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Splitter

 

 

 

Wir alle verändern uns. Durch Erlebnisse, durch Worte verändern wir uns. Wir machen gehörte Worte zu unseren eigenen. Geschehnisse, von wem auch immer sie gelebt wurden, werden zu selbst Erlebtem. Wir alle verändern uns, mit jedem gelebtem Tag aufs Neue. Das Ganze geschieht unmerklich. Wir denken nicht darüber nach, weil wir die Veränderung, die in uns vor sich geht, nicht spüren. Doch manchmal geschehen Dinge, die uns so sehr aus unserem gewohntem Leben reißen, dass wir, nachdem wir diese überstanden haben, wissen, davor war ich ein anderer. Und dieser andere, von diesem haben wir vergessen, welch ein Mensch er einmal war und ob wir ihn überhaupt zurück haben wollen.

Von einem solchen Erlebnis werde ich berichten. Aber, wenn ich es auch erzählen kann, erklären

kann ich es nicht.

 

 

Nein, geliebt habe ich sie nicht.

Ich genoss es, ihre Stimme zu hören. Ich mochte es, über ihre zarte, weiche Haut zu streicheln, ihren Duft zu atmen, ihre Nähe zu spüren.

Ich genoss es, dass sie, wenn sie neben mir ging, ständig meine Hand suchte. Die ihre in die meine schob, um der Welt zu zeigen, wir gehören zusammen. Ich genoss es, wie sie an meinen Lippen hing, wenn ich irgend etwas, noch so Banales erzählte. Ich genoss es, denn durch sie fühlte ich mich erwachsen. Durch sie bekam ich das Gefühl ein Mann zu sein.

Aber geliebt, nein geliebt habe ich sie nicht.

Und sie, liebte sie mich?

Ich weiß es nicht.

Ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden. Alt genug, um Buchstaben zu Worten Formen zu können, aber zu jung, um schon die Gabe zu besitzen, Worte in den Augen eines anderen zu lesen.

Ob sie mich liebte?

Ich weiß es nicht, aber hätte ich es gewusst, so hätte ich ihre Liebe nicht haben wollen. Damals wollte ich nur erwachsen sein, ich war mit ihr zusammen, weil man einfach eine Freundin hatte. Weil all meine Freunde eine Freundin hatten, weil es dazugehörte, wenn man als Mann gelten wollte.

Nicht sie war es, die mir wichtig war. Meine Freunde waren es, die mir etwas bedeuteten. Mit ihnen meine Freizeit zu verbringen, mit ihnen zu feiern und unseren Ort unsicher zu machen, das bedeutete mir etwas. Wenn wir in einer größeren Gruppe irgendwo auftauchten und die Menschen in unserem Dorf uns unwillig hinterher sahen, dass bedeutete mir etwas, gab es mir doch das Gefühl von Stärke, das Gefühl, dazuzugehören.Niemand musste uns mögen. Wir waren Halbstarke und wollten gar nicht, dass sie uns mochten, all die Spießer in unserem Dorf. So war ich mit ihr zusammen, doch für mich war es nur ein Spiel. Hätte ich sie geliebt, ich hätte mir diese Liebe nicht eingestanden. Ich wollte mich nicht gefangen nehmen lassen, von Gefühlen, die ich für unmännlich und schwach hielt. So verbrachte ich die meiste Zeit mit meinen Freunden. Feierte ausgelassene Partys, trank Unmengen Alkohol und kiffte hin und wieder sogar. All das hielt ich für männlich, hielt ich für Stärke und einen Teil meiner Unbesiegbarkeit.

Sie, sie war nur Beiwerk. Ein schmückendes Objekt an meiner Seite.

Sie hatte Augen, nur um an mir emporzuschauen. Eine Stimme, dessen Worte dazu bestimmt waren mich zu loben und mich in meinen eigenen Ansichten zu bestärken, wie dumm diese auch immer sein mochten. Sie war geschaffen, um mir mit ihren Lippen, ihrer Haut, ihrem Körper, Lust zu bereiten, wenn ich in ihr ertrank.

Freundschaft. Freundschaft, aber keine Liebe empfand ich für sie.

Ich war gerade 19 Jahre alt. Fühlte mich stark und erwachsen und wusste nicht, wie dumm ich eigentlich war.

Als es dann geschah, war ich nicht bei ihr. Später fühlte ich mich, als hätte ich unsere Freundschaft verraten, weil ich nicht dort war, um sie zu schützen. Fühlte mich als Verräter, weil ich ihr nicht einmal das wenige geben konnte, zu dem ich bereit gewesen wäre.

Damals, in dieser Nacht, als dieser Fremde kam. Sie in das Dunkel hineinzerrte, ihr die Kleider vom Leib riss und sie mit Gewalt nahm.

Damals, als er auf ihrer Seele herumtrampelte, bis diese zerbrach. Damals war ich nicht da, um sie zu beschützen. Ihr zu beweisen, auch wenn es nur Freundschaft war, die ich bereit war zu geben, so gehörte doch ein Teil von mir zu ihr.

Erst zwei Tage nachdem es geschehen war, erfuhr ich davon. Sie lag dort, bei ihren Eltern im Wohnzimmer auf der Couch.

Ihren Arm hatte sie über den Augen verschränkt. Sie blickte nicht hoch, als ich den Raum betrat und mich leise neben ihr niederließ.

Ich sah auf sie herab und spürte all den Schmerz in meiner Brust.

Aber nicht nur Schmerz, auch Trauer und unbändige Wut wühlten in meinem Inneren. Warum war ich nicht dort gewesen? Warum hatte ich sie das einzige Mal, als sie mich wirklich brauchte, im Stich gelassen?

