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Sobibor - Fragmente einer vergessenen Flucht

 

 

 

 

Wenn ich vorher gewusst hätte, dass doch so viele sterben müssen, hätte ich es dann gewagt?

Hätten wir alle es gewagt?

Oder hätten wir uns in unser Schicksal ergeben?

Aber was dann, was wäre dann mit uns geschehen?

 

 

Nicht anklagen will ich, nur erinnern.

Denn was geschah, ist eine Warnung der Geschichte, es zu vergessen ein Verbrechen.

 

 

Stumm stehen wir da. Aufgereiht. Immer zehn Mann in einer Reihe. 60 Reihen hintereinander.

Niemand spricht ein Wort, nicht einmal ein Räuspern ist zu vernehmen.

Keiner hat den Mut.

Uns gegenüber stehen unsere Kameraden, auch diese in Reih und Glied.

Den Blick in ihre Gesichter kann ich kaum ertragen.

Zerschlissene, dünne Sträflingsuniformen, ausgemergelte Gesichter, in denen Angst, Hunger und Entbehrungen der letzten Jahre tiefe Furchen in die Haut gegraben haben.

Stur sehe ich geradeaus und versuche sie dabei nicht anzublicken, versuche durch sie

hindurchzusehen, doch es ist unmöglich, nicht in ihre von Angst erfüllten Augen zu schauen.

In jedem einzelnen Gesicht kann ich es erkennen - die Verzweiflung, die Panik und das Wissen

darum, was gleich geschehen wird.

Doch auch sie sagen nichts.

Stehen da, still. Dem Befehl gehorchend.

20 an der Zahl, stumm, und hätten doch so gern geschrien.

Zwischen uns und ihnen liegen etwa 30 Meter.

30 Meter staubige, braune Erde. 30 Meter, zwischen Leben und Tod. Keiner von uns hätte sagen können, welche Seite das bessere Los gezogen hatte.

Es ist still, ohrenbetäubend still.

Nur das metallische Geräusch, verursacht durch das laden des Maschinengewehrs, zerstört für einen kleinen Augenblick diese bedrückende Ruhe.

Ein Arm wird gehoben, schnellt dann herunter.

Im selben Augenblick lassen die Schüsse die Stille zu tausend Scherben zerspringen.

 

So oft habe ich es schon gesehen, so oft, und kann es dennoch auch heute nicht ertragen.

Das dumpfe Geräusch, wenn Kugeln Fleisch durchdringen.

Körper werden nach hinten geschleudert, Blut spritzt auf, Gesichter vom Schmerz verzehrt, in denen das Wissen um den eigenen Tod und das nicht begreifen können zu lesen ist.

Und endlich, endlich schreien sie.

 

Noch heute, so viele Jahre danach, kann ich sie hören, reißen sie mich aus dem Schlaf. Quälen mich in meinen Träumen und lassen mich schweißgebadet aufschrecken.

Die Salve aus dem Maschinengewehr, die schreie meiner Kameraden.

Schreie, immer wieder schreie.

 

 

******

 

 

 

Sobibor, NS-Vernichtungslager.

Gelegen im südöstlichen Polen.

Ende September 1943.

 

Der Appellplatz ist leer, nur die Blutlachen erinnern noch an das, was gerade geschehen ist.

Unter Aufsicht der SS wurden die Leichen eingesammelt.

Der Rauch, dort hinten aus den Schornsteinen ist Zeuge, was dann mit ihnen geschah. Was mit so vielen geschah.

 

Noch am selben Abend trafen wir uns, heimlich in der Dunkelheit hinter einer der Baracken.

Schweigende Gesichter. Mutlos geworden, denn wir alle wussten, dass heute war eine Warnung, eine Warnung an uns alle.

"Für jeden, der versucht aus dem Lager zu fliehen, werden 10 von euch hingerichtet!“

 

Ja, wir hatten die Warnung verstanden, das Blut, die schreie, das wimmern unserer Kameraden hatte sie uns in die Herzen gebrannt.

Wir mussten die Flucht aufgeben, das war uns allen an diesem Abend bewusst.

Wer wollte die Verantwortung übernehmen, wer wollte es auf sein Gewissen laden, wenn noch mehr sterben müssten, nur weil wir in die Freiheit geflüchtet waren?

Niemand von uns vermochte dieses.

 

Monate hatten wir geplant. Hatten bis ins kleinste jede Eventualität abgewogen. Hatten das wiewas und vor allen Dingen das wer minutiös durchgespielt.

Und nun?

Alles vergebens.

Keiner von uns konnte, keiner wollte den Tod auch nur eines Menschen auf sein Gewissen laden.

Selbst wenn die Flucht gelingen sollte, wer hätte damit leben können?

Aus, vorbei!

