaupt nicht zusagte, verzog er auch schon mal die Mundwinkel und ließ ein grunzen von sich hören.

So überschlugen wir uns schließlich fast, brachten aberwitzige Sachen aufs Tapet, redeten

irgendwann völlig durcheinander, warfen Dinge ein, um sie gleich darauf wieder zu verwerfen und je mehr und hitziger wir diskutierten, je mehr gefiel dies unserem Lehrer.

 

Und endlich, endlich war es geschafft!

Wir hatten unsere Idee, etwas was auch ordentlich „Wumms“ hatte und von dem alle, so hofften wir, noch lange sprechen würden.

Nicht einem einzelnem Kopf war unser Plan entsprungen, sondern es war eher, als hätte man Stücke unterschiedlicher Vorschläge gemeinsam in einen Topf geschüttet, ein wenig umgerührt, ein

bisschen geschüttelt, dass ganze dann auf heißer Flamme vor sich hinköcheln lassen, noch eine

Prise Wahnsinn hinzugegeben und sich dann gewundert, was am Ende daraus hervorgekommen war.

Hurra, wir bauen eine Geisterbahn!

 

War die Idee, nach einigen Umwegen, auch schnell geboren, die Ausführung schien uns dann doch nicht so leicht.

Ein Raum für unsere Geisterbahn ward schnell gefunden. Im obersten Stockwerk der Schule gab es drei hintereinanderliegende Räume, diese waren nur durch Schiebewände voneinander getrennt und öffnete man sie, so erhielt man einen ziemlich großen Saal. Gerade richtig für unser Vorhaben.

Herrn Schaub oblag es, die Schulleitung davon zu überzeugen, uns diese Räume zu überlassen,

ohne aber unser Geheimnis, denn ein Geheimnis sollte es bis zum letzten Augenblick bleiben, zu verraten, was wir mit den Räumen vorhatten.

Tja, kein großes Problem für Herrn Schaub. Schon am nächsten Tag tat er kund, das Obergeschoss wäre unser!

Ich denke mal, wenn die Lehrer und die Schulleitung ebensolchen Respekt vor ihm hatten, wie der Rest der Schülerschaft, war es ihm sicher ein leichtes gewesen, diese zu "überreden", uns die Räume zu überlassen, ohne weitere Fragen zu stellen.

Jetzt aber kam der weit schwierigere Teil.

Wie sollte unsere Geisterbahn aussehen, wie sollte unsere Kundschaft durch diese hindurchbugsiert werden? Welche Materialien benötigten wir und welche hatten wir überhaupt zur Verfügung?

 

Knapp vier Wochen hatten wir Zeit, unsere Geisterbahn zu planen und zu realisieren. Vier Wochen, die wir mit Ausmessen, Schneiden, Hämmern, Kleben und Malen verbrachten. In denen wir uns neue Unheimlichkeiten ausdachten, diese wieder verwarfen und durch andere ersetzten, nur um die ersten gleich darauf wieder aufzugreifen und um mehr als nur einmal ganz von vorne zu beginnen.

 

Vier Wochen, zu kurz um das alles neben dem normalem Unterricht zu schaffen, und so trafen wir uns auch in der unterrichtsfreien Zeit und werkelten weiter.

An unserer Seite immer Herr Schaub der uns so manches Mal ermahnen musste, endlich nach

Hause zu gehen, wenn wir nicht gedachten, auch noch die Nächte in der Schule zu verbringen. Er war es auch, der uns mit allem versorgte, was nötig war, um weder verdurstet noch verhungert aus den Latschen zu kippen.

Manch ein später Spaziergänger, den es an unserer Schule vorbeiführte, musste sich wohl

gewundert haben.Was war nur los dort, hinter den großen, verhangenen Fenstern, mochte er sich fragen. Wem oder was galt all das Lachen und die fröhlichen Stimmen, die dort zu ihm herunter klangen?

Uns konnte es egal sein, wir waren viel zu sehr mit uns selbst und vor allen Dingen, mit unserer Geisterbahn beschäftigt, um uns über sich wundernde Spaziergänger zu wundern.

Selbst Herrn Knops, unseren Hausmeister, hatten wir dazu überreden können, mit Bohrmaschine und Stichsäge anzurücken, um unsere Fantasien in die Realität umzusetzen.

Nicht ohne ihn aber vorher zu absolutem Stillschweigen zu verpflichten.

 

Unsere Tätigkeit blieb nicht unbemerkt.

