Pubertät f. ‘Zeit des Eintritts der Geschlechtsreife, Entwicklungsjahre’, Entlehnung (Ende 16. Jh.) aus lat. pūbertās (Gen. pūbertātis) ‘Geschlechtsreife, Mannbarkeit’, gebildet zu lat. pūbēs Adj. (Gen. pūberis) ‘mannbar, männlich, erwachsen’
(Aus: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache)
Wann es begann? Mmh, so genau weiß ich das nicht, aber irgendetwas hatte sich wohl verändert, denn ab jetzt, wenn ich irgendetwas angestellt hatte, sagten meine Eltern nicht einfach nur
"Benimm Dich!", sondern setzten kopfschüttelnd hinzu „Er ist halt in den Flegeljahren“, von denen sie hofften, dass sie alsbald vorüber sein mochten. Besonders meine Mutter ließ sicher, wenn auch von mir unbemerkt, so einige Stoßgebete gen Himmel aufsteigen. Schaffte ich es doch, gerade sie, mit meinem Benehmen hin und wieder zur Weißglut, die, gepaart mit Resignation, eher der
Verzweiflung ähnelte, zu bringen.
Dass sich etwas an mir veränderte, dass bemerkten auch meine Schwestern. Besonders dann, wenn wir uns stritten und ich meinen Unmut in kräftigen Tönen Luft zu machen suchte, die dann recht unvermittelt einige Oktaven höher kletterten und in jähem quaken ihrem plötzlichen Ende
entgegenquietschten.
Der Spott meiner Schwestern war mir in solchen Augenblicken sicher und ihr Lachen schoss wie eine Lawine auf mein bisschen Autorität hernieder und vergrub diese vollends unter sich.
Es musste wohl wahr sein, ich war angekommen in den "Flegeljahren", der "Pubertät" oder, wie es sehr viel öfter hieß, im "schwierigem alter".
"Flegeljahre", der Begriff ist heute wohl fast ebenso vergessen, wie es der des "Backfisch" ist, den meine Schwestern für sich in Anspruch nehmen konnten.
Ja, angekommen war ich wohl, dass begriff ich auch selbst alsbald. Angekommen aber äußerst
unzufrieden mit dem, was mit und in mir vorging.
Plötzlich begannen Haare an Stellen zu wachsen, die gestern noch glatt und rosa dalagen.
Nur an einer, der wichtigsten Stelle überhaupt, wollte und wollte nichts wachsen. Kein einziges Haar, nicht einmal so etwas wie der erste Flaum ließ sich blicken und sooft ich diese Stelle auch hoffnungsvoll mit meinen Fingern betastete und darüber Hinwegstrich, ja, und manches Mal
glaubte oder fast sicher war – doch, da war etwas über Nacht gewachsen, strafte mich der
hoffnungsvolle Blick in den Spiegel Lüge.
Neidvoll blickte ich auf den Rasierpinsel meines Vaters, nahm den silberglänzenden Rasierapparat vom Badezimmerregal und ließ ihn zwischen meinen Fingern hin und her gleiten. Zu gern hätte ich ihn einmal ausprobiert, doch hatte ich Angst, eine meiner Schwestern, oder schlimmer noch, gleich alle beide zugleich, würden ins Bad stürzen können und mich mit ihrem Spott überschütten. Also ließ ich es lieber bleiben und legte das Rasierzeug wieder beiseite.
Wie sollte ich jemals ein Mann werden, wenn mir nicht einmal ein anständiger Bartwuchs vergönnt sein sollte?
Aber der Blick in den Spiegel ließ noch Schlimmeres, als mangelnden Bartwuchs, erkennen.
Oft stand ich im Badezimmer vor dem Spiegel, um möglichst männliche Posen auszuprobieren.