 

 

******

 

 

Langsam fährt der Zug in den Bahnhof ein. Zischend macht er halt, Dampf und Ruß steigen auf und lassen die Türen der Viehwagen für einen kleinen Augenblick wie im Nebel verschwinden.

Blasmusik ertönt über den Platz.

"Muss ich denn, muss ich denn aus dem Städele hinaus".

Welch ein Hohn!

Die Verschläge der Waggons werden aufgestoßen, Menschen quellen heraus. Frauen, Kinder,

Männer.

Alte und Junge.

Schlachtvieh.

 

Stolpern, Augen, die verwirrt umherschweifen, halt suchen.

Weinende Kinder, die sich hinter ihren Müttern zu verbergen suchen, während diese mit

schützenden Händen zärtlich und liebevoll die Arme um sie legen. Sie an sich drücken.

"Hab keine Angst mein Kind, nichts, nichts wird Dir geschehen."

 

Auch diesen Anblick musste ich so oft ertragen. Das Wissen um ihr Schicksal für mich behalten. Kein Zeichen, kein Wort, wollte ich selbst noch weiterleben. Und wenn es mir gelungen wäre, nur einem von ihnen eine Warnung zukommen zu lassen?

Hätte es etwas geändert?

Ihr Leben wäre doch erloschen.

Oder nicht?

So viele Jahre ist es her, aber eine Antwort auf diese Frage habe ich nie gefunden.

 

Befehle ertönen, übertönen selbst die immer noch aus den Lautsprechern erklingende Musik.

Koffer werden aus Händen gerissen, werden am Rande des Bahnhofs zu einem großen Haufen

aufgetürmt.

Schreie, Tränen, Verzweiflung.

Kinder werden von ihren Müttern fortgerissen.

Frauen von ihren Männern.

SS-Männer, Maschinenpistolen im Anschlag.

Organisiertes Chaos.

Sie sind gut, die Deutschen.

Kein anderer hat das Töten zu solch einer perfiden Perfektion gebracht.

 

Die Menschen werden aufgeteilt.

Eine große Gruppe mit Frauen, Kindern, alten, schwachen und kranken.

Eine kleine Gruppe mit denen, die Glück gehabt haben. Aber das wissen sie jetzt, in diesem

Augenblick noch nicht.

Glück?

Aber war es wirklich Glück?

Ich vermag es nicht zu sagen.

 

Wieder ertönen scharfe Befehle, Kommandos treiben die große Gruppe von Leibern vor sich her.

Fast 2000 Menschen.

Dort hinten, fast versteckt im Wald, stehen die lang gestreckten Gebäude.

Zum Duschen, zum desinfizieren heißt es.

Doch ich weiß, so wie wir alle, die überlebt haben, es wissen - Gaskammern. Vernichtung.

 

 

Wieder Schreie.

Schreie, die ich nicht hören kann und die doch in meinem Kopf widerhallen.

Lautlos und doch unüberhörbar, unerträglich, quälend.

 

Die kleine Gruppe von Menschen, etwa 60 an der Zahl, steht noch immer am Bahnhof. Wartet an der Verladerampe auf Befehle.

Ihr Aussehen ist ungewöhnlich, denn sie tragen russische Uniformen.

Kriegsgefangene.

Einer von ihnen fällt mir besonders auf.

Es ist nicht die Offiziersuniform, es sind nicht die Sterne auf den Schulterklappen, die meinen Blick fesseln.

Der Stolz in seinen Augen, seine aufrechte Haltung und die Ausstrahlung, die von ihm ausgeht ist es, was mich so an ihm fasziniert und gleichermaßen irritiert.

Ungebrochen steht er da, sein Blick geradeaus gerichtet. Schaut irgendwohin, scheint mehr zu

sehen, als wir anderen.

Großgewachsen, schlank, dunkle Haare, hohe Stirn.

Augen, die Intelligenz erahnen lassen.

Kraft geht von ihm aus. Entschlossenheit und Mut.

Ich spüre instinktiv, dass dieser Mann dort vorne etwas besonderes ist, ich weiß, dass ich ihn

kennenlernen muss.

Und irgendetwas ganz tief in mir ahnt, dass es nicht nur seine Stärke ist, von der ich mich

angezogen fühle.

Ein Hauch von Hoffnung umhüllt mich.

 

Ich kann es kaum erwarten, dass es Abend wird und sich die Dunkelheit über das Lager legt.

Wieder treffen wir uns hinter der Baracke und auch er ist dieses Mal dabei - Alexander

Aronowitsch Petschjorski.

Niemand von uns zeigt ihm gegenüber irgendwelches misstrauen.

Noch immer trägt er voller Stolz seine russische Uniform.

Offizier.

Jude.

