Mein Finger wandert langsam und suchend über die Landkarte, landet schließlich auf dem kleinen Punkt, welcher den Ort kennzeichnet, an dem ich geboren und aufgewachsen bin.
Der Punkt verschwindet unter meiner Fingerkuppe, selbst der Name, obwohl doch so lang, ist nun nicht mehr zu lesen: Winsen an der Aller.
So klein, so unbedeutend, so weit des Weltgeschehens und doch für einige Jahre der Mittelpunkt meiner eigenen kleinen Welt.
Der rote, unförmige Punkt auf der Landkarte, das Grün drumherum und der blaue Strich, der alles in zwei Teile teilt. Die Aller, der Fluss an dessen Ufer ich als Kind so oft gespielt habe, auch wenn mir das verboten war. Zu gefährlich, zu unberechenbar das reißende Wasser. Alljährlich, wie zur Bekräftigung ihrer Verbote, las uns unsere Mutter aus der Zeitung vor, nannte uns die Zahl der
Opfer, die sich die Strömung wieder geholt hatte. Aber gerade deshalb lockte uns dieser Fluss. In unserer heilen Welt war er doch der einzige Ort, welcher mit Abenteuer und Gefahr lockte.
Gab mir dieser Fluss doch schon als Kind eine kleine Ahnung von der Welt dort draußen.
Sehnsuchtsvoll schaute ich den Schleppkähnen nach und wünschte mir ein Teil der kleinen
Besatzung zu sein. Hinaus in die Welt zu ziehen, fremde Länder zu entdecken, mit wilden Tieren zu kämpfen und zu schauen, wie der Himmel in anderen Teilen der Erde ausschaut.
Wusste ich damals doch noch nicht, auch die Welt der Schleppkähne war nur klein und ihre Zeit eigentlich schon längst vorbei.
Heimat?
Ein Gefühl, eine Erinnerung oder nur der zufällige Ort der Geburt?
Ich weiß es nicht. Kann nicht wirklich sagen, was Heimat bedeutet und warum mich Wehmut
erfasst, wenn ich zurückdenke an das Dorf, das einmal mein zu Hause war.
Hätte es auch ein anderer Ort sein können, wenn nicht dieser, im Herzen der Lüneburger Heide?
Würde ich dann auch an diesen anderen Ort mit Sehnsucht zurückdenken?
Unbedeutend und klein war unser Dorf. Außer wenigen Handwerkern gab es sonst nur Bauern. Die Hauptstraße verdiente diesen Namen nicht, bestand sie doch nur aus unregelmäßigem
Kopfsteinpflaster und rechts und links festgetrampelter, schwarze Erde, waren unsere Bürgersteige.
Am Ende der Straße der kleine Tante - Emma Laden. Jeder im Dorf, egal ob groß oder klein, nannte die Inhaberin nur Tante Grete.
Ich erinnere mich noch, dass ich als kleiner Junge eine Tüte Erdnüsse in diesem Laden stahl und wie Tante Grete mich dabei erwischte.
Beschämt, mit hochrotem Kopf, voller Bewusstsein meiner Schuld, stand ich vor ihr. Ihr
anklagender Blick, gepaart mit der Befriedigung mich ertappt zu haben, hat mir die Lust auf
Erdnüsse vermiest. Noch heute mag ich diese nicht.
In meinen Gedanken wandere ich weiter die Straße hinunter. Menschen, deren Gesichter ich schon längst vergessen habe, begegnen mir.
Der alte, dicke Bauer, wie ein Hüne erschien er uns Kindern. Respekteinflößend in seinem
schweren, grünen Lodenmantel, den er Sommer wie Winter trug. Von oben blickte er unter der
breiten Krempe seines Hutes auf uns herab. Vielleicht hätten wir Angst vor ihm gehabt, wenn um seine Augen nicht immer dieses gütige lächeln gespielt hätte, mit dem er uns unverwandt und
abschätzend betrachtete.
Auch seine donnernde Stimme hätte uns sicher Furcht eingejagt. Aber uns Kindern gegenüber
erhob er diese nur, um uns schelmisch einige Anekdoten zu erzählen, aus der Zeit, als er selbst noch ein Kind war. Dabei wanderte eine seiner großen Hände in die Tiefen seiner Manteltasche, um dann wieder daraus hervorzukommen. Er streckte uns seine Faust entgegen, die er langsam öffnete. Schon längst überraschte es uns nicht mehr, wenn wir in seiner, sich öffnenden Hand, eine ganze Reihe, bunter Ostereier sahen, die er uns auffordernd entgegenhielt.