Wie auch, wo doch das ganze obere Stockwerk der Schule bald einer einzigen Baustelle glich. Wo bald Schwaden von Gerüchen nach Leim und Lack von dort aus, durch das ganze Gebäude

waberten. Wo gehämmert und gesägt wurde und worüber sich die Schulleitung sicher das eine um das andere Mal Sorgen machte, ob nach dem, was auch immer dort oben vor sich ging, die Schule nicht anschließend einer Grundsanierung bedurfte.

In den Pausen oder wann immer uns einer zu fassen bekam, wurden wir zur Seite gezogen.

"Sag doch mal ...", "Mir, mir wenigstens kannst‘e es doch sagen, ich sag es bestimmt auch nicht weiter ..." , "Nur eine kleine Andeutung, biiiteee!"

Solche, oder ähnlich neugierige Sätze musste sich wohl jeder von uns anhören.

Doch wir, wir hielten eisern dicht!

 

Stellwände, eigentlich für das abtrennen von Räumlichkeiten bei Ausstellungen gedacht, wurden von uns herangeschleppt. Bettlaken von zu Hause mitgebracht, um aus ihnen gar fürchterliche

Gespenster zu zaubern. Masken aus Pappe, Pappmaschee und sehr viel Farbe, wurden zu

unheimlichen, gefräßigen Monstern.

Fäden, von der Decke herunterbaumelnd wurden zu Spinnennetzen erklärt. Einige Tüten Mehl

würden als Staubersatz dienen. Gummitiere aller Art krabbelten an Wänden hoch oder seilten sich, an fast unsichtbaren Nylonfäden, von der Decke herab, um dann im richtigen Moment, dem

erschreckten Publikum über die Gesichter zu fahren.

Ja, eine Weile dachten wir sogar daran, auf dem Boden richtige Gleise zu verlegen, um mit

Wägelchen darüber hinweg zu rattern. Verwarfen diesen Gedanken dann aber wieder, als zu teuer und technisch nicht durchführbar.

So mussten schließlich zwei alte, kunstvoll von uns bemalte und ein wenig umgebaute,

Kinderwagen als Ersatz dienen, die dann, würde es endlich so weit sein, von zwei Gespenstern durch die Geisterbahn geschoben werden würden.

Sogar die Asservatenkammer, in der das Material für den Biologieunterricht untergebracht war,

hatten wir gestürmt und uns dort einen ganz besonderen Gast angeeignet.

„Mr. Marlboro", wie er von der gesamten Schülerschaft liebevoll genannt wurde. Ein lebensgroßes Skelett, welches später dann, vor dem Eingang drapiert, Kundschaft anlocken sollte.

Nun er, „Mr. Malboro“, war uns sicher dankbar dafür, endlich wieder frische Luft durch seine

verstaubten Knochen pfeifen lassen zu können.

Lachend stießen wir uns gegenseitig in die Seiten, klopften uns auf Schultern oder Stellen, die der Körper sonst noch so hergab. Spornten uns gegenseitig an und so einige Farbkleckse wanderten nicht auf die ihnen zugedachten Stellen, sondern landeten, wie zufällig, auch mal in gerade so

neugierig zuschauende Gesichter.

Ja, Spaß hatten wir und während wir dort klebten, strichen, bohrten und hämmerten, wurde es von Mal zu Mal schwieriger, den Lehrer von den Schülern zu unterscheiden.

 

Wie viel sollten wir nun als Eintritt verlangen, denn ganz so, nur aus lauter Vergnügen, fand dieses Schulfest nicht statt. Geld wurde gesammelt oder durch den Verkauf von Speisen und Getränken eingenommen, um damit die Kassen der einzelnen Klassen ein wenig aufzufüllen.

Auch unsere Klassenkasse konnte gut eine kräftige Finanzspritze vertragen.

Schließlich entschieden wir, der Eintritt solle 1 DM kosten. Kein allzu hoher Betrag, aber einer, den sich jeder leisten könne und, so träumten wir, unsere Klassenkasse zum Bersten bringen würde.

 

Nur vier Wochen, aber wir schafften es!

Noch fünfzehn Minuten vor Beginn des großen Ereignisses wurden Vorhänge aufgehängt, um die Fenster und den Eingangsbereich zu verdunkeln. Taschenlampen wurden mit farbigen Birnen

versehen, um für unheimliches Licht zu sorgen, und jedem fiel im letzten Moment noch etwas ein, was es noch besser zu machen galt.

Zehn Minuten vor Beginn wurden die letzten Kostüme begutachtet, an den letzten Masken noch ein wenig herumgezupft.