Ich hätte sie damals, als ich an ihrer Seite saß, so gerne an mich gezogen. Hätte sie in die Arme nehmen wollen, sie zärtlich an mich gedrückt, ihr über das Haar gestrichen, sie trösten wollen und ihr versprechen, dass alles wieder gut werden wird. Aber ich konnte nicht. War ich nicht selbst wie dieser Fremde, der ihr das angetan hatte?

Hatte ich sie nicht selbst einfach benutzt und war es mir nicht eigentlich egal gewesen, was sie empfand?

Konnte sie in mir wirklich noch den Freund sehen? Oder sah sie diesen Fremden vor sich, wenn ich bei ihr war?

Ich schwieg. Saß nur da und blickte auf sie hinab. So viel hätte ich sagen wollen, sagen können. Doch ich schwieg.

Die Hände in meinem Schoß haltend, nicht wissend, was ich mit diesen tun sollte. Statt sie zu berühren, ihr tröstend meine Hand zu reichen, zerrte und zupfte ich nur verlegen und unschlüssig an meinen Fingern herum. Ich spürte all den Schmerz, all die Wut und das Brennen hinter meinen Augen. Ich wünschte mir, weinen zu können.

Aber nichts tat ich von alledem. Kein Wort, keine tröstende Berührung und das Weinen hatte ich lange schon verlernt.

Nichts tat ich.

Nicht an diesem Tag und auch nicht an all den anderen, an denen ich sie besuchte.

Ich war 19 Jahre alt und wollte erwachsen sein, wollte stark und männlich sein und war doch so schwach, wie niemals zuvor.

Meine Besuche wurden seltener, fühlte ich mich doch so ohnmächtig ihr gegenüber.

Fühlte Tag um Tag diesen quälenden Schmerz in mir, wünschte, töten zu dürfen. Töten, nur damit dieser unaufhörlich bohrende Schmerz aufhörte.

Und doch, wie lächerlich musste das sein, was ich empfand, neben dem, was sie empfinden musste.

Meine Besuche wurden seltener, blieben schließlich ganz aus.

Unsere Freundschaft zerbrach, so wie ihre Seele zerbrochen war.

 

Es dauerte lange.

Wochen, Monate vergingen, bis ich lernte, mit diesem Schmerz umzugehen und ihn als einen Teil meiner selbst anzunehmen.

Ich hatte mich verändert, das spürte ich. Irgendetwas in mir war zerbrochen, aber, so glaubte ich, an seiner Stelle war etwas anderes getreten. Nur, was dieses andere war, habe ich selbst nie herausgefunden. Vielleicht war ich auch einfach nur erwachsen geworden.

Ich hörte auf, mit Mädchen zu spielen. Sah sie plötzlich mit anderen Augen, sah in ihnen nur noch die zerbrechliche Seele.

Mein Verhältnis zu ihnen wurde seltsam, wenn mir eines begegnete. Und wenn ich spürte, sie könnte mir etwas bedeuten, wenn sie im Stande war, mein Herz zu berühren, dann ging ich ihr aus dem Weg. Setzte alles daran, ihr nie wieder zu begegnen.

Vielleicht wäre mein Verhältnis zu Frauen so gestört geblieben. Denn mehrere Jahre gingen so ins Land.

Schon hielten mich meine Freunde für ziemlich seltsam. Selbst meine Eltern begannen sich Sorgen zu machen, wie ich später erfuhr. Sie hatten schon die Befürchtung das ich „anders“ war, wie meine Mutter das schwul sein bezeichnete. Selbst meine beiden Schwestern begannen zu versuchen, mich zu verkuppeln. Ja, setzten sogar irgendwann, ohne mein Wissen, eine Kontaktanzeige in die Tageszeitung. Glaubten sie wohl, ich sei zu schüchtern, um aus eigenem Antrieb eine Freundin zu finden.

Ich sagte zu alledem nichts, winkte nur ab. Wie hätte ich auch erklären sollen, was ich selbst nicht verstand.Bis dann, eines Tages, Sie in meinem Leben auftauchte. Das andere Mädchen, und mit ihr, meine erste große Liebe.

Ich war nun schon 22 Jahre alt. Drei Jahre waren inzwischen vergangen und doch, auch ihr wäre ich aus dem Weg gegangen, hätte ich gefühlt, was ich dann für sie empfinden sollte. Doch sie wartete nicht darauf, bis ich zu ihr kam. Vielleicht hatte sie ja davon gehört, dass dieser

Typ da, irgendwie nicht normal war und nur schwer zu bekommen. So nahm sie die Sache selbst in die Hand, überrumpelte mich erst mit Worten, dann mit ihrer Liebe. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich geschlagen zu geben.

Auch wenn diese, meine erste große Liebe, nicht so groß war, um von Dauer zu sein. So schaffte dieses Mädchen es doch, mich, meinen Kopf und vor allen Dingen meine Seele wieder gerade zu rücken.

Zurück geblieben ist ein kleiner Splitter, der manchmal, wenn ich an diese Zeit zurück denke, schmerzlich sticht.

Ich bin älter und erwachsener geworden und vielleicht habe ich im Laufe meines Lebens Menschen verletzt, ohne das ich dieses wirklich wollte. Aber ich hoffe, keiner dieser Menschen wurde von mir so tief verletzt, dass auf seiner Seele Narben blieben.

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Michaela Schmiedel
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet den beiden Mädchen, deren Namen ich hier weder nennen darf, noch will. Vielleicht werdet ihr dieses ja eines Tages lesen und euch wieder erkennen. An das eine denke ich und hoffe, dass sie mich dann ein wenig besser versteht. An das andere denke ich, mit der Gewissheit, dass sie mich gerettet hat. An euch beide denke ich voll Dankbarkeit.

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