Es waren diese kleinen Dragee Eier, die in ihrem Inneren mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt sind.
Sein Vorrat an diesen Eiern musste wohl unbeschränkt sein, denn nie haben wir etwas anderes von ihm erhalten, als diese Ostereier.
Anders als die Erdnüsse liebe ich diese Eier auch heute noch. Nein, nicht weil sie mir so gut
schmecken, denn aus etwas anderem als reinem Zucker scheinen sie nicht zu bestehen. Ich liebe diese kleinen Dragee Eier, weil sie mir den Geschmack meiner Kindheit zurückholen.
Da fällt mir urplötzlich der Schrotthändler ein. Einmal in der Woche kam er in unser Dorf und
ratterte mit seinem kleinen blauen Lkw holpernd die unebene Straße entlang. Hinten auf der
Ladefläche stand ein Mann dessen, um seine Beine schlotternden Arbeitshosen die besten Tage schon lange hinter sich hatten. Wie alle Männer in unserem Dorf trug auch er einen Hut. Ich kann mich daran erinnern, ein dunkelbrauner Cordhut, mit deutlich zu sehenden Schweißrändern war es. Das einzige, was ihn vor Wind und Wetter schützte.
Pünktlich, jeden Mittwoch, ob es nun regnete, schneite oder die Sonne vom Himmel
herunterbrannte, kam er in unser Dorf. Immer in der Hoffnung die Ladefläche des klapprigen
Wagens mit allerhand metallenem Schrott füllen zu können.
Ich hätte ihn wohl schon längst vergessen, wäre da nicht die Art gewesen, wie er auf sich
aufmerksam machte.
Im Schritttempo klapperte der Wagen die Dorfstraße entlang, während der Mann hinten auf der
Ladefläche stehend, unablässig, mit einer schier unbeschreiblichen, knarzigen, aber lauten Stimme rief "Eck, eck Eisen!" Immer wieder "Eck, eck Eisen!"
Der Kohlenhändler fällt mir ein. Schräg gegenüber von uns, auf der anderen Straßenseite wohnte er. Hatte auch gleich sein Kohlenlager in einer alten, schon etwas windschiefen Scheune, die gleich neben seinem Haus stand. Nie habe ich ihn in anderen Kleidungsstücken gesehen, als in seiner schwarzen, abgenutzten Arbeitshose und seinem zerschlissenen, ebenfalls schwarzen Kittel.
Natürlich trug auch er einen Hut. Auch dieser war schwarz, so schwarz wie sein, durch den
Kohlenstaub geschwärztes Gesicht, das darunter nur schwer zu erkennen war. Jedes Jahr schleppte er 50 Zentner Kohle in unseren Keller. Hievte sich die schweren Säcke auf den Rücken und
marschierte tief gebückt, unter den achtsamen Blicken meiner Mutter, die hölzerne, dunkle
Kellertreppe hinunter, denn eine Kohlenrutsche besaß unser Keller nicht.
Wer ihn nicht kannte, hätte seiner schlaksigen Gestalt niemals diese Kraft zugetraut.
Doch die meisten im Dorf heizten nicht mit Kohlen, sondern mit Torf, dass es damals noch zu
Genüge gab und wohl recht billig war.
Auch der Geruch des verbrennenden Torfs ist ein Teil meiner Kindheit. Ein eigentümlicher,
unbeschreiblicher Geruch nach gemütlicher Wärme und im Hals kratzendem Ruß. Bei bedecktem Himmel, wenn der Rauch aus den Schornsteinen der Häuser nicht weit genug in den Himmel
hinaufsteigen konnte, lag über dem ganzen Dorf dieser Geruch und in den Augen beißender Rauch zog durch die wenigen Straßen.
So viele Menschen fallen mir ein, wenn ich zurückdenke, an das längst vergangene damals.