Fünf Minuten noch und fast hätten wir vergessen, die Schilder unten an der Treppe anzubringen, die den Weg ins oberste Stockwerk weisen sollten.

Aus Pappe zurechtgeschnittene Pfeile, die die Aufschrift "Zur Geisterbahn" trugen.

Noch zwei Minuten und immer noch war das Schild über dem Eingang der Geisterbahn nicht

richtig befestigt, der Tisch mit der Kasse noch nicht ordentlich drapiert und ja, auch „Mr. Marlboro“ wartete noch auf seinen Auftritt.

Aber dann, buchstäblich in letzter Sekunde, war es endlich geschafft!

 

Und dann, dann geschah nichts!

Niemand verirrte sich zu uns, kein mutiger traute sich in unsere Geisterbahn. Nicht einmal ein paar Neugierige kamen die Stufen herauf, um sich anzuschauen, was es da oben so gab.

Hatte vielleicht irgendwer die Schilder unten an den Stufen, welche zu uns hinaufführten, entfernt?

Jemand wurde losgeschickt, um das zu überprüfen, kam aber sofort wieder. Nein, die Schilder

hingen noch.

Werbung, Werbung war alles, dachten wir, und schnell wurde dünner Karton, den wir noch im Überfluss hatten, besorgt, zu kleinen Kärtchen geschnitten und bald prangte das Wort "Freikarte, gültig für eine Fahrt" in bunten Buchstaben auf ihnen.

Ein paar der Mädchen machten sich auf, diese unten, unter den Gästen und Schülern zu verteilen.

 

Doch auch jetzt kam niemand.

Die Kärtchen landeten in den Papierkörben oder wurden achtlos auf den Boden fallen gelassen.

Hatten wir etwas falsch gemacht?

Sahen unsere Gespenster vielleicht doch zu sehr nach Bettlaken aus?

Waren die Masken zu wenig gruselig, erinnerten sie vielleicht etwas zu sehr an Clowns?

Vier Wochen, vier anstrengende, schweißtreibende Wochen und alles umsonst?

 

Wir saßen untätig in unserer Geisterbahn herum, hockten enttäuscht und mutlos im Kreis auf dem Fußboden, während Herr Schaub rastlos vor uns auf und ab schritt: "Sie werden schon noch

kommen", murmelte er unablässig, "ein bisschen Geduld nur, dann werden sie schon kommen".

Glaubte er selbst noch daran?

Hin und wieder öffnete er die Tür. Blickte zu Kathrin, unserer Klassensprecherin, die am Tisch vor der Kasse saß und untätig mit ihren Fingern spielte. Wann immer er auch die Tür öffnete, schaute sie ihn an und zuckte nur hilflos mit den Schultern.

Niemand kam.

Von unten konnten wir das lärmen all der Schüler und Gäste hören. Lachen und Musik drangen zu uns hoch. Doch zu uns kam niemand. Nicht ein einziger verirrte sich zu uns.

 

Fast zwei Jahre schon waren wir die Klasse von Herrn Schaub. Zwei Jahre, in denen er aus uns

allen Eins hat werden lassen. So wundert es eigentlich nicht, dass wir irgendwann alle gemeinsam begriffen, warum keiner zu uns kam.

 

Wir waren die Klasse von Herrn Schaub. Von ihm, der sich seinen schlechten Ruf auch in den zwei Jahren, die er unser Klassenlehrer war, erhalten hatte.

Noch immer war er der meist gefürchtete, meist gehasste Lehrer der Schule.

Und wir, wir waren seine Schüler.

Nein, viel mehr als das, waren wir alle doch zu Freunden geworden.

 

Wie oft hatten wir uns vor ihn gestellt, ihn verteidigt, wenn uns wieder einmal zu Ohren kam, welch ein Tyrann er angeblich sei.

Brutal, prügelnd und ungerecht sei er. Wie oft hatten wir das gehört.

ebenso oft, wie unsere Argumente abgewunken wurden, wenn wir versuchten, unsere Mitschüler vom Gegenteil zu überzeugen.

Herr Schaub, der am meisten verabscheute Lehrer der Schule und wir, wir standen hinter ihm.

Damals, in der Geisterbahn auf dem Boden sitzend, wurde es uns allen klar, durch die Freundschaft, die uns mit diesem tapsigen Kerl verband, hatten wir uns selbst, als Klasse, ins Abseits gestoßen.

Er hatte den schlechtesten Ruf, den ein Lehrer überhaupt haben konnte und etwas von seinem Ruf hatte auf uns abgefärbt.