Ich rollte mit den Augen, versuchte mit nur einer Augenbraue zu zucken, wie ich es in irgendeinem Film gesehen hatte, dessen männlicher Hauptdarsteller mir besonders nachahmenswert, da überaus cool, erschienen war. Versuchte dann, mit leicht nach unten geneigtem Kopf, meinem Blick ein möglichst düsteres, Überlegenheit ausstrahlendes Aussehen zu geben, so wie es Alain Delon in "Der Eiskalte Engel", einer meiner damaligen Lieblingsfilme, so vortrefflich konnte. Jedoch vor dem
Spiegel in die eigenen Augen zu schauen, während man gleichzeitig den Kopf leicht nach unten neigt, sollte sich als alles andere als leicht erweisen und brachte mir, statt des erwünschten
Ergebnisses, nur ein heftiges ziehen in meinem steif gewordenen Nacken ein.
Also verlegte ich mich darauf, wenigstens meinem Lächeln eine coole und damit männliche
Ausstrahlung anzutrainieren.
Doch das, was ich stattdessen erblickte, ernüchterte mich vollends.
Ich war nicht cool, ich war nicht männlich, meine Ausstrahlung war nicht überlegen und über den Dingen stehend, denn, oh Gott, ich hatte Grübchen!
Grübchen, diese kleinen, kraterförmigen Einbuchtungen in meinen Wangen, die jeden Versuch cool auszusehen und ein ganzer Kerl zu sein, zu Grabe trugen.
Grübchen, gab es etwas unmännlicheres als Grübchen?
Hatte man je einen Mann, einen echten Kerl, mit Grübchen gesehen?
Hatten etwa Rambo oder Dirty Harry Grübchen?
Hatte man je einen Western gesehen, in dem sich der Held zum finalen Duell seinem, scheinbar überlegenen Widersacher stellte. Den Blick starr, eiskalt und entschlossen, während sich unter
diesen, zu allem entschlossenen Augen, langsam Grübchen bildeten?
Nein, hatte man nicht!
Der Spiegel schleuderte es mir entgegen "Nein Ralf, Du bist uncool, Du hast Grübchen. Du wirst für immer ein Kind, aber niemals ein Mann sein!"
War es da ein Wunder, dass die Mädchen, deren Existenz ich erst vor kurzer Zeit entdeckt hatte, nichts von mir wissen wollten?
Einen Typen wie mich, einen mit Grübchen?
Einen, auf dessen Stirn es in großen, leuchtenden Lettern praktisch wie eingebrannt prangte "Achtung Grübchen. Achtung uncool!"
Sowieso, die Mädchen. Gestern waren sie noch alle dumm und zu nichts zu gebrauchen und heute?
Plötzlich hatte ich entdeckt, dass es irgendetwas, mir unbestimmtes gab, was mich zu ihnen hinzog.
Den anderen Jungs schien es da ganz ähnlich zu ergehen.
Besonders mit denen aus meiner Klasse diskutierte ich das Thema "Mädchen" recht ausgiebig. Heimlich beobachteten wir oft unsere Mitschülerinnen. Welche hatte schon Ansätze von Busen? Welche von ihnen besaß das hübscheste Hinterteil und mit welcher würde man am liebsten einmal "Rumfummeln". Wir überboten uns mit weltmännischen Ansichten. Brachten eigene Erfahrungen zu Gehör, die wir zwar nie gemacht hatten, die sich aber gut anhörten und übertrumpften uns
gegenseitig damit, angeblich alles über Mädchen zu wissen.
Kurz, wir gaben an, dass es eine wahre Freude war und prahlten, dass es jedem heimlichen Zuhörer, die röte ins Gesicht getrieben hätte.
Wir wussten alles, doch wirkliche Ahnung hatten wir nicht.
In der Schule bekamen wir nun auch Sexualunterricht.
Ich hoffte. Dass sich nun endlich das Geheimnis "Frau" für mich lüften würde, doch stattdessen stieg mein Verlangen danach, diesen unbekannten Körper selbst entdecken zu dürfen und mit
meinem Verlangen stieg die Verwirrung.
Ich fühlte mich plötzlich hingezogen zu den Mädchen, aber wurde ich ihnen gegenüber deshalb
netter zu ihnen?