Er ist anders als wir anderen und doch ist er uns gleich.

Voller Neugier betrachten wir ihn.

Respekteinflößend steht er dort. Beantwortet Fragen, erzählt aus seinem Leben und je mehr er

erzählt, je mehr keimt in uns allen die eine Frage auf.

Kann er es möglich machen?

Kann es vielleicht doch noch gelingen, die Flucht aus Sobibor?

 

Ab jetzt treffen wir uns jeden Abend und ohne es zu wollen, ohne das ihn einer von uns dazu

aufgefordert hätte, wird er unser Anführer.

Alexander. Russe, Offizier, Jude und Hoffnung.

Die einzige, die wir noch haben.

 

Nachts liege ich da, höre das Stöhnen meiner Kameraden.

Hunger, schmerz, den Tod, welcher Tag für Tag durchs Lager schleicht.

Die Luft erfüllt mit dem Geruch verbrannten Fleisches.

Rauch, der aus den nur wenige Hundert Meter entfernten Schornsteinen emporsteigt.

Manchmal, wenn es dunkel ist, kann ich die Flammen sehen, glaube, die schreie hören zu können.

Ich weiß, nur ich höre diese Schreie. Nicht dort draußen sind sie, sondern in meinem Kopf,

durchtränken meine Seele.

Flehend, bettelnd schwellen sie pulsierend in meinem Gehirn auf und ab, obwohl ich doch weiß,

gemordet wird nur am Tag.

Verschwommene Gesichter tauchen vor mir auf.

Frauen und Kindern.

Mütter, die schützen wollen und doch selbst so schutz- und wehrlos sind.

Ich ertrage es nicht mehr.

Keiner von uns erträgt es mehr.

 

Alexander Aronowitsch Petschjorski.

Hoffnung.

Wir erzählen ihm von unserem verworfenen Plan, mit wenigen Kameraden aus dem Lager zu

flüchten. Berichten von der Unmöglichkeit dieses Unterfangens, weil keiner will, dass durch unsere Flucht noch mehr sterben müssen.

Alexander hört zu, schweigend, nur hin und wieder mit dem Kopf nickend, wie zur Bekundung

verstanden zu haben.

Auch er will flüchten. Will weiterkämpfen gegen die, die sein Land überfallen haben. Gegen die, die Tod und Elend über die Welt brachten.

 

Noch gut kann ich mich daran erinnern, wie wir ihn anstarrten, als er uns dann, einige Abende

später, seinen Plan unterbreitete.

"Unmöglich, undurchführbar, wahnsinnig!", dachten wir wohl alle in diesem Moment. Dem

Moment, der unser aller Leben verändern sollte.

"Wenn wenige nicht flüchten können, dann müssen halt alles es tun", sagte er, fast so, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Ja und wirklich, aus seinem Mund klang es so, als wäre es eine Banalität.

Hätten wir zugestimmt, wenn wir gewusst hätten, wie viele doch sterben müssen?

Was aber hätten wir dann getan?

Lieber in der Freiheit sterben, als in Gefangenschaft gedemütigt zu werden um dann, am Ende, doch elendig zu verrecken.

Die Schornsteine, der aus ihnen aufsteigende Rauch, die Flammen in der Nacht und die flehenden Schreie in meinem Kopf.

All das will ich hinter mir lassen.

 

 

So hören wir ihm zu.

Blicken in seine Augen.

Zeugen seiner Entschlossenheit.

Ich saugte seine Worte auf, die in meiner Seele unendliche Weite entstehen lassen.

Eine Ahnung von Glück, Hoffnung und Freiheit.

 

Es klingt so unglaublich und undurchführbar und vielleicht ist es gerade das, was uns seinem Plan zustimmen lässt.

In den folgenden Wochen bauen wir einfache Hieb- und Stichwaffen.

Heimlich, nur wenige werden eingeweiht.

Der Plan sieht vor, die Führung der Wachmannschaft auszuschalten. 17 SS-Leute, ohne die, das

hoffen wir, der Rest der Mannschaft planlos und verwirrt geworden, von uns einfach überrannt

werden kann.

 

Alexander.

Als er uns seinen Plan unterbreitet, hebt er seine Hand. Deutet damit in die Dunkelheit. "Und dann", sagt er, "und dann werden wir alle einfach durch das Tor gehen."

Wir glauben ihm, hängen an seinen Lippen. Vertrauen seinen Worten und doch, ein kleiner, letzter Zweifel besteht.

Nur er, Alexander, hat eine militärische Ausbildung. Nur er hat das töten gelernt.

Wir, wir sind einfache Leute. Handwerker, Buchhalter, Lehrer.

Werden wir töten können?

Mit einer Handbewegung wischt er unsere Zweifel beiseite.