Man traute ihm nicht, deshalb traute man auch uns nicht.

Deshalb und nur deshalb kam niemand zu uns und unserer Geisterbahn.

 

Ob meine Mitschüler in diesem Moment der Erkenntnis dasselbe empfanden wie ich?

Ich weiß es nicht, denn nie haben wir darüber gesprochen.

Aber in dem Moment, als mir bewusst wurde, warum wir gemieden wurden, tat er mir Herr Schaub unendlich leid.

Ich betrachtete ihn, wie er ungeduldig vor uns auf und abmarschierte und das, was ich empfand, war nicht Mitleid mit uns, die wir vier Wochen lang für nichts gearbeitet und selbst unsere Freizeit geopfert hatten. Ich empfand tiefes Mitleid mit diesem Typ da, dem Kerl, der den harten Mann spielte und doch weich wie Butter war. Der, der versuchte, so selbstsicher aufzutreten und dabei ausschaute wie ein tapsiger, unbeholfener Bär, der auch mal das eine oder andere, ganz ohne

Absicht, kaputt schlug.

Es gab mir einen Stich in der Brust, als ich ihn dort vor uns, immer hin und her laufen sah,

vielleicht auch, weil ich begriff, auch er musste wissen, warum niemand zu uns kam.

Am liebsten wäre ich aufgesprungen, um ihn zu umarmen, doch einen Herrn Schaub umarmte man nicht. Man haute ihm kräftig auf die Schulter, knuffte ihn in die Seite oder gab ihm einen

freundschaftlichen Boxhieb, nur umarmen tat man ihn nicht.

 

Waren es nun wir, unsere mutlosen Gestalten, die dort, immer noch in ihren Kostümen sitzend,

traurig und mit hängenden Köpfen, auf dem Fußboden vor ihm hockten, oder war es die Erkenntnis, dass eigentlich nur er alleine schuld daran trug, dass niemand unsere Geisterbahn besuchen wollte?

Jedenfalls, irgendwann zog er sein Portemonnaie hervor, kramte zwei große Scheine heraus und gab einem von uns die Anweisung in den Supermarkt, der sich gleich gegenüber der Schule befand, zu laufen, um diese in Fünfmarkscheine umzutauschen.

Er hatte einen Plan!

 

Bald schon hielt er ein ganzes Bündel Fünfmarkscheine in seiner Hand und gab Kommando, uns

bereit zu machen, und zog schließlich von dannen.

Wollte niemand freiwillig kommen, so half er eben nach.

 

Durch Respekt, den alle vor ihm hatten, gepaart mit der Verlockung bald fünf Mark sein eigen

nennen zu können "überredete" er die potenzielle Kundschaft dazu, zu uns und unserer Geisterbahn zu kommen, um eine Fahrt zu riskieren.

Schon bald standen die ersten tatsächlich vor unserem Eingang und oh Wunder, fast wäre uns das Wechselgeld ausgegangen, bezahlte doch ein jeder mit einem Fünfmarkschein.

 

Die ersten wurden in unsere umgebauten Kinderwagen bugsiert und schon konnte es

losgehen.Unter blitzenden, farbigen Lichtern, die hier und da kurz aufflammten, ging es durch die ansonsten dunkle Geisterbahn. Gespenster sprangen hervor, rissen die Arme auseinander, riefen "Buh!" und waren auch schon wieder verschwunden. Da, ein unheimliches Monster tauchte

plötzlich von irgendwoher auf, kam näher und näher. Fletschende Zähne, gerade als sie zubeißen wollten, waren sie auch schon wieder in die Dunkelheit eingetaucht, nur um einer anderen

Attraktion Platz zu machen, die noch fürchterlicher aussah, wie die vorhergehende.

Was kroch da auf dem Gesicht entlang?

Etwa eine dicke fette Spinne?

Eine Schlange gar, die sich von der Decke herabließ?

Noch war der Schrecken zu groß, noch kämpfte man mit den Spinnweben, die von überallher auf einen herabzurieseln schienen, als dass man sich schon darüber große Gedanken machen konnte.

 

Nun, ja, vielleicht waren die Schreie zu fröhlich, um nackte Angst sein zu können. Vielleicht war auch manches Quieken zu freudig, als das Furcht dahinter stecken könnte. Aber doch, unsere

Geisterbahn wurde ein voller Erfolg!

Bald schon waren die fünf Mark Scheine verbraucht und die ersten kamen und hielten uns

Freikarten unter die Nase.