Nein, ganz im Gegenteil. Ruppig, unhöflich und mit allerlei dummen Sprüchen auf den Lippen, trat ich ihnen entgegen. Ich wollte wohl damit meine Unsicherheit ihnen gegenüber übertünchen und tja, mir auch selbst nicht eingestehen, dass mich ihre Gegenwart verwirrte und schwach machte, was nun überhaupt nicht mit meinem Bild eines gestandenen Mannsbild übereinstimmte.
Selbst in meine Träume zogen die Mädchen nun ein, beherrschten diese auf verwirrende und
erregende Art. Manchesmal, wenn ich nach solchen Träumen am Morgen erwachte, musste ich, peinlich berührt, an den Flecken im Bettzeug feststellen, irgendetwas an diesen Träumen war doch allzu real gewesen.
Selbst meine damalige Lehrerin ließ mir in meinen Träumen keine Ruhe und das, obwohl ich sie noch Nichteinmal besonders mochte. Die ersten Schulstunden, am Tag nach solchen Träumen,
waren dann besonders schwierig. Traute ich mich doch kaum, sie anzuschauen, aus Angst davor, sie könnte in meinen Augen lesen, was ich in der Nacht davor von ihr geträumt hatte.
Kuschelpartys kamen plötzlich in Mode.
Kuschelpartys?
Das wichtigste an einer Kuschelparty war, dass der Partyraum möglichst leer geräumt wurde. Auf dem Fußboden wurden dann Decken und Kissen verteilt und der Raum musste irgend möglich
völlig abgedunkelt werden. Geduldet wurden nur einzeln im Raum verteilte Kerzen, die für mehr Schatten als Licht sorgten.
Getränke und Knabberzeug wurden, platzsparend, in irgendeiner Ecke aufgestapelt. Das einzige, was geduldet war, war ein Tisch, möglichst klein, auf dem der Plattenspieler oder das
Kassettendeck zu stehen kam.
Aber das allerwichtigste an einer solchen Party war, dass zwingend die gleiche Anzahl Mädchen, wie Jungs eingeladen werden mussten.
Waren dann alle Gäste endlich erschienen, konnte es losgehen.
Jeder schnappte sich ein Mitglied des anderen Geschlechts, drückte sich in irgendeine Ecke, dort wo halt gerade noch Platz war und man begann damit herumzuknutschen, während aus den
Lautsprechern ein Schmachtfetzen nach dem anderem ertönte.
Meinen ersten Zungenkuss habe ich so erhalten, meinen ersten intimeren Kontakt zu dem anderen Geschlecht erfahren dürfen, auch wenn meinen Bemühungen, meine Hände mehr, als nur unter den Pullover des mir anvertrauten Mädchens wandern zu lassen, meistens ein abruptes Ende, mit den Worten "Ich bin noch nicht so weit" beschienen waren.
Es sollte auch noch eine ganze Weile, genau genommen mehrere Jahre, dauern, bis dann endlich ein Mädchen doch "So weit war".
Ja, auch meinen ersten Rausch hatte ich einer solchen Party zu verdanken.
Gerade 15 Jahre war ich alt, als ich, völlig angetrunken, besser gesagt, voll, wie eine Haubitze, nach Hause getorkelt kam.
Irgendwie hatte ich es zwar geschafft, ins Bett zu kommen, doch all meine Kleidungsstücke waren mir auf dem Weg dahin irgendwie abhandengekommen.
Meine Mutter war es, die sie am nächsten Morgen fand. Ich hatte mit meinen Klamotten eine Spur gelegt, beginnend am Gartentor, weiter über die Küche, dann ins Bad, ins Wohnzimmer und schließlich, das letzte Kleidungsstück, auf halber Treppe zu meinem Zimmer.
Nein, meine Mutter duldete es keinesfalls, ihren 15-jährigen Sohn auch nur noch einmal in diesem Zustand sehen zu müssen und ich bekam deshalb eine ordentliche Standpauke von ihr zu hören.
