Nur wenige Sterne leuchteten am Firmament. Die Nacht war klar, fast wolkenfrei.
Eine einzelne Schneeflocke machte sich bereit, taumelnd der Erde entgegenzueilen.
Wie betrunken schwankte sie in dem leichten Wind, der die sibirische Kälte noch unerträglicher machte, abwärts.
Der junge Mann blickte hinauf. Hinauf in den klaren Nachthimmel. Gerade einmal 22 Jahre alt, zeigten seine Züge doch schon tiefe Spuren des Alterns. Nicht nur der Hunger hatte seine Wangen einfallen und sein Gesicht alt und schmal werden lassen. Auch die Traurigkeit, welche in seinem Blick lag, ließ erkennen, dass er schon mehr, sehr viel mehr erlebt und gesehen hatte, als man es von seinem erst jungen Leben erwarten durfte.
Gerade als er den Blick gen Himmel richtete, landete die Schneeflocke unterhalb seines rechten Auges und ließ ihn für einen Moment blinzeln. Fast wie eine Träne wirkte es, als die Flocke auf
seiner Haut zu schmelzen begann, was sein Gesicht noch trauriger, noch hoffnungsloser
erscheinen ließ.
Seit drei Jahren steckte er schon in dieser, längst zerschlissenen Uniform. Drei Jahre erst und doch, fast ein ganzes Leben lag zwischen dem damals und dem Diesseits.
Niemand hatte ihn jemals gefragt, ob er es gut hieß. Ob er die Uniform und diesen Krieg wollte, über dessen Sinnhaftigkeit er sich niemals Gedanken gemacht hatte.
Und nun?
Nun stand er hier, weit entfernt der Heimat, die ihm heute, am Heiligen Abend, noch ferner vorkam, als in all den vielen vergangenen Tagen, seitdem er als Soldat die Grenze des russischen Reiches überschritten hatte.
Als man ihn gefangen nahm, schien es ihm fast wie eine Erlösung. Der Krieg ist aus, dachte er
damals. Für mich ist dieser Krieg aus. Die vorgehaltenen Maschinenpistolen der russischen
Soldaten konnten ihm keinen schrecken mehr einjagen. Die Worte, die man ihm
entgegengeschleudert hatte, in einer Sprache, die er nicht verstand, wirkten auf ihn nicht
bedrohlicher, als die Kommandos, die er in den drei Jahren als Soldat von seinen Vorgesetzten
empfangen hatte.
Der Krieg ist aus, war alles, dass er denken konnte.
Mit den Händen versuchte er, seine Uniformjacke noch fester um seinen frierenden Körper zu
ziehen. Ein unsinniges Unterfangen. Das wusste er selbst, mussten es doch mehr als 30 Grad Minus sein, hier in dieser Nacht, an diesem verlorenen Ort, irgendwo in den Weiten Sibiriens, wohin man ihn und seine Kameraden geschafft hatte, gleich nach ihrer Gefangenschaft.
Der gefrorene Schnee knirschte unter seinen Schritten, als er sich wieder den Lagerbaracken
zuwendete, in denen sie untergebracht waren.
An die 30, aus grobem Holz errichtete, lang gestreckte Gebäude standen dort und schienen sich vor der erbarmungslosen Kälte und der Weite des Himmels zu ducken. Nirgends war ein Zaun zu sehen. Wohin hätte man auch flüchten sollen, außer dorthin, wo im Winter der eisige Tod auf einen wartete und im Sommer glühende Hitze?
Zu groß war der Hunger nach Leben, um dort hinauszugehen.
Missbilligende Blicke seiner Kameraden trafen ihn, als er die Tür zu einer der Unterkünfte
Aufdrückte. Brachte doch sein eintreten einen schwall eisiger Luft mit in den Raum, in dem an die 50 Männer auf einfachen, mit Strohsäcken versehenen Holzgestellen saßen, die des Nachts als
Betten dienten.
In einer Ecke des Raumes glühte ein kleiner Ofen wummernd vor sich her, der es aber doch nicht schaffte, den Raum mit wärme zu füllen. Hier drinnen war die Luft fast unerträglich. Die
Ausdünstungen von 50 Männern hatten die Luft geschwängert und es dauerte jedes Mal Minuten, bis man sich an diesen Gestank gewöhnte und wieder frei atmen konnte, bis man ihn schließlich
nicht mehr wahrnahm.
Sie alle waren einmal so grundverschieden gewesen und doch, jetzt, hier in diesem Lager, schienen sie sich alle ähnlich.
Männer, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Dienstränge. Hier in diesem Lager waren sie eins geworden. Brüder in ihrer Hoffnungslosigkeit, vereint durch einen kleinen Funken, der Sehnsucht, leben zu dürfen.
Sie alle trugen dieselben Spuren des Krieges und des Hungers mit sich herum. Sie alle blickten aus den gleichen, tief in ihren Gesichtern liegenden, traurigen Augen einer Welt entgegen, von der sie nicht wussten, ob sie noch ein Teil von ihr waren oder jemals wieder sein durften.
Der junge Mann drängelte sich zu seinem angestammten Platz durch. Ließ sich schließlich
zwischen zwei seiner Kameraden nieder, die ihm unwillig Platz machten.
Es war ungewöhnlich still in dieser Nacht, der Heiligen Nacht 1944.
So wie auch er, hingen die Männer ihren Gedanken nach, ließen sich von ihnen vortragen, träumten von ihren Familien, glücklichem Kinderlachen unter dem Weihnachtsbaum. Träumten von der
wohligen Wärme daheim, vom Tannenduft und dem Glanz der Kerzen.
Sie alle träumten von der Heimat. Einer Heimat, von der sie nicht wussten, ob sie sie jemals
wiedersehen werden.