Eiligst zusammengesucht in Papierkörben oder aufgesammelt vom Fußboden, auf den sie noch vor einer Stunde achtlos fallen gelassen wurden.

Und dann, dann klingelte es endlich auch in der Kasse!

Es hatte sich herumgesprochen, einer hatte es dem anderem erzählt: "Da oben, in der Geisterbahn, da ist was los!"

Die Schlange vor unserem Eingang wurde länger und länger und viele, die sich hinten anstellten,

taten das schon zum zweiten oder dritten Mal, was unschwer an dem Staub, sprich Mehl, zu

erkennen war, von dem ein jeder unserer Fahrgäste, kurz bevor er durch den Ausgang geschoben wurde, ein Häuflein abbekam.

Markstück um Markstück wanderte unablässig in die Kasse und hatte Kathrin zu Beginn noch

versucht, den sich ansammelnden Betrag im Kopf mitzuzählen, hatte sie das nun längst schon

aufgegeben.

Schweißgebadet aber glücklich, beförderten wir einen Fahrgast nach dem anderen durch unsere, in vier Wochen harter Arbeit entstandene Geisterbahn.

Der glücklichste von uns allen aber war wohl Herr Schaub, der aufgeregt wie ein kleines Kind

ständig breit grinsend hin und her lief und selbst so einige Markstücke in der Kasse verschwinden ließ, um in den Genuss einer Fahrt zu kommen.

 

Völlig erschöpft und froh, als der Abend endlich das Ende des Schulfestes einläutete, ließen wir uns, mit vor Muskelkater schmerzenden Gliedern, auf dem Fußboden nieder. "Ja, das hatte Wumms!" rief Herr Schaub freudig aus.

Nicht nur das, wir hatten es geschafft, dass noch lange Zeit unsere Geisterbahn das Gesprächsthema Nummer eins blieb.

Und wer weiß, vielleicht ist sie sogar in die Annalen der Schulgeschichte eingeflossen und noch heute erzählen sich Lehrer und Schüler davon.

Unsere Kasse aber, unsere Kasse, die war so leer wie zuvor.

Durch unseren Erfolg übermütig geworden und weil reichlich vorhanden, wurde die Menge Staub, also Mehl, die unsere Fahrgäste abbekamen mit der Zeit immer größer und Herr Schaub, sonst

nahezu zur Untätigkeit verdammt, hatte irgendwoher seine Wasserpistolen hervorgekramt und es sich zur Aufgabe gemacht unsere Fahrgäste, die Mehl bestäubt dem Ausgang entgegengeschoben wurden, noch ganz schnell mit Wasser zu bespritzen.

Wasser und Mehl, welch böse Mischung!

Hatten die meisten auch ihren Spaß, so gab es andere, insbesondere erboste Mütter, die diese Art Humor nicht so wirklich teilen mochten. Die sich über die versaute Kleidung ihrer herzallerliebsten aufregten und nur dadurch zu besänftigen waren, ihnen die Reinigungskosten für die Kleidung gleich vor Ort und in bar in die Hand zu drücken.

Aber uns allen war das egal.

Blieb die Kasse auch leer, unsere Herzen waren umso voller.

 

Während die anderen Schüler noch über das vergangene Schulfest tratschten, wir dachten schon an das nächste.

Überlegten, ob wir es nicht gar schaffen würden, unserer Geisterbahn noch etwas obendrauf zu

Setzen und uns selbst noch zu übertrumpfen.

Da wussten wir ja noch nicht, nie wieder würden wir etwas ähnliches bauen. Unsere Geisterbahn würde das Letzte gewesen sein, was wir jemals realisierten.

 

Es war ein komisches, bedrückendes Gefühl, als Herr Schaub sich dann eines Tages, kurz vor den Sommerferien, vor uns hinstellte und uns mitteilte, dass er gehen würde.

Nein, nicht im Stich lassen wollte er uns.

Er würde gehen, weil er gehen musste. Weil man ihn hier nicht mehr haben wollte.

Suspendiert, rausgeschmissen!

Untauglich für den Lehrerberuf hieß es.

Vielleicht glaubten wir zu Beginn noch, er würde nur scherzen, aber in seinem ernsten Gesicht war keine Spur davon zu erkennen.

Ernst schaute er uns an, als er das für uns unfassbare verkündete.