Um das nun besser unter Kontrolle zu haben, bestimmte sie kurzerhand, die nächste Party solle bei uns zu Hause stattfinden. So konnte sie alles ein wenig besser im Blick behalten. Glaubte sie
zumindest.
Na ja, die Party fand dann irgendwann auch wirklich statt.
Doch zwischen dem, was meine Mutter und ich unter Party verstanden, herrschten doch gewaltige unterschiede.
Als sie, spät abends, die Party hatte gerade ihren Höhepunkt erreicht, hereinplatzte und etwa 20
Jugendliche erblickte, welche sich, in ungebührlicher Weise, auf dem Fußboden herumtollten, brach wohl ihr moralisches Weltbild zusammen.
Wortlos verließ sie den Raum, die Vorwürfe kamen erst am Morgen danach - "Unmoralisch,
verwerflich, abscheulich!" und "Mein Haus ist doch kein Bordell!"
Das waren nur wenige der Worte, die ich zu hören bekam und mit gesenktem Kopf, scheinbar schuldbewusst, innerlich aber rebellierend, zur Kenntnis nahm.
Mutter verstand die Welt nicht mehr, wohingegen ich Mutter nicht verstand.
Es sollte die erste und letzte Party sein, die ich in unserem Haus als Teenager organisierte.
Kuschelpartys.
Wenn ich daran zurückdenke, muss ich auch heute noch lächeln.
Die Gesichter der Mädchen, mit denen ich bei diesen Gelegenheiten "herumgemacht" habe, sind im Nebel der Jahre verblasst.
In Erinnerung ist mir nur ein Song geblieben, ohne den diese Partys erst gar nicht stattfinden hätten können: "Reality" von Richard Sanderson, aus dem Film „La Boum - Die Fete“.
So viel könnte ich noch schreiben, über die Dinge und Erlebnisse, welche das für mich ausmachten, was man gemeinhin Pubertät, oder einfach erwachsenwerden, nennt.
Von meinem ersten, eigenen Hausschlüssel könnte ich erzählen, weil meine Eltern irgendwann
verstanden hatten, nun war ich alt genug, um ganz allmählich meine eigenen Wege zu gehen.
Von dem Geburtstag könnte ich erzählen, an dem ich meinen ersten, ganz eigenen Rasierapparat von meinen Eltern bekam. Denn trotz aller Enttäuschungen hatte sich mein Bartwuchs dann doch endlich bequemt, zu sprießen.
Ja, auch davon, dass ich diesen Apparat, zum Leidwesen meiner Mutter, nur sehr kurze Zeit
benutzte und mir stattdessen viel lieber einen Vollbart wachsen ließ, könnte ich berichten. Damals auch ein Zeichen meiner Rebellion, hasste doch meine Mutter Bärte.
Ich könnte darüber erzählen, wie ich mich das erste Mal in meinem Leben prügelte und, obwohl ich als Sieger hervorging, jeder Triumph versagt blieb, stattdessen Tränen aus mir hervorbrachen, von denen ich damals noch nicht wusste, dass es das letzte Mal sein sollte, dass ich weinen würde.
Ich könnte davon erzählen, wie sehr mich dieses eine Buch berührte, über eine verlorene Jugend in Berlin. Wie sehr es in der Lage war, mich zu erschüttern, wie es kein Buch zuvor geschafft hatte.
Der Titel? "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo"
Auch könnte ich davon erzählen, wie ich die Rockmusik für mich entdeckte. Sie entdeckte und zu lieben begann. Wie aus ihr der Soundtrack meines Lebens wurde.
Oder ich könnte schildern, wie ich sie entdeckte, die erste Liebe. Wie es war, das erste Mal und wie ich es zuließ schwach zu sein, weil ich begriff, oft ist erst schwäche das, was stärke ausmacht.
All das und noch so viel mehr könnte ich ausplaudern. Doch lasse ich dieses, denn vieles von dem, hast du selbst genau so, oder aber ganz so ähnlich erlebt.
Älter bin ich geworden. Viel älter.
Aber Erwachsen?
Erwachsen, wer ist das schon?
Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2015
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