Nur das knacken des brennenden Holzes im Ofen, unterbrach hier und da manchmal die
bedrückende Stille.
Schmerzhaft wurde es dem jungen Mann bewusst, auch er trug das schier unerträgliche, bohrende Heimweh in sich.
Wieder richtete er sich auf, hielt er es doch nicht länger aus, ein Teil all der Traurigkeit zu sein.
Es zog ihn wieder hinaus, dort wo die beißende Kälte die Gedanken freimachte und die Sehnsucht erträglicher schien.
Es würde bald wieder Schnee geben, dachte er, als seine Blicke über den dunklen Nachthimmel schweiften. Eisige Windböen peitschten über die kahle Landschaft, wirbelten staubgleich den Schnee auf, dort wo er nicht zu einer festen Masse aus Eis erstarrt war.
Noch immer stand er da, den Blick in der unendlichen Dunkelheit gefangen, als ihm plötzlich
jemand zaghaft auf die Schulter klopfte.
Erschrocken wirbelte er herum.
Vor ihm stand eine Frau, die ihm schüchtern entgegenblickte.
Klein und unförmig in ihrem dick, mit allerlei Tüchern eingewickeltem Körper, stand sie vor ihm. Ihr fest um den Kopf gewickeltes Wolltuch ließ nur wenig von ihrem Gesicht erkennen. Ein
zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie ihm nun das, in einfaches Wachspapier
gewickelte Päckchen entgegenhielt.
"Spasibo", Danke, sagte er. Eines der wenigen russischen Worte, die er gelernt hatte.
Dabei nahm er vorsichtig das Päckchen aus den ihm entgegengestreckten Händen entgegen.
Schnell drehte sich die Frau gleich darauf um und verschwand, ihren Körper gebückt gegen die
Kälte stemmend, in der Dunkelheit.
Minuten noch schaute er ihr hinterher. Schon längst hatte die Nacht sie verschluckt, als er immer noch dastand und in die Richtung blickte, in der sie verschwunden war.
Erst jetzt öffnete er vorsichtig, mit klammen, steif gefrorenen Fingern das Päckchen. Das Lächeln, welches sich warm auf seinem Gesicht ausbreitete, ließ für einen kurzen Augenblick den Jungen, hinter dem altem Gesicht erkennen.
Ebenso vorsichtig, wie er es soeben ausgepackt hatte, wickelte er das steife Wachspapier wieder über den Inhalt. Dann eilte er seiner Baracke entgegen.
Wieder begrüßten ihn die missbilligenden Blicke seiner Kameraden, als er die Tür zu ihrer
Unterkunft aufstieß.
Doch dieses Mal ließ er sich nicht davon beirren, eilte, so schnell es die Masse der Körper zuließ, in die Mitte des Raumes, wo er sich auf den Boden niederließ.
Unter den neugierigen blicken all der Männer, öffnete er dann vorsichtig das Päckchen.
Ein einfacher Kiefernzweig kam daraus hervor. Eine einzige rote Schleife, vielleicht ein ehemaliges Haarband, zierte diesen und eine weiße Wachskerze kullerte über den Holzboden.
Ein Raunen ging durch den Raum.
Gebannt schauten die Männer ihm zu, wie er vorsichtig die grünen Verästelungen des
Kiefernzweiges in Ordnung brachte, wie er die rote Schleife in Form zupfte und schließlich die
Kerze auf dem Zweig befestigte. Einer der Männer drängelte nach vorne, holte fahrig eine
Schachtel Streichhölzer aus den Tiefen seiner zerschlissenen Jacke und entzündete mit zitternden Händen die Kerze.
Auch jetzt waren sich die Männer ähnlich, ähnlich in ihrem lächeln, ähnlich in dem sanften Licht des Kerzenscheins, welches die Falten des erlittenen der vergangenen Jahre, welches sich in ihre
Gesichter gegraben hatte, in Züge voller Hoffnung verwandelte.
Sie alle starrten auf den Boden zu ihren Füßen. Die, die weiter hinten im Rau gesessen hatten,
drängten nun nach vorne. Auch sie wollten dieses kleine Wunder sehen.
Niemand konnte den Blick abwenden und nur hier und da hörte man leises Gemurmel aus der
Gruppe der Männer. Zuerst war es nur ein heiseres brummen, welches nach und nach zu einem
melodischem summen anstieg, bis dann schließlich die ersten, zaghaften Worte erklangen und in die sibirische Nacht emporstiegen. Nach und nach stimmten alle Männer mit ein, bis der Chor
anschwoll, die Hoffnungslosigkeit ersterben ließ und der Fröhlichkeit ihren Platz einräumte.
"Stille Nacht, Heilige Nacht"
Drei Jahre sollte der junge Mann in diesem russischen Lager für deutsche Kriegsgefangene bleiben, bevor er endlich zurück in die Heimat durfte.
Ein paar weitere Jahrzehnte sollten vergehen, bevor ich selbst auf die Welt kam und er mein Vater wurde.
Ich weiß nicht sehr viel über sein erleben im Krieg, noch viel weniger weiß ich über sein Leben, dort in dem sibirischen Lager. Doch nach dem er mir dieses Erlebnis geschildert hatte, wurde mir bewusst, bei all den Weihnachtsfesten, die wir gemeinsam feiern durften, war er nur mit einem Teil bei mir und seiner Familie denn mit einem Teil seiner Gedanken war er immer auch in diesem
sibirischem Lager, wo eine kleine russische Frau es geschafft hatte, ihm und seinen Kameraden die Seele der Heiligen Nacht vor die Füße zu legen.
Hoffnung.
Texte: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2014
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