"Ich war nicht immer Soldat", sagt er. "Früher einmal", und dabei zieht ein leises lächeln um seine Mundwinkel und seine Augen schauen irgendwohin in die Vergangenheit, "früher einmal habe ich Theater- und Musikwissenschaften studiert."

Dann blickt er uns an, schaut direkt in unsere Augen: "Jeder kann töten, wenn er nur weiß für was."

 

 

******

 

 

 

14. Oktober 1943

Kurz vor 16 Uhr

Es ist so weit.

Heute soll es geschehen.

 

50, vielleicht 60 sind eingeweiht.

60 von 600 Lagerinsassen.

Wenn es losgeht, werden uns die anderen folgen, sind wir uns sicher.

Dem Ruf der Freiheit kann keiner widerstehen.

 

Ich bin aufgeregt und hoffe, dass man mir meine Nervosität nicht anmerkt.

Noch einmal schaue ich in die Gesichter meiner Kameraden. Lese in ihnen, erkenne die Qualen, die Spuren der Demütigungen, welche wir alle in den vergangenen Jahren erleiden mussten.

Ja, ich kann es tun. Ich werde töten und dem allem hier ein Ende setzen.

 

"Wird Gott uns verzeihen?", frage ich Alexander.

"Werden wir jemals Gott verzeihen können?", antwortet er mir und setzt leise hinzu: "Für das alles hier." Und sein Blick schweift dabei über das Lager.

 

Nur 11 der 17 SS-Offiziere konnten wir ausschalten, doch für eine Umkehr ist es zu spät.

Die Schüsse aus den wenigen von uns erbeuteten Waffen geben das Zeichen.

600 Menschen, in ihren Gesichtern Leid, tief eingebrannt in ihre Haut.

600 Seelen, die nach Freiheit gieren.

600, die losstürmen, unaufhaltsam dem Tor entgegen, dem Leben die Hand zu reichen.

Schüsse, schreie, zusammenbrechende Leiber. Schmerzverzerrte Gesichter und überall Blut,

unendlich viel Blut.

Es gelingt, dass Tor zum Zerbersten zu bringen.

Die ersten von uns stürmen hinaus. Rennen dem nahen Wald entgegen. Laufen um ihr Leben und doch, noch immer brechen viele von ihnen unter dem Kugelhagel taumelnd zusammen. Bleiben

zuckend hinter uns liegen. Niemand kann, niemand wird ihnen helfen.

Vielleicht, so denke ich, vielleicht ist es ein Trost, dass sie die letzten Sekunden ihres Lebens in Freiheit verbrachten.

 

 

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Sobibor.

NS-Vernichtungslager.

Nach Schätzungen wurden 250.000 Menschen dort ermordet. Verschwanden in den Gaskammern.

Die meisten von ihnen Juden polnischer Abstammung.

 

An diesem 14. Oktober 1943, dem Tag des Aufstandes von Sobibor, versuchten die Lagerinsassen, unter Führung von Alexander Aronowitsch Petschjorski, diesem Morden zu entkommen.

Von den 600 Häftlingen schafften es 365, die Sperren des Lagers zu überwinden. Viele kamen dabei im Kugelhagel und in den umliegenden Minenfeldern ums Leben. Etwa 150 Flüchtlinge entkamen in die nahe liegenden Wälder. 47 von ihnen lebten noch am Ende des Zweiten Weltkrieges.

 

Auch Alexander Aronowitsch Petschjorski überlebte den Aufstand und schloss sich gleich

anschließend wieder der Roten Armee an. Nachdem er 1944 eine schwere Beinverletzung

davontrug, wurde ihm die Tapferkeitsmedaille verliehen und er schied vom Militär aus.

Eine Straße in Israel wie auch ein Denkmal in Boston/USA tragen heute seinen Namen.

In seiner Heimat Russland wurde er für seine Taten nie geehrt. Seine führende Mitwirkung beim Aufstand von Sobibor ist in seinem Heimatland nahezu unbekannt.

Alexander Aronowitsch Petschjorski starb im Januar 1990 in Rostow am Don.

 

Nach dem Aufstand von Sobibor wurde das Lager dem Erdboden gleichgemacht.

Dort, wo einst das Lager stand, wurde ein noch größerer Bahnhof errichtet, wurde aufgeforstet, um jedwede Spur des Verbrechen an der Menschlichkeit zu tilgen.

 

Doch nichts ist vergessen, darf jemals vergessen werden.

Wir sind es ihnen schuldig. Ihnen, den Opfern, den Überlebenden und nicht zuletzt schuldig

unseren Kindern. Damit sie verstehen lernen, was geschehen kann, wenn auch die letzte Stimme schweigt.

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Lektorat: Saskia Kruse
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

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