Wir Kinder tobten alle gemeinsam durch die Gegend, auch heute noch, aus meinen Erinnerungen heraus, habe ich den Eindruck, die eigentlichen Herrscher des Dorfes waren wir, die Dorfkinder. Für uns gab es nur wenige Verbote und so strichen wir, oft zu 30 Mädchen und Jungen, über die
umliegenden Felder oder spielten im nahen Wald Cowboy und Indianer. Im Herbst lockten uns die überall brennenden Kartoffelfeuer. Nichts ist so wohlschmeckend, wie eine über offenem Feuer
gebratene Kartoffel, deren rußige Schale vorsichtig, mit spitzen, vor der Hitze zurückzuckenden Fingern, Stück für Stück das dampfende Innere freigibt.
Im Winter jagten wir alle gemeinsam den einzigen Hügel, den es in der Umgebung gab, mit unseren Schlitten herunter oder bauten Schneemänner an den unmöglichsten Stellen im Dorf und wischten uns dabei den Rotz, der uns aus der Nase lief, mit den Jackenärmeln ab. Einige Mutige trauten sich auch, das Eis am Ufer der Aller zu erproben. War es bald dick genug um darauf Schlittschuh laufen zu können?
Mehr als einmal brach ich bei diesen Mutproben ins Eis ein, um dann kleinlaut, klitschnass und
frierend nach Hause zu schleichen, wo ich mir die Predigt meiner Mutter anhören musste: "Wie oft habe ich Dir verboten ...?, wie oft habe ich Dir gesagt ...?, wie oft muss ich es denn noch sagen ...?, wann hörst Du endlich darauf, was man Dir sagt?" Kleinlaut, mit hängendem Kopf hörte ich mir die Vorwürfe meiner Mutter an. Versprach Besserung und es nie wieder zu tun.
Bis ich dann wieder vor ihr stand. Ebenso nass und zitternd und das Spiel von vorne begann.
Im Frühjahr und Sommer hielt uns nichts in den Häusern. Krakeelend rannten wir durch die Straßen des Dorfes oder bauten Buden und Erdhöhlen im Wald. Hatten wir Durst oder Hunger, gingen wir einfach in das nächstbeste Haus. Niemand schloss damals seine Türen ab und wo immer wir
plötzlich in der Küche auftauchten, überall bekamen wir selbst gemachte Limonade und eine dick mit Schmalz bestrichene Scheibe Brot. Erst am Abend sahen uns unsere Eltern wieder. Schmutzig, mit verschwitzten Gesichtern, trotteten wir nach Hause, wo uns unsere Mutter schnappte und
versuchte mit Seife und Wurzelbürste unter all dem Schmutz, ihre Kinder wieder zum Vorschein zu holen.
"Katzenwäsche" wurde das genannt, denn gebadet wurde nur samstags.
Niemals gab es Vorwürfe, wir wären zu laut oder zu schmutzig. Wir waren Kinder und durften das Kind sein ausleben.
Mit den Jahren veränderte sich unser Dorf. Das Kopfsteinpflaster wich dem Asphalt. Der
Tante Emma Laden musste einem Supermarkt weichen. Nach und nach gaben die Bauern auf. Schlossen die Höfe, rissen ab, bauten auf, modernisierten.
Neue, familienfreundliche Häuser und Wohnungen entstanden. Das Dorf veränderte sein Gesicht. Wurde moderner und größer.
Auch ich änderte mich, wurde älter und in dem Maße, in dem das Dorf wuchs, wurde mir dessen Welt zu klein. Dort wo als Kind noch die grenzenlose Freiheit auf mich wartete, schien es mir
irgendwann nur noch Gefängnis zu sein.
Schon bald entschloss ich mich dazu, diese enge hinter mir zu lassen. War es doch nicht nur das Dorf, welches mich einengte. Auch die Menschen, die hier lebten, schienen eingeengt in ihren
Gedanken. Ihr Blick auf die Welt war ein anderer, als es der meine war. Mir war, als hätten wir
denselben Himmel vor uns, würden aber doch einen anderen Horizont erblicken.
Heute fahre ich nur noch selten in das Dorf meiner Kindheit und Jugend zurück. Zu lange war ich fort, zu viel hat sich verändert, zu viel ist mir nicht mehr vertraut und in dem wenigen, was mir noch bekannt vorkommt, erkenne ich mich nicht wieder. Die Menschen, die mir heute dort
begegnen, sind andere. Fremde Blicke, fremde Gesichter, eine fremde Welt, von der ich nicht weiß, ob ich noch ein Teil von ihr bin.