 

In einem kitschigen Film, hätten die Schüler jetzt wohl den Aufstand geprobt. Hätten Plakate

gemalt, wären der Schulleitung oder wem auch immer, der für diesen Rauswurf verantwortlich war, auf die Pelle gerückt. Hätten alle Schüler, alle Lehrer auf ihre Seite gezogen und schließlich, hätten sie es geschafft, den Rauswurf ihres Lehrers rückgängig zu machen.

Nur, dieses hier war halt kein Film.

Dies hier war das Leben und wussten wir es nicht selbst?

Herr Schaub war kein guter Lehrer.

Hatte er mir nicht selbst eine Eins im Kunstunterricht gegeben, nur weil ich ihn zum Lachen

gebracht hatte?

Hatte er mir, dem es nicht einmal glückte, bei den Bundesjugendspielen eine kleine Urkunde zu

ergattern, nicht eine Eins im Sportunterricht verpasst, nur weil es mir gelang, im Rugby alle

anderen über den Haufen zu rennen?

Und hatte er nicht jede verhauene Klassenarbeit mit derselben Aufgabenstellung wiederholen

lassen, so das niemand von uns wirklich schlechte Zensuren erhielt?

War er nicht immer noch der meist gehasste Lehrer der Schule?

Nein, ein guter Lehrer war er sicher nicht.

 

Zwei Jahre waren vergangen, zwei Jahre, fast wie im Flug an uns vorbeigezogen.

Und doch, die letzte Stunde, die wir bei Herrn Schaub hatten, glich der allerersten auf unwirkliche Weise.

Bedrückende Stille herrschte, als er, fast wie immer, die Klassentür aufreißend in den Raum

stürmte.

Niemand von uns sagte etwas. Was hätte man auch sagen können, jetzt wo doch eh alles zu spät war?

"Nun, Kopf hoch!", versuchte er uns aufzumuntern, aber die Verlegenheit darüber, nicht die

richtigen Worte finden zu können, war auch ihm anzusehen.

Eine Ewigkeit, so schien es mir, sprach niemand ein Wort, bis endlich das Schweigen gebrochen wurde von Kathrin unserer Klassensprecherin, die in ihrer Schultasche herumwühlte, um das daraus hervorzukramen, für das wir alle gesammelt hatten.

Ein Abschiedsgeschenk.

Selbst ich hatte ein paar Wocheneinnahmen meines Zigarettenverkaufs geopfert, so wie jeder, so viel er eben konnte, seinen Beitrag geleistet hatte.

Dann stand Kathrin auf, ging zum Lehrerpult und überreichte Herrn Schaub eine Flasche

Champagner und einen kleinen Pokal.

Mehr als ein leises, schüchternes "Für Sie" mochte dabei nicht über ihre Lippen kommen.

Herr Schaub nahm beides entgegen, blickte auf den Pokal, auf den wir die Worte "Für den besten Lehrer der Welt" eingravieren ließen, schluckte einige Male und wir konnten alle sehen, wie schwer es ihm fiel, als er leise "Danke" flüsterte, während ihm die Tränen herunterliefen.

In dieser, unserer letzten gemeinsamen Schulstunde mussten wir wohl alle mehr als nur einmal schlucken.

 

Wir waren die erste und sollten auch die letzte Klasse sein, die er je unterrichtete.

Als er zum letzten Mal mit seinem kleinem, schäbigen Wagen vom Lehrerparkplatz fuhr, müssen es wohl an die dreihundert Schüler gewesen sein, die ihm aufatmend hinterherschauten.

Unsere einunddreißig traurigen Gesichter fielen unter diesen kaum auf.

 

Nein, ein guter Lehrer war er sicher nicht.

Passte er doch nicht in ein Bildungssystem, in dem es einzig galt, fremdes Wissen auswendig zu

lernen und zu dem eigenen zu machen.

Ein guter Lehrer, nein, das war er sicher nicht. Aber ein Freund.

Unterrichtete er uns alle doch in Fächern, für die es keine Zensuren gibt.

Die auf keinem Zeugnis ihren Platz finden: Freundschaft, Kameradschaft, Loyalität und dem

Wissen, dass eine Gemeinschaft mehr ist, als nur die Summe vieler einzelner.

Und mir, mir brachte er bei, dass es oft hilfreich ist, den Kopf einzuziehen und unsichtbar zu

werden.

Hilfreich ja, aber nicht immer auch gut.

 

So endet diese kleine Erzählung mit dem letzten, was mir noch zu sagen bleibt.

Danke!

Danke für die schönsten, glücklichsten und vielleicht auch lehrreichsten Jahre meiner Schulzeit.

Danke Herr Schaub!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

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