Wenn ich den Ort meiner Kindheit besuche, dann streife ich ihn nur, lasse ihn schnell hinter mir, um weiter zu fahren. Hinaus in die Heide, dass Einzige, was beständig zu bleiben scheint.
Erst hier fühle ich mich zu Hause, fühle mich wieder angekommen.
Ich denke an Hermann Löns, den Heidedichter. Schon als Kinder wurden wir ermahnt, seine Werke zu lesen. War er doch der berühmteste Sohn unseres Ortes.
Ich habe ihn nie gelesen, bis heute nicht. Zu hoch ragte der ermahnende Zeigefinger. Zu wenig
interessierte es mich, mir von einem Fremden, meine eigene Welt erklären und beschreiben zu
lassen.
Stundenlang kann ich in der Heide herumwandern, deren Schönheit mich immer wieder
überwältigt. Im Spätsommer, während der Heideblüte, strömen Tausende von Menschen hierher, um das violette Meer der blühenden Heide zu betrachten. Bis an den Horizont reicht es, um dann eins zu werden, mit dem blau des Himmels.
Besonders aber liebe ich die Heide, wenn all die Menschen wieder verschwunden sind und ich die Einsamkeit der Landschaft vor mir habe. Meine eigene Einsamkeit mit der der Heide verschmelzen kann.
Ich liebe diesen Ort, wenn im November die Stürme über ihn fegen und nichts den Wind aufhalten kann. Nur wenige Wacholder und einige Birken versuchen, dem Sturm zu trotzen. Stemmen sich ihm entgegen. Vergeblich, wie ihre zerzausten Äste und Zweige bezeugen.
Ich liebe es, wenn im Herbst der Nebel dick, schwer und undurchsichtig über die Landschaft streicht und nur hier und da dunkle Schatten das grau durchbrechen. Unheimlich, ja bedrohlich, fast menschenfeindlich und abweisend wirkt die Heide dann.
Ich denke an die nahen Moore und all die Menschen, die über die Jahrhunderte Opfer ihrer
Heimtücke geworden sind. Menschen, die sich verirrt haben, dem Moor zu nahe kamen, bis es seine gierigen Finger nach ihnen ausstreckte. Unbekannt sind ihre Gesichter, unbekannt auch ihre Zahl. Nur selten gibt das Moor eines seiner Opfer wieder frei. Oft erst nach vielen, vielen Jahren tauchen sie dann wieder auf. Werden wieder freigelassen und an die Oberfläche gespuckt. Mumifiziert, das Leiden und die Spuren ihres verzweifelten, aber vergeblichen Kampfes noch in ihren Gesichtern zu sehen.
Ja, ich liebe die Heide. Liebe das schöne, dass unheimliche, dass bedrohliche an ihr. Ich liebe die weite, in sanften Wellen geformte Landschaft, die ich durchwandern darf und dabei meinen
Gedanken freien Raum lassen kann.
Ich liebe diesen Ort, obwohl ich weiß, nicht dem Willen der Natur ist es zu verdanken, dass es ihn gibt. Einzig der Raubbau des Menschen an der Natur hat die Heide erschaffen. Hat den Boden arm werden lassen, ihn ausgelaugt, bis schließlich nichts mehr anderes überleben konnte, als die, in ihren Ansprüchen bescheidenen Heidepflanzen.
Und doch, wenn ich hier herkomme, weiß ich, nur hier gehöre ich hin, hier bin ich daheim, und
immer wenn ich nicht dort bin, denke ich mit Sehnsucht, Wehmut und Liebe an diesen Ort zurück.
Heimat?
Was ist das?
Mehr als der Ort, an dem man zufällig geboren wurde?
Mehr als der Ort, an dem man seine Wurzeln hat, die man doch als junger Mensch allzu gerne
zertrennte?
Heimat, mehr als nur Gedanken und Erinnerungen an gestern?
Mehr als die Beziehung zwischen Mensch und einem begrenztem Raum?
Ich weiß nicht, was es ist, dieses Gefühl voll der Sehnsucht und Liebe.
Nur weiß ich, dass ich es in mir fühle.
Hinausgegangen bin ich in die Welt, um zu suchen, nur um zurückzukehren, es hier zu finden.
Vereinsamt
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, –
Weh dem, der keine Heimat hat!
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Texte: Ralf von der Brelie
Lektorat: Brigitte Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2015
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